Einführung in die Struktur der drei Stufen der Motivation
„Lam-rim“ ist ein tibetischer Begriff, der oft als „Stufenweg zur Erleuchtung“ übersetzt wird, aber es handelt sich dabei nicht um einen Weg in dem Sinne, dass wir darauf gehen können. „Weg“ bzw. „Pfad“ bezieht sich hier auf einen Geisteszustand, der zu etwas führt, in diesem Fall bis hin zur Erleuchtung. Ich nenne ihn deshalb einen „Geisteszustand, der ein Pfad ist“ („Pfadgeist“), und solche Geisteszustände sind es, die wir, in einer bestimmten stufenweisen Reihenfolge, entwickeln wollen, um zur Erleuchtung zu gelangen.
Traditionellerweise ist der Lam-rim in drei große Stufen aufgeteilt, die wiederum in viele Unterabschnitte unterteilt sind. Sie stellen zunehmend ausgedehnte Geisteszustände dar, und jeder davon beinhaltet eine komplexe geistige Struktur. Jede Ebene wird durch eine unterschiedliche Art von Person vertreten, und jede dieser Personen besitzt eine bestimmte Zielsetzung im Leben. Wir versuchen uns so zu entwickeln, dass wir eine Art von Person mit einer geistigen Struktur werden, die einer solchen Motivation entspricht.
Ich verwende das Wort „Motivation“ hier nicht in vereinfachtem Sinne, denn im Buddhismus bezieht sich das Thema Motivation auf ein geistiges Gefüge, das eine Motivation ausmacht. Dieses besteht aus zwei Aspekten. Der eine ist ein bestimmtes Ziel, das wir im Leben haben. Der andere ist das, was wir in den westlichen Ländern normalerweise unter Motivation verstehen, nämlich eine Art emotionaler Hintergrund, der zu diesem Ziel hinführt.
Jede der drei Ebenen des Lam-rim baut auf der vorhergehenden auf, sie sind also kumulativ. Es ist also so, dass wir zuerst mit Motivation der ersten Stufe entwickeln und dann daraufhin die erste und die zweite Art der Motivation haben. Wir vergessen die erste Stufe nicht einfach, wenn wir die zweite erreichen. Und schließlich kombinieren wir dann alle drei. Tatsächlich ist es von wesentlicher Bedeutung, dass wir uns weiterentwickeln, indem wir die drei Ebenen in dieser speziellen Reihenfolge kultivieren. Wenn wir eine davon überspringen, fehlt uns der beabsichtigte Geisteszustand.
Mit der Motivation anfänglicher Reichweite zielen wir darauf ab, unsere zukünftigen Wiedergeburten zu verbessern. Die treibende Emotion besteht darin, dass wir schlimmere Wiedergeburten fürchten und sie auf keinen Fall wollen.
Mit der mittleren Reichweite haben wir das Ziel, völlige Befreiung von zwanghaft auftretenden Wiedergeburten zu erlangen, und zwar von allen. Die motivierende Emotion, die dahintersteht, ist, dass wir uns von all den Leiden, die damit verbunden sind, gründlich die Nase voll haben. Das wird oft als „Entsagung“ übersetzt, eine Entschlossenheit, von all dem frei zu sein. Das beinhaltet natürlich die Bereitschaft, uns tatsächlich von unserem Leiden zu lösen.
Mit fortgeschrittener Reichweite ist unser Ziel, motiviert von Liebe, Mitgefühl und der Absicht von Bodhichitta, vollkommene Erleuchtung zu erlangen. Wir denken an all die anderen Lebewesen und daran, dass sie gleichfalls leiden und Probleme haben, genau wie wir, und deshalb wollen wir Erleuchtung erreichen, damit wir ihnen auf bestmögliche Weise helfen können, ihr Leiden ebenfalls loszuwerden.
Meine eigene Geschichte, wie ich den Weg der Lam-rim-Stufen studierte
Als eine Art Einführung in dieses Thema möchte ich ein wenig von meiner persönlichen Geschichte erzählen, wie ich dazu kam, den Lam-rim zu studieren.
Das Thema begegnete mir zum ersten Mal 1968, als ich an der Graduiertenfakultät der Harvard-Universität Tibetisch studierte. Im Rahmen des Kurses lasen wir einige Seiten aus Tsongkhapas großem Lam-rim-Text, dem „Lam-rim chen-mo, Eine große Darstellung der aufeinander folgenden Stufen des Pfades“, doch zu der Zeit hatte ich noch keine Ahnung von der enormen Spannweite des Materials, das darin behandelt wurde. Damals war noch überhaupt kein Lam-rim-Text je ins Englische übersetzt worden, nicht einmal Gampopas Werk „Der kostbare Schmuck der Befreiung“. Das Thema war damals noch weitgehend unbekannt.
Im darauffolgenden Jahr, mit 24, reiste ich im Rahmen eines Fulbright-Stipendiums nach Indien, um Forschungsarbeiten für meine Dissertation durchzuführen. Ich hatte eigentlich geplant, über ein sehr fortgeschrittenes Thema aus dem Tantra zu schreiben. Das hatte mir zwar mein Professor vorgeschlagen, aber ich merkte bald, dass das ein aberwitziges Vorhaben war. Die tibetischen Lehrer in Indien legten mir nahe, stattdessen den Lam-rim zu studieren. Ich entschloss mich, diesem Vorschlag zu folgen, studierte das Thema 18 Monate lang und schrieb meine Dissertation über dessen mündliche Überlieferung, denn ich wusste noch nicht einmal, dass es zahlreiche Texte darüber gab. Mir wurde alles von meinem Lehrer Geshe Ngawang Dhargye mündlich erklärt, und daher gab ich der Dissertation den Titel „Die mündliche Tradition des Lam-rim“.
Es war eine aufregende Zeit in Indien. Die Welle der Hippie-Bewegung hatte Indien noch nicht erreicht. Carlos Castaneda schrieb seine Bücher, und ein paar von uns Westlern, die sich in Indien bei den Tibetern aufhielten, hatten das Gefühl, dass wir ein ähnliches Abenteuer erlebten. Wie Castaneda entdeckten wir irgendwelche geheimen, besonderen, magischen Lehren. Das war wirklich ein Abenteuer!
