Überzeugung vom Dharma

Rückblick auf die wesentlichen Punkte des Lam-rim

Der Lam-rim ist in drei Stufen unterteilt, eine jede mit unterschiedlichen Geisteszuständen, die als Pfade fungieren, welche uns ermöglichen, Erleuchtung zu erreichen. Diese Struktur wurde erstmals von dem großen indischen Meister Atisha ausgestaltet, der eine wesentliche Rolle dabei spielte, den Dharma ein zweites Mal von Indien nach Tibet zu bringen. Er legte diese Struktur in einem Text namens „Lampe für den Pfad zur Erleuchtung“ (Skt. Bodhipatha-pradipa) dar.

Auf Atisha ging die Kadam-Tradition zurück. Im Laufe der Zeit teilte sich diese Tradition und wurde von Tsongkhapa reformiert; so entstand daraus die Gelug-Tradition. Doch die Kadam-Tradition hat auch die anderen Traditionen beeinflusst, denn die „Lojong“-Lehren, d. h. die Lehren des Geistestrainings werden weithin unterrichtet, und sie stammen vor allem aus der Kadam-Überlieferung. Ein weiteres Beispiel für den Einfluss der Kadam-Tradition ist Gampopa, auf den viele Kagyü-Linien zurückgehen, und der als großer Meister bekannt ist, welcher die Überlieferung von Kadam und Mahamudra zusammenführte.

Atisha hatte die Idee zu der Struktur des Lam-rim durch eine Zeile in Shantidevas Werk „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattva“ (Vers 1.4) gewonnen. Dort heißt es:

Dieser kostbare menschliche Körper mit den Freiräumen und Ausstattungen, die wir zur Verfügung haben, der so schwierig zu erlangen ist, kann die Ziele jeglicher Person erfüllen.

Der Ausdruck „Jegliche Person“, so führt Atisha aus, bezieht sich auf Personen dreier Stufen unterschiedlicher Reichweite.

Die anfängliche Stufe umfasst die Themen einer gesunden Beziehung zu einem spirituellen Lehrer, unsere kostbare menschliche Wiedergeburt, Tod und Unbeständigkeit, die Leiden der drei schlimmen Bereiche, Zuflucht bzw. Einschlagen einer sicheren Richtung, die Qualitäten von Buddha, Dharma und Sangha sowie die Erörterung von Karma und Vermeiden von destruktivem Verhalten.

Auf der mittleren Stufe werden die Leiden der drei höheren Bereiche von Wiedergeburt und die Leiden von Samsara bzw. der zwanghaft auftretenden Wiedergeburt überhaupt behandelt, Das beinhaltet die Darstellung der störenden Emotionen, der Geistesfaktoren im Zusammenhang mit den vier Wahrheiten und die wahre Ursache des Leidens. Hier werden auch die zwölf Glieder des abhängigen Entstehens genauer erklärt und im Speziellen wird dargelegt, wie unsere störenden Emotionen das Leiden hervorbringen – die erste edle Wahrheit. Dann folgen die drei höheren Schulungen in ethischer Selbstdisziplin, Konzentration und unterscheidendem Gewahrsein als die Mittel, um aus Samsara herauszukommen und Befreiung zu erlangen. Außerdem werden im Rahmen der höheren ethischen Selbstdisziplin Gelübde für Ordinierte und Haushälter beschrieben. All das steht im Zusammenhang mit einer geistigen Einstellung der Entsagung (der Entschlossenheit, frei zu sein) und kennzeichnet die mittlere Stufe der Motivation.

