Dr. Alexander Berzin: Meine Ausbildung an den Universitäten Princeton und Harvard

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Sommerschule in Harvard und erstes Jahr in Princeton 

Bevor ich nach Princeton kam, schickte man mich im Sommer 1963 für einen Intensiv-Kurs in Mandarin-Chinesisch nach Harvard. Sieben Wochen lang mussten wir jede Woche einhundert Schriftzeichen lernen. Ich war 18, es viel mir leicht und machte mir großen Spaß, denn ich lernte gern. 

In Princeton führte ich das Studieren der chinesischen Sprache fort und begann, mein Wissen über den Buddhismus, das chinesische Gedankengut und die politische Geschichte Asiens zu erweitern. Die Professoren gehörten zu den herausragendsten Autoritäten auf dem Feld – Kenneth Ch’en, Frederick Mote und William Lockwood. Als ich all das lernte, wollte ich auch wissen, wie der Buddhismus im mittelalterlichen China durch die chinesische Philosophie (besonders den Neo-Daoismus) und deren Terminologie gefärbt, übersetzt und verstanden wurde, und auch, wie der Buddhismus den Neo-Konfuzianismus beeinflusste, der nach dessen Niedergang auftauchte.

Mit Blick auf die Zukunft übte ich mich darin, zu Vorlesungen in all meinen Kursen penible und vollständige Notizen zu machen. Nach mehr als 60 Jahren haben ich noch immer fast alle dieser Notizbücher und habe oft in ihnen nachgeschlagen, um hilfreiche Hintergrundinformationen zu bekommen. Ich habe auch die Gewohnheit entwickelt, jeden Tag, sieben Tage die Woche, den ganzen Tag zu arbeiten und mir nie ein Wochenende frei zu nehmen. Praktisch war ich gezwungen, diesem Zeitplan zu folgen, da meine Kurse so fordernd waren. Nachdem ich mich an diese Routine gewöhnt hatte, bin ich ihr so gut es ging für den Rest meines Lebens gefolgt. Um Shantideva zu zitieren: Wenn man liebt, was man tut, ist man nicht glücklich, bis man es tut. 

Wir sechs Studenten im Princeton-Programm wurden Mitglieder der Wilson Society, dessen Speisesaal, Salon, Aufenthaltsraum und Bibliothek eine Alternative zu den exklusiven Klubs bot. Sowohl für die intellektuellen Studenten, als auch für die Beatniks war es ein Paradies. Einmal im Monat organisierte die Society eine Cocktail-Party, zu der die Professoren eingeladen waren und während des Monats konnten die Professoren kostenlos mit uns im Speisesaal essen. In den meisten Unterrichtsstunden gab es Diskussionsrunden, für die wir uns in Gruppen von 5 bis 10 Studenten aufteilten, um auf zwanglose Weise mit dem Professor Gespräche zu führen. Es war ein ideales Umfeld, in dem ich wachsen konnte. 

Es gab auch noch weitere Möglichkeiten, um von unseren Professoren außerhalb des Hörsaals zu lernen. So brachte uns beispielsweise Professor Chen Daduan, mein Chinesisch-Lehrer, der auch in der Harvard Sommerschule mein Lehrer war, Kalligrafie bei. Wir lernten die chinesischen Schriftzeichen auf traditionelle Weise zu schreiben – die Tinte stellten wir selbst mit Stangentusche und einem Reibestein her und malten die Schriftzeichen mit einem Pinsel. Professor Mote, mein chinesischer Philosophie-Lehrer lud uns Studenten zu sich nach Hause ein und bei ihm gab es einen Bambusgarten, der aussah, als würde er regelmäßig von den sieben Weisen des Bambushains besucht werden. Seine chinesische Frau kochte authentische Sichuan-Speisen für uns, die wir im Garten zu uns nahmen, während wir philosophierten. Ich war 18 Jahre alt, leicht zu beeinflussen und verliebte mich in die klassische chinesische Kultur. Infolgedessen entwickelte ich eine Abneigung gegenüber den vereinfachten Schriftzeichen, die von der Volksrepublik nach und nach eingeführt wurden und habe sie nie gelernt. Heutzutage fällt es mir schwer sie zu lesen, wenn ich mich in meiner Arbeit mit ihnen befassen muss.

Sommerschule in Stanford und Abschlussjahr in Princeton 

Im nächsten Sommer, im Jahr 1964, erhielt ich einen „National Defense Foreign Language Fellowship“ (Stipendium) für einen Intensivkurs in klassischem Chinesisch an der Stanford Universität. Er wurde von einer älteren chinesischen Frau gelehrt, welche der traditionellen Methode folgte und uns den Text einer jeden Lektion auswendig lernen lies. Einer nach dem anderen mussten wir zu Beginn des Tages aufstehen und den Text vom Tag zuvor rezitieren. In der mündlichen Prüfung des Abschlussexamens sprach sie die ersten Worte einer Passage und wir mussten dann den Rest aufsagen. Dieses Training war für meine späteren Studien, sowohl in Harvard als auch in Indien, ausgesprochen hilfreich. 

Am Ende meines ersten Jahres in Princeton wurde ich in Rutgers für die akademische Ehrengesellschaft „Phi Beta Kappa“ ausgewählt. Obgleich man ein Interesse daran hatte, dass ich nach Rutgers zurückkehren und dort mein Abschlussjahr beenden würde, gab es dort nichts mehr für mich, was ich noch im Bereich der chinesischen Sprache hätte studieren können. Statt also nach Rutgers zurückzukehren, bat ich darum, mein Abschlussjahr ebenfalls in Princeton zu absolvieren, was mir gestattet wurde. Damit es nicht so aussah, als würde Princeton Studenten von anderen Universitäten abziehen, wurde ich als ein „Henry Rutgers Scholar“ bezeichnet. Ich konnte all meine Kurse in Princeton belegen und es wurde vom „Critical Languages“-Programm finanziert. Allerdings musste ich eine Diplomarbeit in Rutgers einreichen und auf diese Weise konnte mir Rutgers einen Bachelor-Abschluss in Asienwissenschaften geben, obwohl ein richtiger Studiengang in asiatischen Sprachen und Kulturen erst 1969 eingeführt wurde. 

