[unrevidierte Version]
Meine Vorgeschichte mit Guhyasamaja
Zu Beginn möchte ich ein wenig vom Hergang meiner eigenen Beschäftigung damit erzählen. 1968 fing ich erstmals an, das Guhyasamaja-System zu studieren. Ich war damals Doktorand an der Harvard-Universität. Im Seminar gab es einen Kurs, in dem das erste Kapitel des Guhyasamaja gelesen wurde, wobei wir die Sanskrit-, die tibetische und die chinesische Fassung miteinander verglichen. Mein Freund Bob Thurman war ebenfalls in diesen Kurs, wir waren in Harvard Studienkollegen. Ich fühlte mich sehr zum Guhyasamaja-System hingezogen; es gefiel mir sehr, obwohl wir natürlich keine Ahnung hatten, was es wirklich bedeutete und was alles damit zusammenhing. Wir befassten uns hauptsächlich damit, wie es übersetzt worden war. Mein Professor, Dr. Nagatomi aus Japan, schlug mir vor, das Studium des Guhyasamaja-Systems mit meiner Dissertation zu verbinden und darüber zu schreiben. So erhielt ich ein Fulbright-Stipendium, um bei den Tibetern in Indien das Guhyasamaja zu studieren. Bis dahin hatte ich nur die tibetische Schriftsprache gelernt und nicht die Umgangssprache. Zu jener Zeit gab es keine Lehrbücher für die Umgangssprache. Also musste ich, als ich in Indien angekommen war, wie ein Anthropologe erst einmal die Klangstruktur der gesprochenen Sprache ergründen und sie lernen.
Im Januar 1970 begegnete ich Tsenshap Serkong Rinpoche – der schließlich neben seiner Heiligkeit dem Dalai Lama mein wichtigster Lehrer wurde – und bat ihn um Rat, bei wem ich das Guhyasamaja-System studieren könnte (obwohl ich natürlich alles andere als qualifiziert dafür war). Er schlug mir vor, mich an den früheren Abt des Unteren Tantra-Kollegs zu wenden, da dieser in Dalhousie lebte, wo ich damals ganz am Anfang meines Aufenthaltes in Indien auch wohnte. Er befand sich allerdings in einer Dreijahresklausur und Serkong Rinpoche ließ mich wissen, dass die Klausur im Mai beendet werde und ich ihn dann aufsuchen könne. Das passte mir gut, denn ich musste erst das gesprochene Tibetisch so weit erlernen, dass es mir überhaupt möglich war, bei ihm zu studieren.
In der Zwischenzeit empfing ich die Ermächtigung für die Praxis des Guhyasamaja-Systems von Ling Rinpoche, dem Senior-Tutor Seiner Heiligkeit des Dalai Lama. Ich glaube, ich erhielt sie sogar, bevor ich ihn darum gebeten hatte, ich weiß es nicht mehr genau, vielleicht auch kurz darauf. Jedenfalls suchte ich den Abt auf, als er seine Klausur beendet hatte, und er sagte: „Das ist ja wunderbar, dass du dies studieren möchtest. In einer Woche beginne ich meine nächste Dreijahresklausur, und zwar in Verbindung mit Guhyasamaja. Möchtest du mich in diese Dreijahresklausur begleiten?“ Ich merkte aber, dass das weit über meine Fähigkeiten hinausging, und antwortete ihm: „Nein, dafür muss ich mich erst besser vorbereiten.“ Serkong Rinpoche hatte anscheinend gewusst, dass es so kommen würde, und mich deshalb zu diesem Abt geschickt. Danach suchte ich Trijang Rinpoche auf, den inzwischen verstorbenen Junior-Tutor seiner Heiligkeit, und dieser empfahl: „Studier doch erst mal Lam-rim.“ Zu dieser Zeit war noch nichts davon in irgendeine westliche Sprache übersetzt worden, es gab noch keine Übersetzung des berühmten Textes „Der kostbare Schmuck der Befreiung“ oder überhaupt irgendetwas in der Art. Also beschloss ich, das Thema meiner Dissertation zu ändern, die Guhyasamaja-Studien zu verschieben und stattdessen über die mündliche Tradition des Lam-rim zu schreiben.
Jetzt fällt es mir wieder ein: Erst danach erhielt ich zum ersten Mal die Initiation in die Guhyasamaja-Praxis. Dazu ergab sich eine wunderbare Gelegenheit: 1971 empfing Seine Heiligkeit der Dalai Lama zum letzten Mal als Hauptteilnehmer die drei großen Initiationen. Trijang Rinpoche erteilte die Initiation zum Chakrasamvara und Ling Rinpoche diejenige zum Guhyasamaja und Yamantaka. Es war ein ganz besonderes Ereignis.
Später habe ich die Initiation noch mehrere Male von Seiner Heiligkeit empfangen und etliche Anleitungen von ihm zur Erzeugungsstufe des Guhyasamaja – ich bin nicht mehr sicher, auf welchem Text sie beruhten – sowie seine Lehrreden über Tsongkhapas Text zu den fünf Abschnitten der Vollendungsstufe des Guhyasamaja, „Lampe zum Erhellen der fünf Stufen“ (tib.: sGron-gsal rgya-cher bshad-pa) und über das erste Kapitel des Guhyasamaja-Wurzeltantras (tib: gSang-ba ’dus-pa rtsa-rgyud).
Ich habe mich also ziemlich lange mehr oder weniger mit diesem System beschäftigt. Und es ist ein überaus komplexes System, über das es enorm viel Literatur gibt. Tsongkhapa betrachtete es als das hauptsächliche Tantra für die Tradition, die auf ihn folgte und auf ihn zurückgeht; und über das Guhyasamaja verfasste er auch seine meisten Schriften (seine Kommentare zum Guhyasamaja machen fünf Bände seiner gesammelten Werke aus).
Die Geschichte des Guhyasamaja
Woher stammt dieses Tantra? Einige westliche Gelehrte sagen, dass es erstmals im frühen 8. Jahrhundert auftauchte. Der erste Hinweis darauf in der Literatur findet sich im Text eines sogdischen Mönches namens Amoghavajra, der Übersetzungen ins Chinesische anfertigte. Mitte des 8. Jahrhunderts listete er auf Chinesisch 18 Texte auf, und einer davon war Guhyasamaja (dieser war auch ins Chinesische übersetzt worden). Die Sogdier waren damals wichtige Handeltreibende auf der Seidenstraße, und ihnen sind zahlreiche Übersetzungen ins Chinesische zu verdanken. Sogdien bestand aus dem Gebiet, welches das heutige Usbekistan ist.
Es gibt verschiedene Versionen der Geschichte des Guhyasamaja: die historische Version der westlichen Gelehrten und die traditionelle buddhistische Version. Die traditionelle Version lautet, dass Buddha sich als Vajradhara manifestierte und den König Indrabhuti von Oddiyana, auf Tibetisch Ogyen (U-rgyen), das Guhyasamaja-System lehrte. Oddiyana bzw. Ogyen ist das Land, aus dem viele Jahre später Guru Rinpoche kam.
Was fangen wir als Westler nun mit dieser Darstellung an? Von Indrabhuti gingen viele verschiedene Überlieferungslinien aus. Und nicht nur von Indrabhuti – auf ihn geht die Überlieferung des Wurzeltantras zurück; darüber hinaus gibt es jedoch auch noch die Überlieferungslinien der Initiation sowie diejenige der Vollendungsstufe und der Sadhana. Im Gebet an die Meister der Überlieferung des Guhyasamaja, das in der Sadhana enthalten ist, verläuft die Überlieferung ausgehend von Vajradhara über eine Manifestation von Manjushri zu Nagarjuna, also in einer ganz anderen historischen Zeit. Außerdem gibt es auch noch eine Überlieferungslinie der Vollendungsstufe. Was ist von all dem zu halten?
Zuerst einmal müssen wir unsere Art der Geschichtsbetrachtung von den Vorstellungen lösen, die mit der westlichen biblischen Tradition einhergehen. Es ist nicht so, dass Buddha, wie Gott etwa Jesus oder Moses oder Mohammed als seinem Propheten die Wahrheit offenbarte, und dass auf ähnliche Weise das Wort Buddhas, so wie das Wort Gottes, dann den Massen überbracht wurde. Mit dem Hintergrund unserer Tradition neigen wir leicht dazu, uns gewissermaßen so eine Art Offenbarung durch Vajrabhairava ähnlich wie diejenigen in der Bibel vorzustellen. Und was kann eine solche Überlagerung mit unseren Vorstellungen bewirken? Sie kann zu einer sektiererischen Sichtweise führen, nämlich dass dies die beste, die eigentliche, die letztendliche Wahrheit sei.