Für die fortgeschrittene Stufe gibt es Lehren über verschiedene Methoden, eine Bodhichitta-Motivation zu entwickeln. Dazu gehört die siebenteilige Meditation von Ursachen und Wirkung. Sie beginnt auf der Grundlage von Gleichmut sowie damit, zunächst einmal zu erkennen, dass jedes Wesen unsere Mutter gewesen ist. Die zweite Methode besteht darin, unsere Einstellung gegenüber uns selbst und anderen auszugleichen und zu vertauschen. Sie beinhaltet auch die Übung von „Tonglen“, d. h. Geben und Nehmen. Tsongkhapa legte den Ablauf einer elfteiligen Meditation dar, in der diese beiden Arten, die Bodhichitta-Motivation zu entwickeln, miteinander kombiniert werden. Des Weiteren wird erklärt, wie man die Bodhisattva-Gelübde ablegt und was diese sind. Daran schließt sich die Übung der sechs weit reichenden Geisteshaltungen an, in deren Zusammenhang auch sehr ausführlich erläutert wird, wie man weitreichende geistige Stabilität bzw. Konzentration erlangt, und zwar mithilfe der Entwicklung von Shamatha, einem still gewordenen und zur Ruhe gekommenen Geisteszustand. Das weitreichende unterscheidende Gewahrsein wird in Form der Lehren präsentiert, wie man Vipashyana, einen Geisteszustand von außergewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit, entwickelt. All dies gehört zur fortgeschrittenen Stufe der Lehren.

Aus diesem kurzen Überblick lässt sich erkennen, dass die Lam-rim-Lehren eine riesige Menge an Material enthalten. Im Rahmen der Einteilung in Sutra und Tantra zählt all dies zum Bereich der Sutra-Lehren. Eine gewisse Beherrschung all dieser Inhalte ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Tantra-Praxis. Darüber sind sich alle tibetischen Traditionen einig.

Die im Lam-rim enthaltenen Punkte finden sich in sämtlichen tibetischen Traditionen

Wir können hier natürlich unmöglich jeden einzelnen der Punkte, die ich gerade aufgezählt habe, detailliert behandeln, und es gibt viele Texte, die dieses Material in unterschiedlicher Länge darstellen und mit unterschiedlich vielen Zitaten aus indischen Quellen untermauern. Die längste Fassung wurde von Tsongkhapa verfasst und heißt „Lam-rim chen-mo“, „Umfassende Darstellung der aufeinander folgenden Stufen des Pfades“. Sie enthält eine unglaubliche Fülle von präzisen Einzelheiten zu Shamatha und Vipashyana. Die Version des fünften Dalai Lama beinhaltet eine große Menge an persönlichen Anleitungen zur Meditation. Es gibt zahlreiche Varianten von Lam-Rim-Texten und jeder davon hat seine Besonderheiten.

Es ist wichtig zu wissen, dass sämtliches Material, das zum Lam-rim gehört, in allen Traditionen des tibetischen Buddhismus zu finden ist. Lediglich die Struktur, in der dieses Material präsentiert wird, unterscheidet sich. Gampopa zum Beispiel, ein großer Kagyü-Meister der frühen Zeit, stellt dieses Material auf zweierlei Art dar. In seinem Werk „Der kostbare Schmuck der Befreiung“ unterteilt er es folgendermaßen: Er erläutert zunächst die Buddha-Natur als Ursache, dann das kostbare menschliche Leben als zugrunde liegende Basis, die korrekte Art und Weise, sich auf einen spirituellen Lehrer zu verlassen, als Prämisse und seine Anleitungen als die Methode. All das bezweckt dasselbe wie im Lam-rim, nämlich die Ziele bessere Wiedergeburt, Befreiung und Erleuchtung. Gampopa untergliedert dann die Methoden im Hinblick auf die Überwindung von vier Hindernissen. Das klingt ähnlich wie die Darstellung in der Sakya-Tradition, in der dieselben Themen im Hinblick auf „Loslösung von vier Arten des Anhaftens“ unterteilt sind. Gampopa verfasste eine Darstellung, welche die „Vier Dharmas von Gampopa“ genannt wird.