Ich studierte den Lam-rim auf ganz traditionelle Weise. Das heißt, dass mir nur jeweils ein Thema oder ein Punkt aus dem Lam-rim vorgestellt wurde, ohne dass ich eine Ahnung hatte, was als Nächstes kam. Ich musste mich auf jeden Punkt einzeln für sich konzentrieren und ihn innerlich verarbeiten, bevor ich das nächste Stück erhielt, das darauf folgte. Man sagte mir, dies sei ein Thema, das man immer wieder durcharbeitet, und jedes Mal, wenn man wieder von vorne anfing, konnte man einfügen, was man in späteren Phasen gelernt lernte. Je mehr wir davon zu einem Gesamtbild zusammensetzen können, umso klarer und einfacher wird es, diese Geisteszustände, von denen die Rede war, tatsächlich zu entwickeln.
Die Lehren in ein Netzwerk und in unser Leben integrieren
Beruhend auf dieser Tatsache begann ich die Idee zu entwickeln, die Lehren als eine Art Netzwerke zu erklären, denn der ganze Lam-rim ist ein Netzwerk in dem Sinne, dass jeder Punkt sich mit jedem anderen Punkt in der Lehre verbindet. Das Netzwerk, das dadurch geschaffen wird, ist wirklich sehr komplex, und je mehr Verbindungen man kennt und herstellen kann, umso tiefer wird das Verständnis. Diese Art von Vernetzung trifft nicht nur auf den Lam-rim zu, sondern auf alles in Buddhas Lehren, im Dharma.
Das Konzept der Integration ist ein weiterer Aspekt, der dazu beiträgt, diesen Punkt zu verstehen. All die Lehren und all die Punkte darin bilden ein Flechtwerk, aber wir müssen sie selbst miteinander verknüpfen. Und es ist nicht nur so, dass wir die Lehren miteinander verknüpfen, sondern dass wir sie tatsächlich auch mit all den verschiedenen Aspekten unserer selbst und unseres Lebens verknüpfen müssen. Auch darauf lässt sich wieder das Bild eines Netzwerks übertragen, denn all die Punkte des Lam-rim und des Dharma müssen eine Verbindung mit all den verschiedenen Aspekten unseres Lebens eingehen. Wenn wir das zustande gebracht haben, dann haben wir den Dharma wirklich in uns integriert.
Dharma „light“
Die Notwendigkeit, den Dharma in unser Leben zu integrieren, ist besonders relevant im Hinblick auf die drei Ebenen von Motivation. Bevor wir eine dieser drei Ebenen erreicht haben, kann unsere anfängliche Herangehensweise durch etwas gekennzeichnet werden, das ich „Dharma light“ nenne – ein Ausdruck, den ich als Gegenstück zum „echten Dharma“ benutze. Diese Ausdrucksweise ist angelehnt an die Bezeichnung „Cola light“, welche die Variante mit Süßstoff gegenüber der gehaltvolleren klassischen Coca Cola abgrenzt. „Dharma light“ ist eine Version der Dharma-Lehren, die lediglich in dem Ausmaß verstanden wird, in dem sie dieses Leben verbessert. Wir versuchen damit nur, mithilfe des Dharma unser gegenwärtiges Leben ein bisschen besser zu gestalten. Der echte Dharma hingegen ist die Dharma-Praxis im Kontext der drei traditionellen Ebenen mit ihrer jeweiligen Reichweite der Motivation.
„Dharma light“ zu lernen und anzuwenden ist ein bisschen so, als würden wir Buddhismus als eine Art Therapie verwenden, und die Lehren können in dieser Beziehung tatsächlich sehr hilfreich sein. Daran ist nichts verkehrt, solange wir das nicht mit dem „echten Dharma“ verwechseln, denn es erreicht nicht das volle Ausmaß dessen, worum es im Dharma geht. Wenn wir uns selbst gegenüber ehrlich sind, trifft es wahrscheinlich auf die meisten von uns zu, dass wir im Grunde hauptsächlich mit „Dharma light“ beschäftigt sind.
Die „Dharma light“-Version des Lam-rim
Sich auf einen spirituellen Lehrer verlassen
Was ist nun die Dharma-light-Version des Lam-rim? Schauen wir uns die Lehren an: Ganz am Anfang ist davon die Rede, dass die Wurzel des Pfades darin besteht, sich auf den spirituellen Lehrer zu verlassen. Ich hatte das Glück, in jungen Jahren auf einen spirituellen Lehrer zu treffen, der noch die traditionelle Ausbildung im Tibet vor 1959 durchlaufen war und dann im Exil weiter ausgebildet wurde – ich spreche von Geshe Ngawang Dhargye. Doch ich brauchte viele Jahre, bis ich verstand, was mit dem Wort „Wurzel“ gemeint war. Ich hatte es immer dahingehend missverstanden, dass damit „der Beginn“ gemeint war, vor allem deshalb, weil es ja das ist, womit wir am Beginn des Lam-rim anfangen.
Aber das ist es nicht, was mit dem Bild der „Wurzel“ gemeint ist, nämlich im Sinne der Wurzel einer Pflanze, denn eine Pflanze geht ja nicht aus einer Wurzel hervor, sondern aus einem Samenkorn. Die Wurzel ist das, woraus die Pflanze ihre Nahrung bezieht und aus der heraus sie wachsen kann. Sie gibt der Pflanze Stabilität, indem sie sie in der Erde verankert. Auf ähnliche Weise verankert uns ein angemessenes Vertrauen auf einen Lehrer am Boden, sodass wir nicht in irgendwelche seltsamen Fantasievorstellungen bezüglich des Dharma verfallen. Der Lehrer hilft uns auch dabei, aufrecht weiterzuwachsen, sodass wir nicht in Schieflage geraten und von den eigentlichen Lehren abkommen, ganz ähnlich, wie die Wurzel eine Pflanze im Boden verankert, sodass sie nicht davongeweht werden kann. Es ist der spirituelle Lehrer, von dem wir die Inspiration gewinnen, welche uns die Energie dafür gibt, auf dem Pfad wachsen zu können, und er ist natürlich auch derjenige, von dem wir Anleitung und Erklärungen erhalten. Wir können natürlich aus Büchern etwas über Buddhismus lernen, aber auch Bücher sind von Lehrern geschrieben, von denen allerdings nur manche Buddhisten sind, und noch weniger davon sind erfahrene Meister.
