Bodhisattva-Gelübde
Um die Stufe des ausübenden Bodhichittas zu praktizieren und bestmöglich die sechs weitreichenden Geisteshaltungen zu üben, ist es notwendig, die Bodhisattva-Gelübde zu nehmen. Dies umfasst, die 18 Hauptübertretungen und die 46 fehlerhaften Handlungen zu meiden, mit denen wir diese Gelübde übertreten würden. Atisha sagt weiter:
(19) Außer durch die Gelübde, die das eigentliche Wesen des ausübenden Bodhichittas sind, wird dein reines Bestreben niemals anwachsen. Deshalb nimm sie mit dem Wunsch, die volle Erleuchtung anzustreben, definitiv an, energisch für eben diesen Zweck.
Ein Beispiel der 18 Handlungen, die eine Hauptübertretung der Bodhisattva-Gelübde wären, würde darin bestehen, sich selbst zu loben und andere zu kritisieren oder herabzusetzen. Das ist etwas, was wir nicht tun sollten. Bodhisattvas loben sich selbst nie und sprechen auch niemals schlecht über andere oder sagen, dass sie nicht gut wären.
Damit das Brechen dieser Gelübde vollständig ist, muss die Übertretung die so genannten „vier bindenden Faktoren“ enthalten. Diese vier bindenden Faktoren machen das Brechen vollständig und wir verlieren diese Gelübde. In Bezug darauf, sich selbst zu loben und andere zu kritisieren, sind die bindenden Faktoren zum Beispiel:
- es andauernd und immer wieder zu tun;
- es nicht als falsch anzusehen;
- froh darüber zu sein und nicht daran zu denken, damit aufzuhören; und
- keine Selbstachtung zu haben und nicht darauf zu achten, welches Licht diese Handlungen auf andere werfen.
Damit sind auch viele andere Details verbunden, die ihr ebenfalls von den Geshes lernen könnt.
Die zweite Hauptübertretung dieser Gelübde ist, aus Geiz heraus den Dharma nicht mit anderen zu teilen, ihn weiterzugeben oder zu lehren, oder keinen Reichtum oder Besitz mit anderen zu teilen. Die Lehren, sowie Reichtum und Besitz mit anderen nicht aus Wut oder Feindseligkeit teilen zu wollen, ist eine der 46 fehlerhaften Handlungen, während es aus Geiz nicht zu tun, eine Hauptübertretung ist.
Eine weitere Hauptübertretung besteht darin, anderen nicht zu vergeben, ihnen weiterhin böse zu sein und einen Groll gegen sie zu hegen, wenn sie etwas falsch machen, sich aber entschuldigen und sagen: „Es tut mir leid; bitte vergib mir.“ Das ist eine Hauptübertretung. Anders ausgedrückt besteht diese Hauptübertretung darin, anderen nicht zu vergeben, wenn sie sich entschuldigen.
Eine Übertretung ist auch zu sagen, die Mahayana-Lehren wären nicht die Lehren des Buddha, und sie daraufhin nicht praktizieren zu wollen. Eine weitere Hauptübertretung ist, verzerrten Lehren zu folgen und eine verzerrte Version des Dharma als den korrekten Dharma zu betrachten und ihr zu folgen.
In diesem Sinne gibt es also 18 Hauptübertretungen und es sind Dinge, über die ihr euch in der Zukunft informieren und zu denen ihr Unterweisungen bekommen solltet, damit ihr euch bewusst darüber seid und erkennt, was die verschiedenen Gelübde sind und sie wirklich auf reine Weise einhalten könnt.
Was die Voraussetzungen für das Empfangen der Bodhisattva-Gelübde betrifft, sagt Atisha:
(20) Wer jederzeit die anderen Gelübde von einer der sieben Gelübdegruppen der individuellen Befreiung aufrechterhält, hat die richtige Voraussetzung für die Bodhisattva-Gelübde; alle anderen nicht.
Das bezieht sich darauf, als Grundlage für das Entwickeln der Bodhisattva-Gelübde eine der sieben Gelübdegruppen der individuellen Befreiung zu haben, die man auch als Pratimoksha-Gelübde kennt. Atisha sagt, dass von diesen sieben die vollständigen zölibatären Gelübde eines Mönches die besten sind:
(21) Bezüglich der sieben Klassen der individuellen Befreiung hat der So-Gegangene in seinen Erläuterungen erklärt, dass jene der glorreichen Enthaltung die Höchsten sind; und dabei handelt es sich um die Gelübde der voll ordinierten Mönche.
Eine Weise, die Bodhisattva-Gelübde zu empfangen, besteht in einer Ritualzeremonie mit einem vollständig qualifizieren spirituellen Lehrer. Atisha erklärt:
(22) Nimm die (Bodhisattva-) Gelübde von einem vortrefflichen, voll qualifizierten Guru, mit dem Ritual, wie es im „Kapitel über die ethische Disziplin“ in den „Bodhisattva-Stufen“ gut dargelegt wird.