In der Drigung-Kagyü-Tradition finden wir Darstellungen, die das Material in Grundlage, Pfad und Ergebnis unterteilen, und etwas Ähnliches in der Sakya-Tradition unter dem Namen „Die drei Arten von Sicht“ – da gibt es die unreine Sicht, die Sicht der Erfahrung und die reine Sicht. Einige Darstellungen kombinieren die vier Dharmas von Gampopa mit den drei Stufen der Motivation, andere mit den vier Anhaftungen. Noch ein weiteres Beispiel ist Patruls Text „Die Worte meines vollendeten Lehrers“. Darin ist von den äußeren Vorbereitungen und den inneren Vorbereitungen die Rede. Das alles beinhaltet dasselbe Material, wir sollten also in Bezug darauf keine sektiererische Ansicht hegen und meinen, die Version, die wir selbst studieren, wäre die einzige oder die beste. Einige der Zitate aus indischen Quellen sind möglicherweise leicht unterschiedlich formuliert und einige persönliche Anleitungen können leichte Unterschiede aufweisen. Aber im Grunde handelt es sich um dasselbe.

Die drei Arten, an Fakten zu glauben

Wir haben gesehen, dass man die Struktur des Lam-rim im Kontext der vier edlen Wahrheiten verstehen kann, und dass es ganz wesentlich ist, von den Zielen überzeugt zu sein, wenn wir wirklich imstande sein wollen, uns gemäß dem echten Dharma zu entwickeln. Wie können diese Gewissheit aus zwei Geisteshaltungen gewinnen. Die eine besteht aus den drei Arten dessen, was meist als „Glauben“ übersetzt wird. Ich denke, eine bessere Übersetzung dafür wäre „an Tatsachen glauben“. Es geht hier nicht um so etwas wie zum Beispiel darauf zu vertrauen, dass der Börsenmarkt sich morgen erholen wird, oder auf irgendetwas anderes, dass wir nicht wissen können. Vielmehr geht es darum, etwas zu glauben, das tatsächlich wahr ist, nicht bloß um Glauben an etwas, das man unmöglich verstehen kann.

Als Erstes gibt es eine reinigende Art des Glaubens, nämlich etwas, das den Geist von einer störenden Einstellung gegenüber dem betreffenden Inhalt reinigt und den Geist in Bezug darauf klärt. Es bringt den Geist beispielsweise zur Ruhe hinsichtlich Unentschiedenheit, Zweifel und Befürchtungen. Die Befürchtung könnte zum Beispiel im Zusammenhang mit der Erleuchtung bestehen, etwa im Sinne von: „Wer kann sowas schon schaffen“. Oder wir könnten daran haften und denken: „Oh, das ist was Tolles, das will ich für mich, mich, mich!“ Die reinigende Art, etwas zu glauben, bringt all das zur Ruhe, und man gewinnt sie auf der Grundlage der zweiten Art, etwas zu glauben, nämlich zuversichtliches Vertrauen, das auf vernünftigen Begründungen beruht. Mit anderen Worten, das Ziel – Befreiung und Erleuchtung zu erreichen usw. – ist plausibel. Es ist folgerichtig und einleuchtend, nicht etwas Irrationales oder Unmögliches. Die dritte Art ist, etwas zu glauben in Verbindung damit, dass man es anstrebt. Wir sind überzeugt, dass es möglich ist und dass wir fähig sind, es zu erreichen, und folglich streben wir es an.

An diesen drei Arten, an Tatsachen zu glauben, können wir erkennen, dass es von wesentlicher Bedeutung ist, überzeugt zu sein, dass die Ziele plausibel sind und es möglich ist, sie zu erreichen, und dass jeder Einzelne von uns fähig ist, sie zu erreichen. Indem wir diese Überzeugung gewinnen, wird unser Geist ruhig und wir hegen weder Ängste oder Zweifel, noch übertreiben wir oder werden neidisch auf andere, die die Ziele bereits erreicht haben, oder arrogant in Bezug auf unsere eigenen Errungenschaften.