Als ich in Harvard studierte, war die Herangehensweise an den tibetischen Buddhismus so, als wäre das eine tote Materie, etwa so wie die Religion des alten Ägypten. Aber als ich nach Indien kam und großartigen tibetischen Lamas begegnete und anfing, bei meinem Lehrer dort zu studieren, merkte ich, dass der Dharma Wirklichkeit war, dass der Buddhismus lebendig ist und dass es ganz erstaunliche lebende Beispiele für die Lehren gibt. Immer noch war die Inspiration, die ich durch meinen Lehrer gewann, auf der Ebene von „Dharma light“ und bot mir Unterstützung in meinen Versuchen, den Dharma anzuwenden, um Verbesserungen meines gegenwärtigen Lebens zu bewerkstelligen.
Die anfängliche Stufe
Die Lehren der anfänglichen Reichweite des Lam-rim thematisieren zuerst die Wertschätzung des kostbaren menschlichen Lebens, das wir haben, und empfehlen, sich selbst anzuschauen. Ich untersuchte also meine Situation und merkte, dass ich mich ziemlich glücklich schätzen konnte, so viele Möglichkeiten zu haben, bei großen Lehrern und Meistern zu studieren. Dann richtet man den Blick auf Tod und Unbeständigkeit und das lässt uns erkennen, dass die Möglichkeiten, die wir haben, nicht ewig andauern werden. Gut, damit konnte ich etwas anfangen, und ich wollte meine Fähigkeiten wirklich sehr gerne nutzen. Ich war noch jung und hatte die Energie und die nötige Intelligenz usw., um mich weiterzuentwickeln. Zu diesem Punkt konnte ich leicht Verbindung herstellen.
Anschließend ist in den Lehren von den schlimmeren Wiedergeburtszuständen die Rede, die in künftigen Leben folgen könnten, z. B. Höllenbereiche usw. Nun begann ich, an die Sache wie ein Anthropologe heranzugehen, der Brauchtum studiert: „Ach, interessant, das ist es also, was sie glauben.“ Dann blätterte ich die Seite um, damit ich mit etwas weitermachen konnte, was für mich relevanter war.
Danach kommen die Lehren über Zuflucht; und ich erkannte allmählich, dass das keine passive Erfahrung ist. Im Buddhismus gibt es nicht die Mentalität: „Rette mich, rette mich“. Wir müssen vielmehr unserem Leben selbst eine sichere Richtung geben. Ich wusste, dass wir Buddha, Dharma und Sangha folgen, aber obwohl ich eine lange Liste mit all ihren Qualitäten hatte, verstand ich nicht so recht, was das alles bedeutete. Mir war klar, dass mehr damit zusammenhing, als nur ein rotes Bändchen um den Hals zu tragen, aber ich verstand eigentlich nicht die tief greifenden Auswirkungen. Trotzdem nahm ich immerhin Zuflucht in diese Richtung.
Als Nächstes präsentiert der Lam-rim die Lehren über Karma, wobei es im Grunde darum geht, destruktives Verhalten zu vermeiden. Das wurde zwar in dem Zusammenhang dargestellt, dass man destruktives Verhalten vermeidet, um künftige schlimmere Wiedergeburten zu vermeiden, die daraus folgen würden, aber das war kein starkes Werbeargument. Dennoch sprach einiges dafür, ein guter Mensch zu sein. Andere nicht verletzen, nicht destruktiv handeln, nicht aus Wut oder Gier usw. handeln – das war alles schön und gut und ich konnte das alles akzeptieren, weil ich auch einsah, wie mich das im Leben glücklicher machen könnte. Das war eine vollkommene „Dharma-light“-Version der anfänglichen Ebene. Natürlich wusste ich damals nicht, dass dieses Verständnis „Dharma light“ war. Ich dachte, es sei wirklich genau das, worum es in den Lehren ging.
Die mittlere Stufe
Die Lehren der mittleren Stufe beginnen mit der Beschreibung der Leiden der besseren Wiedergeburtszustände sowie der allgemeinen Leiden von Samsara. Der Abschnitt über die Götterbereiche schien wieder eine Unterrichtsstunde in Anthropologie zu sein, aber die Schilderungen der Leiden im Daseinskreislauf waren damals für mich viel relevanter. Da wurde genau beschrieben, wie man dauernd frustriert wird und eigentlich nie bekommt, was man will. Das bot vortrefflichen und tiefgründigen Stoff zum Nachdenken.
Anschließend geht es auf der mittleren Ebene weiter mit der Analyse all der Geistesfaktoren und der störenden Emotionen und der Erläuterung, wieso es die störenden Emotionen sind, die unsere Probleme verursachen. Das war für mich wirklich der interessanteste Teil der Darstellungen im Lam-rim, nämlich wie die verschiedenen emotionalen Probleme und Schwierigkeiten entstehen, welche Faktoren daran beteiligt waren, was die Ursachen dafür waren und wie wir Probleme tatsächlich hervorbringen. Diese Erklärungen waren großartig und weitaus besser als alle Psychologie-Vorlesungen, die ich je besucht hatte. Ich begriff nicht ganz, dass diese Ausführungen eigentlich genau das zum Thema hatten, was zu den zwanghaft auftretenden Wiedergeburten führt, sondern ich verstand das alles im Sinne von Dharma light und es machte mir klar, dass dies die Art und Weise war, wie die verschiedenen emotionalen und psychologischen Probleme in meinem eigenen Leben entstanden. Das war sehr hilfreich.