Während meines Abschlussjahres in Princeton studierte ich weiter Mandarin-Chinesisch, begann Japanisch, und schrieb mich für einen Studienkurs in chinesischer Literatur bei Professor David Roy ein. Princeton bot mir dazu die einmalige Gelegenheit, meinem Kindheitstraum zu folgen und mir die Bildung und das Wissen aller Zivilisationen anzueignen. Ich fühlte mich stets zu abstraktem Denken hingezogen und entschied mich während der zwei Jahre, die ich dort war, auch für Wahlfächer in antiker griechischer Philosophie, Metaphysik, politischer Theorie  und religiösen Themen in der Literatur bei den Professoren Russell Dancy, Wilfred Sellars, Michael Walzer und Ira Wade, die in ihren Fachrichtungen alle herausragende Gelehrte waren. Besonders war ich daran interessiert zu verstehen, wie der Geist und die Emotionen funktionieren und was die Realität ist. Ich wollte lernen, was die großen Denker des Westens verstanden hatten.

Es gab auch einen Kurs über Hegel, Nietzsche und den Existenzialismus, der von dem weltweit anerkannten Experten Professor Walter Kaufmann unterrichtet wurde. Einmal ging ich zu Professor Kaufmanns Büro, um ihm eine Frage zu Nietzsches Gedanken zu stellen, und anstatt mir zu antworten, gab er mir einen Text von Nietzsche auf Deutsch und meinte: „Schau einfach selbst nach“. Das war eine unschätzbare Lektion für mich, dass ich, wenn ich etwas erfahren wollte, selbst in den grundlegenden Quellen der ursprünglichen Sprache nachschlagen musste. Ich erkannte, dass ich die asiatischen Sprachen lernen musste, um dasselbe mit den buddhistischen Quellen tun zu können.

Während des letzten Semesters meines Abschlussjahres schrieb ich meine Diplomarbeit für Rutgers über den neo-daoistischen Philosophen He Yan (Ho Yen). Der Experte im neo-daoistischen Denken, Professor Donald Holzman, kam in diesem Jahr aus der „École des Hautes Études“ in Paris zu Besuch nach Princeton und willigte ein, mich bei meinen Nachforschungen zu beraten, indem er mir half, die grundlegenden Quellen zu finden. Ansonsten war ich auf mich allein gestellt und übte mich in der Lektion, die mir Professor Kaufmann erteilt hatte.

Es gab noch ein wichtiges Ereignis, das während meiner Zeit in Princeton zu meiner Entwicklung beitrug. Mein Zimmergenosse in meinem Abschlussjahr, Michael Goldstein, war ein brillianter Chemiestudent, der später ein herausragender pädiatrischer Neurologe wurde. Für ein Forschungsprojekt stand ihm der Zentralrechner in einem der modernen Labore zur Verfügung, der einen ganzen Raum füllte, und um etwas auszurechnen, war es erforderlich, in einen Stapel von Karten Löcher zu stanzen und sie in die Maschine einzuführen. Oft schloss ich mich ihm an und half Löcher zu stanzen und seit dieser Zeit hatte ich immer ein großes Interesse an Computern und war fasziniert, wozu sie in der Lage waren. Außerdem ging ich mit ihm in der Wilson Society Billiard spielen. Meine Zeit in Princeton bestand also nicht nur aus Studieren und Lernen.

Für meine weiterführenden Studien wurde ich in Harvard angenommen. Um dieses Studium zu finanzieren, wurde mir sowohl ein „Woodrow Wilson Fellowship“ als auch ein „National Education Act Fellowship“ gewährt und ich akzeptierte Letzteres, welches für meine gesamte Ausbildung in Harvard aufkam. Die Regierung zahlte mir tatsächlich ein großzügiges Gehalt zum Studieren. Der Vietnamkrieg war in vollem Gange und die Vereinigten Staaten hatten kaum jemanden, der Chinesisch sprach. Weil ich Chinesisch studierte und dies auch noch mit einem Stipendium des auswärtigen Amtes finanziert wurde, bewahrte mich das davor in den Krieg ziehen. Es war äußerst beängstigend, eingezogen und nach Vietnam geschickt zu werden, und so war ich ausgesprochen dankbar, davon befreit zu sein. Allerdings wurde erwartet, dass ich danach für die Regierung arbeiten würde. Ich musste sogar zu einem Vorstellungsgespräch gehen, aber es war nicht verpflichtend und so lehnte ich höflich ab. 

Sommerstudium in Taiwan 

Dann gab es noch den Sommer zwischen Princeton und Harvard, in dem ich meine Studien fortsetzen wollte. Ich hatte nicht den Wunsch eine Pause zu machen. Das „Critical Languages“-Programm hatte meine Sprachkurse im Sommer vor dem ersten Jahr finanziert und mir ein Stipendium für den Sommer vor dem Abschlussjahr arrangiert. So entschied ich mich, die Administratoren in Princeton zu fragen, ob sie mir auch mein intensives Sprachstudium für den Sommer nach meinem Abschluss sponsern könnten. Mein Vorschlag war, nach Taiwan zu gehen und dort bei einem persönlichen Lehrer privaten Chinesisch-Unterricht zu bekommen. Großzügigerweise stimmten sie zu und so ging ich im Sommer 1965 im Alter von 20 Jahren nach Taiwan und wohnte bei einer chinesischen Familie eines Freundes aus Princeton und bekam Privatunterricht. 

Taipei erinnerte zu der Zeit noch an das alte China: die Stadt war voller Fahrrad-Rikschas, hatte keine großen Gebäude und es gab keine westlichen Produkte. Chiang Kai-shek war noch an der Macht und das bedeutete, dass es viele Einschränkungen gab. Man durfte keine leuchtend rote Kleidung tragen und die Schulmädchen mussten eine Art Topfschnitt haben, also alle Haare bis über die Ohren abschneiden und den Rest darunter kahl rasieren. Trotz dieser tristen Erscheinung, den allgegenwärtigen riesigen Kakerlaken, dem erstmaligem Schlafen unter einem Moskitonetz und dem Benutzen eines Plumpsklos, war ich wunschlos glücklich und froh, einmal Abstand von den Annehmlichkeiten des Westens zu nehmen. Da ich bei einer Familie lebte, die kein Englisch sprach, machte ich großen Fortschritt in meinem gesprochenen Chinesisch. 