Die Ritualzeremonie, auf die sich Atisha bezieht, stammt aus dem „Kapitel über ethische Disziplin“ der „Bodhisattva-Stufen“ (tib. Byang-sa, Skt. Bodhisattvabhumi) von Asanga.
In Bezug darauf, wer ein vortrefflicher, voll qualifizierter Guru ist, sagt Atisha:
(23) Wisse, dass ein vortrefflicher Guru jemand ist, der Erfahrung in der Gelübde-Zeremonie hat, ganz natürlich nach den Gelübden lebt, sie mit Vertrauen überträgt und Mitgefühl besitzt.
Auf diese Weise nehmen wir die Bodhichitta-Gelübde in der Gegenwart eines Lamas. Ist jedoch kein Lama vor Ort, gibt es eine andere Methode:
(24) Konnte man jedoch trotz aller Bemühungen solch einen Guru nicht finden, gibt es ein anderes Ritual als dieses zum Empfangen der Gelübde, das ich vollständig erläutern werde.
Atisha führt die Quelle für diesen Punkt an:
(25) Hier werde ich nun ganz klar darüber schreiben, wie Manjushri in früheren Zeiten, als er der König Ambaraja war, Bodhichitta erzeugte, genauso wie es im „Sutra eines Schmuckes für Manjushris Buddhafeld“ erläutert wird.
Dann erklärt er die eigentliche Zeremonie und die Worte, die wir dabei rezitieren:
(26) „Vor den Augen meiner Beschützer erzeuge ich Bodhichitta, und alle umherwandernden Wesen als meine Gäste einladend werde ich sie aus den unkontrollierbaren Wiedergeburten befreien.
(27) Von nun an bis zu meinem Erlangen eines höchsten gereinigten Zustandes werde ich niemals mit üblen Absichten, einem wütenden Geist, aus Geiz oder Eifersucht handeln.
(28) Ich werde im Einklang mit dem enthaltsamen Verhalten leben; ich werde mich von Negativitäten und Anhaftung/Begierde befreien. Mich an den Gelübden der ethischen Disziplin erfreuend, werde ich mich beständig genauso üben, wie es die Buddhas getan haben.
(29) Ich werde mich nicht daran erfreuen, Erleuchtung durch schnelle Methoden lediglich für mich selbst zu erlangen, sondern will bis ans Ende der Zeiten verweilen, wenn dies dazu beiträgt, einem einzigen begrenzten Wesen (zu helfen).
(30) Ich werde alles in unermessliche, unvorstellbare Bereiche reinigen und überall in den zehn Richtungen für jene da sein, die meinen Namen gerufen haben.
(31) Ich werde alle Handlungen meines Körper und meiner Rede reinigen, sowie auch die Handlungen meines Geistes: Ich werde niemals irgendwelche destruktiven Handlungen begehen.“
Schulung im Bodhisattva-Verhalten
Höhere ethische Selbstdisziplin
Wenn wir diese Bodhisattva-Gelübde empfangen haben, ist es notwendig, sich, wie zuvor beschrieben, in den drei höheren Schulungen zu üben. Die erste, die Schulung in höherer ethischer Selbstdisziplin, hat drei Aspekte:
- die ethische Selbstdisziplin negative Handlungen zu unterlassen;
- die ethische Selbstdisziplin die gelobten Verhaltensregeln zu befolgen; und
- die ethische Selbstdisziplin daran zu arbeiten, allen Wesen von Nutzen zu sein.
Atisha sagt weiter:
(32) Wenn man sich in den drei Schulungen der ethischen Disziplin gut übt, indem man im Einklang mit den Gelübden lebt, die das eigentliche Wesen des ausübenden Bodhichittas sind und eine Ursache dafür, Körper, Rede und Geist vollständig zu reinigen, wird der Respekt gegenüber den drei Schulungen der ethischen Disziplin größer werden.
Dann spricht er über die herausragenden Qualitäten des Übens dieser höheren Schulungen:
(33) Dadurch wird der vollständig gereinigte, vollkommene Zustand der Erleuchtung (hervorgerufen); denn wenn man sich in den Bodhisattva-Gelübden übt, wird man die für die vollkommene Erleuchtung notwendigen Netzwerke gänzlich vervollständigenden.
In Bezug auf die herausragenden Qualitäten des Entwickelns einer erleuchtenden Motivation sagt Atisha, dass wir schnell in der Lage sein werden, Erleuchtung zu erlangen, wenn wir diesen Geisteszustand in unserem geistigen Kontinuum entwickeln.