Aber das ist nicht der Blickwinkel der indischen Traditionen, weder im Buddhismus noch im Hinduismus. Ihre Sicht der Geschichte ist anders. Unsere historische Sichtweise ist meistens sehr linear und gründet sich auf objektive Tatsachenberichte, während die indische Sicht der Geschichte eng mit dem verknüpft ist, was wir Mythen nennen. Vom indischen Gesichtspunkt aus ist Krishna mit den Hirtenmädchen usw. genauso real wie zum Beispiel König Ashoka. Diese Sicht der Geschichte dient dazu, etwas zu veranschaulichen, etwas zu lehren, nicht nur Fakten zu berichten. Und was unser Thema betrifft: Nicht nur im Tantra, sondern auch in den Mahayana-Sutras usw. sind viele große Meister erwähnt, die direkt von Vajradhara in verschiedener Gestalt Lehren empfingen, sowie auch Berichte, dass Buddha jemandem Lehren zukommen lässt, der sie dann den Nagas übergibt, von denen sie später wieder zurückerstattet werden, oder dass Buddha sich in einen Himmel namens Tushita begibt und dort Lehren von Maitreya empfängt und dergleichen mehr. Die buddhistischen Texte sind voll von solchen Darstellungen – das ganze Mahayana und innerhalb des Mahayana auch das Tantra.
Vajradhara als tantrische Form des Buddha ist eine Manifestation der geistigen Ebene des klaren Lichts, die in uns allen vorhanden ist. Gemäß indischem Kontext haben wir alle die Fähigkeit, die Wahrheit zu verstehen – die Wege, die zu Befreiung und Erleuchtung führen. Jeder, der eine solche Offenbarung bzw. ein solches Verständnis erlangt, empfängt dies also von Buddha Vajradhara, denn Buddha Vajradhara ist keine historische Persönlichkeit im Sinne unseres westlichen Geschichtsverständnisses. Und diejenige Person, die eine bestimmte Offenbarung als erste erlebt und deren Inhalt weitergibt, ist kein letztgültiger Prophet oder so etwas – zwar durchaus der Verehrung würdig, aber nicht auf die Art und Weise wie etwa Jesus Christus oder Mohammed.
Ich denke, es ist wichtig, das zu verstehen, wenn wir uns mit Tantra-Systemen wie Guhyasamaja befassen und dieses Labyrinth von Überlieferungslinien betrachten, die davon ausgehen. Wenn wir dann die Anzahl der Personen in dieser Überlieferung zählen, geht die Rechnung nicht auf – die Personen sind zu wenige und die Lücken in der Geschichte zu groß. Wenn jemand die traditionelle buddhistische Darstellung bezweifelt, dass tantrische Inhalte, ebenso wie auch Mahayana-Inhalte, mündlich im Verborgenen weitergegeben wurden, bis sie irgendwann endlich aufgeschrieben und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, sagt Seine Heiligkeit der Dalai Lama dazu ganz freundlich: „Wenn der Grund für diesen Einwand nur lautet: ‚Das glaub ich nicht‘, dann ist das keine gültige Begründung, das ist kein Gegenbeweis.“ – Aber genug von diesem Thema.
Guhyasamaja als Vater-Tantra
Jedenfalls gilt Guhyasamaja als eines der ältesten Tantra-Systeme, wenn nicht das älteste überhaupt, das in schriftlicher Form in Indien auftauchte. In der Klassifizierung der Tantras, wie sie in der sogenannten Neuen Übersetzungsperiode (tib. gsar-ma) vorgenommen wird, gehört es zum Anuttarayoga-Tantra, und das heißt, dass es mit den Systemen des subtilen Körpers – den Chakras, Energiekanälen, Windenergien usw. – befasst ist, um Zugang zur subtilsten Ebene geistiger Aktivität, dem sogenannten Geisteszustand des klaren Lichts, zu gewinnen, und dann diese Ebene der geistigen Aktivität als unmittelbare Ursache für das Erlangen der vier Körper eines Buddhas zu nutzen.
Anuttarayoga-Tantra wird in verschiedene Klassen unterteilt, und man könnte dazu einen ganzen historischen Überblick der verschiedenen Arten präsentieren, wie sie aufgeteilt wurden und warum sie auf diese oder jene Weise unterteilt sind. Aber wenn wir auf das System zurückkommen, das mit Tsongkhapa seinen Anfang nahm, so wird Anuttarayoga-Tantra in Vater- und Mutter-Tantra (tib. pha-rgyud und ma-rgyud) unterteilt. Die Grundlage für diese Unterteilung besteht darin, dass Vater-Tantra die meisten Einzelheiten über den sogenannten Illusionskörper (tib. sgyu-lus) als unmittelbare Ursache für die Formkörper (die physischen Körper) eines Buddhas enthält, während im Mutter-Tantra der Schwerpunkt auf Praktiken liegt, die dazu dienen, die geistige Ebene des klaren Lichts zu erlangen. Ein weiterer Blickwinkel ist, dass im Vater-Tantra das Hauptgewicht auf die verschiedenen Yogas gelegt wird, welche mit den Energiewinden zu tun haben, die für den Zugang zu der subtilsten Ebene genutzt werden, während das Mutter-Tantra eine Menge Einzelheiten darüber beinhaltet, wie man immer intensivere Arten glückseligen Gewahrseins in den zentralen Energiekanal lenkt, um mit Praktiken wie Tummo (tib. gtum-mo), inneres Feuer, zur geistigen Ebene des klaren Lichts zu gelangen.
Guhyasamaja ist das hauptsächliche System des Vater-Tantra. Es beinhaltet eine enorme Vielzahl an Details dazu, wie man mit den Energiewinden in den Chakras und Kanälen umgeht, um zur subtilsten Ebene zu gelangen, und geht genau auf die Art der Umwandlung ein bzw. darauf, wie man die subtilsten Energiewinde, welche die geistige Ebene des klaren Lichts tragen, dazu bringt, dass sie in Gestalt des Illusionskörpers erscheinen, der dann schließlich zum Formkörper eines Buddhas wird. Wenn man die Systeme der allgemeinen Einteilung in Methode und Weisheit zuordnen will, kann man sagen, dass im Guhyasamaja der Schwerpunkt mehr auf die Seite der Methode gelegt wird.
In dem hauptsächlichen Guhyasamaja-System, das in der Gelug-Tradition praktiziert wird, werden 32 Gottheiten visualisiert. Nur ein Beispiel für die Betonung der Seite der Methode: In der Sadhana besteht die Methode auf der ersten Stufe der Praxis, der Erzeugungsstufe (tib. bskyed-rim), auf der man mittels der Vorstellungskraft übt, darin, dass man selbst als Buddhagestalt jede dieser 32 Gottheiten ausstrahlt und jede von ihnen anderen Lebewesen hilft, die ein oder andere Art von störenden Emotionen oder störenden Einflüssen zu beseitigen. Es ist also ein wunderbares System dafür, in sich ein Gefühl dafür zu entwickeln, dass man sich auf enorm viele verschiedene Arten manifestieren muss, um den verschiedenen Lebewesen mit ihren jeweils individuellen Problemen helfen zu können. Und da Guhyasamaja ein überaus umfassendes System mit ausführlicher Literatur dazu ist, liefert es quasi das Muster für die Praxis des Anuttarayoga-Tantra, und zwar sowohl für die Erzeugungs- (bskyed-rim) als auch die Vollendungsstufe (rdzogs-rim). Mit anderen Worten, es gibt die Struktur vor, der dann all die anderen Tantra-Systeme folgen.
Die Bedeutung des Namens Guhyasamaja
Der Name Guhyasamaja (tib. gsang-ba ’dus-pa) bedeutet „Zusammenkunft verborgener oder geheimer Faktoren“. Guhya (tib. gsang-ba) bedeutet „geheim“, und Samaja bedeutet „Zusammenkunft“. Die Hauptbedeutung des Wortes für „geheim“ ist jedoch nicht im Sinne von „geheim halten“ zu verstehen, sondern es beinhaltet, dass etwas natürlicherweise verborgen ist für diejenigen, die noch nicht imstande sind, es zu verstehen, und zwar verborgen aufgrund der Sprache, die dafür verwendet wird. Doch auch was die Lehren betrifft, so sollten diese geheim gehalten werden vor denjenigen, die nicht in der Lage sind, sie zu verstehen.
Die Zusammenkunft der verborgenen Faktoren kann sich auf all die Gottheiten in diesem System beziehen oder auch auf die drei wesentlichen verborgenen Faktoren, die oft die drei Vajras genannt werden – Vajra-Körper, Vajra-Sprache und Vajra-Geist –, womit die erleuchteten bzw. erleuchtenden Aspekte dieser drei Faktoren gemeint sind. Sie können auf zweierlei Weise verstanden werden: Zum einen sind Körper, Sprache und Geist bis zur erleuchteten Ebene entwickelt worden, aber sie sind auch für andere inspirierend und insofern erleuchtend, das heißt, sie können zum Erleuchten anderer beitragen.