Ich nutzte auch die Gelegenheit, Hong Kong, Japan und Südkorea zu besuchen und diese Länder zu sehen, solange sie noch einen Großteil ihres traditionellen Geschmacks bewahrten. Ganz im Gegensatz zu Taiwan, war Hong Kong recht farbenfroh und pulsierend. Es gab nur ein paar wenige Hochhäuser, während es in Tokio und Seoul keine gab. Tatsächlich war die Straße vom Flughafen bis nach Seoul nicht voll asphaltiert, da sich das Land noch vom Korea-Krieg erholte. Das Zuhause der Familie eines Freundes, bei dem ich in Tokio wohnte, hatte größtenteils Tatami-Räume und einen kleinen Zen-Garten, der mit dem traditionellen Bad verbunden war. Dort zu wohnen, war wie ein Traum. Ich verliebte mich noch mehr in Asien und wollte weitere Erfahrungen sammeln.

Umzug nach Harvard 

Die Harvard-Graduiertenschule war ganz anders als das, was ich in Princeton erlebt hatte. Obgleich das Harvard College in der Zeit nur für Männer vorgesehen war, wurden auch Frauen in Studiengänge aufgenommen, die jedoch eine kleine Minderheit darstellten. Wie in Princeton waren die meisten der Studenten Weiße, doch hier in Harvard gab es eine Handvoll chinesische und japanische Studenten, die sich in den ostasiatischen Studiengängen eingeschrieben hatten. 

Wie die meisten Studenten lebte ich in einem Appartement außerhalb des Campus. In den ersten zwei Jahren teilte ich mir eine Unterkunft mit Mark Mohr, einem Freund aus der Kindheit, mit dem ich zusammen im Übernachtungs-Sommercamp gewesen war und der ebenfalls Chinesisch studierte. Viele Jahre später arbeitete Mark dann für das US-Außenministerium als Spezialist für Rüstungskontrolle. Er war Teil der amerikanischen Teams, die den ersten START-Vertrag mit Russland aushandelten und die erfolglosen Diskussionen mit Nord-Korea über eine Beendigung ihres Atomwaffenprogramms führten. Im Laufe der Jahre teilte er immer seine Erfahrungen mit mir, wenn sich unsere Wege kreuzten. Als er als Sondergesandter in Beijing war, sah er sogar den Tiananmen-Aufstand von seinem Hotelfenster. Es war faszinierend, einen „Blick hinter die Kulissen“ dieser historischen Ereignisse zu bekommen.

Im Gegensatz zu Princeton gab es in Harvard so gut wie keinen Kontakt mit den Professoren außerhalb des Klassenzimmers. Die meisten Kurse der ostasiatischen Programme fanden in den Räumlichkeiten des Harvard-Yenching Instituts statt und die meisten von uns brachten belegte Brote von Zuhause mit, die wir dann dort in der Studentenlounge aßen. Es gab keine Möglichkeiten, Eindrücke mit Leuten anderer Disziplinen als unserer zu teilen, aber wir bekamen so viel zu tun, dass mir kaum Zeit blieb, diese fachübergreifenden Diskussionen, die ich in Princeton so geschätzt hatte, zu vermissen. Was ich wirklich schätzte, war jedoch die Qualität der Kurse und der Professoren. Der intensive Rhythmus der Kurse, sowie die Tiefe und der Umfang des behandelten Lehrstoffs verlieh mir viel Energie. 

Der Unterricht lief ziemlich formell ab und die meisten von uns Männern trugen Anzüge und Krawatten. Es waren die Sechziger, der Beginn der Hippie-Ära, und obwohl ich mich nie zu der Hippie-Lebensweise hingezogen fühlte, lies ich mir einen herabhängenden Schnurrbart wachsen, trug eine Gandhi-Brille und eine psychedelische Krawatte zu dem dreiteiligen Anzug, den ich mir in Hong Kong hatte maßschneidern lassen. 

Obwohl es illegal war, rauchten immer mehr Leute in meinem Alter Marijuana und nahmen psychedelische Drogen. Das erste Mal nahm ich Marijuana auf einem Bergrücken mit Blick auf die Wüste von Nevada, als ich am Ende meines Sommers in Stanford Richtung Osten fuhr. Während meines Abschlussjahres in Princeton rauchte ich gelegentlich, doch in Harvard machte ich es mir zur Gewohnheit, spät abends zu rauchen, nachdem ich all die Aufgaben und Vorbereitungen für den nächsten Tag erledigt hatte. Es half mir, etwas runterzukommen, mich zu entspannen und einzuschlafen. Ich glaube es war hilfreich, durch das Arbeitspensum nicht unter Stress zu geraten. 

Erforschung der Trennung von Körper und Geist  

Als ich aufwuchs, hatte ich immer die Tendenz, mich in meinen Geist zurückzuziehen und meinen Körper abzulehnen, wahrscheinlich aufgrund meiner Schwierigkeiten, die ich mit dem Atmen wegen dem Asthma hatte und vielleicht auch, weil meine Bedürfnisse als Baby nicht richtig befriedigt wurden. Dieses Ungleichgewicht war zwar für meinen akademischen Erfolg förderlich, führte aber zu Problemen in meinen ersten Beziehungen. Ich kämpfte manchmal mit dem Gefühl, nur ein Geist und kein Körper zu sein, und gar nicht zu existieren. Um sicherzustellen, dass ich real war und einen Körper hatte, synchronisierte ich zuweilen meine Atemzüge mit denen meiner Freunde. Auch wenn ich dies damals nicht als eine Art Atem-Meditation betrachtete, funktionierte sie als solche und half mir, mich zu erden.

In Princeton hatte ich als Teil meiner Suche nach universellem Wissen begonnen, etwas über die Gedanken zu lernen, die westliche und asiatische Philosophen bezüglich des Geistes und der Realität hatten. Das waren die Themen, die mich am meisten interessierten. Doch ich fand, dass der kartesische Dualismus und „Cogito ergo sum“ (ich denke, also bin ich“) das Problem, besser mit Körper und Geist zurechtzukommen, nur verschlimmerten, anstatt eine Lösung anzubieten. Ich hatte mich noch nicht tief genug mit dem chinesischen und buddhistischen Gedankengut befasst, um dort relevante Antworten zu finden. 