Als Nächstes werden im Lam-rim die zwölf Glieder des abhängigen Entstehens dargelegt – was eine sehr komplizierte Angelegenheit war. Obwohl ohne Umschweife gesagt wird, dass damit beschrieben wird, wie Wiedergeburt zustande kommt, drang mir das nicht so recht ins Bewusstsein, und ich versuchte es mehr im Zusammenhang mit diesem Leben zu verstehen, denn damals fiel es schwer, zukünftige Leben und Wiedergeburt ernst zu nehmen. Das war einfach nicht Teil unserer Kultur und entsprach ganz und gar nicht dem, womit ich aufgewachsen war. Aber ich war aufgeschlossen und lehnte die Vorstellung nicht ab. Ich ließ quasi die Möglichkeit offen. Wenn das, was sich daraus ergab, sinnvoll schien und hilfreich war, konnte es vielleicht ja sein, dass es Wiedergeburt wirklich gibt. Aber ich wusste es ehrlich gesagt nicht.
Danach folgt das Thema Entsagung. Ich verstand, dass es mehr damit auf sich hatte als die banale Vorstellung, alles aufzugeben und in einer Höhle leben. Entsagung ist die Entschlossenheit, von Samsara und vom Leiden frei zu sein. Ich war durchaus bereit, Leiden und die Probleme aufzugeben, die ich in jenem Alter hatte. Wie jeder junge Mensch hatte ich ein paar emotionale Probleme, und ich wollte ganz gewiss frei von den Ursachen meiner Probleme sein. Aber ich habe das wohl auf einer ziemlich oberflächlichen Ebene verstanden, etwa in dem Sinne, wie schön es wäre, nie wieder ärgerlich oder gierig zu sein. Hieß das, dass ich bereit war, mein gieriges Verlangen aufzugeben, mir so viel wie möglich den Bauch vollzuschlagen, wenn mein Lieblingsessen auf dem Tisch stand? Tja, das ist eine andere Frage!
Im Anschluss an die Entsagung befasst sich das folgende Thema eingehend mit der Art und Weise, wie man sich von Samsara befreien kann, nämlich mithilfe der drei höheren Schulungen. Dazu gehört die Schulung in höherer ethischer Disziplin, Konzentration und Weisheit bzw. unterscheidendem Gewahrsein. Letzteres besteht in der Weisheit, Realität von Fantasievorstellungen zu unterscheiden. Damit konnte ich ohne Schwierigkeiten etwas anfangen.
Das beschreibt im Grunde die mittlere Stufe, wie ich sie damals auf der Ebene von „Dharma light“ verstand, in dem Sinne, dass ich meine emotionalen Probleme loswerden wollte. Der Buddhismus erklärte sehr schön, wie diese Probleme entstanden, und lieferte gute Anhaltspunkte, wie man sie überwinden kann.
Die fortgeschrittene Stufe
Im Zusammenhang mit der fortgeschrittenen Stufe lernte ich zuerst einmal einiges über das Thema Gleichmut: dass es notwendig ist, jedem die gleiche Einstellung entgegenzubringen. Das passte sehr gut zu den Strömungen der Bürgerrechtsbewegung und Frauenemanzipation, die gerade im Gange waren. Klar, gleiches Recht für alle, also das gefiel mir. Alle sind gleich. Aber das auch auf Mücken und Kakerlaken zu beziehen, war doch eine ganz andere Sache.
Ich nenne übrigens Indien gern das „Land der Insekten“ und habe immer scherzhaft Reiseprospekte entworfen mit dem Slogan „Wenn Sie Insekten mögen, werden sie Indien lieben.“ Und als großer Anhänger von Science-Fiction, besonders von „Star Trek“, habe ich mir gern vorgestellt, die Insekten wären Außerirdische aus anderen Welten. Wenn ich nun Außerirdischen begegnen würde, die sechs Beine und Flügel hätte oder so – wie schrecklich, wenn ich ihn dann einfach zertreten wollte. So versuchte ich, etwas Frieden mit den Insekten zu schließen – solange sie sich nicht in meinem Schlafzimmer befanden.
Wenn sie in mein Schlafzimmer kamen, nannte ich sie inakzeptable Lebensformen und sie mussten weichen. Doch zu der Zeit war ich immerhin schon ziemlich geschickt darin, sie einzufangen, indem ich eine Tasse über sie stülpte, ein Blatt Papier darunter schob und sie dann hinauswarf. Ich hatte sogar gelernt, Fliegen in der Luft zu fangen – von meinen tibetischen Freunden, die machten das immer zum Spaß. Sie fingen eine Fliege, schüttelten sie in der Hand, ließen sie frei und lachten sich kaputt, wenn die Fliege ganz benommen in Schlangenlinien davontorkelte. So fortgeschritten war ich nicht, ich habe die Fliegen bloß aus dem Zimmer gebracht.
Nach der Einführung zum Thema Gleichmut leitet der Lam-rim dazu an, sich vorzustellen, dass jedes Wesen schon einmal unsere Mutter gewesen ist. Das ist ziemlich bizarr, aber ich hatte eine recht gute Beziehung zu meiner Mutter, und deswegen fiel mir diese Übung nicht allzu schwer. Sie verläuft in mehreren Schritten, und es geht dabei um Liebe, Mitgefühl und den Wunsch, dass jeder glücklich und nicht unglücklich sein möge. Liebe war ja das große Thema der Hippie-Zeit, also war das stimmig. Und Verantwortung zu übernehmen, anderen zu helfen, fand ich auch in Ordnung.
Ich lernte, dass die beste Art und Weise, Verantwortung zu übernehmen und wirklich allen effektiv helfen zu können, darin besteht, ein Buddha zu werden. Aber ich wusste nicht so genau, was das bedeutete. Es gab eine Liste von Qualitäten, die als „die besten“ galten, und es ging darum, sich „das Beste“ zum Ziel nehmen. Ja, ein Buddha zu werden würde vermutlich den Menschen mehr helfen als an einer Demonstration für Bürgerrechte teilzunehmen. Damit sollen natürlich nicht die Bürgerrechtsdemonstrationen als nutzlos abgetan werden, aber hier wurde eine viel größere Vision präsentiert, wie man helfen könnte. Allerdings habe ich damals wohl das Bild vom Buddha ein wenig mit dem Bild von Supermann vermischt.