Die Überlieferungslinien
Die Überlieferungslinien beziehen sich auf die Texte selbst. Das Wurzeltantra (tib. gSang-ba ’dus-pa rtsa-rgyud) besteht aus 17 Kapiteln. Sieben davon wurden im Jahr 1002 von Danapala ins Chinesische übersetzt. Aber die Rituale und die Praxis des Guhyasamaja fassten nie richtig Fuß in China; deshalb gibt es dort keine entsprechende Tradition, doch immerhin wurde der Text, zumindest diese sieben Kapitel ins Chinesische übersetzt. Etwa zur selben Zeit wurde der Text von dem berühmten Übersetzer Rinchen Sangpo ins Tibetische übersetzt, der mit dem kaschmirischen Gelehrten namens Shraddhakaravarman zusammenarbeitete.
Es gibt sechs erläuternde Tantras (tib. bshad-rgyud) des Guhyasamaja, aber nur fünf davon wurden ins Tibetische übersetzt (eines davon, mit dem Titel „Guhyasamaja Zusatz-Tantra“ [tib. gSang-ba ‘dus-pa phyi-rgyud], wird als das 18. Kapitel des Wurzeltantras betrachtet). Diese Tantras behandeln die verschiedenen Aspekte der Erzeugungs- und Vollendungsstufe, beschreiben sie aber auf so obskure Weise, dass man erst den späteren indischen Kommentaren das System zur Entschlüsselung der Sprache und der Bilder entnehmen kann, welche in diesen Texten verwendet sind. Die Texte enthalten zahlreiche Passagen in Bildersprache wie zum Beispiel „Vajra mit Lotus“ usw., und als ich in Harvard versuchte, sie in den drei Sprachen zu lesen, war es nahezu sinnlos, etwas davon zu verstehen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, worum es dabei überhaupt geht. Es klingt sehr sonderlich.
Es gibt vier Traditionen, die das Wurzeltantra und die sechs erläuternden Tantras erklären:
- Eine nimmt mit Aryadeva ihren Anfang, den Schüler von Nagarjuna,
- eine mit Jnanapada, dessen vollständiger Name Buddhashrijnana lautete,
- die dritte mit Anandagarbha
- und die vierte mit Shantipa.
Die ersten beiden werden als die besten Erklärungen angesehen.
Der Hauptinhalt wird jedoch normalerweise im Rahmen der Tradition von Aryadeva studiert, die manchmal auch verkürzt als die „Arya-Tradition“ (tib. ‘phyags-lugs) bezeichnet wird und in der es eine Menge Literatur gibt, die in Indien auf Sanskrit geschrieben wurde. Interessanterweise tragen deren wesentliche Verfasser die Namen der hauptsächlichen Autoren des Madhyamaka:
- Nagarjuna – drei Texte: zwei über die Erzeugungsstufe und einer über die Vollendungsstufe; letzterer wurde allerdings nicht komplett fertiggestellt;
- Aryadeva – zwei Texte: einer davon erklärt die Bedeutung von Nagarjunas Text über die Vollendungsstufe;
- ein weiterer Schüler von Nagarjuna: Nagabodhi – drei Texte
- Shakyamitra – ein Text, der Nagarjunas Text vervollständigt
- Chandrakirti – drei wesentliche Texte. Tsongkhapas Erklärung von Chandrakirtis Erläuterung sowie dann später noch weitere Kommentare dazu bilden die Hauptinhalte, die an den Tantra-Hochschulen studiert werden.
- Rahulamitra – ein Text;
- Naropa – zwei Texte.
Hier ergibt sich wieder ein Problem hinsichtlich der Geschichte. Die Tradition betrachtet Nagarjuna, Aryadeva und Chandrakirti als dieselben Autoren, die die berühmtesten Madhyamaka-Schriften verfassten. Vom Gesichtspunkt westlicher Gelehrter ergibt das keinen Sinn, und deshalb sagen die westlichen Gelehrten, dass es sich um viel spätere Autoren handelt, die die Namen dieser großen Meister des Madhyamaka wählten, um das, was sie schrieben, zu legitimieren. Aber wie ich schon früher zu erklären versucht habe, unterscheidet sich diese Sichtweise der Geschichte beträchtlich von der indo-tibetischen Weltsicht, in der es unerheblich ist, ob es sich um dieselbe Person handelt oder nicht, denn der wesentliche Punkt ist, dass die Erklärung und das Verständnis des Guhyasamaja im Rahmen der Madhyamaka-Sichtweise bezüglich der Realität entwickelt wird. Es ist der gleiche Punkt, der in der traditionellen Version hervorgehoben wird, welche besagt, dass Buddha auf dem Geierberg die Prajnaparamita-Sutras lehrte und gleichzeitig in Südindien als Kalachakra erschien und mit den vier Gesichtern von Kalachakra die vier Tantraklassen lehrte. Der wesentliche Punkt ist, dass die Tantra-Systeme im Rahmen der Madhyamaka-Lehren über die Leerheit verstanden und praktiziert werden müssen.
In Tibet geht die Tradition der Erklärung des Wurzeltantras und der erläuternden Tantra-Texte – der fünf erläuternden Tantras, die ins Tibetische übersetzt wurden – auf Goe Lotsawa (‘Gos Lo-tsa-ba) zurück. Und die Tradition der Erklärung der Lehren, welche die Richtlinien für die Praxis beinhalten, wurde durch Marpa übermittelt. Es gibt also auch innerhalb der Kagyü-Überlieferung eine große Tradition der Guhyasamaja-Praxis. Es handelt sich keineswegs um eine Praxis, die nur in der Gelug-Tradition ausgeübt wird.
Die Gelug-Tradition folgt beiden dieser Überlieferungslinien, also sowohl der von Goe Lotsawa als auch der von Marpa. In derjenigen der drei Arten von Guhyasamaja-Praxis, welche in der Gelug-Tradition hauptsächlich geübt wird, ist Akshobya die Hauptfigur. In dieser Tradition wird Akshobya in der Literatur manchmal auch Vajradhara genannt und manchmal Vajrasattva. (Bitte denkt daran, dass dieses System, wie gesagt, als Muster dient und die Struktur für alle Anuttarayoga-Tantras vorgibt.) Es handelt sich um das System mit 32 Gottheiten, und zwar in der Überlieferung, die von Tilopa und Naropa über Marpa verlief.
Es gibt noch zwei andere Formen von Guhyasamaja. Die eine heißt Jamdor (tib. ‘Jam-dor); hier ist Manjuvajra – eine Form von Manjushri – die zentrale Gestalt und im Mandala befinden sich 19 Gottheiten. Die dritte Form heißt Jigten Wangchug (tib. ’Jig-rten dbang-phyug), und dort ist eine Form von Avalokiteshvara die zentrale Gestalt. Diese beiden Überlieferungen wurden durch Goe Lotsawa übermittelt. Über die Form Jigten Wangchug sind mir keine Einzelheiten bekannt. Ich hatte keine Gelegenheit mehr, Serkong Rinpoche danach zu fragen. Er führte kurz vor seinem Tod eine Klausur in Verbindung mit dieser Form von Guhyasamaja durch und wenige Tage nach dem Ende der Klausur verstarb er.
Fünf der 18 Bände von Tsongkhapas gesammelten Werken sind, wie gesagt, mit Guhyasamaja befasst; dies ist also das Hauptthema seiner Schriften beziehungsweise, wie ich wohl besser sagen sollte, das, worüber er am meisten geschrieben hat. Es ist das wesentliche Anuttarayoga-Tantra in der Gelug-Tradition und das hauptsächliche Thema, das an den Tantra-Hochschulen studiert wird.
Das „Guru-Yoga in sechs Sitzungen“ – eine Praxis, die vom vierten Panchen Lama verfasst wurde, damit man die Samayas, die Verbindlichkeiten im Zusammenhang mit Anuttarayoga-Tantra-Praxis, einhalten kann – zeigt, dass die Praktiken nach dem Muster des Guhyasamaja gestaltet sind: In diesem Guru-Yoga ist die zentrale Gestalt vor uns Vajradhara, und anschließend verwandeln wir uns in Vajrasattva. Das entspricht dem Guhyasamaja-System. Beide haben in der Guhyasamaja-Praxis blaue Farbe. Es handelt sich also nicht um den weißen Vajrasattva wie in der Reinigungs-Praxis. Das ist also die Standardform; und wenn man dann eine speziellere Form ausüben möchte, kann man die Hauptfiguren durch diejenigen einer anderen Anuttarayoga-Praxis ersetzen, zum Beispiel Kalachakra oder Yamantaka. Das macht hinsichtlich der Struktur keinen Unterschied aus. Hier aber geht es um die allgemeine Vorgabe. Auch in der Lama Chöpa (tib. Bla-ma mchod-pa, Guru-Puja) sowie in der Praxis „Der spirituelle Meister untrennbar von Avalokiteshvara“, über die ich an diesem Wochenende sprechen werde, finden wir das Körper-Mandala von Guhyasamaja. Guhyasamaja taucht also an zahlreichen Stellen in der Gelug-Tradition auf.