Seit dem Rutgers-Kurs über asiatische Zivilisationen hatte ich einen Traum nach dem anderen erlebt, wie eine Erfahrung ohne Pause – Harvard, Princeton, Stanford, Taiwan und nun die „Harvard Graduate School“ – jeder unfassbarer als der andere. Es gab keine Zeit, einmal zur Ruhe zu kommen und es alles zu verdauen. Es schien alles unwirklich zu sein. Angesichts des enormen Arbeitspensums meiner Kurse zog ich mich immer weiter in meinen Geist zurück. Ich begann zu bemerken, wie ich unbewusst Dinge berührte, wie die Fenster von Geschäften, an denen ich vorbeilief. Es war, als würde ich durch das Erfahren von Tastempfindungen versuchen, mir selbst meine physische Existenz zu bestätigen. Als ich merkte, dass mein Verhalten zwanghaft zu werden begann, übte ich mich in Selbstbeherrschung und war in der Lage, mich von dieser Gewohnheit zu lösen.

Mir wurde bewusst, dass ich etwas Abstand brauchte, um einen besseren Blick darauf zu bekommen, was in meinem Leben los war und so entschied ich mich, den Psychiater Dr. Sapir aufzusuchen, was ich für die nächsten eineinhalb Jahre zweimal die Woche tat. Das bedeutete, dass ich die Sitzungen selbst bestimmte und so nutzte ich die Gelegenheit, mein Leben bis dahin gründlich zu analysieren. Weil ich es nicht anders konnte, behandelte ich sie wie einen Universitätskurs. Auf diese Weise erlangte ich zahlreiche Einblicke, die hilfreich waren, mich mit meiner persönlichen Geschichte zu befassen, besonders in Bezug auf meine unterdrückten Gefühle hinsichtlich der Krankheit und des Todes meines Vaters. Es war auch hilfreich, die irrtümliche Annahme aufzulösen, irgendwie verantwortlich für den Tod meines Bruders zu sein.

Diese Einblicke halfen jedoch nicht in Bezug auf die Trennung von Körper und Geist, die ich empfand. Das Einzige, was in der Zeit half, war mein allabendlicher Brauch, mich zu stimulieren, nachdem ich meine täglichen Aufgaben erledigt hatte. Für etwa eine Stunde stimulierte ich meine Sinne, indem ich laute Musik hörte und ungesunde Dinge aß. Die erhöhte Sinneswahrnehmung, die ich dadurch hatte, bestätigte mir, einen Körper zu haben und gab mir ein Gefühl der Ausgeglichenheit. Um meine körperlichen Sinne zu intensivieren, versuchte ich sogar mit ein paar Freunden LSD zu nehmen, was zu der Zeit Mode war. Das Lösen der scheinbaren Trennung von Körper und Geist musste jedoch warten, bis ich ausführliche buddhistische Unterweisungen in Indien bekam. Insbesondere war es notwendig, etwas über die fünf Aggregate von Körper und Geist zu lernen, sowie über die konventionelle Natur eines Selbst oder einer Person als ein Zuschreibungsphänomen, das mit diesen fünf verbunden ist, und über die Selbstlosigkeit oder Leerheit von Personen. Außerdem war es notwendig, ausführlich über all diese Themen zu meditieren. Auf dieser Stufe meines Lebens hatte ich nicht einmal etwas über die anderen Themen, außer der Selbstlosigkeit, gehört, und was ich über die Selbstlosigkeit gelesen hatte, war nicht tiefgreifend genug.

Das erste Jahresprogramm in Harvard 

Mein Studium in Harvard begann ich mit einem zweijährigen Masterprogramm in fernöstlichen Sprachen. Im ersten Jahr belegte ich einen Kurs in fortgeschrittener chinesischer Literatur, der ganz auf Chinesisch gehalten wurde. Für jeden Unterricht mussten wir zwanzig Seiten auf Chinesisch lesen und all unsere Aufsätze und Prüfungen auf Chinesisch schreiben. Als ich nach Harvard kam, war ich den meisten anderen Studenten in meinem Programm weit voraus und hatte keine Schwierigkeiten, sogar mit den chinesischen Muttersprachlern in diesem Kurs schrittzuhalten. 

Ich belegte auch ein zweites Jahr Japanisch und Kurse in intellektueller Geschichte Chinas, Betrachtungen des buddhistischen Denkens, Überblick der chinesischen und japanischen Geschichte bei den Professoren Benjamin Schwartz, Masatoshi Nagatomi, John Fairbanks und Edwin Reischauer, die einige der bekanntesten Namen auf dem Gebiet waren. In ihren Vorlesungen nutzten sie den geschichtlichen Ansatz, um die Entwicklung der philosophischen Kerngedanken zu verfolgen. Nachdem ich verstanden hatte, wie mächtig dieser Ansatz als analytisches Werkzeug war, nutzte ich ihn selbst immer wieder in meinen späteren Recherchen.  

Während dieses ersten Semesters in Harvard war ich persönlich an der Frage der Nicht-Existenz interessiert und schrieb für meinen Kurs in chinesischer intellektueller Geschichte einen Aufsatz, in dem ich die Nicht-Existenz im Kontext des westlichen und chinesischen Denkens analysierte. Sobald ich mich für das Studium der Überlieferung des Buddhismus in Asien interessierte, fühlte ich mich von der linguistischen Analyse des Übersetzens von Fachbegriffen angezogen. Aus der Leseliste für diesen Kurs erfuhr ich von der Saphir-Whorf Hypothese, die besagt, dass die Sprache einen Einfluss auf Denkmuster hat. Beruhend auf dieser Hypothese verfolgte ich zunächst die historische Entwicklung der neo-daoistischen Interpretation der Begriffe, die für gewöhnlich mit „Sein“ und „Nichtsein“ übersetzt wurden. Dadurch legte ich die Betonung auf die linguistische Grundlage, die Realität im Sinne dieser Polarität zu betrachten. Dann untersuchte ich die indo-europäischen Begriffe „Sein“ und „Nichtsein“, sowie den Einfluss, die sie auf die Art des Denkens hatten – insbesondere den Einfluss auf die buddhistische Formulierung dessen, was normalerweise mit „Leere“ oder „Leerheit“ übersetzt wird. Schließlich analysierte ich die Auswirkung, welche die linguistisch basierte, indo-europärische Denkweise auf die historische Entwicklung der chinesischen buddhistischen Darstellung der Leerheit hatte.