Um unsere Übungen fortzuführen, gilt es, alle sechs der weitreichenden Geisteshaltungen, die sechs Vollkommenheiten, in die Praxis umzusetzen:
- erstens ist es notwendig, uns in Großzügigkeit zu üben und anderen zu geben;
- zweitens müssen wir reine ethische Selbstdisziplin, Selbstbeherrschung, wahren; und
- drittens sollten wir uns in Geduld üben. Geduld ist das wichtigste Heil- oder Gegenmittel, um Wut entgegenzuwirken. Wut ist äußerst negativ, weil wir mit ihr alles positive Potenzial und alle positive Kraft vernichten können, die wir in der Vergangenheit aufgebaut haben. Daher ist es von außerordentlich großer Bedeutung, die Praxis der Geduld zu perfektionieren.
- Die vierte ist die Übung der Ausdauer. Mit der Ausdauer freuen wir uns an allen konstruktiven Handlungen, die wir ausführen, und arbeiten mit großer Bemühung und Eifer daran, sie zum Ende zu bringen.
Sich in der Höheren Konzentration üben
Um in der Lage zu sein, anderen zu nutzen und etwas für sie zu tun, ist es äußerst wichtig, ein höher entwickeltes Gewahrsein oder außersinnliche Wahrnehmung zu haben. Ohne sie ist es ziemlich schwierig, anderen wirklich von Nutzen zu sein. So sprang beispielsweise einmal ein Fisch aus einem Fluss und jemand, der gerade vorbeikam, warf ihn zurück ins Wasser. Obwohl diese Person ein gütiges Herz mit einer wirklich guten Motivation hatte und diesem Fisch helfen wollte, hatte sie kein höher entwickeltes Gewahrsein und konnte nicht sehen, was sich im Wasser befand. Als sie den Fisch zurück ins Wasser warf, wurde er nach kurzer Zeit von einem größeren fleischfressenden Fisch verspeist. Wollen wir anderen wirklich mit Mitgefühl helfen, ist es ausgesprochen wichtig, ein höher entwickeltes Gewahrsein zu haben, denn ansonsten könnten wir viele verheerende Fehler wie diesen begehen.
Die Methode zum Entwickeln eines erhöhten Gewahrseins besteht darin, einen still gewordenen und zur Ruhe gekommenen Geisteszustand des Shamatha hervorzubringen. Dies gilt es als erstes zu entwickeln. Atisha sagt weiter:
(34) Was die Ursache dafür betrifft, diese Netzwerke zu vervollständigen, die das Wesen positiver Kraft und tiefen Gewahrseins sind, so haben alle Buddhas bestätigt, dass es die Entwicklung eines höher entwickelten Gewahrseins ist.
(35) Gleich einem Vogel, der ohne vollständig entwickelte Flügel im Himmel nicht fliegen kann, wird man ohne die Kraft des höher entwickelten Gewahrseins nicht in der Lage sein, die Wünsche der begrenzten Wesen zu erfüllen.
(36) Die positive Kraft, über die jemand mit höher entwickeltem Gewahrsein an einem Tag und in einer Nacht verfügt, kann von jemandem, der kein höher entwickeltes Gewahrsein besitzt, nicht einmal in hundert Leben erlangt werden.
Wenn wir unser Netzwerk positiven Potenzials für die volle Erleuchtung schnell und in vollem Umfang vollenden wollen, sollten wir uns daher bemühen, ein höher entwickeltes Gewahrsein zu erlangen. Höher entwickeltes Gewahrsein kann nicht durch Faulheit erreicht werden. Atisha sagt weiter:
(37) Hat man den Wunsch, die Netzwerke der vollkommenen Erleuchtung schnell und gänzlich zu vervollständigen, sollte man sich daher bemühen und ein höher entwickeltes Gewahrsein entwickeln. Man erlangt es nicht durch Faulheit.
(38) Wer noch keinen still gewordenen und zur Ruhe gekommenen Geist entwickelt hat, wird auch kein höher entwickeltes Gewahrsein erlangen. Darum übe dich wiederholt darin, einen still gewordenen und zur Ruhe gekommenen Geisteszustand zu realisieren.
Ein still gewordener und zur Ruhe gekommener Geisteszustand des Shamatha ist erforderlich, um höher entwickeltes Gewahrsein zu erlangen, und im Allgemeinen ist es absolut notwendig, diesen Zustand der vertieften Konzentration, Samadhi, zu haben, um Buddhaschaft zu erlangen. Dies ist etwas, das wir nicht vernachlässigen sollten.
Sind wir uns nicht im Klaren über die Methoden zum Erlangen einsgerichteter, vertiefter Konzentration, werden wir tausend Jahre praktizieren können, ohne dahin zu gelangen. Daher ist es von enormer Bedeutung, die korrekten Methoden zu kennen. Kennen und praktizieren wir sie auf richtige Art und Weise, ist es möglich, diesen Zustand innerhalb von sechs Monaten zu erreichen.