Der Auflösungsprozess in acht Stufen
Nun könnten wir uns fragen: Was ist denn so vortrefflich an diesem System? Was bietet es uns? Einer der wesentlichen Aspekte ist, dass wir hier eine überaus detaillierte Darstellung der zentralen Praxis des Anuttarayoga-Tantra finden, nämlich der Transformation von Tod, Bardo und Wiedergeburt. Es handelt sich also um eine Quelle von Einzelheiten über die acht Stufen des Auflösungsprozesses, der während des Todes stattfindet.
Die Praxis der Vollendungsstufe
Wenn im Buddhismus von „Geist“ die Rede ist, so geht es um geistige Aktivität. Es geht um das individuelle subjektive Erfahren von gültig erkennbaren Inhalten. Wenn wir dieses alles also im Sinne des Erfahrens verstehen, hilft uns das, der Sache etwas näher zu kommen, als wenn wir nur an das Wort „Geist“ denken, das eher den Gedanken an ein physisches Objekt aufkommen lässt. Darum geht es hier nicht; es geht um das subjektive Erfahren von etwas, das erkannt werden kann, einem Inhalt. Und für dieses Erfahren gibt es immer eine physische Basis. Wir können ein Geschehnis, ein Geschehen von Erkenntnis, unter dem Gesichtspunkt beschreiben, wie man es erlebt, oder unter dem Gesichtspunkt des physischen Phänomens, das daran beteiligt ist, der Energie usw.
Es gibt viele Ebenen geistiger Aktivität, und der Grad der Subtilität geistiger Aktivität hängt unmittelbar zusammen mit dem Grad der Subtilität bzw. Grobheit der physischen Basis. Wenn wir sterben, zieht sich das Bewusstsein von den gröberen Aspekten des Körpers als seiner Basis zurück (der Prozess ist vergleichbar mit dem, was beim Einschlafen geschieht):
- Als erstes kann das Erd-Element, also der feste Aspekt des Körpers, die geistige Aktivität nicht länger unterstützen,
- dann das Wasser-Element – das bezieht sich auf die flüssigen Anteile des Körpers –,
- dann kann das Feuer-Element, die Aspekte der Wärme des Körpers, die geistige Aktivität nicht mehr unterstützen
- und dann das Wind-Element – worunter nicht nur Gase zu verstehen sind, sondern eher eine Art Energie-Ebene, eine gröbere Unterart von Energie (es gibt subtilere Arten von Energie).
Die geistige Aktivität bzw. das Bewusstsein zieht sich also davon zurück, mit anderen Worten, es hat immer weniger eine feste Basis, und schließlich gelangen wir bis hinunter zur Ebene des klaren Lichts. Guhyasamaja beinhaltet eine enorme Anzahl an Details zu diesem Prozess.
Diesen Prozess wollen wir in der Meditation der zweiten Phase der Anuttarayoga-Praxis, der Vollendungsstufe, nachvollziehen, sodass wir tatsächlich zu subtilsten Ebene, der Ebene des klaren Lichts gelangen, ohne zu sterben. Und dann wollen wir diese nutzen, denn es ist die wirksamste Ebene, um zu einer nicht-begrifflichen Erkenntnis der zwei Wahrheiten zu kommen. Dieser Geisteszustand des klaren Lichts ist von Natur aus frei von Begrifflichkeit. Er ist subtiler als alle begrifflichen Ebenen des Geistes. Und auf dieser Ebene können die beiden Wahrheiten über alles – dessen Leerheit und dessen Erscheinung – gleichzeitig offenbar werden. Es ist kein Greifen nach wahrer Existenz vorhanden; dieser geistige Zustand ist subtiler als das. Der Geist ist noch nicht erleuchtet, und er erkennt nicht automatisch die Leerheit, aber dies ist die wirksamste Ebene geistiger Aktivität, um diese tiefe Erkenntnis zu gewinnen bzw. diese Verwirklichung zu erreichen (wenn wir zuvor durch Sutra-Praxis ein großes Ausmaß entsprechender Gewohnheiten entwickelt haben). Guhyasamaja enthält sämtliche Einzelheiten darüber, wie man zu dieser Ebene gelangt, indem man mit den Energie-Winden umgeht und sie gewissermaßen auflöst, sodass die geistige Aktivität nicht mehr darauf „reitet“.
Wir stellen uns also vor, dass wir bis hinunter zur Ebene des klaren Lichts gelangen – durch den achtstufigen Prozess der Auflösung –, und gewinnen eine konzeptuelle Erkenntnis der Leerheit. Diese wenden wir in unserer Vorstellung zusammen damit an, dass wir auf der Ebene des klaren Lichts sind.
Ist das konzeptuell?
Sicher, das ist konzeptuell.
Und aus der subtilen Energie der Ebene des klaren Lichts heraus stellt man sich dann vor, dass man, statt nach dem Tod den Bardo-Zustand zu erreichen, den Sambhogakaya erlangt, d.h. den Formkörper eines Buddhas, der Arya-Bodhisattvas Anleitungen erteilen kann. Anschließend stellt man sich vor, in einer vollständigen Form zu erscheinen, statt Wiedergeburt anzunehmen, und das ist dann analog zum Erreichen eines Nirmanakayas.
Dies ist also das Muster, die wesentliche Struktur aller Anuttarayoga-Praktiken.
Die Vollendungsstufe (tib. rdzogs-rim) wird übrigens manchmal als „Vervollständigung“ übersetzt, aber das entspricht nicht der Bedeutung. Das Wort bedeutet „vollständig“. Hier ist alles vollständig, sodass man diesen Prozess nun tatsächlich mit dem Energiesystem nachvollziehen kann, wirklich zu dieser subtilen Ebene vordringen kann usw., indem man mit dem Energiesystem arbeitet, nicht nur in der Vorstellung.
Die Praxis der Vollendungsstufe
Wenn man den Auflösungsprozess üben möchte, findet man im Guhyasamaja die meisten Einzelheiten dazu auch in der Beschreibung der Erzeugungsstufe. Auf der Erzeugungsstufe bringt man nicht nur das Mandala, sondern auch die Gottheiten, sämtliche verschiedenen Aspekte, mit der Vorstellungskraft hervor bzw. spielt all das durch. Es gibt 20 oder 25 Inhalte, die auf diese Weise mithilfe der Erzeugungsstufe geläutert werden, nämlich:
- die fünf Aggregate
- die vier Elemente des Körpers
- die sechs kognitiven Sensoren (Sensor bezieht sich hier auf die lichtempfindlichen Zellen der Augen, die klangempfindlichen Zellen der Ohren usw.)
- und die fünf Sinnesobjekte – visuelle Anblicke, Geräusche usw.
Das sind zusammen 20. Um auf die Anzahl von 25 zu kommen, kann man noch die grundlegende Ebene der fünf Arten tiefen Gewahrseins hinzufügen – spiegelgleiches Gewahrsein, gleichsetzendes Gewahrsein usw.
Jeder dieser Aspekte und noch einige mehr sind durch eine Gestalt im Mandala repräsentiert. Sie bilden eine komplette Versammlung quasi außerhalb von uns im Mandala. Zusätzlich befinden sich in unserem eigenen Körper als der zentralen Gestalt ebenfalls all diese verschiedenen Aspekte in Form der Gottheiten. Innerhalb unseres Körpers befinden sich 32 Gottheiten – einmal werden in der Sadhana 31, an anderer Stelle 32 genannt –, und an einer weiteren Stelle in der Sadhana sind auch 32 Gottheiten innerhalb des Körpers der weiblichen Gestalt erwähnt.
Man bringt also alles im Körper-Mandala der zentralen Gestalt zusammen, und daraufhin beginnt man den Auflösungsprozess: Man stellt sich vor, dass diese Gestalten sich gruppenweise in das eigene Herz auflösen. Damit ahmt man gewissermaßen nach, was während des Todesprozesses geschieht. Während der ersten vier Stadien dieses achtstufigen Prozesses versagt nacheinander jeweils eins der Aggregate, eins der Elemente, einer der Sensoren und der Objekte dieses Sensors, genauso, wie es auch geschieht, wenn wir sterben oder auf einer gröberen Ebene auch, wenn wir einschlafen. In unseren Gliedmaßen befinden sich einige extrem kraftvolle Gestalten, und auf jeder Stufe lösen sich einige davon auf.
Das Bewusstsein zieht sich also jeweils von einem ganzen Bündel zurück, während es immer subtiler wird; und diesen Prozess versuchen wir nachzuvollziehen. Es ist äußerst schwierig und anspruchsvoll, das alles zusammen im Geist durchzuführen, und zwar nicht nur in Form einer bloßen Vorstellung, sondern so, wie es sich tatsächlich anfühlen würde. Aber weil dies in all diesen Einzelheiten nachvollzogen wird, übt man sich wirklich darin, zu erkennen, was während des Todesvorgangs geschieht, den wir nicht nur in unserer Vorstellung auf der Erzeugungsstufe, sondern dann auf der Vollendungsstufe in der Meditation auch tatsächlich simulieren.