Die sechzehn Aspekte der vier edlen Wahrheiten

Eine weitere Facette der Lehren, welche die Wichtigkeit der Überzeugung hervorhebt, ist das Studium der 16 Aspekte der vier edlen Wahrheiten. Es fiel bereits der Begriff „Arya“, das Sanskrit-Wort für ein „edles Wesen“, das heißt, eine Person, deren Wahrnehmung der Leerheit frei von begrifflichen Vorstellungen ist. Tatsächlich geht es dabei nicht nur um diese Wahrnehmung der Leerheit, sondern auch der 16 Aspekte der vier edlen Wahrheiten. Ich werde sie hier nicht aufzählen, aber sie sind ein wichtiges Studienthema, um die entsprechende Überzeugung zu entwickeln. Wir brauchen die Überzeugung, dass es möglich ist, wahre Beendigung zu erreichen, und dass die wahre Ursache des Leidens mangelndes Gewahrsein ist und dass es geistige Pfade gibt, die wirklich dazu führen, die Ursachen des Leidens für immer loszuwerden. Die 16 Aspekte der vier edlen Wahrheiten erklären das alles und helfen uns Überzeugung zu entwickeln.

Die Überzeugung von den wahren Beendigungen und wahren geistigen Pfaden als Basis für eine sichere Richtung (Zuflucht)

Ich erwähne diese Details nur, um zu verdeutlichen, wie wichtig und hilfreich es ist, Aspekte der Dharma-Lehren in unser Leben zu integrieren, denn dadurch wird unser Verständnis eines jeden Punktes im Dharma verstärkt und vertieft. Wenn wir wirklich Zuflucht nehmen – mit anderen Worten, unserem Leben eine sichere Richtung geben, die durch die drei kostbaren Juwelen Buddha, Dharma und Sangha angezeigt wird –, dann wollen wir uns auch tatsächlich in diese Richtung bewegen.

Welches ist die Richtung, die durch das Dharma-Juwel angezeigt wird? Es ist die dritte und die vierte edle Wahrheit – die wahren Beendigungen und die Geisteszustände der wahren Pfade im Geisteskontinuum eines Aryas. Diese Definition sollten wir kennen. Die dritte und die vierte edle Wahrheit existieren nicht von sich aus irgendwo am Himmel, es gibt sie auf der Grundlage unseres geistigen Kontinuums. Es handelt sich um die Beendigung, die dauerhafte Beseitigung von Leiden und dessen Ursachen in einem Geisteskontinuum – hoffentlich in unserem. Und die geistigen Pfade sind die Verständnisweisen, die dazu führen. Die Buddhas (im Sinne von Buddha-Juwel) sind diejenigen, die diese wahren Beendigungen und wahren geistigen Pfade vollständig erreicht haben. Der Arya-Sangha (das Sangha-Juwel) besteht aus diejenigen, die sie teilweise, aber noch nicht vollständig erreicht haben.

Wie ernst nehmen wir wirklich Zuflucht? Handelt es sich nur um ein Lippenbekenntnis, wobei eine Haarsträhne abgeschnitten und uns ein tibetischer Name gegeben wird? Zu was nehmen wir denn überhaupt Zuflucht, etwa zum Osterhasen? Zuflucht bedeutet, in unserem Leben eine sichere Richtung einzuschlagen, also müssen wir zu etwas Zuflucht nehmen, von dem wir überzeugt sind, dass es existiert. Wir brauchen die Zuversicht, dass es so etwas wie die wahren Beendigungen und die wahren geistigen Pfade gibt, dass es Personen gibt, die sie erreicht haben, und wir sie auch erreichen können. Wir müssen überzeugt sein, dass es aufeinanderfolgende Stufen gibt, mittels derer man sie erreicht, und dass der Buddha sie tatsächlich gelehrt hat. Wir entschließen uns, in diese Richtung zu gehen, wenn wir sicher sind, dass so etwas tatsächlich existiert. Und wenn wir dann noch Bodhichitta hinzufügen, zielen wir darauf ab, den ganzen Weg zurückzulegen, der dahin führt, selbst ein Buddha zu werden, um allen zu nutzen.

Anfangs steht Zuflucht im Kontext der Befreiung. Wenn wir einen tibetischen Vers zur Motivierung sprechen und damit erst Zuflucht nehmen bzw. die Richtung von Buddha, Dharma und Sangha bis hin zur Befreiung einschlagen und dann, durch die positive Kraft von großzügigem Geben usw., bis hin zur Erleuchtung zum Wohle aller, so hat der erste Teil, die Zufluchtnahme, damit zu tun, dass wir nach Befreiung streben. Der zweite Teil, Bodhichitta, beinhaltet das Streben nach Erleuchtung. Diese Stufen müssen wir durchlaufen.