Die Methoden zum Erlangen eines still gewordenen und zur Ruhe gekommenen Geisteszustandes des Shamatha sind mit vielen verschiedenen Objekten verbunden, die wir zur Ausrichtung nutzen können; aber ungeachtet dessen, worauf wir uns beziehen, gibt es gewisse Methoden und Techniken, um diesen Zustand zu erreichen. In der Zukunft solltet ihr verschiedene gelehrte Geshes um vollständige Anweisungen darüber bitten, wie man ihn erreichen kann. Praktizierende können ohne die geeigneten Methoden viele Fehler machen und ziemlich verwirrt werden. Athisha sagt:
(39) Sollten aber die Faktoren für einen still gewordenen und zur Ruhe gekommenen Geist schwach sein, wird man keine einsgerichtete Konzentration erlangen, selbst wenn man mit großer Bemühung und für Tausende von Jahren meditiert hat.
(40) Daher sollte man die Faktoren, die im Kapitel „Ein Netzwerk zum Erzeugen einsgerichteter Konzentration“ erwähnt werden, wohl bewahren. Dann lenken wir unseren Geist auf etwas Konstruktives: nämlich auf eines der angemessenen Konzentrationsobjekte.
Entwickeln wir vertiefte Konzentration, wird es leicht sein, höher entwickeltes Gewahrsein hervorzubringen. Athisha sagt:
(41) Wenn ein Yogi oder eine Yogini einen still gewordenen und zur Ruhe gekommenen Geist realisiert, erlangt er oder sie auch ein höher entwickeltes Gewahrsein.
Die Schulung im höheren unterscheidenden Gewahrsein
Nur vertiefte Konzentration für sich zu entwickeln, reicht nicht aus. Wir müssen auch einen Geisteszustand von außergewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit, Vipashyana, entwickeln, mit dem wir Leerheit begreifen.
(42) Wenn du es jedoch versäumt hast, dich im weitreichenden unterscheidenden Gewahrsein zu üben, wirst du nicht in der Lage sein, deine Schleier zu beseitigen. Daher, wenn du alle Schleier in Bezug auf die störenden Emotionen und auf alle erkennbaren Phänomene ausnahmslos beseitigen möchtest, meditiere beständig über das Yoga des weitreichenden unterscheidenden Gewahrseins in Verbindung mit den Methoden.
Mit anderen Worten ist es notwendig, diese beiden, Methode und unterscheidendes Gewahrsein oder Weisheit, gemeinsam zu haben, um in der Lage zu sein, all die verschiedenen Makel und Hindernisse aus dem Geist zu beseitigen. Atisha erklärt:
(43) Denn unterscheidendes Gewahrsein ohne Methoden, wie auch Methoden ohne unterscheidendes Gewahrsein, werden noch immer als Fesseln betrachtet. Verzichte daher niemals auf eines von beiden.
Mit anderen Worten sollten wir stets über beides verfügen, die Seite des unterscheidenden Gewahrseins und jene der Methode der Praxis. Um beide zu haben ist es erforderlich, genau zu wissen, was unterscheidendes Gewahrsein ist und was zu den Methoden gehört. Atisha erklärt:
(44) Um alle Zweifel in Bezug darauf zu beseitigen, was unterscheidendes Gewahrsein ist und was zu den Methoden gehört, möchte ich hier den Unterschied zwischen Methoden und unterscheidendem Gewahrsein erläutern.
Wie wird die Unterscheidung vorgenommen? Man tut es in Bezug auf die sechs weitreichenden Geisteshaltungen. Die ersten fünf, ohne das weitreichende unterscheidende Gewahrsein, die „Vollkommenheit der Weisheit“, sind die so genannten Methoden, während das weitreichende unterscheidende Gewahrsein zur Seite der Weisheit gehört. Atisha sagt in Bezug auf diese ersten fünf der sechs Vollkommenheiten:
(45) Der Siegreiche hat erklärt, dass, abgesehen vom weitreichenden unterscheidenden Gewahrsein, alle Netzwerke konstruktiver Faktoren, wie weitreichende Großzügigkeit usw., Methoden sind.
Atisha fährt fort:
(46) Durch die Kraft, über die Methoden meditiert zu haben, kann jemand mit einer (Bodhichitta-) Natur schnell Erleuchtung erlangen, wenn er mit unterscheidendem Gewahrsein gründlich über etwas meditiert. Sie kommt nicht dadurch zustande, allein über die Abwesenheit von (selbst-begründeter) Identität meditiert zu haben.
Atisha behauptet weiter, dass es nicht ausreicht, lediglich die Seite des unterscheidenden Gewahrseins zu entwickeln; wir müssen auch die Methoden haben, um Erleuchtung zu erlangen.