Um die Vollendungsstufe praktizieren zu können, muss man natürlich die Verbindung von Shamata und Vipashyana erreicht haben, und zwar die echte Verbindung. Das bedeutet natürlich perfekte Konzentration. Wenn man versucht, die Energien im Körper zu manipulieren, bevor man diese Konzentration erreicht hat, bekommt man enorme Probleme; man kann dadurch die Energien sehr schwerwiegend durcheinanderbringen.
Was Vipashyana betrifft, so gibt es verschiedene Arten, es im Anuttarayoga-Tantra zu entwickeln. Es wird nach dem Erreichen von Shamata und zusätzlich dazu entwickelt. Man kann zum Beispiel einen winzigen Tropfen am oberen oder unteren Ende des zentralen Kanals visualisieren – im Guhyasamaja visualisiert man ihn am unteren Ende – und innerhalb dieses Tropfens das gesamte Mandala des Guhyasamaja mitsamt allen 32 Gottheiten bis hin zu den kleinsten Einzelheiten wie etwa die schwarzen Pupillen und das Weiße der Augen. Zur Übung der subtilen Systeme behält man diesen einen Tropfen bei und visualisiert dann noch zwei weitere Tropfen, dann vier weitere und dann acht weitere Tropfen – und in jedem davon das komplette Mandala –, und dann zieht man all das der Reihe nach wieder zurück. Und dann kommt es noch besser, es wird noch schwieriger: Innerhalb des kleinen Tropfens, innerhalb der Hauptfigur im Mandala der zentralen Gestalt befindet sich am unteren Ende von derem zentralen Kanal wiederum ein noch winzigerer Tropfen und auch darin das gesamte Mandala. Das kann man noch immer weiter fortsetzen.
Es hat also keinen Sinn, sich etwas vorzumachen und zu denken, man sei ein großartiger Praktizierender und könne hervorragend mit den Chakras und Kanälen usw. umgehen. Wen wollen wir damit täuschen? All das ist unglaublich schwierig und anspruchsvoll, denn man braucht eine Konzentration so fein und präzise wie ein Laserstrahl, um die Energien in den Kanälen des subtilen Energiesystems steuern zu können. Und wenn man die Energien durcheinanderbringt, kann man durchaus verrückt werden. Es ist vergleichbar mit einer Art Mikrochirurgie, in der man mithilfe eines Mikroskops und einer elektronischen Hand chirurgische Eingriffe vornimmt. Um solch eine Art von Praxis handelt es sich auf der Vollendungsstufe. Versteht ihr? Es gibt noch viel mehr, was ich gerne erklären würde. Wenn man dieses System eingehend studiert, findet man wirklich erstaunliche Dinge.
Die drei Erscheinungen
Nachdem sich das Bewusstsein im Auflösungsprozess von den vier gröberen Ebenen zurückgezogen hat, gelangt man zu dem, was manchmal als „die drei Erscheinungen“ (tib. snang-ba gsum) übersetzt wird, und dann zum klaren Licht. Es ist sehr schwierig, diese Begriffe zu übersetzen und wirklich ein Gefühl dafür zu bekommen. Es gibt im Tibetischen ein Wort, das als „Erscheinung“ übersetzt wird, aber es steht eigentlich für zwei verschiedene Sanskrit-Wörter, die in diesem Kontext beide verwendet werden. Das eine bedeutet „Erscheinung“ und das andere bedeutet „Leuchten“. Aber auch „Leuchten“ trifft es nicht ganz; es handelt sich um eine bestimmte Art von Klarheit.
Der Auflösungsprozess führt zunächst ins klare Licht, aber dann findet der umgekehrte Prozess statt, in dem das Bewusstsein aus dem klaren Licht heraustritt, und das kann man als Beschreibung dessen verstehen, wie wir Samsara schaffen – gewöhnliche Wiedergeburt, genauer gesagt: Bardo und dann Wiedergeburt. Die eine Phase dieses umgekehrten Prozesses, die subtilere, findet mit dem Erlangen eines Bardo-Körpers statt, und die vollständige Version dann mit dem Erlangen des Körpers einer neuen Wiedergeburt.
Die drei Erscheinungen – die manchmal die weiße, rote und schwarze Erscheinung“ genannt werden – sind die subtilste Ebene begrifflichen Bewusstseins; ihre Namen haben Bezug zum Auflösungsprozess:
- Zuerst tritt das auf, auf was sich das Wort „Erscheinung“ oder „Leuchten“ (tib. snang-ba) bezieht – das ist die weiße Erscheinung.
- Die rote wird manchmal auch als „Zunahme“ (tib. mched-pa) bezeichnet. Doch das Sanskrit-Wort bedeutet eigentlich „Glanz“ oder „Schimmern“, was unter einem gewissen Gesichtspunkt eine stärkere Art von Licht sein kann, aber auch diese Beschreibung ist etwas irreführend. Der Begriff ist wirklich schwer zu übersetzen.
Wie soll man diese Wörter übersetzen? Man bekommt den Eindruck, dass es um eine stärkere Intensität von Licht geht, bis man zum klaren Licht gelangt, aber das kann nicht der Fall sein. Es geht nicht um die Intensität von Licht, etwa so, als würde man bei einer Glühbirne die Voltzahl erhöhen. In den Erklärungen der Kommentare ist davon die Rede, dass es klarer und klarer wird. Inwiefern klarer? Es geht nicht um die Fokussierung. Es geht um eine Klarheit, die frei von der Erscheinung wahrhafter Existenz ist. Die Erscheinung wahrhafter Existenz, die mit begrifflicher Wahrnehmung einhergeht, wird zunächst immer subtiler. Die Wahrnehmung wird klarer, während das Bewusstsein zur Ebene des Geisteszustands klaren Lichts vordringt, der keine Erscheinung wahrhafter Existenz hervorbringt. Darauf bezieht sich die Terminologie.
- Und die dritte, die sogenannte schwarze Erscheinung, wird von Jeffrey Hopkins als „nahe dem Erreichen“ („near attainment“, tib. nyer-thob) übersetzt. Sie ist wie eine Schwelle. Man ist fast beim klaren Licht angelangt.
Von dieser dritten Ebene gibt es zwei Varianten: eine mit Vergegenwärtigung und eine ohne. Tsongkhapa erklärt das recht deutlich. Vergegenwärtigung (tib. dran-pa) ist sozusagen der geistige Klebstoff, der dafür sorgt, dass man sich an etwas erinnert. Was nun die Variante ohne Vergegenwärtigung betrifft – an was erinnert man sich da nicht? Was hält der geistige Kleister nicht fest? Was ist der unterscheidende Faktor bei der Variante mit Vergegenwärtigung und derjenigen ohne? Es ist die Vergegenwärtigung des Geistes selbst. Aber es geht nicht um die Art von Vergegenwärtigung, die mit der Entwicklung von Konzentration zu tun hat. Im Guhyasamaja gibt es Praktiken der Meditation über Leerheit in Verbindung mit jeder dieser vier geistigen Ebenen – den drei subtilen begrifflichen Ebenen und der nicht-begrifflichen Ebene des Geisteszustands klaren Lichts. Man kann also durchaus die Vergegenwärtigung haben, die mit Konzentration einhergeht, aber dennoch nicht die Vergegenwärtigung des Geistes selbst. Ich erkläre gleich, was das bedeutet.
Im Kalachakra ist das sehr gut erklärt. Ein ähnlicher Vorgang wie während des Auflösungsprozesses tritt auf, wenn man einschläft, wobei man allerdings nicht ganz bis hinunter zum eigentlichen Geisteszustand des klaren Lichts gelangt, wie er der Definition entspricht. Aber was erscheint denn, wenn man sich in der Tiefschlafphase ohne Träume befindet? Es tritt eine Dunkelheit auf. Erinnert man sich an diese Dunkelheit, wenn man aufwacht? Nein, denn man befand sich in einem Zustand, welcher der schwarzen Erscheinung ohne Vergegenwärtigung ähnelt. Man kann sich nicht an die Dunkelheit erinnern. Man erinnert sich an Träume, aber nicht an jene Dunkelheit, obwohl auch sie erschienen ist. In sehr weit fortgeschrittenen Praktiken kann man in diesem Zustand des Tiefschlafs über Leerheit meditieren – denkt nicht, dass das einfach ist –; man hat also genügend Vergegenwärtigung für die Konzentration im Tiefschlaf, aber man erinnert sich nicht an die Dunkelheit.
Was wird nun in diesem System hinsichtlich der umgekehrten Abfolge (wie man weiterhin Samsara hervorbringt) beschrieben? Die Energiewinde werden nun wieder gröber, sodass sie aus dem Zustand des klaren Lichts heraustreten. Was geschieht im Verlauf dieser gröberen Ebenen des Geistes, den sieben Stufen außerhalb des klaren Lichts?