Die ganze Grundlage dafür, eine Person mit der anfänglichen, dann der mittleren und dann der fortgeschrittenen Stufe der Motivation zu werden, beruht auf der sehr zuversichtlichen Überzeugung, dass diese Ziele erreichbar sind. Und es gibt einen Weg, der dazu führt, diese Überzeugung zu erlangen. Alles im Lam-rim ist in diesem Kontext des Strebens nach Befreiung und Erleuchtung zu verstehen. Das ist es, was eine Übung zu einer buddhistischen Praxis im Sinne einer sicheren Richtung macht. Denn was Buddhismus von Nicht-Buddhismus unterscheidet, ist die Zuflucht. Wenn wir sie auslassen, dann sieht die anfängliche Stufe fast wie etwas aus, das man in jeder anderen Religion auch findet. Man möchte eine bessere Wiedergeburt oder man möchte in den Himmel kommen. Das ist nichts sonderlich Buddhistisches.

Die sichere Richtung zu den drei kostbaren Juwelen ist eine Besonderheit des Buddhismus

Es gibt zahlreiche buddhistische Praktiken, die mit denen nicht-buddhistischen Traditionen übereinstimmen. Entsagung – die Entschlossenheit, von weltlicher Existenz frei zu sein, gibt es in vielen verschiedenen Traditionen, und vollständige Anleitungen zum Erreichen von Shamatha und Vipashyna findet man in vielen nicht-buddhistischen indischen Traditionen. Sie sind zwar nicht unbedingt auf die Leerheit ausgerichtet, aber sie beinhalten auf jeden Fall die Methoden, um diese Geisteszustände zu erreichen. Und es gibt hinduistische Versionen von Tantra, in denen ebenso wie im Buddhismus mit Chakras, Energien und Energiekanälen gearbeitet wird.

Was macht eine jede dieser Praktiken zu einer buddhistischen Praxis? Liebe und Mitgefühl? Nein, das finden wir in fast jeder anderen Religion auch. Ist es das Vertrauen zu einem spirituellen Lehrer? Nein, auch das gibt es in vielen anderen Traditionen. Mönch oder Nonne werden, Rituale oder Pujas durchführen? Nein, all das findet man auch in anderen Religionssystemen.

Was macht also eine Praxis zu einer buddhistischen? Man kann die Antwort in jedem Text nachlesen – es ist die sichere Richtung der Zuflucht. Das ist keine triviale Aussage. Es geht nicht um eine Aussage wie: „Mein Buddha ist besser als euer Gott“. Es geht um die sichere Richtung und um die dritte und die vierte edle Wahrheit, die wahre Beendigung von Leiden, basierend darauf, dass man dessen Ursachen für immer beseitigt, und um wahre geistige Pfade, die dahinführen. Mit anderen Worten: um wahre Befreiung.

Auch in anderen indischen Religionen ist von Befreiung die Rede, aber vom buddhistischen Gesichtspunkt aus handelt es sich dabei nicht um vollständige Befreiung. Denn bei den Praktizierenden dieser Systeme bleiben immer noch einige störende Emotionen und Probleme übrig, die durch deren Sichtweise nicht aufgelöst wurden. Unsere Überzeugung, dass das, was Buddha lehrte, wahr ist, kann nicht einfach bloß darauf beruhen, dass wir an ihn glauben und dass er gesagt hat, es sei wahr. Dass wir es glauben, muss auf der rational begründeten Überzeugung basieren, dass es sich bei der von ihm aufgezeigten Befreiung um tatsächliche Befreiung handelt. Es geht nicht darum, dass unsere Befreiung besser ist als deren Befreiung. Wir sind diesbezüglich nicht arrogant oder hängen einfach nur daran. Wir haben Zweifel ausgeräumt, nicht indem wir engstirnig und starrsinnig würden, und wir sind auch nicht sektiererisch oder neidisch auf irgendjemand anderen oder wollen mit anderen wetteifern. Unsere Art zu glauben ist das Glauben an Tatsachen, verbunden mit dem Streben nach etwas, das erreichbar ist, und der Zielstrebigkeit, dass wir es erreichen werden. Dann ergibt alles im Lam-rim einen Sinn.