Die Leerheit der selbst-begründeten Existenz verstehen
Bis zu diesem Punkt ging es im Text um die Schulung in höherer ethischer Selbstdisziplin und die Schulung in höherer Konzentration. Nun beginnt Atisha über die Schulung in höherem unterscheidenden Gewahrsein zu reden.
Um ein Verständnis der Leerheit oder Leere zu bekommen, müssen wir die verschiedenen Grundlagen für die Leerheit verstehen. Eine Grundlage für Leerheit ist ein Objekt, das frei von selbst-begründeter Existenz, so genannter „inhärenter Existenz“, ist. Solche Grundlagen umfassen die fünf Aggregate, die achtzehn kognitiven Quellen und die zwölf kognitiven Anreger. Atisha erklärt:
(47) Das Gewahrsein der Leerheit von selbst-begründender Natur, mit dem man erkannt hat, dass die Aggregate, die kognitiven Quellen und die kognitiven Anreger kein (selbst-begründetes) Entstehen haben, wurde vollkommen als unterscheidendes Gewahrsein erläutert.
Die Argumentationskette
Des Weiteren müssen wir uns, wenn wir unterscheidendes Gewahrsein mit einem Leerheitsverständnis entwickeln wollen, auf Logik und verschiedene Argumentationsketten stützen.
- Die Erste ist die so genannte „Argumentationskette der Widerlegung der vier Möglichkeiten des Entstehens“, mit der das Entstehen von Resultaten analysiert wird.
- Die nächste Argumentationskette, „Vajra-Tropfen“, analysiert Ursachen.
- Mit der dritten Argumentationskette, „weder Einzahl noch Mehrzahl“, wird die Natur eines Phänomens in Bezug darauf analysiert, ob es als eine oder viele Entitäten existiert.
- Weltliche Menschen sagen, Dinge würden auf der Grundlage selbst-begründeter Existenz entstehen, weil wir sie mit unseren eigenen Augen sehen können. Für diese Menschen gilt die vierte Argumentationskette: „Widerlegen des Entstehens von etwas, das bereits existiert oder noch nicht existiert“.
Atisha erklärt diese erste Argumentationskette, mit der Resultate analysiert werden, in diesem Vers:
(48) Wenn (Dinge selbst-begründete) Existenz hätten, wäre es nicht logisch, wenn sie in Erscheinung treten müssten. Würden sie ferner (zum Zeitpunkt ihrer Ursache) als nicht existierend (selbst-begründet werden), (könnten sie nicht) wie eine Blume aus dem Raum heraus (hervorgebracht werden). Da es darüber hinaus zu der absurden Schlussfolgerung beider dieser Fehler kommen würde, entstehen die Dinge durch keines von beidem (also weder durch selbst-begründete Existenz noch durch Nicht-Existenz).
Auf die zweite Argumentationskette der Vajra-Tropfen, mit der Ursachen analysiert werden, wird im nächsten Vers eingegangen:
(49) Phänomene entstehen nicht (selbst-begründet) aus sich Selbst heraus, noch aus etwas anderem und auch nicht aus beidem. Sie (entstehen) auch nicht aus keiner Ursache. Deshalb hat alles seinem Wesen nach keinerlei selbst-begründende Natur.
Atisha führt die dritte Argumentationskette im nächsten Vers an, bei der es darum geht, ob ein Phänomen Einzahl oder Mehrzahl ist:
(50) Wenn man darüber hinaus alle Dinge in Bezug darauf analysiert, ob sie (selbst-begründet) eins oder viele sind, kann man Gewissheit über die völlige Nicht-Existenz selbst-begründender Naturen erlangen, da ihre Wesensnatur die Abwesenheit von allem ist, auf das man zeigen kann.
Diese drei Verse präsentieren, wie die Gültigkeit der Leerheit durch diese Argumentationsketten begründet werden kann. Genauso können wir dessen Gültigkeit auch begründen, indem wir uns zusätzlich auf die Autorität der Schriften stützen. Es gibt zahlreiche Texte, in denen die Lehren über Leerheit enthalten sind. So erwähnt Atisha zum Beispiel:
(51) Die Argumentationsketten, die man in „Die Siebzig Verse über Leerheit" und „Der Wurzeltext zum Mittleren Weg" usw. findet, zeigen ebenfalls, wie die Selbstnatur von Phänomenen als Leerheit begründet wird.
(52) Da dieser Text jedoch zu lang geworden wäre, gehe ich an dieser Stelle nicht weiter auf das Thema ein. Meine Erläuterungen beziehen sich zum Zwecke der Meditation lediglich auf ein bewährtes philosophisches Lehrsystem.