Es gibt etwas, was der „unauflösliche Tropfen“ (tib. mi-shig-pa’i thig-le) genannt wird. In gewisser Weise geht es dabei um die Verbindung des subtilsten Zustands klaren Lichts und der subtilsten Energie, die sich von einem Leben zum anderen fortsetzt. Im Falle einer Wiedergeburt als Mensch geht sie eine Verbindung ein mit einem Tropfen des sogenannten roten und weißen Bodhichittas (tib. byang-sems dkar-po und byang-sems dmar-po) von Mutter und Vater; das weiße bewegt sich zum Stirn- Chakra, das rote zum Nabel-Chakra. Während des Auflösungsprozesses sinkt das weiße zurück ins Herz-Chakra, wo sich der unauflösliche Tropfen befindet, und dann kommt es zur weißen Erscheinung. Dann steigt das rote Bodhichitta vom Nabel-Chakra zum Herzen auf und es kommt zur roten Erscheinung. Daraufhin verbinden sich beide wieder mit dem unauflöslichen Tropfen; es kommt zur schwarzen Erscheinung und dann zum klaren Licht.
Was um alles in der Welt bedeutet das? Ich beschreibe jetzt mein gegenwärtiges Verständnis davon – in den Texten ist das eigentlich nicht erklärt –, das ich aus Erfahrungen damit und meinen Überlegungen dazu gewonnen habe, welchen Sinn das ergibt.
Zunächst einmal sind dies konzeptuelle Wahrnehmungen. Konzeptuelle Wahrnehmungen wovon? Wir haben ja all die gröberen konzeptuellen Geisteszustände bereits vorher aufgelöst (ich werde das gleich erklären). Was dann noch übrig bleibt, ist der subtilste Aspekt konzeptueller Wahrnehmung, der eine Erscheinung wahrhafter Existenz hervorbringt. Das ist es, wovon auf dieser Ebene die Rede ist. Da es sich um konzeptuelle Wahrnehmung handelt – und das haben mir meine Lehrer bestätigt –, hat man auch eine Kategorie, die Kategorie wahrhafter Existenz, durch die man diese drei Erscheinungen wahrnimmt, zusammen mit immer subtilerer Bewegung der Energiewinde, welche diese drei Erscheinungen hervorbringenden Geisteszustände unterstützen. Mit der schwarzen Erscheinung geht die geringste Bewegung von Energiewinden einher, daraufhin mit der roten Erscheinung eine stärkere Bewegung und eine noch stärkere mit der weißen. Und es handelt sich um eine begriffliche Wahrnehmung, der eine Kategorie vorgeschaltet ist. Aber Kategorien haben keine Form. Was repräsentiert also diese subtilen Ebenen der Hervorbringung von Erscheinung wahrhafter Existenz?
Was dies repräsentiert, ist die Erscheinung von Schwarz, die Erscheinung von Rot und die Erscheinung von Weiß. Das sind nicht einfach Farben, so wie bei einem Anstrich. Das Weiß gleicht Mondlicht, das auf Schnee reflektiert wird. Das Rot gleicht dem Glühen eines Sonnenauf- oder ‑untergangs. Und das Schwarz ist wie die Nacht ohne jedes Sonnen- oder Mondlicht. Ich verstehe das so, dass dies die Repräsentation der unterschiedlichen Ebenen der Erscheinung von Festigkeit ist, der Erscheinung von wahrhafter Existenz.
Nach den ersten vier Stufen der Auflösung, wenn das Bewusstsein sich von den groben Elementen des Körpers und der Sinne zurückgezogen hat und bevor man zu den drei sogenannten Erscheinungen hervorbringenden Geisteszuständen und dem klaren Licht gelangt, gibt es eine Zwischenstufe, die nicht als eine der acht Stufen gezählt wird. Hier lösen sich die 80 allgemein auftretenden subtilen begrifflichen Geisteszustände (tib. rang-bzhin kun-rtog brgyad-cu) auf. Allgemein auftretende subtile begriffliche Arten geistiger Aktivität – primitive Ebenen konzeptueller Aktivität – gehören zu den rätselhafteren und faszinierenden Aspekten der Lehren über die Funktionsweise des Geistes. Erstaunlich.
Dafür müssen wir verstehen, dass es drei Ebenen der konzeptuellen Aktivität gibt (begriffliche bzw. konzeptuelle Wahrnehmung bedeutet, dass die Wahrnehmung mithilfe einer Kategorie geschieht, wie zum Beispiel mit der Kategorie „Hund“). Die 80 Arten begrifflicher Aktivität werden in drei Gruppen unterteilt; die eine enthält 33, die zweite 40 und die dritte neun davon. Und sie sind Indikatoren für die Geisteszustände, die die weiße, die rote und die schwarze Erscheinung hervorbringen. Eine dieser Gruppen deutet auf die weiße, eine auf die rote und eine auf die schwarze Erscheinung hin. Worin besteht nun dieser Hinweischarakter? Er bedeutet, dass jede dieser drei eine andere Art von Bewegung der Winde aufweist, so wie auch die drei Geisteszustände, welche die drei Erscheinungen hervorbringen, jeweils mit einer unterschiedlichen Art von Bewegung der Winde in Verbindung stehen. Die Bewegung der Winde und Energien ist von großer Bedeutung. Wenn man sehr feinfühlig dafür wird, kann man sie spüren. Man spürt sie als eine Art nervöser Energie und wird sich dann der verschiedenen Ebenen nervöser Energie bewusst sowie der jeweiligen ungezügelten Gedanken, konzeptuellen Vorstellungen und störenden Emotionen usw., die durch diese nervöse Energie getragen werden.
Es geht also hier um primitive Konzepte, die jeder hat, sogar ein Wurm. Es geht nicht um unser individuelles, gröberes Konzept wie zum Beispiel „mein Haus“ oder so etwas. Zu jenen primitiven Konzepten gehören auch verschiedene positive und negative Emotionen, wie zum Beispiel Zuwendung, Abscheu, Angst. Es handelt sich also, grob gesagt, um etwas, dass wir im Westen „Gefühle“ nennen würden, zum Beispiel Überdruss, Bequemlichkeit usw. Dazu gehören auch primitive Konzepte wie etwa, wenn man etwas tun will bzw. sich danach fühlt, etwas zu tun, zum Beispiel zu essen, jemandem oder etwas nahe zu sein oder sich etwas anzueignen.
All das muss man nicht lernen; unsere geistige Aktivität lässt bei jeder Wiedergeburt in Samsara diese allgemein auftretenden Konzepte instinktiv entstehen. Unsere persönlichen groben Konzepte müssen wir lernen. Wir lernen, wer unsere Mutter ist oder wie unser Zuhause aussieht. Das Konzept des Essens brauchen wir nicht zu lernen.
Bei diesen Arten primitiver konzeptueller Aktivität handelt es sich nicht um die grobe konzeptuelle geistige Aktivität, die immer dann auftritt, wenn wir Fälle von gleichartigen Emotionen erleben, welche zur selben Kategorie von Emotion gehören, sodass wir dann jedes Mal, wenn wir Angst haben, diese mit einem allgemeinen Begriff identifizieren können, nämlich der Kategorie „jetzt habe ich Angst“. Um diese Ebene geht es hier nicht. Auch nicht um die Art von Hunger, die wir jedes Mal, wenn wir hungrig sind, mittels der Kategorie „Hunger“ erkennen, mit welcher wir dann diese körperliche Empfindung identifizieren. Versteht ihr? Hier geht es um etwas Primitiveres als das.
Ich gründe meine Einschätzung davon – die man so nicht in irgendwelchen Büchern findet - auf Aussagen in Tsongkhapas Kommentar zu den fünf Stufen der Vollendungsstufe. Es geht um den subtilen konzeptuellen Prozess, der dem Auftreten von Fällen karmischen Drangs oder Zwangs zugrunde liegt, bestimmte ähnliche Handlungen durchzuführen - sie alle gehören zu dieser allgemeinen Kategorie primitiver allgemein auftretender Handlungen wie zum Beispiel etwas zu essen. All das hat mit Karma zu tun, mit Getriebenheit.
Für jedes Auftreten des Drangs zu essen muss ein primitives Konzept der Aktion des Essens vorhanden sein. Denkt einmal darüber nach. Es ist wirklich mehr als erstaunlich, es ist faszinierend. Wir reden hier von instinktiven Konzepten. Im Rahmen des samsarischen Lebens muss in jedem Individuum ein Instinkt zu essen oder sich etwas anzueignen vorhanden sein, damit der Drang auftreten kann – das ist Karma –, damit es dann tatsächlich etwas isst. Warum will man etwas essen? Wie funktioniert das? Und eine recht grobe Art von konzeptuellem Geist beinhaltet dann, dass man jedes Mal, wenn man etwas isst, begreift: „Jetzt esse ich etwas.“ Das ist schon wieder eine andere Ebene; das ist eine gröbere Ebene.