Damals erkannte ich, dass es sich dabei nur um eine vorbereitende Analyse handelte und ich meine Sprachkenntnisse verbessern und mich auf primäre Quellen stützen musste, wenn ich weiter in diese Richtung gehen wollte. Diesen Aufsatz zu schreiben, war jedoch der erste Schritt, den ich in einer Sache unternahm, die zum Hauptfokus meiner Meditation geworden ist – die analytische Meditation über Leerheit.

Sommerschule und zweites Jahr in Harvard 

Weil ich meine Studien nie unterbrechen wollte, belegte ich im darauffolgenden Sommer in Harvard einen Intensivkurs in Japanisch des dritten Jahres, mit dem ich die Anforderungen in Japanisch für den Mastertitel in Chinesisch erfüllte.

Im zweiten Jahr in Harvard belegte ich einen Kurs in fortgeschrittenem klassischen Chinesisch beim hochgelehrten Professor Achilles Fang, der es liebte, klassisches Chinesisch in altes Griechisch zu übersetzen. Das Vertiefen meines Wissens in konfuzianischer und daoistischer Philosophie bereitete mich darauf vor, klassisches buddhistisches Chinesisch lesen zu können. Um den Buddhismus gründlicher zu verstehen, lernte ich auch die Wichtigkeit, nicht nur den philosophischen Kontext eingehender zu erkennen, indem sich der Buddhismus entwickelte, sondern auch den kulturellen und historischen Kontext, in dem er sich entfaltete. Daher belegte ich auch Kurse in chinesischer institutioneller Geschichte bei dem bedeutenden Professor L. S. Yang. Trotz all meiner chinesischen Studien fühlte ich mich jedoch instinktiv zu Tibet hingezogen, und so fügte ich auch einen Anthropologie-Kurs über die Kulturen Zentralasiens bei Professor John Pelzel hinzu. Die Betonung lag auf den verschiedenen Formen des Schamanismus, der in der gesamten Region, von Tibet bis nach Sibirien, zu finden war.

Ein Pflichtfach für den chinesischen Masterabschluss war „Sinologie-Forschungsmethoden“, und so belegte ich auch diesen in meinem zweiten Jahr in Harvard. Wir lernten, wie und wo wir benötigte Informationen für unsere zukünftigen Recherchen finden konnten. Jede Woche wurde uns eine Liste von zwanzig Forschungsproblemen gegeben, die es zu lösen galt und dazu mussten wir einen Aufsatz von mindestens zwanzig Seiten mit den Antworten schreiben. Das war lange bevor es das Internet gab, ganz zu schweigen von Suchmaschinen oder AI-gestützten Werkzeugen, und es wurde von uns erwartet, dass wir alle verfügbaren klassischen und modernen chinesischen, japanischen, englischen, deutschen und französischen Quellen nutzten. Professor John Hightower, der den Kurs unterrichtete, war sehr enttäuscht, dass niemand von uns in der Klasse Russisch lesen konnte! 

So bekamen wir beispielsweise als typische Aufgabe ein Gedicht der Tang-Dynastie zu lesen und es hieß dann, dass es hilfreich wäre, die Sicht des Klosters zu kennen, in dem es verfasst wurde, um eine Wertschätzung dafür zu entwickeln. Welche Sicht war das? Um dieses Rätsel zu lösen, mussten wir das Kloster herausfinden, dessen heutigen Namen, und es auf den japanischen Karten vom Zweiten Weltkrieg finden, die es in einer der Harvard-Bibliotheken gab. Durch die Arbeit an solchen Problemen eignete ich mir den Einfallsreichtum und die Forschungskompetenzen an, die ich in meiner späteren Arbeit benötigen würde.

In dem Jahr begann ich auch Sanskrit zu studieren. Ich wollte den philosophischen Kontext, in dem der Buddhismus in Indien entstanden ist und sich entfaltet hat, auf der gleichen Ebene verstehen, wie den chinesischen Kontext, dem er sich angepasst hat. Wie sich zeigte, musste ich mich dafür in klassischer indischer Philosophie weiterbilden. Die Herangehensweise zum Lernen von Sanskrit in Harvard war rein philologisch, was für die meisten anderen Studenten passend war, da sie in erster Linie Klassiker studierten und Sanskrit mit Latein und dem Griechischen vergleichen wollten. Wir mussten in der Lage sein, die grammatikalische Flexion eines jeden Wortes in einem Text zu identifizieren und es dementsprechend zu übersetzen. Es wurde davon ausgegangen, dass wir dies tun konnten, ohne eine Erklärung der komplexen grammatischen Formen zu haben. Ich war dankbar, in meinen frühen Jahren Latein gelernt zu haben. Auch wenn es für das Wissenschaftsstudium nicht notwendig war, gab es mir doch eine feste Basis, um Sanskrit zu studieren. 

Diese philologische Herangehensweise hat sich in meiner gegenwärtigen Arbeit als unschätzbar erwiesen. Die tibetischen Übersetzungen aus dem Sanskrit sind angesichts der enormen Unterschiede der beiden Sprachen und dem Fehlen jeglicher Ressourcen für die damalige Übersetzungsarbeit beachtlich. Dennoch fehlt der tibetischen Sprache die grammatikalische Komplexität, um all die verschiedenen Zeitformen, Ausdrucksformen, Personen, Mengen und Fälle wiederzugeben, die es im Sanskrit gibt. Auch fehlt ihr der umfangreiche Wortschatz. Häufig wurden mehrere Fachausdrücke im Sanskrit mit bestimmten Bedeutungen alle mit demselben Wort ins Tibetische übersetzt. 

Zuvor war ich mir, ohne die komplexen philosophischen Passagen im Tibetischen mit dem ursprünglichen Sanskrit zu vergleichen, dieser Unterschiede nicht einmal bewusst. Und ohne diese Unterschiede in der englischen Übersetzung, geht die genaue Bedeutung der Passagen oft verloren. Die originalen Sanskrit-Versionen vieler buddhistischer Texte sind jedoch jetzt online verfügbar. Das Problem ist, dass die ursprünglichen Sanskrit-Versionen von einer noch größeren Anzahl von Texten nicht aufbewahrt wurden oder nicht so leicht zugänglich sind. Um zu helfen, dieses Problem zu beseitigen, gibt es jetzt ein Tibetisch-Sanskrit-Wörterbuch in achtzehn Bänden, in dem umfangreiche zweisprachige Zitate aus buddhistischen Texten enthalten sind. Dort schlage ich immer nach, um eine Passage mit dem Begriff in einem ähnlichen Text zu finden, damit ich so die beabsichtigte Bedeutung aufdecken kann. 