Dann folgten die Lehren über die sechs Vollkommenheiten – die ich mittlerweile „weit reichende Geisteshaltungen“ nenne – als das Mittel dazu, ein Buddha zu werden. All das wirkte sehr stimmig. Großzügig sein, ethisch handeln, geduldig sein, ausdauernd – wer könnte darin einen Fehler sehen? Es war perfekt. Dazu kamen die sehr detaillierten Lehren über Konzentration. Es war erstaunlich, wie sehr diese Anweisungen in die Einzelheiten gingen. Sie führten zu den Lehren über die Leerheit, die natürlich schwer zu verstehen, aber überaus faszinierend waren und die ich auf jeden Fall tiefer gehend erkunden wollte. Und ich stellte fest, dass ich, je tiefer ich die Leerheit erkundete, umso mehr von den Fantasievorstellungen ablegen konnte, auf welche Weise ich und alle anderen existierten.
Die Bodhisattva-Gelübde gefielen mir sehr, weil darin lauter Dinge aufgezeigt werden, die Schwierigkeiten im Umgang mit anderen verursachen. Ich fand das hervorragend, denn ich hatte tatsächlich Schwierigkeiten im Umgang mit anderen, und das hier war wie ein perfektes Handbuch all dessen, was zu vermeiden war. Unter Bodhichitta verstand ich, das Ziel zu haben, ein Buddha zu werden, um allen zu helfen, mehr nicht, und das schien einfach genug. Auf dieser Gundlage, mit diesem Verständnis ging ich die Lehren der fortgeschrittenen Stufe des Lam-rim durch und wollte, allen zu helfen. Ich würde jeden lieben, wir alle sind gleichwertig, und ich würde versuchen, das Beste zu werden, was irgend möglich war – ein Buddha.
Daraufhin erhielt ich eine kleine Einführung ins Tantra, und dort heißt es, dass man das in diesem Leben schaffen kann. Das schien mir zu bestätigen, dass ich nicht unbedingt viel an zukünftige Leben und all das denken musste. Alles ließ sich auf dieses Leben beziehen – der ideale „Dharma light“. Ich denke, das ist die Einstellung, zu der viele von uns kommen, nachdem wir erstmals den Lam-rim studiert haben. Und wir denken dann, ihn eingehender zu studieren würde bedeuten, die Listen der acht So-und-so und der zehn Das-und-das zu lernen, und wenn wir das gelernt haben, haben wir unser Verständnis des Lam-rim vertieft. Nun, es ist durchaus von Nutzen, all diese Einzelheiten zu lernen, aber wir werden uns immer noch auf der Ebene von „Dharma light“ befinden.
Die vier edlen Wahrheiten
Ich blieb zwei Jahre in Indien, studierte den Dharma und flog zurück in die USA, nur um dort meine Dissertation einzureichen. Dann kehrte ich sogleich wieder nach Indien zurück und hatte dort für weitere 27 Jahre meinen Wohnsitz, setzte meine Studien fort und versuchte, all diese Inhalte in meiner Meditation zusammenzufügen, so, wie meine Lehrer es mir geraten hatten. Dabei wurde stets betont, dass die Art und Weise, wie Buddha gelehrt hatte, wirklich die beste Möglichkeit war, den Dharma zu vermitteln. Und wie hatte Buddha gelehrt? Er lehrte die vier edlen Wahrheiten und er lehrte gemäß der Struktur dieser vier Wahrheiten. Man solle nicht so selbstgefällig sein zu denken, man könne es besser als der Buddha. Also versuchte ich, dem Rat zu folgen, und fügte den Lam-rim mit den vier edlen Wahrheiten zusammen.
Die vier Wahrheiten kennt ihr wahrscheinlich. Aber es sind, kurz gesagt, Wahrheiten, die von den sogenannten „Edlen“ (Aryas) als wahr erkannt werden, welche frei von begrifflichen Vorstellungen die Realität wahrnehmen. Es handelt sich um wahre Tatsachen, aber diejenigen, die die Realität noch nicht ohne begriffliche Vorstellungen erkannt haben, betrachten sie möglicherweise nicht als wahr.
Die erste edle Wahrheit lautet, dass es Leiden gibt. Buddha zeigte verschiedene Ebenen von Problemen auf, mit denen wir alle im Leben konfrontiert sind, und das sind in Wahrheit Leiden. Allerdings halten gewöhnliche Menschen einige dieser Ebenen für unproblematisch, zum Beispiel unser gewöhnliches Glück. Aber wenn man unter die Oberfläche blickt, sind auch diese Ebenen in Wirklichkeit Formen von Leiden, denn im Falle von gewöhnlichem Glück können wir nie genug bekommen, es ist nie zufriedenstellend, und es ist nie von Dauer.
Zweitens zeigte Buddha auf, dass die Ursache für unser Leiden unsere Unwissenheit und unsere Verwirrung hinsichtlich der Realität ist, und wies darauf hin, dass dies in Wahrheit die Ursachen sind. Für gewöhnlich bringen wir das vielleicht nicht miteinander in Verbindung. In der dritten edlen Wahrheit macht er klar, dass es möglich ist, eine wahre Beendigung unseres Leidens zu erzielen, und das wird üblicherweise als „Aufhören“ übersetzt. Wir denken vielleicht, es sei nicht möglich, dass es eine wahre Beendigung des Leidens geben kann, aber es ists tatsächlich wahr. Und schließlich erklärte Buddha in der vierten edlen Wahrheit die Geisteszustände, die, wenn wir ihnen folgen und sie entwickeln, dazu führen, das wir Leiden und die Ursachen dafür tatsächlich loswerden; ein solcher Geisteszustand wird deshalb ein „Geisteszustand, der ein Pfad ist“ oder kurz „Pfadgeist“ genannt. Er wird wirklich imstande sein, eine wahre Beendigung von all dem herbeizuführen. – Das sind, in einfacher Form, die vier Wahrheiten.