Jene primitive Ebene, die den ganzen Mechanismus des samsarischen Lebens in Gang hält – dass man etwas essen wird, dass man Lust hat, etwas zu essen, oder dass man Angst hat oder die liebevolle Fürsorge oder das Mitgefühl empfindet, das es einem ermöglicht, sich um ein Baby zu kümmern – all das muss auf einer primitiven Ebene beginnen, bevor man tatsächlich die verschiedenen Einzelfälle davon als Handlung von Essen oder Aktivität der Furcht erfahren kann. Und all das tritt in Verbindung mit einer bestimmten subtilen Energiebewegung im Körper auf, innerhalb des subtilen Körpers. Jede dieser Ebenen konzeptuellen Bewusstseins steht in Verbindung mit einem unterschiedlichen Ausmaß an Bewegung der Winde, der Stärke der nervösen Energie.
Das Guhyasamaja-System mit seinen Kommentaren und der reichhaltigen Literatur dazu eröffnet uns eine ganze Welt von Material zu der genauen Untersuchung, was um alles in der Welt in Samsara vor sich geht, was mit unserer Funktionsweise abläuft, wie wir funktionieren. Es ist wirklich fantastisch. Selbst wenn wir nicht so weit kommen, dass wir all das tatsächlich in der Meditation praktizieren und auflösen können, ist es schon allein überaus nützlich, es zu lernen, um diesen ganzen Prozess erkennen zu können, der unser samsarisches Leiden in Gang hält. Wenn man nicht diese primitive konzeptuelle Vorstellung von Essen hätte, würden wir niemals essen. Warum isst man? Und es ist ja wirklich eine Beschwernis, dass man als samsarisches Wesen dauernd etwas essen muss, nicht wahr? All das sind Aspekte und Inhalte, die im Guhyasamaja sehr detailliert behandelt werden.
Die sechs Alternativen und vier Modalitäten
Das andere große System – das wir hier aus Zeitgründen nicht erklären können, das aber in einem Artikel auf meiner Webseite ganz gut erläutert ist – ist ein Gefüge, das „die sechs Alternativen und vier Modalitäten“ (tib. mtha’-drug tshul-bzhi) genannt wird. Es handelt sich um das System der Untersuchung, wie man aus der obskuren Ausdrucksweise, den sogenannten Vajra-Worten, des Wurzeltantras all die Praktiken der Erzeugungs- und Vollendungsstufe ableitet.
[Siehe: Explaining Vajra Expressions: 6 Alternatives & 4 Modes]
Worte können:
- explizite Bedeutung (drang-don) oder
- implizite Bedeutung (nges-don) haben;
- metaphorische (dgongs-can) oder
- nicht-metaphorische Bedeutung (dgongs-min) haben;
- in konventioneller Sprache (sgra ji-bzhin-pa) oder
- nicht-konventionelle Sprache (sgra ji-bzhin-pa min-pa) ausgedrückt sein.
Auf ein Wort können mehrere dieser Charakteristika zutreffen. Und es kann:
- eine wörtliche Bedeutung (yig-don),
- eine allgemeine, gemeinsame Bedeutung (spyi-don),
- eine verborgene Bedeutung (sbas-don)
- und eine endgültige, letztliche Bedeutung (mthar-thug don) haben.
Ich habe, wie gesagt, das Lehrbuch über das erste Kapitel des Guhyasamaja Wurzeltantra studiert, das in den tantrischen Hochschulen benutzt wird – dort werden alle Kapitel studiert, aber ich habe nur das erste Kapitel studiert –, in dem man die gesamte Guhyasamaja-Praxis von diesen Worten ableitet. Wirklich ein außergewöhnliches System.
Fazit
Dies war ein allgemeiner Überblick über das Guhyasamaja. Ich habe nur einige der Highlights angesprochen. Es beinhaltet noch erheblich mehr. Wenn wir an die Guhyasamaja-Praxis denken, sollten wir sie also nicht nur im Sinne einer Reihe von Ritualen verstehen. Es ist wichtig, dass man sie als ein umfassendes System versteht, welches, wie gesagt, die Grundstruktur für das liefert, was in den Praktiken des Anuttarayoga-Tantra auf der Erzeugung- und der Vollendungsstufe allgemein abläuft. Es enthält außergewöhnliche Einzelheiten über den Prozess von Tod, Bardo und Wiedergeburt sowie darüber, wie man damit umgehen kann und wie man erkennt, was gerade abläuft. Und es gibt ein komplettes Instrumentarium, mit dem man die Bedeutung des Tantras aus der obskuren Ausdrucksweise ableiten kann, die im Text verwendet wird.
Fragen und Antworten
Damit sind wir am Ende des Vortrags angelangt. Vielleicht habt ihr ja noch die ein oder andere Frage.
Soweit ich es verstanden habe, bringt die dzogrim (Vollendungsstufe) tatsächlich das Resultat des Pfades hervor. In Indien gibt es etliche Systeme – zum Beispiel Shadanga-Yoga –, die zwar nicht buddhistisch sind, in denen aber auch ein Auflösungsprozess zur Anwendung kommt. Was ist denn der Zweck der Anwendung der Kyerim (Erzeugungsstufe); wozu dient sie? Hat sie einen anderen Anwendungsbereich?
Okay, zunächst einmal: Das sechsteilige Yoga [Shadanga Yoga], das Yoga in sechs Stufen, ist eine Struktur, die in zahlreichen verschiedenen Systemen, hinduistischen wie auch buddhistischen, zur Beschreibung dessen verwendet werden kann, was das Äquivalent zu den Praktiken der Vollendungsstufe wäre. Die jeweiligen Praktiken der sechs Teile sind in jedem dieser Systeme ziemlich verschieden, obwohl dafür derselbe Name benutzt wird.
Die buddhistischen Versionen davon – die man im Guhyasamaja, im Kalachakra und in anderen buddhistischen Systemen findet – beinhalten als besonderes Merkmal natürlich Bodhichitta und das Verständnis der Leerheit. Doch in jedem Kommentar wird mehrfach erwähnt, dass die Praxis der Vollendungsstufe unmöglich gelingen kann ohne die Praxis der Erzeugungsstufe, dass man keinen Erfolg mit der Praxis der Erzeugungsstufe haben kann, ohne die entsprechende Initiation erhalten zu haben, und dass die Initiation nicht erfolgreich verläuft, ohne dass man zuvor all die vorbereitenden Übungen durchgeführt hat.
Die vorbereitenden Übungen bestehen aus einer anfänglichen Bereinigung von Hindernissen und Blockaden sowie dem Aufbau von positiver Kraft, sodass die Initiation bzw. Ermächtigung die Potenziale der Buddha-Natur gewissermaßen wecken und anregen kann; andernfalls sind sie zu verdeckt; man ist nicht empfänglich dafür. Beruhend auf diesen Vorbereitungen übt man sich auf der Erzeugungsstufe mithilfe der Vorstellungskraft darin, die Ursachen zu entwickeln, die dann zum Gelingen der Vollendungsstufe „heranreifen“ – so lautet der Fachausdruck.
Man schafft also durch die Übung mithilfe des Vorstellungsvermögens auf der Erzeugungsstufe nicht nur mehr positive Kraft und mehr tiefes Verständnis, man entwickelt nicht nur perfekte zielgerichtete Konzentration und das vereinte Paar von Shamata und Vipashyana – all das ist unerlässlich, damit die Vollendungsstufe mit dem sechsteiligen Yoga gelingen kann. Aber dazu kommt noch: In der Vorstellung beispielsweise den Prozess durchzuspielen, wie sich die verschiedenen Aspekte auflösen, ist wie ein Training dafür, dass man erkennen kann, wenn dies dann in der Meditation tatsächlich geschieht. Sonst läuft das alles zu schnell ab, man hat keine Ahnung, was da vor sich geht, und man wird nicht imstande sein, es in der Meditation durchzuführen.
Denken wir zum Beispiel an die Dzogchen-Praxis. Da ist die Rede davon, Rigpa, reines Gewahrsein zu verwirklichen, und das wird mit allen Erscheinungen einhergehen – es wird untrennbar von Leerheit und Erscheinung, Glückseligkeit und Erscheinung und all dem sein (das gleiche findet im Mahamudra statt). Aber ohne dass man durch die Übung von Mahayoga und Anuyoga die Ursachen dafür geschaffen hat – wieso sollten da die von selbst auftretenden Erscheinungen die Gestalt der Gottheiten annehmen, die dann die Basis für den Formkörper eines Buddhas bilden? Es muss ein Grund dafür vorhanden sein. Etwas, das entwickelt wurde, sodass es dazu kommen kann. Das gleiche gilt für das Erzeugen des Äquivalents von Glückseligkeit mithilfe der Vorstellungskraft, sodass Rigpa dann in Form von glückseligen Gewahrsein auftreten kann.