Zuweilen gibt es Abweichungen zwischen den Sanskrit- und tibetischen Versionen einer Passage, die nicht durch diese Methode erklärt werden kann. Manchmal fand ich heraus, dass sie auf einen anderen Buchstaben eines Sanskrit-Wortes zurückzuführen sein konnten, wahrscheinlich durch einen Schreibfehler oder Fleck auf dem ursprünglichen Palmblatt, das vom tibetischen Übersetzer genutzt wurde. Auf diese Weise konnte ich fortwährend die Forschungskompetenzen sinnvoll nutzen, die ich mir in Harvard angeeignet hatte.

Obgleich meine Zeit in diesen ersten zwei Jahren in Harvard fast ausschließlich aus Arbeit bestand, gab es kurze Zeiten der Entspannung. Einer der Studienkollegen von Mark und mir im chinesischen Studium war Jamie Pusey, der Sohn des Direktors von Harvard, der später ein Professor in der Bucknell Universität wurde. Damals wohnte er in einem Dachzimmer über der Direktoren-Residenz und als die Batman-Serie im Fernsehen begann, lud Jamie uns beide jede Woche in sein Zimmer ein, um sie zusammen anzusehen. Heimlich führt er uns durch eine versteckte Hinterleiter nach oben und für uns war es ziemlich aufregend, Batman zu schauen, während sich der Direktor von Harvard in den Zimmern unter uns befand. 

Sommer-Forschungsprojekt in Harvard 

Nachdem ich all die Kurs-Anforderungen in Chinesisch und Japanisch für den Doktortitel in fernöstlichen Sprachen erfüllt hatte, bekam ich auf meine Anfrage die Erlaubnis, zusätzlich zu den fernöstlichen Sprachen auch in Sanskrit und indischen Studien zu promovieren. Das würde zwei weitere Jahre Kursarbeit in Anspruch nehmen, jedoch kein Studium von Pali und den Veden erfordern, da es sich dabei um ein Doppelstudium handelte. Tibetisch war zusätzlich zum Sanskrit genug. Pali wäre zwar nützlich gewesen, aber leider habe ich diese Gelegenheit verpasst. Wenn ich heute eine Passage aus dem Pali übersetzen muss, kämpfe ich mich langsam mit einer Grammatik und einem Wörterbuch durch.

Während dem Sommer zwischen meinem zweiten und dritten Jahr in Harvard, nahm ich, als Fortsetzung zu meinem Kurs in Sinologie-Forschungsmethoden, an einem Projekt teil, eine digitale Datenbank zweitrangiger Literatur über China zu erstellen. Nachdem ich die Computerlabore im „MIT“ erforscht und den Prototyp der ersten Computerspiele gesehen hatte, war ich neugierig, mehr über die Möglichkeiten zu lernen, die Computer jetzt boten, die keinen ganzen Raum mehr füllten und die keine gelochten Karten mehr brauchten. 

Meine Aufgabe in diesem Sommer bestand darin, in Harvards riesiger „Widener Library“ zwischen Bücherstapeln zu sitzen und hunderte von Büchern und Artikeln über China herauszusuchen, durchzublättern und die nummerierten Felder für das Jahrhundert, die geografische Lage und die Hauptthemen, um die es in ihnen ging, anzukreuzen. Dadurch lernte ich mehr über die chinesische Kultur, aber auch über die Wichtigkeit von Datenbanken, was sich für meine zukünftige Arbeit mit „Berzin Archives“ und „Study Buddhism“ als ausgesprochen nützlich erwies. Es war auch eine Vorbereitung dafür, in dem kommenden Herbst, als Teil meiner Förderung, für Professor Holmes Welch als Lehrerassistent für chinesische Kultur zu arbeiten. Das Lehren und die Arbeit mit Studenten gefiel mir außerordentlich gut.

Drittes Jahr in Harvard 

Während meines dritten Jahres in Harvard setzte ich mein Sanskrit-Studium fort. Bei Professor Daniel Ingalls lasen wir die „Bhagavad Gita“ und eine Auswahl der „Upanishaden“ im Original, aber analysierten wiederum nur die Grammatik und nicht den philosophischen Inhalt. Ich begann auch mein Studium der tibetischen Sprachen. Inspiriert durch das anthropologische Seminar, an dem ich teilgenommen hatte, wollte ich auch Mongolisch studieren, aber leider passte es nicht in meinen Zeitplan. Ich meldete mich sogar für den Kurs in Sogdisch an, wurde jedoch abgelehnt, weil ich kein Farsi konnte. Von den zentralasiatischen Sprachen nur Tibetisch zu studieren, musste ausreichen, um meinen Durst nach dem Erlernen buddhistischer Sprachen zu befriedigen. 

Zu der Zeit, es war 1967, waren die einzigen leicht zugänglichen Bücher über tibetischen Buddhismus von Evans-Wentz, Lama Govinda und Alexandra David-Neel. Tibet war vorwiegend ein Mysterium. Das einzige Buch zum Erlernen der tibetischen Sprache war von Heinrich Jaeschke, einem mährischen Missionar, dessen einziges Interesse darin bestand, die Bibel ins Tibetische zu übersetzen. In dem Lehrbuch wurde versucht, die tibetische Grammatik in Bezug auf das Lateinische zu übersetzen, was überhaupt nicht passte. Der tibetische Kurs in Harvard wurde von Professor Nagatomi unterrichtet und da ich, wie auch ein anderer Student im Kurs, Japanisch konnte, lehrte er die Tibetische Grammatik in Bezug auf die japanische Grammatik, was ziemlich gut passte. Nagatomi hatte jedoch keine Ahnung von der gesprochenen Sprache oder wie das Tibetische ausgesprochen wurde und so sprach er jeden Buchstaben in allen Worten aus. In typischer Harvard-Sitte hatten wir nur einen Tag Zeit, um die Schrift zu lernen, aber da ich ja in meinem Chinesisch-Studium jede Woche einhundert chinesische Schriftzeichen lernen musste, stellte das kein großes Problem dar. 