Die drei Stufen des echten Lam-rim in Verbindung mit den vier edlen Wahrheiten
Die anfängliche Stufe
Es kann recht hilfreich sein, die drei Ebenen des Lam-rim im Zusammenhang mit den vier edlen Wahrheiten zu betrachten. Hier auf der anfänglichen Stufe ist das wahre Leiden das der schlimmeren Wiedergeburtszustände. Es gibt drei Arten wahren Leidens. Die erste ist das sogenannte Leiden des Leidens, das heißt: allgemeines Unglücklichsein. Dieses Unglücklichsein kann mit jeglicher Sinneswahrnehmung einhergehen, zum Beispiel mit dem Sehen, Hören oder Schmerzempfinden, oder es kann auch einen geistigen Zustand begleiten. Im Kontext der ersten Stufe des Lam-rim wird dieses sehr umfassende „Leiden des Leidens“ veranschaulicht durch die Leiden der Zustände niedriger Wiedergeburt. Die Ursache des Leidens solcher Wiedergeburten ist destruktives Handeln, und die wahre Beendigung davon ist, nie wieder schlimme Wiedergeburten, sondern nur bessere Wiedergeburten zu erleben. Der wahre Pfad, der dahin führt, ist Zufluchtnahme, das heißt, eine sichere Richtung im Leben einzuschlagen. Zudem besteht der Pfadgeist darin, den Lehren des Dharma und dem tatsächlichen Beispiel des Buddha und des Sangha edler Wesen (Arya-Sangha) zu folgen, wie man destruktives Verhalten vermeidet.
So wird die anfängliche Stufe mit den vier edlen Wahrheiten in Verbindung gebracht. Wir studieren und lernen, dass die wahre Ursache störender Emotionen und zwanghaften destruktiven Verhaltens die Unkenntnis der Gesetze des Karma – Ursache und Wirkung von Verhalten – ist, die dem zugrunde liegt. Wenn wir das begreifen, üben wir Selbstbeherrschung, wenn wir den Impuls haben, unter dem Einfluss von Ärger, Gier und dergleichen zu handeln, und agieren das nicht aus. Es kann zwar sein, dass ich beispielsweise immer noch ärgerlich auf jemanden bin, aber ich halte mich davon zurück, ihn oder sie anzuschreien und Gemeinheiten zu sagen, weil ich begreife, dass das nur weiteres Unglücklichsein und Probleme zur Folge haben wird.
Die mittlere Stufe
Dann gehen wir weiter zur mittleren Ebene, welche sich mit den nächsten beiden Arten von Leiden befasst, die Buddha aufgezeigt hat. Beim Leiden der Veränderung geht es um unsere gewöhnliche Art von Glück, die, genauso wie Unglücklichsein, mit Sinneswahrnehmung oder einem geistigen Bewusstsein einhergeht. Es ist problematisch, weil es nie anhält und nie dauerhaft zufriedenstellend ist. Es verwandelt sich wieder in Unglücklichsein, und wir wissen nie, wann das der Fall sein wird. Ein einfaches Beispiel dafür können wir beobachten, wenn wir unsere Lieblingsspeise essen. Wenn das wahres Glück wäre, dann müssten wir umso glücklicher werden, je mehr wir essen. Doch ganz offensichtlich ist es so, dass wir, wenn wir weiteressen, irgendwann an einen Punkt kommen, an dem es uns nur noch Übelkeit und Unwohlsein bereitet.
Noch wichtiger ist die dritte Art von Leiden, die auf der mittleren Ebene erörtert wird. Es ist das, was wir „allumfassend beeinflussendes Leiden“ nennen. Das ist in unserer Sprache ein etwas schwerfälliger Ausdruck, aber dieses Leiden bezieht sich auf jeden Augenblick unserer Existenz, es betrifft alles, was wir erleben, und eigentlich werden die ersten beiden Arten des Leidens davon hervorgebracht.
Dieses allumfassend beeinflussende Leiden bezieht sich im Grunde auf die unkontrollierbar immer wieder auftretenden Aggregat-Faktoren unserer Erfahrung – unsere fünf Aggregate in jedem Augenblick unseres Erlebens. Einfach ausgedrückt sind das unsere Körper und Geist und all die verschiedenen, sich ständig ändernden Geistesfaktoren usw., die jeden Augenblick unserer Erfahrung ausmachen. Ihr Verlauf setzt sich von Augenblick zu Augenblick fort, nicht nur in diesem Leben, sondern fortlaufend in allen Leben. Sie gehen aus den störenden Emotionen und dem Karma hervor, welches dadurch aufgebaut wird, dass wir nach ihnen handeln. Unser Geist beinhaltet fortlaufend mehr störende Emotionen und Karma, die dann wiederum fortwährend noch mehr Momente sogenannter verunreinigter Aggregate hervorbringen.
Diese Aggregat-Faktoren – unser Körper und Geist - bilden die Basis und die Rahmenbedingungen, innerhalb derer wir die ersten beiden Arten des Leidens erleben, nämlich Unglücklichsein und gewöhnliches Glück. Was wir in jedem Moment empfinden, geht dauernd auf und ab und fluktuiert ständig zwischen Glücklich- und Unglücklichsein. Das findet immer wieder statt und ganz offensichtlich können wir nie Gewissheit darüber haben, dass wir im nächsten Moment glücklich oder unglücklich sein werden. Das ist das wahre Leiden, um das es hier auf der mittleren Stufe geht.
Die Ursachen dafür sind, wie gesagt, die störenden Emotionen und das Karma, das durch sie aufgebaut wird, und tiefer gehend verstanden ist die wahre Ursache unsere Unwissenheit in Bezug darauf, wie wir tatsächlich existieren bzw. wie jeder existiert und alles existiert. Meistens wird das als „Unwissenheit“ übersetzt, aber mir gefällt der Ausdruck nicht, weil er so klingt, als wären wir quasi dumm. Es gibt aber zwei Bedeutungen dieses Ausdrucks. Entweder sind wir uns einfach dessen nicht gewahr, auf welche Weise wir existieren, oder wir verstehen es auf verkehrte Weise, aber das bedeutet durchaus nicht, dass wir dumm sind. Jedenfalls ist es die wahre Ursache unserer zwanghaften Wiedergeburt, unseres „Samsara“. Genau das ist es, was „Samsara“ bedeutet. Die wahre Beendigung davon ist Befreiung und der wahre Pfad dahin sind die drei höheren Schulungen, nämlich die Schulung in höherer ethischer Disziplin, höherer Konzentration und höherem unterscheidenden Gewahrsein.