Wie man über Leerheit meditiert
Sind wir erst einmal von der Gültigkeit der Leerheit überzeugt, ist die eigentliche Meditationsweise, ob wir nun Leerheit durch Logik und Überlegung oder die Autorität der Schriften begründen, laut Atisha folgendermaßen:
(53) Da man nicht auf die selbst-begründende Natur von irgendetwas abzielen kann, ist die Meditation über das Fehlen einer (selbst-begründeten) Identität ausnahmslos eine Meditation über das unterscheidende Gewahrsein.
Wir sollten nie nach unterscheidendem Gewahrsein oder Weisheit selbst greifen, als hätte sie eine wahrhaft selbst-begründete Existenz. Atisha verdeutlicht diesen Punkt:
(54) Mit unterscheidendem Gewahrsein wird man niemals die selbst-begründende Natur irgendeines Phänomens wahrnehmen; und es wird erklärt, dass dies auch in Bezug auf die Realität des unterscheidenden Gewahrseins selbst gilt. Meditiere in dieser (Weise) nicht-konzeptuell (über Leerheit).
Um auf korrekte Weise zu meditieren, gilt es zu verstehen, dass konzeptuelle Gedanken selbst-begründeter Existenz Dinge sind, die uns an unkontrollierbar sich wiederholende samsarische Existenz binden. Daher ist es notwendig, dass wir uns von solchen konzeptuellen Gedanken befreien, um Befreiung, Nirvana, den Zustand jenseits von Leid zu erlangen. Athisha sagt:
(55) Diese zwanghafte Existenz, die durch konzeptuelle Gedanken (des Greifens nach selbst-begründeter Existenz) entsteht, besitzt eine Identitäts-Natur, die durch konzeptuelle Gedanken (lediglich fabriziert wurde). Daher ist der Zustand, in dem man sich von allen Konzepten ausnahmslos befreit hat, der höchste Nirvana-Zustand jenseits von Leiden.
Das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit ist das Gegenteil davon und weist alle konzeptuellen Gedanken selbst-begründeter Existenz ab. Atisha sagt weiter:
(56) Der Alles Übertreffende Siegreiche Meister sagte zudem: „Konzeptuelle Gedanken (des Greifens nach selbst-begründeter Existenz) sind große Unwissenheit, die uns in den Ozean der unkontrollierbar sich wiederholenden Existenzen fallen lassen. Indem man in vertiefter Konzentration, frei von solchen Konzepten, verweilt, wird man einen raumgleichen, nichtkonzeptuellen Zustand klar hervorbringen.“
(57) In der „Dharani-Formel für den Eintritt in das Nicht-Konzepuelle" sagte er zudem: „Wenn die Nachkommen des Siegreichen, die sich mit dieser reinen Dharmapraxis beschäftigen, über diesen Zustand der Abwesenheit konzeptueller Gedanken (des Greifens nach selbst-begründeter Existenz) meditierten, würden sie diese Konzepte überwinden, die so schwierig zu überwinden sind, und würden allmählich einen nichtkonzeptuellen Zustand erlangen.“
Dann fasst Atisha zusammen:
(58) Wenn man durch diese Zitate und Argumentationsketten die Gewissheit erlangt hat, dass alle Dinge frei von selbst-begründeter Existenz und ohne ein (selbst-begründetes) Entstehen sind, meditiert man in einem Zustand, der frei von konzeptuellen Gedanken (an selbst-begründete Existenz) ist.
Das Resultat der Meditation über Leerheit
Das Resultat all dessen ist, dass wir die fünf Arten des Pfadgeistes und die zehn Bodhisattva-Bhumi-Ebenen des Geistes durchlaufen, bis wir den erleuchteten Zustand eines Buddhas erlangen. Atisha geht auf diesen Punkt ein, indem er sagt:
(59) Wenn man in dieser Weise über die Tatsachen der Realität meditiert und schrittweise die (Stufe) der Hitze und so weiter erlangt hat, wird man (die Stufe) höchster Freude und so weiter verwirklichen und die Erleuchtung der Buddhaschaft wird nicht mehr fern sein.
Warum ist Erleuchtung nicht mehr fern, wenn wir korrekt über Leerheit meditiert haben? Weil wir auf angemessene Weise den Stufenpfad durchlaufen haben. Zuerst nehmen wir Zuflucht im Sinne der Lehren einer Person der anfänglichen Ebene und dann gehen wir die verschiedenen Meditationen und Stufen durch, bis wir eine erleuchtende Bodhichitta-Motivation entwickelt haben, mit der wir nicht mehr umkehren werden. Außerdem haben wir die verschiedenen Praktiken zum Erlangen der einsgerichteten vertieften Konzentration von Shamatha und Vipashyana gemeistert und begreifen Leerheit. All diese Schulungen bringen uns zusammen mit den diversen anderen Übungen zur Erleuchtung.