In diesem Jahr kehrte Robert Thurman mit seiner neuen schwedisch-deutschen Frau Nena aus Indien zurück. Er hatte dort studiert, oft privat bei Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama und war der erste Westler, der in der tibetischen Tradition ein Mönch geworden war, jedoch nun seine Roben abgelegt hatte. Nena war ein Model des „Vogue Magazine“ und war zuvor mit Timothy Leary verheiratet gewesen, dem ehemaligen Harvard-Professor, der psychedelische Drogen, besonders LSD, populär gemacht hatte.

Thurman und ich wurden bald Studienkollegen und lebenslange Freunde. Er erzählte mir von seinem Lehrer, dem Kalmücken-Mongolen Geshe Wangyal in New Jersey, der in der Nähe meiner Mutter lebte. Aus dem Grund begann ich, ihn in meinen Semesterferien zu besuchen und bekam meinen ersten Geschmack der tibetisch-kalmückischen Kultur der Mongolen. Auch wenn ich nie die Gelegenheit hatte, bei Geshe Wangyal zu studieren, entwickelte ich durch die ungezwungene Zeit, die ich bei ihm verbrachte, noch mehr den Wunsch, den tibetischen Buddhismus zu erforschen.

Während dem dritten Jahr in Harvard, nahm ich, als Teil meines Strebens, den Geist und die Emotionen zu verstehen, zusammen mit noch einem anderen Studenten an einem privaten Lesekurs über Freud und Jung bei Professor Robert Bellah teil. Wir trafen uns jede Woche in Bellahs Büro, um erstaunliche Diskussionen über deren Theorien zu führen, besonders über Jungs Erklärung der Entwicklung des Egos mit seiner individuellen Identität zu einem Selbst, das alle Aspekte des kollektiven Unbewussten vollständig integriert. Obgleich ich die Theorien von Freud und Jung tiefgreifend und hilfreich fand, war ich letztendlich nicht mit ihren Modellen des Geistes zufrieden. Ich hatte das Gefühl, dass sie nur teilweise erklärten, wie und warum emotionale Probleme auftraten. Ich wollte noch mehr über den Geist lernen und ein noch tieferes Verständnis über das westliche, chinesische, hinduistische und buddhistische Denken erlangen. Auch wenn sie alle wahrscheinlich nützlich waren, so dachte ich, dass eines dieser Systeme die tiefgründigsten Antworten darauf haben musste, was die eigentlichen Ursprünge emotionaler Probleme sind und wie man sie beseitigt. Ich war mir noch nicht sicher, welches System die Antworten auf meine Fragen hatte.

Wie in Princeton gab es auch in Harvard die Möglichkeit, an Kursen bei berühmten Professoren teilzunehmen, wie „Der Charakter und die gesellschaftliche Struktur Amerikas“ von Professor David Riesman und „Der menschliche Lebenszyklus“ von Professor Erik Erikson. Wir konnten auch im MIT, am anderen Ende der Stadt, an Kursen teilnehmen, wo ich mich für „Die Geschichte der westlichen Wissenschaft“ von Professor Houston Smith einschrieb. Auf diese Weise nutzte ich all diese Gelegenheiten bestmöglich und lernte viel von diesen Koryphäen der westlichen intellektuellen Welt, was in den kommenden Jahren hilfreich sein sollte. Eriksons Theorie der acht Lebensstufen in der psychosozialen Entwicklung der Ego-Identität, zusammen mit den Hauptmerkmalen und Zielen jeder Lebensstufe, zeigte sich beispielsweise als nützliches Werkzeug, um meine Selbst-Analyse fortzuführen, die ich mit Dr. Sapir begonnen hatte und die endete, als er nach New York zog.

Rucksackreisen und Trampen durch Europa im Sommer 

Während des Sommers zwischen meinem dritten und vierten Jahr in Harvard nahm ich mir endlich eine Auszeit von meinen akademischen Tätigkeiten. Wie es in der Zeit Brauch war, reiste ich mit dem Rucksack durch Westeuropa und Marokko, meistens per Anhalter und mit Übernachtungen in Jugendherbergen. Ich reiste zusammen mit David Talamas, einem christlichen palästinensischen Amerikaner, den ich an meinem ersten Tag in Europa in einer Jugendherberge in Amsterdam kennengelernt hatte. Er hatte das „Collège du Léman“, eine private Internatsschule in Versoix in der Schweiz besucht und studierte Arabisch in Harvard. Er sprach bereits mehrere europäische Sprachen sowie umgangssprachliches Arabisch, was unser gemeinsames Reisen vereinfachte. 

Nachdem wir aus Europa zurückkehrten, teilten wir uns eine Wohnung und obwohl er aus einem katholischen Umfeld kam, lösten wir schnell alle Vorurteile, die wir über die Kulturen des anderen hatten. Durch meine Diskussionen mit ihm begann ich mich für die arabische Kultur zu interessieren, was später dazu führte, dass ich im Bereich buddhistisch-muslimischer Beziehungen arbeitete. Er wurde später Geschäftsmann, ernsthafter Praktizierender des Buddhismus und ein lebenslanger Freund.

In Genf machte mich David mit Stanley und Louise White bekannt, amerikanischen Auswanderern, welche die USA während der McCarthy-Ära verlassen mussten. Sie lebten zusammen mit ihren Kindern, Enkelkindern und etwa einem Dutzend internationalen Künstlern und Schriftstellern in einer Art Kommune in einem Vorort von Genf. Dort wurde ich bei regen philosophischen und politischen Diskussionen zum Abendessen an einem massiven Tisch in eine ganz neue Welt eingeführt. So lernte ich spannende Lebensweisen und intellektuelle Möglichkeiten außerhalb der akademischen Welt kennen und öffnete mich dafür, was ich ein Jahr später in Indien erfahren sollte.

Dies war der Sommer 1968, ein Sommer mit Protesten und des russischen Überfalls auf die Tschechoslowakei. Auch wenn ich nicht direkt an Protesten beteiligt war, so wohnte ich doch zusammen mit vielen tschechischen Studenten in einer Herberge in Rom, als uns die Nachrichten erreichten, dass russische Panzer in Prag einrollten. Als ich ihren Schock und ihre Verzweiflung sah, wurden mir das erste Mal die persönlichen Schwierigkeiten bewusst, mit denen die Menschen in der kommunistischen Welt konfrontiert wurden. Ich wuchs während des kalten Krieges in Amerika auf und hatte keine Ahnung, wie sich das Leben für die dort lebenden Menschen anfühlte. Wie es sich herausstellte, war das erste kommunistische Land, in dem ich unterrichtete, die Tschechoslowakei (1985) und der erste Präsident, dem ich half ein Treffen mit Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama zu arrangieren, der Präsident Vaclav Havel (1990), ein Monat nach dem Fall des Kommunismus in diesem Land. 