Die eigene Motivation überprüfen

Um zu erkennen, ob wir unsere Herangehensweise die von Dharma „light“ ist, müssen wir unsere Motivation untersuchen. Versuchen wir, mit den Methoden des Dharma nur dieses Leben zu verbessern, oder denken wir dabei auch an künftige Leben? Haben wir eine genaue Vorstellung davon, was Erleuchtung wirklich bedeutet und ob sie überhaupt möglich ist?

Wenn Dharma „light“ unser Getränk ist, ist das kein Grund für Schuldgefühle oder Abwertung. Es ist vollkommen in Ordnung. Es ist die Art und Weise, wie die meisten Westler anfangen und wie wir in Anbetracht unserer Herkunft anfangen müssen. Wenn wir mit Dharma „light“ beschäftigt sind, ist es wichtig zu wissen, dass der echte Dharma noch etwas anderes ist, und wir sollten das respektieren. Später werden wir hoffentlich in der Lage sein, mit dem echten Dharma umzugehen. Um noch einmal zu unserer Untersuchung der Motivation zurückzukommen: Wir müssen uns über die die drei echten Ziele im Klaren sein.

Ein weiterer Schritt besteht darin, tatsächlich ein Gefühl dafür zu bekommen, das uns dazu hinzieht, diese Ziele zu erreichen. Es mag sein, dass wir bessere Wiedergeburten, Befreiung und Erleuchtung für möglich halten, aber eine Menge Widerstände haben, tatsächlich auf eines dieser Ziele hinzuarbeiten. Nachdem wir begriffen haben, dass alle drei erreichbar sind, müssen wir deshalb an der emotionalen Antriebskraft arbeiten, die bewirkt, dass wir uns tatsächlich in Bewegung setzen und etwas tun, um sie zu erreichen. Um Dharma „light“ in echten Dharma umzuwandeln, müssen wir also in zwei Dimensionen arbeiten. Die eine ist das Verständnis und die andere der emotionale Aspekt, und keines von beiden darf vernachlässigt werden. Beide sind gleichermaßen wichtig.

Wer sind wir und was wollen wir?

Wenn im Lam-rim von „Personen“ die Rede ist, so ist diese Begrifflichkeit durchaus von Bedeutung. Was für eine Art von Person sind wir? Bin ich eine Person, der nur an Wohlstand und Liebe usw. in diesem Leben gelegen ist? Bin ich jemand, der wirklich an zukünftige Leben denkt und sicherstellt, dass sie nicht schlimmer werden, damit ich Möglichkeiten habe, mich spirituell weiterzuentwickeln? Bin ich eine Person, die daran arbeitet, alles Leiden zu überwinden und Befreiung zu erlangen?

Denkt daran, dass Befreiung hier die Befreiung von zwanghaft auftretender Wiedergeburt bedeutet. Befreiung im Sinne von Dharma „light“ ist lediglich Befreiung von unkontrollierbar immer wieder auftretenden Problemen in diesem Leben. Zielen wir auf Erleuchtung ab, um ausnahmslos jedem, wirklich jedem einzelnen Lebewesen im ganzen Universum zu helfen? Das schließt gleichermaßen auch jedes Insekt mit ein! Das ist ein weitgestecktes Ziel. Es ist das, was man „Mahayana“ nennt, ein weites Fahrzeug des Geistes. Diese Ziele bestimmen, was für eine Art von Person ich bin, und das ist bedeutsam. Auf diese Ziele hinzuarbeiten bestimmt unsere Lebensgestaltung sehr viel mehr als unsere Nationalität, unser Beruf und unser Geschlecht. Im Lam-rim geht es darum, was für eine Art von Person wir sind.