Das ist die mittlere Stufe, wie sie im Zusammenhang mit den vier edlen Wahrheiten dargestellt wird.
Die fortgeschrittene Stufe
Das Leiden, das auf der fortgeschrittenen Stufe ins Blickfeld gerückt wird, ist nicht nur die eigene zwanghaft immer wieder auftretende Wiedergeburt, sondern die aller Lebewesen. Die drei Arten von Leiden treten bei jedem auf. Hier müssen wir auch die eigene Unfähigkeit mit einbeziehen, anderen wirksam bei der Überwindung ihres Leidens zu helfen. Die wahren Ursachen für das Leiden der anderen sind natürlich dieselben wie die für mein eigenes Leiden, nämlich diejenigen, die auf der mittleren Stufe erklärt wurden. Wenn wir die eigene Unfähigkeit, anderen zu helfen, in Betracht ziehen, können wir in gewissem Ebene unsere Selbstbezogenheit als die wahre Ursache dafür identifizieren. Genauer betrachtet, hätten wir diese Selbstbezogenheit bereits auf der mittleren Ebene bei den störenden Emotionen mit einbeziehen können.
Ich muss sagen, es ist ziemlich schwierig zu verstehen, wie wir immer noch nur um uns selbst besorgt sein können, wenn wir tatsächlich all unsere störenden Emotionen beseitigt haben. Wenn man die Anhaftung an sich selbst sowie die Naivität in Bezug auf die Situation der anderen abgelegt hat – wie kann da die Besorgnis immer noch nur um das eigene Wohl kreisen? Und wenn wir sagen: „Ich bin deshalb auf mich selbst bedacht, weil ich nicht glaube, dass ich jedem wirklich helfen kann, ein Buddha zu werden“, könnte man dem entgegnen, dass auch das eine Art von Naivität ist. Denn wenn wir so denken und nur an der eigenen Befreiung interessiert sind, könnte man argumentieren, dass dies eine Naivität hinsichtlich der Buddha-Natur ist.
Jedenfalls können wir hier die Selbstbezogenheit als wahre Ursache identifizieren. Und in diesem Zusammenhang müssen wir die Tatsache hinzuziehen, dass unser Geist die Dinge auf unmögliche Arten und Weisen erscheinen lässt, nämlich so, als wären sie wahrhaft von sich aus erwiesen, ohne von irgendetwas anderem abhängig zu sein. Das mag recht formelhaft klingen, doch in einfachen Worten bedeutet es etwa Folgendes: Unser Geist lässt die Dinge so erscheinen, als würden sie jedes für sich existieren, quasi wie in Plastik eingeschweißt. Deshalb können wir nicht sehen, wie alles miteinander verbunden ist, insbesondere hinsichtlich Ursache und Wirkung. Wir können nicht sehen, warum jemand so ist, wie er jetzt ist, und warum er die Probleme hat, die ihm jetzt zu schaffen machen. Und wir können nicht alle Wirkungen vorhersehen, die daraus entstehen, wenn man diese Person jetzt dieses oder jenes lehrt. Denn wenn wir die Person anschauen, ist das, was uns erscheint, nur die Person, die wir jetzt vor uns sehen, und wir denken, das sei alles. Wir denken, sie existiert ganz aus sich selbst heraus, unabhängig von all ihren Beziehungen und all den Ursachen und Bedingungen. Das ist die Ursache unserer Unfähigkeit, einem jeden zu helfen.
Die wahre Beendigung dieser Unfähigkeit wäre der allwissende Zustand eines Buddha, denn ein Buddha kann sehen, wie alles miteinander verknüpft ist, und deshalb weiß er, worin das Problem dieser Person eigentlich besteht, welche Faktoren daran beteiligt sind, und wie man da am besten helfen kann. Der wahre Pfad, der zu dieser Kenntnis führt, ist das Verständnis der Leerheit, und zwar sowohl mithilfe von Entsagung als auch von Bodhichitta als zugrunde liegender Kraft. Wir brauchen beides. Um Bodhichitta zu entwickeln, müssen wir natürlich Gleichmut, Liebe und Mitgefühl sowie die sechs weit reichenden Geisteshaltungen, die so genannten „Vollkommenheiten“, entwickeln. All das finden wir auf der fortgeschrittenen Stufe.
Die Überzeugung gewinnen, dass Erleuchtung möglich ist
Man könnte denken: Das ist ziemlich klug, jetzt habe ich die drei Stufen mit den vier edlen Wahrheiten verknüpft. Aber sind wir wirklich über Dharma „light“ hinausgegangen? Wenn wir Anfänger sind, vermutlich nicht, zumindest nicht in emotionaler Hinsicht. Wir haben begriffen, wie Dharma „light“ in diesem Leben funktionieren kann, aber um die drei Stufen motivierender Denkstruktur in unser Leben zu integrieren, sodass wir tatsächlich echten Dharma praktizieren, müssen wir noch einmal darauf zurückkommen, wie denn eigentlich Motivation definiert ist.
Wir haben schon erwähnt, dass sie aus zwei Aspekten besteht: Es gibt ein Ziel, das wir erreichen wollen, und damit einhergehend eine Emotion, die uns antreibt, dieses Ziel zu erreichen. Um sich aufrichtig ein Ziel zu stecken, ist es unerlässlich, nicht nur eine klare Vorstellung davon zu haben, was eigentlich das Ziel ist und was es bedeutet, sondern auch fest überzeugt zu sein, dass es erreichbar ist. Es reicht nicht, zu denken, dass ein Buddha das wohl erreichen könnte, aber wir nicht. Wir müssen überzeugt sein, dass das nicht nur schon mal jemand erreicht hat, sondern dass wir das tatsächlich auch können.