Schulen wir uns richtig gut in all den Lehren der anfänglichen, mittleren und fortgeschrittenen Ebene, werden wir fähig sein, die erste der drei Stufen des ersten der fünf Arten des Pfadgeistes, den Pfadgeist des Aufbauens, zu erreichen. Diese drei Stufen sind die anfängliche, mittlere und fortgeschrittene Stufe des Pfadgeistes des Aufbauens. Auf diese Weise erreichen wir die vier Ebenen eines Pfadgeistes der Anwendung. Das sind die Stufen der Hitze, des Gipfels, der Geduld und des höchsten Dharma. Danach erlangen wir einen Pfadgeist des Sehens. Die Stufen zwischen einem Pfadgeist des Sehens und der letzten Ebene eines Pfadgeistes des Sich-Gewöhnens werden in die zehn Ebenen des Bodhisattva-Bhumi-Geistes unterteilt. Diese beginnen mit „höchst freudvoll“ und so weiter. Das sind die Stufen und Ebenen des Bhumi-Geistes, auf die sich Atisha in diesem Vers bezieht.
Indem wir diesem Stufenpfad folgen, erlangen wir den erleuchteten Zustand eines Buddhas. Dieser Zustand umfasst drei Buddhakörper: einen Dharmakaya oder alles umfassenden Körper, einen Sambhogakaya oder Körper vollen Gebrauchs, und einen Nirmanakaya oder Ausstrahlungskörper. Der Dharmakaya umfasst die fünf Arten des tiefen Gewahrseins (tib. ye-shes), die so genannten „fünf Buddhaweisheiten“.
Der tantrische Pfad
Um tatsächlich den erleuchteten Zustand eines Buddhas zu erlangen, müssen wir jedoch den Pfad des Tantra einschlagen. Es gibt kein Erreichen der Buddhaschaft ohne den Tantra-Pfadgeist zu erlangen. Praktizieren wir Tantra, sind wir in der Lage, die gewöhnlichen und außergewöhnlichen tatsächlichen Erlangungen zu realisieren, die im Sanskrit als Siddhis bezeichnet werden. Aber um Tantra zu praktizieren, ist es notwendig, einen qualifizierten Guru zu finden und die entsprechenden Initiationen, die angemessenen Ermächtigungen, zu bekommen. Athisha sagt:
(60) Wenn man aber durch die Handlungen des Befriedens, des Stimulierens usw., die man durch die Kraft der Mantras und der acht großen tatsächlichen Verwirklichungen usw. erlangt hat, wie beispielsweise die Verwirklichung einer vortrefflichen Vase usw.,
(61) und durch glückseliges Gewahrsein, wünscht, die erleuchtungsbildenden Netzwerke zu vervollkommnen, und wenn man sich wünscht, auch die Handlungen der Geheimen Mantras zu üben, wie sie im Kriya-, Charya und den anderen Tantra-Klassen erörtert werden,
(62) dann - um die (Vajra-)Meister-Ermächtigung zu erhalten - erfreut man seinen heiligen Guru mit all solchen Dingen, wie ihm respektvoll zu dienen, ihm wertvolle Substanzen usw. darzubringen und zu tun, was er sagt.
Fragen wir uns, was der Sinn und Zweck des Empfangens einer Ermächtigung ist, so lautet die Antwort, dass ein Zweck darin besteht, unsere negativen karmischen Potenziale zu bereinigen. Atisha sagt weiter:
(63) Indem einem durch das Zufriedenstellen des Gurus die vollständige (Vajra-)Meister-Ermächtigung übertragen wurde, wird man sich vollständig von allen negativen Kräften reinigen und natürlicherweise mit dem angemessenen Anteil ausgestattet werden, um die tatsächlichen Verwirklichungen zu erlangen.
„Anteil“ bezieht sich hier auf den Anteil an positiver Kraft. In Bezug auf die Person, die tatsächlich die tantrischen Ermächtigung empfangen wird, schreibt Atisha:
(64) Da es gemäß dem „Großen Tantra des ursprünglichen Buddha“ grundsätzlich untersagt ist, werden die geheimen Ermächtigungen und die Ermächtigung des unterscheidenden Gewahrseins von denen, die enthaltsam leben, nicht (auf wörtliche Weise übertragen oder) empfangen.
(65) Würde man die so übertragenen Ermächtigungen nehmen, während man im Einklang mit der asketischen Praxis der Enthaltsamkeit lebt, würde man verbotene Handlungen begehen und dadurch die Gelübde der Askese brechen.
(66) Mit anderen Worten: Als ein Übender des gezügelten Verhaltens würde man einen Gelübde-Bruch der vollständigen Niederlage eingehen, und da man definitiv in einen der schlechten Wiedergeburtszustände fallen würde, hätte man niemals irgendwelche Verwirklichungen.