Diese Fragen müssen wir uns also stellen, um festzustellen, was unsere Lebensgestaltung ausmacht. Wenn wir das nicht tun, dann ist unser Studium des Dharma nicht anders als irgendein anderes Studium, es ist dann bloß etwas, das interessant ist und vielleicht auch ein bisschen nützlich, etwa so, wie wenn man lernt, ein Auto zu reparieren. Das mag amüsant und manchmal nützlich sein, aber es prägt nicht unser gesamtes Leben. Was unserem Leben jedoch wirklich Gestalt gibt, ist, schrittweise daran zu arbeiten, der Reihe nach zu diesen drei Arten von Person zu werden.

Ehrlich zu sich selbst sein

Dazu fällt mir eine Zeile aus der Lojong-Anleitung namens „Geistestraining in sieben Punkten“ ein, in der Geshe Chekawa eine der Möglichkeiten aufführt, den Erfolg unseres Fortschritts im Geistestraining zu messen: „Halte dich an den Maßgeblichen der beiden Zeugen“. Das bedeutet, dass von denjenigen, die unsere Stufe der Motivation und spirituellen Entwicklung betrachten und ermessen können – nämlich andere Menschen oder ich selbst –, derjenige, der wirklich darüber Bescheid weiß, ich selbst bin. Wir wissen es, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind. Arbeiten wir wirklich darauf hin, jedes Insekt auf der Welt zu befreien, oder nicht, wenn wir rezitieren: „Möge ich zum Wohle aller Lebewesen Erleuchtung erlangen“? Wem wollen wir da etwas vormachen? Meint jemand das wirklich bzw. denkt darüber nach, was das eigentlich bedeutet? Wir können uns selbst am besten einschätzen. Und das können wir ohne Schuldgefühle und Verurteilung einerseits, aber andererseits auch ohne Selbstgefälligkeit tun, etwa indem wir denken: „So bin ich nun mal, und damit hat sich‘s. Ich bin ein zorniger Mensch, ich bin nun mal jähzornig, und daran müssen sich die anderen eben gewöhnen.“ Stattdessen versuchen wir die Einstellung zu entwickeln: „Das ist es, wie ich jetzt bin, aber ich möchte gern darüber hinauskommen.“

Aber was ist, wenn wir Fragen haben wie zum Beispiel: „Bin ich so weit, dass ich eine bestimmte Art von Praxis ausüben kann?“ Ist das etwas, das wir besser einen Lehrer fragen sollten, oder können wir das tatsächlich selbst einschätzen? Wir können natürlich den Rat unseres Lehrers einholen; niemand würde sagen, dass wir ihn nicht hinzuziehen sollten. Aber die Frage: „Habe ich meine Selbstsucht überwunden?“ – stellen wir die jemand anderem oder schätzen wir das selbst ein?

Doch manchmal wird das ein wenig komplexer. Denn manchmal sind wir uns nicht bewusst, wie wir mit anderen umgehen, und brauchen eine Rückmeldung, auch wenn es manchmal schwer ist, jemanden zu finden, der da objektiv sein kann. Wir könnten fragen: „Habe ich mich in unserer Beziehung selbstsüchtig verhalten?“, und die andere Person hat vielleicht ihre eigenen emotionalen Prozesse laufen. Letztlich können wir selbst am besten beurteilen, ob wir uns selbstsüchtig verhalten haben oder nicht. Basierend auf unserem eigenen Empfinden oder in Anbetracht der Rückmeldung von anderen schätzen wir uns dann selbst ein. Es ist für einen selbst leichter als für andere, in Bezug auf sich realistisch zu sein, weil wir uns selbst am besten kennen.