Erst wenn wir davon wirklich überzeugt sind, können wir dieses Ziel aufrichtig anstreben. Andernfalls ist es nur Spielerei oder Wunschdenken und nicht sonderlich stabil. Nagarjuna hat das in seiner „Erklärung des Erleuchtungsgeistes“ (Skt. Bodhichitta-vivarana) klar herausgestellt. Dort heißt es, dass die Scharfsinnigen zuerst das tiefste Bodhichitta, d.h. das Verständnis der Leerheit, entwickeln. Anschließend entwickeln sie das relative Bodhichitta, mit dem sie dann Erleuchtung anstreben, um anderen von Nutzen zu sein. Denn wenn man das Verständnis der Leerheit entwickelt hat, dann ist man überzeugt, dass Befreiung und Erleuchtung möglich sind. Und darauf beruhend kann man relatives Bodhichitta entwickeln, d. h. den Wunsch, Befreiung und Erleuchtung zu erlangen, um anderen nutzen zu können. Diese Vorgehensweise ist für diejenigen mit den scharfsinnigsten Fähigkeiten geeignet.
Für diejenigen mit eher durchschnittlichen Fähigkeiten gilt die umgekehrte Reihenfolge, und in dem Fall gilt es zuerst relatives Bodhichitta zu entwickeln, nämlich den Wunsch, zum Wohle aller Wesen Erleuchtung zu erlangen. Dann wird man nach und nach tiefstes Bodhichitta, das Verständnis der Leerheit entwickeln – als das, was Befreiung und Erleuchtung tatsächlich herbeiführt. Doch die Überzeugung, dass das Ziel erreichbar ist, ist wesentlich kraftvoller als die bloße Annahme, dass es möglich ist. Nagarjunas „Erklärung des Erleuchtungsgeistes“ ist allerdings vom Blickwinkel derjenigen erklärt, die eine scharfsinnige Intelligenz besitzen, deswegen beginnt er mit der Leerheit.
Drei Faktoren, von denen man überzeugt sein muss
Um wirklich den echten Dharma zu praktizieren, müssen wir von drei Punkten überzeugt sein. Auf der anfänglichen Stufe brauchen wir die Überzeugung, dass es Wiedergeburt gibt, d. h. wir müssen verstehen, dass das geistige Kontinuum, das wir haben, keinen Anfang und kein Ende hat. Basierend auf dieser Überzeugung können wir bessere künftige Wiedergeburten anstreben. Unser geistiges Kontinuum wird sich fortsetzen, davon sind wir völlig überzeugt, und wir wollen ganz bestimmt nicht die Leiden schlimmerer Wiedergeburten erleben und dadurch für lange Zeit von weiterem spirituellen Fortschritt abgehalten werden.
Auf der mittleren Stufe brauchen wir zunächst einmal die feste Überzeugung, dass Befreiung möglich ist, müssen also verstehen, dass es eine wahre Beendigung der Unwissenheit, störenden Emotionen usw. geben kann. Das bedeutet die Überzeugung von der dritten edlen Wahrheit. Um sie zu gewinnen, müssen wir davon überzeugt sein, dass unser Geisteskontinuum von Natur aus rein ist, das heißt, es ist nicht von seiner Natur her verunreinigt durch Unwissenheit, störende Emotionen und so weiter.
Auf der fortgeschrittenen Ebene müssen wir überzeugt sein, dass Erleuchtung möglich ist, mit anderen Worten: dass es möglich ist aufzuhören, täuschende Erscheinungen hervorzubringen. Auch das ist ein vorübergehender Makel. Es nicht Teil der Natur des Geistes, Erscheinungen unmöglicher Existenzweisen hervorzubringen. Das Geisteskontinuum ist auch davon rein.
Ermutigung finden durch Verständnis der Buddha-Natur
Das ist es, woran wir arbeiten müssen, um diese drei Stufen wirklich im Rahmen des echten Dharma zu verinnerlichen und zu integrieren: an der Überzeugung, dass diese drei Ziele des Lam-rim erreichbar sind und dass wir selbst sie erreichen können. Wenn wir darüber nachdenken, können wir uns ins Gedächtnis rufen, dass wir über die Lehren der Buddha-Natur gesprochen hatten – über die Faktoren, welche in jedem Geisteskontinuum enthalten sind und welche die Erleuchtung ermöglichen. Zu diesen Faktoren gehören die positiven Qualitäten des Geistes, unsere positive Kraft und aufbauenden Erkenntnisse sowie die ihrer Natur nach fleckenlose Reinheit des Geistes.
Gampopa stellt dieses Thema an den Anfang seines Textes „Der kostbare Schmuck der Befreiung“, denn die Buddha-Natur ist es, die den ganzen Prozess ermöglicht. Er betont, wie wichtig es ist, dieses Verständnis gleich am Anfang zu entwickeln, um all die anderen geistigen Pfade hervorzubringen wirklich aufrichtig zu entwickeln. Die Buddha-Natur zu verstehen ermutigt uns, und deshalb ist es von wesentlicher Bedeutung, überzeugt davon zu sein. Das ist es, wovon Nagarjuna sprach. Und besonders förderlich, um uns diese Inspiration zufließen zu lassen, ist natürlich ein spiritueller Lehrer.
Zusammenfassung
Die Lehren des Lam-rim verschafft uns eine Art Landkarte, die uns zeigt, wie wir von unserem gegenwärtigen Standort zur vollständigen Erleuchtung gelangen, und zwar Schritt für Schritt. Denn die meisten von uns beginnen, noch bevor sie den ersten Schritt tun, erst einmal im Rahmen von Dharma „light“, in dem wir darauf bedacht sind, die buddhistischen Lehren zu verwenden, um unser jetziges Leben zu verbessern.
Das ist durchaus nicht verkehrt, denn es ist nur natürlich, dass wir unsere Lebenssituation möglichst gut gestalten wollen. Aber wir sollten Dharma „light“ nicht mit dem echten Dharma verwechseln – der mindestens auch das Wohlergehen in zukünftigen Leben miteinbezieht.
Von dieser grundlegenden Ebene des echten Dharma ausgehend können wir uns dann stufenweise weiter vorarbeiten, wie es der Reihe nach dargelegt wird, bis wir schließlich Buddhas und anderen wirklich von größtmöglichem Nutzen sind.