Wenn hier von dem Wort „reifen“ (tib. smin-pa) die Rede ist, so ist das ein sehr bedeutsames Wort. „Reifen“ ist hier ähnlich wie bei einer Frucht zu verstehen, nämlich in dem Sinne, dass sie wachsen und reifen muss, damit sie schließlich vollkommen ausgereift und genießbar wird. Das Gelingen des sechsteiligen Yoga wird nicht zustande kommen ohne eine entsprechende Ursache dafür. Auf der Erzeugungsstufe und sogar schon vorher beginnt man, die Ursachen dafür zu schaffen. Zuerst handelt es sich quasi um eine kleine Frucht und durch die Praxis nimmt sie immer weiter zu, sodass sie zum Gelingen des sechsteiligen Yoga und schließlich dazu heranreift, dass man ein Buddha wird.
Der Vajra-Atem
Können Sie noch ein paar Worte über die Praxis des Vajra-Atems im Guhyasamaja System sagen?
Dabei handelt es sich ebenfalls um ein System, das Nagarjuna eingeführt hat, nämlich die fünfteilige Praxis der Vollendungsstufe; die Praxis der Vajra-Atmung findet auf der zweiten dieser Stufen statt – etwas, das „gesonderte Sprache“ (tib. ngag-dben) genannt wird.
Das ist im Vergleich zum sechsteiligen Yoga ein weiteres System?
Man kann die Praxis der Vollendungsstufe in das sechsteilige Yoga aufteilen. Man kann sie auch in eine fünfteilige Praxis aufteilen, und es gibt auch eine Aufteilung in vier Schritte. Man kann einen Kuchen auf viele verschiedene Arten aufteilen.
Die erste Stufe besteht in der Praxis des „gesonderten Körpers“; dabei versucht man im Grunde die Windenergien der Sinne dazu zu bringen, in den zentralen Kanal einzutreten.
Mit dem Vajra-Atem, der Praxis der gesonderten Sprache, verbindet man den Atem mit dem Klang von „Om Ah Hum“. Das ist eine Art von Praxis, die der letztendlichen Ebene der Mantra-Praxis näherkommt. Man arbeitet mit dem tatsächlichen Vorgang des Ein- und Ausatmens mit „Om Ah Hum“; dies ist eine Art und Weise, die Energien zusammen mit dem Atem in den zentralen Kanal zu bringen und dann hinunter zum Herz-Chakra. Es gibt viele Varianten, wie man diese Praxis durchführen kann. Man findet sie auch in zahlreichen anderen Tantra-Systemen. Eine der Silben von „Om Ah Hum“ wird mit dem Einatmen verbunden, eine mit einem Verweilen im zentralen Kanal und eine mit dem Ausatmen. So fängt man im Grunde damit an, die anderen Energiewinde hinunter zum Herz-Chakra zu lenken, nachdem man die Energiewinde der Sinne in den zentralen Kanal gebracht hat. Es ist nicht nur so, dass man im Geist „Om Ah Hum“ rezitiert, während man atmet. Es ist erheblich schwieriger.
Die verkürzte Sadhana
Ich denke, die meisten hier haben bereits eine Guhyasamaja-Initiation empfangen. Viele haben Schwierigkeiten damit, die verkürzte Sadhana zu üben, und die Schwierigkeiten haben vor allem mit der Visualisierung der Gottheiten zu tun. Könnten Sie noch ein wenig über die verkürzte Sadhana sprechen und darüber, wie wir sie selbst üben können – wie viel Zeit das in Anspruch nimmt und wie man das macht –, sodass die Verpflichtungen erfüllt werden, die wir mit der Initiation eingegangen sind, und uns ermöglicht, sie mit diesem Prozess einzuhalten? Bitte ein paar Worte über die verkürzte Sadhana.
Das ist eine sehr schwierige Frage. Serkong Rinpoche sagte, dass die verkürzte Sadhana für fortgeschrittene Praktizierende gedacht ist. Man beginnt mit der ganz langen Fassung. Und erst wenn man mit der ausführlichen Fassung gut vertraut ist, kann man zu den kürzeren Fassungen übergehen und selbst einfügen, was darin verkürzt ist, ohne jedesmal rezitieren zu müssen, was in der langen Sadhana aufgeführt ist. Einfach nur die Kurzfassung zu rezitieren oder zu üben, ohne zu wissen, was darin abgekürzt ist, ist eigentlich nicht so einfach. Allmählich kann man dahin kommen, dass man gar nichts mehr zu rezitieren braucht außer den Mantras und dergleichen, und die Praxis so ausübt, dass sie im Geist stattfindet, ohne dafür all die Worte rezitieren zu müssen.
Ich habe, ehrlich gesagt, nie die verkürzte Sadhana praktiziert. Ich habe die lange Fassung und dann die mittlere Fassung praktiziert, und dafür braucht man ziemlich lange.
Das Problem ist, dass wir nur die verkürzte Sadhana in russischer Übersetzung haben.
Dann müsst ihr eine Übersetzung der längeren Fassung in die Wege leiten.
Aber was ist die wesentliche Essenz der Sadhana? Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Es ist nicht die Visualisierungsübung. Macht euch also keine Sorgen, wie all die Gottheiten aussehen und was sie in der Hand halten usw., denn es ist unglaublich schwierig, all diese Einzelheiten visualisieren zu können. Für Anfänger ist es fast unmöglich, das zu schaffen. Und es ist eine höchst problematische Angelegenheit, wenn man beim Üben der Sadhana bei den Einzelheiten der Visualisierung festhängt, weil man denkt, dass dies das Wesentliche sei.
Tsongkhapa bringt sehr klar zum Ausdruck, dass die Hauptsache der sogenannte göttliche Stolz (tib. lha’i nga-rgyal) ist: Ich spüre, dass ich auf der Grundlage der Buddha-Natur usw. meiner eigenen, noch nicht erfolgten Erleuchtung – symbolisiert durch das, was ich visualisiere – die Bezeichnung „ich“ zuschreiben kann. In seinem „Brief mit praktischen Ratschlägen zu Sutra und Tantra“ (Lam-gyi rim-pa mdo-tsam-du bstan-pa) empfiehlt er, sich einfach die allgemeine Form der Gottheit und der anderen Gestalten vor Augen zu führen, und sei es auch nur vage, und das Hauptgewicht darauf zu legen, dass das Gefühl von „ich“, dass das konventionelle „ich“ diesen zugeschrieben wird. Die Klarheit der Details der Visualisierung wird sich von selbst einstellen, wenn die Konzentration besser wird (aber man muss sich natürlich eingeprägt haben, wie die Gestalt aussieht).
Die Essenz der Sadhana ist das Nachvollziehen von Tod, Bardo und Wiedergeburt. Das ist das Wesentliche. Durch denselben Ablauf, wie Tod, Bardo und Wiedergeburt vor sich gehen, können wir diesen Prozess verwenden, uns Dharmakaya, Sambhogakaya und Nirmanakaya vorzustellen. Das nennt man: Tod, Bardo und Wiedergeburt als Weg zum Nirmanakaya, Sambhogakaya und Dharmakaya nehmen. Das ist der Fachbegriff dafür. Legt in der verkürzten Sadhana das Hauptgewicht auf diese Punkte, auf das Gefühl, bereits das zu sein, was man erreichen wird. Das ist auch der Grund, warum Bodhichitta vollkommen unerlässlich für Tantra-Praxis ist. Bodhichitta ist ein Geisteszustand, der auf die eigene Erleuchtung ausgerichtet ist, die noch nicht stattgefunden hat – und somit auf die Faktoren der Buddha-Natur. Und wie symbolisiert man diese noch nicht erfolgte Erleuchtung? Indem man sich vorstellt, man hätte bereits die Form eines Buddhas. Diese Visualisierung und damit einhergehend der Stolz der Gottheit ist ein Teil von Bodhichitta.
Das Ganze erfolgt auf der Grundlage des Verständnisses von Entsagung (man entsagt der gewöhnlichen Erscheinung als samsarisches Wesen) und des Verständnisses der Leerheit dieses gesamten Prozesses – nämlich dass es aufgrund der Leerheit des Geistes möglich ist, all das zu erreichen (denn der Geist existiert nicht inhärent auf verunreinigte Weise). Wenn man die Leerheit des Prozesses der Kausalität versteht, dann versteht man, dass man Erleuchtung tatsächlich erreichen kann. Mit diesem Verständnis praktiziert man. Sonst wird man Erleuchtung nie erreichen. Ohne dieses Verständnis wird man, wie es in den Texten heißt, bloß erreichen, dass man als ein Geist in Form der Gottheit wiedergeboren wird, als die man sich visualisiert hat. – Die gesamte Übung dieses Prozesses dient also dem Wohle aller Lebewesen. Das ist der Kerninhalt jeder Art von Sadhana, die man übt.
Lasst uns nun mit einer Widmung schließen. Wir denken: Möge jegliches Verständnis, jegliche positive Kraft, die hieraus entsteht, sich immer weiter vertiefen und als Ursache dafür wirken, dass nicht nur ich, sondern alle Wesen Erleuchtung erreichen. Diesen Sinn bringt auch Shantideva in seinen Widmungen zum Ausdruck – dies alles geschieht dafür, dass jeder Erleuchtung erlangt, um allen zu nutzen.
Vielen Dank.