Emotionale Widerstände gegen Veränderung überwinden

Aber wie gesagt, selbst wenn wir uns ändern und weiterentwickeln wollen, stoßen wir dabei oft auf emotionale Widerstände. Um sie zu überwinden, müssen wir uns eingehender mit der Untersuchung der Verwirrung befassen, die hinter diesem Widerstand steckt, und aufzudecken versuchen, was die Ursache dafür ist. Wenn wir unsere Analyse bei der Ebene belassen, die allen indischen Schulen des Buddhismus gemeinsam ist, können wir sagen, dass die Ursache in dem Glauben besteht, es gäbe ein eigenständig erkennbares „Ich“. Diese irrige Ansicht ist es, die den Widerstand bedingt. Und deswegen ist es erforderlich, dass wir damit anfangen, dieses „Ich“ auseinanderzunehmen. Es geht dabei um ein Ich, das scheinbar allein für sich erkannt werden kann, etwa in der Aussage: „Ich will keine Erleuchtung erreichen; ich will anderen nicht helfen, ich will nichts für andere tun.“ Es scheint, als gäbe es da ein „Ich“, das ganz von sich aus existiert und keine Lust hat, irgendetwas zu üben.

Ist es ein bestimmter Geisteszustand, der nicht üben will? Oder ist es Faulheit? Was genau ist es? Wir denken daran als ein „Ich“ – „ich“ will nicht üben. Aber „ich“ ist nur die Bezeichnung, die wir einem Geisteszustand zuschreiben, der Trägheit, Befürchtungen, Unsicherheit und andere Geistesfaktoren beinhaltet. Wenn wir uns auf dieses ganze Gefüge von Geisteszustand und Geistesfaktoren, Emotionen und Unsicherheiten beziehen wollen, können wir sie „ich“ nennen. Es fühlt sich wirklich so an, als würde „ich“ nicht üben wollen.

Aber dieses „Ich“ besteht nicht ganz von sich aus, sondern es kann nur im Zusammenhang mit diesen anderen Faktoren erkannt werden. Wenn wir uns selbst für ein ganz allein für sich erkennbares „Ich“ halten, dann müssen wir, um die Situation zu verändern und unseren Widerstand gegen das Üben zu überwinden, dieses „Ich“ irgendwie davon abbringen, Widerstand zu leisten. Es ist so, als könnten wir uns selbst anschreien: „Jetzt hör endlich auf, dich so zu verhalten!“ oder uns züchtigen und zum Üben zwingen. Aber das funktioniert nicht. Es beruht auf einer falschen Vorstellung von „Ich“.

Es ist also wichtig, mit unseren Gegenmaßnahmen das korrekte Ziel ins Visier zu nehmen, nicht ein „Ich“, das ganz von sich aus erkennbar wäre. Wir müssen die Gegenmaßnahmen auf die Geistesfaktoren richten, die störend aktiv sind und denen die Bezeichnung „Ich“ zugeschrieben wird. Dazu kann man die hervorragend wirksamen Methoden des Dharma anwenden, um unsere Furcht, Faulheit, Unsicherheit usw. zu behandeln, welche die eigentliche Basis für die Zuschreibung eines „Ichs“ sind, das nicht üben will. Nachdem wir diese beseitigt haben, finden wir eine Basis, der wir ein „Ich“ zuschreiben können, das üben will, nämlich mit Begeisterung usw. So können wir die Untersuchung der Leerheit für praktische Angelegenheiten einsetzen. Das ist gar nicht so etwas Intellektuelles oder Schwieriges. Es ist nur eine Frage des Verständnisses, worum es dabei geht und wie man es praktisch anwendet.

Zusammenfassung

Wer sind wir und was wollen wir? Das ist keine einfache Frage und wir müssen uns eine Weile Zeit nehmen, um ihr aufrichtig nachzugehen. Ob wir nun glücklich und zufrieden bei Dharma „light“ bleiben oder auf die anfängliche, mittlere oder fortgeschrittene Stufe der Motivation abzielen – zumindest wissen wir dann, woran wir sind. Letztlich sind wir selbst diejenigen, die das am besten beurteilen können.

Wie wir festgestellt haben, ist das, was den Buddhismus von anderen spirituellen Traditionen unterscheidet, die Zuflucht bzw. das Einschlagen einer sicheren Richtung. Diese sichere Richtung ist tatsächlich das Tor zu allen buddhistischen Lehren und der Beginn einer Reise, auf der man belastende Emotionen bereinigt, die eigene Weiterentwicklung fördert und den Pfad zur Buddhaschaft beschreitet.

Top