Viertes Jahr in Harvard 

Nach dem ich aus Europa zurückkehrte, belegte ich in meinem vierten Jahr in Harvard, zusätzlich zu weiteren Klassen in Tibetisch und Sanskrit, zusammen mit Thurman und einem japanischen Studenten einen Kurs bei Professor Nagatomi, in dem wir lernten, wie ein Sanskrit-Text über Logik ins klassische Chinesisch übersetzt wurde. Die chinesische Übersetzung war exzellent, aber die tibetische Version, übersetzt aus dem Chinesischen, war unverständlich und so befassten wir uns nicht weiter damit. Der Unterricht fand in Nagatomis kleinem Büro statt. Die gesamte Zeit rauchte er eine Zigarette nach der anderen, genau wie Professor Ingalls während unserem Sanskrit-Unterricht, was in den Sechzigern üblich war. Trotz all dem Rauch liebte ich den Kurs und war wirklich interessiert daran, was man aus vergangenen Bemühungen lernen konnte, buddhistische Texte aus dem Sanskrit in andere Sprachen zu übersetzen. Wir achteten besonders darauf, wie die Fachbegriffe verstanden und übersetzt wurden, und dieser Richtlinie bin ich für den Rest meines Lebens treu geblieben. Der Kurs vermittelte mir auch die Grundlage dafür, ein Verständnis für buddhistische Logik zu entwickeln, was ich später in meinen Studien mit den Tibetern in Indien benötigen würde.

In unseren zwanglosen Treffen erzählte mir Thurman einige Male von Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama und den tibetischen Flüchtlingen in Indien, sowie von der Möglichkeit, dort zu studieren. Begeistert von den Möglichkeiten, die Forschungsarbeit für meinen Doktortitel bei den Tibetern in Indien zu betreiben, beantragte ich sowohl ein Fulbright-Stipendium, als auch ein „American Institute of Indian Studies Fellowship“. Beide wurden mir gewährt und ich entschied mich für das Fulbright-Stipendium. Zusammen mit Professor Nagatomi entschied ich mich, als mein Thema das „Guhyasamaja Tantra“ zu übersetzen. Zusammen mit Thurman hatte ich einige Passagen daraus in unserem fortgeschrittenen Tibetisch-Unterricht gelesen und es mit der ursprünglichen Sanskrit-Version und der chinesischen Übersetzung verglichen. Ich war begierig, mehr darüber zu lernen und dachte, dass es mir im Vergleich dazu, was ich in meinem Lektüre-Kurs über Jung erfahren hatte, helfen würde, den Geist auf einer tieferen Ebene zu verstehen.

Damit ich mich auf meine mündlichen Prüfungen in indischen, chinesischen und buddhistischen Philosophien vorbereiten konnte, wurde mir in Harvard ein persönliches Büro zur Verfügung gestellt. Es war ein Raum mit einem angeschlossenen Badezimmer in einem ehemaligen Hotel neben dem Campus und ich nannte ihn meine „Sinnesentzugszone“. In meinem schalldichten Büro konnte ich all die Proteste gegen den Vietnamkrieg und für die Bürgerrechte, die auf dem Campus stattfanden, ausblenden, schloss mich ein, lies die Rollos runter und hatte neben meinem Schreibtisch mit einer Thermoskanne Kaffee und einem Stuhl keine weiteren Möbel im Zimmer. Die einzige Pause, die ich mir von diesem intensiven Studium nahm, bestand darin, zusammen mit David „Star Trek“ zu schauen, denn wir hatten nun einen Fernseher. Am Ende war ich wahrscheinlich mehr als gut vorbereitet. Während der mündlichen Prüfungen stützte ich meine Erklärungen zu Fragen in indischer und chinesischer Philosophie mit Zitaten aus primären Quellen und schrieb sie auf Sanskrit und Chinesisch an die Tafel. Diese Gewohnheit hatte ich in meinem Sommer in Stanford angenommen. Ich bestand die Prüfungen mit Leichtigkeit.

Sommerreise nach Indien 

Während ich all diese philosophischen Systeme durchnahm, versuchte ich mir vorzustellen, wie es wäre, so zu denken. Ich wollte es gern herausfinden und nachdem ich die mündlichen Prüfungen bestanden hatte, machte ich mich mit einem Pan-Am-Ticket auf den Weg nach Indien, mit dem ich unbegrenzt viele Zwischenstationen einlegen konnte. Meine erste Station war London, wo ich den berühmten Tibetologen David Snellgrove in der „School of Oriental and African Studies“ (SOAS) traf. Als ich ihm von dem Thema meiner Doktorarbeit berichtete, erfuhr ich, dass eine seiner Doktoranden, Francesca Fremantle, bereits dabei war, das „Guhyasamaja Tantra“ zusammen mit einem Sanskrit-Kommentar zu übersetzen. Damit war klar, dass ich mein Thema ändern musste. Fremantle wurde später eine buddhistische Lehrerin in der „Longchen Foundation“.  

Ich setzte meine Reise langsam durch Europa fort und verbrachte eine idyllische Zeit in der Künstler-Kommune der White-Familie im Süden Frankreichs. Außerdem unternahm ich ausgedehnte Reisen im Iran vor der islamischen Revolution und in Afghanistan vor dem Überfall der Sowjetunion. Mein Kindheitsfreund Jon Landaw war seit drei Jahren im Iran im Friedenskorps und seine Freunde boten mir eine Unterkunft an, wodurch ich einen Geschmack der persischen Kultur bekam. In Kabul traf ich Perry Link, der in Harvard neben mir gewohnt und auch chinesisch studiert hatte. Später wurde er ein Professor in Princeton. Wir mieteten uns einen russischen Jeep und ein afghanischer Fahrer brachte uns auf Landstraßen zur großen Buddha-Statue in Bamiyan. Die Umstände in Afghanistan waren damals recht mittelalterlich und es gab keinerlei moderne Entwicklung. Außer einem Telefonkabel gab es nichts, was Bamiyan mit der Welt außerhalb verband.

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