Atisha sagt dann:
(67) Wenn man jedoch (in einer nicht-wörtlichen Weise) die Übertragung der (Vajra-)Meister-Ermächtigung empfangen hat und sich der Wirklichkeit gewahr ist, sind die Handlungen des Hörens und Erklärens aller Tantras, des Ausführens von Feuer-Pujas, des Darbringens von Opfergaben in Pujas und so weiter nicht falsch.
Empfängt solch eine Person, wie sie in den vorangegangenen Versen beschrieben wurde, die angemessenen Ermächtigungen auf korrekte Weise von einem qualifizierten tantrischen Meister und folgt den Praktiken auf strikte Weise, indem sie alle Gelübde usw. einhält, kann sie all diese verschiedenen Praktiken ausführen.
Wir sollten nicht denken, wir könnten, nur weil wir eine Ermächtigung erhalten haben, alle möglichen fortgeschrittenen tantrischen Praktiken ausüben. Nur wenn wir die höchsten Verwirklichungen haben, sind wir in der Lage, so zu handeln, wie es in den tantrischen Texten beschrieben wird. In diesem Zusammenhang spricht Atisha von jemandem, der fortgeschritten ist und all die Praktiken entsprechend all der korrekten Abläufe und Gelübde folgt.
Schlussfolgerung des Textes
Der Text wurde von Atisha geschrieben und er schließt ihn ab, indem er sagt, dass er all die verschiedenen Sutras und Tantras als Quelle benutzt hat. Er hat diesen Text auf Bitten von König Dschangtschub-Ö verfasst. Er schreibt:
Ich, Shri Dipamkara der Ältere, der erkannt hat, (dass alles genauso ist,) wie es in den Dharma-Lehren der Sutras etc. erklärt wird, und der ich von Dschangtschub-Ö darum gebeten wurde, habe diese kurze Zusammenfassung der Erklärungen zum Pfad der Erleuchtung verfasst.
Dieser Text ist recht weitreichend und geht auf viele verschiedene Punkte ein, aber es gab nicht genug Zeit, sie alle in allen Einzelheiten zu erklären. In der Zukunft solltet ihr jedoch die verschiedenen gelehrten Geshes bitten, sie ausführlicher darzulegen.
Denkt nicht, es gäbe etwas in diesem Text, was nicht erkannt oder verwirklicht werden kann. Praktizieren wir auf kontinuierliche Weise, ohne Unterbrechungen, werden wir langsam und mit Sicherheit in der Lage sein, alle Verwirklichungen zu erlangen, die in diesem Text beschrieben sind.
Abschließender Ratschlag
Ich habe die mündliche Überlieferung dieser Lehren erhalten und habe sie nun an euch weitergegeben, damit ihr nun über die erhebende Inspiration der Liniengurus dieses spezifischen Textes verfügt. Das wird in Bezug auf die Verwirklichungen, die ihr in der Zukunft machen werdet, wenn ihr diesen Text studiert, einen großen Unterschied machen, sowie auch was euer Verständnis diesbezüglich betrifft.
Es gibt viele verschiedene Weisen, Texte zu erklären und zu lehren. So besteht beispielsweise eine Methode darin, dass ein Lehrer jedes einzelne Wort auf ausführliche und präzise Weise erklärt, während andere den Text einfach einer Gruppe von Schülern vorlesen und dann gehen. Durch beide Methoden werden die Menschen, wenn sie den Text selbst in der Zukunft lesen, in der Lage sein, ihn zu verstehen.
Eine andere Weise besteht darin, dass der Meister den Text dem Schüler gibt und er ihn dann zusammen mit dem Guru laut vorliest, wonach der Meister den Schüler fortschickt. Durch die Inspiration dieser Erfahrung ist der Schüler dann in der Lage, den Text recht gut zu verstehen, wenn er ihn zu Hause erneut liest.
Haben wir also einen angemessenen zuversichtlichen Glauben in die Macht solcher mündlichen Übertragungen, erhalten wir tatsächlich Inspiration, was es uns leichter macht, die Texte zu verstehen. Wenn wir keinen zuversichtlichen Glaube daran haben, ist es natürlich sehr schwierig.
Habt große Überzeugung in die zwei Lamas, die hierher gekommen sind, um zu unterrichten. Seht sie als Buddhas und ihr werdet fähig sein, hohe Verwirklichungen zu haben und großen Nutzen aus ihren Lehren zu ziehen. Wenn ihr euch vorstellt, dass all die Buddhas in den Lehren präsent sind, und zuversichtlichen Glauben daran habt, werdet ihr von ihnen allen Inspiration bekommen. Sogar wenn es dann keine Buddhas gibt, die präsent sind, werdet ihr die Inspiration aller Buddhas bekommen. Das ist so, weil all die Buddhas gewahr und allwissend sind; sie kennen unsere Anliegen und so können wir ihre Inspiration bekommen und sie zur Erfüllung bringen.