Dr. Alexander Berzin: Meine Kindheit und Ausbildung an der Rutgers University

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Meine Eltern und Geschwister  

Ich wurde am 10. Dezember 1944 in Paterson, New Jersey, geboren und stamme aus einer säkularen jüdischen Familie der Arbeiterklasse. Wie ich später, als ich den tibetischen Kalender studierte, erfahren habe, war dies in dem Jahr der Tag von Ganden Ngamchoe, dem Verscheidungstag von Tsongkhapa. 

Mein Vater, Isadore Berzin, kam aus einer Immigrantenfamilie, die aus dem russischen Zarenreich stammte, aus einem Teil, der heute zu Lettland gehört. Mit dreizehn verlor er aufgrund einer ernsthaften Krankheit fast vollständig sein Gehör und musste die Schule abbrechen, weil er dem Unterricht nicht mehr folgen konnte. Sein Vater, ein Diabetiker, war oft zu krank zum Arbeiten und es gab fünf jüngere Brüder und Schwestern, sowie drei Cousins im Haus, um die sich seine Mutter kümmern musste. Als ältestes Kind ging er, trotz seiner Behinderung, hinaus, um zu arbeiten, übernahm Verantwortung und half, sich um die Bedürfnisse aller zu kümmern. Seine Leistungsbereitschaft gegenüber der Familie, insbesondere gegenüber seiner Mutter, als sie älter wurde, und seiner Frau, meiner Mutter, setzte sich in seinem gesamten Leben fort. Wahrscheinlich durch sein Beispiel sah auch ich mich verpflichtet, mich um die Bedürfnisse meiner Mutter zu kümmern – nicht auf eine materielle Weise, sondern indem ich sie während meiner Zeit an der Uni jede Woche anrief und ihr aus Indien jede Woche einen Brief schrieb.

Als Erwachsener arbeitete mein Vater mit einem seiner Brüder im Altmetall-Geschäft, einer frühen Version der Wiederverwertung. Sie hatten beide einen Lieferwagen, mit dem sie zu den Fabriken fuhren, das Altmetall in schweren Tonnen einsammelten und es an den Schrottplatz der Cousins verkauften, denen mein Vater in ihrer Jugend mit geholfen hatte. Die Cousins waren nun viel wohlhabender als er, was nicht einfach gewesen sein musste. In der High School waren viele Väter meiner Freunde Ärzte oder Anwälte und ich schämte mich zu erzählen, dass mein Vater ein „Junkman“ war, wie man seinen Beruf in diesen Tagen nannte. Erst später im Leben konnte ich die harte Arbeit wertschätzen, die er tat, und das schwere Leben, das er aufgrund seiner Behinderung führen musste. 

Meine Mutter, Rose Berzin, stammte ebenfalls aus einer Immigrantenfamilie, die unter dem russischen Zarenreich gelebt hatte, allerdings in Polen. Da auch ihre Familie nur wenig Geld besaß, konnte sie ebenfalls keine höhere Schulbildung abschließen und ging im Alter von vierzehn Jahren arbeiten. Ihre Eltern, zwei Brüder und eine Schwester waren alle große Fans der jiddischen Kultur, besonders Theater und Musik, und waren gesellschaftlich und politisch aktiv. Obgleich sie arm waren, luden sie neu ankommende Immigranten an den Freitagabenden zu sich nach Hause zum Essen ein und ihre Brüder und Schwestern sagten Gedichte auf und sorgten somit für Unterhaltung. 

Meine Mutter war die Ausnahme in der Familie und war ruhig und zurückhaltend. Sie teilte nicht die Interessen ihrer Geschwister und dachte nicht einmal daran, sich mit ihnen zu messen. Sie war nicht emotional, aber auf ihre ruhige Weise äußerst gütig, besonders gegenüber denen, die weniger Glück hatten, als sie. Obwohl sie kein Buchwissen besaß, hatte sie ein hohes Maß an gesundem Menschenverstand. Als Erwachsene arbeitete sie in einem kleine Büro als Buchhalterin. Sowohl bei der Arbeit als auch zu Hause war sie recht praktisch und effizient. Sie kümmerte sich immer und ohne Umschweife um alles, was erledigt werden musste, was sie auch an mich weitergab. Beispielsweise beantworte ich E-Mails immer, sobald ich sie bekomme, und kümmere mich um Aufgaben, sobald sie auftauchen. Wie sie, wetteifere ich auch nicht gern mit anderen, versuche allen Konflikten aus dem Weg zu gehen und bin, genau wie sie, nicht sehr emotional. 

Ich habe eine Schwester mit dem Namen Charlotte, die sieben Jahre älter ist als ich. Als wir zusammen aufwuchsen, spielten wir fast nie miteinander und sie heiratete, als ich 11 Jahre alt war. Ab dann hieß sie Charlotte Goodnough. Im Alter von 21 hatte sie bereits zwei Söhne, Glen und Gary, und arbeitete später in dem Sekretariat einer High School. Sie ist ziemlich gesellig, kontaktfreudig und einfühlsam, kommt leicht mit allen ins Gespräch, ist sehr gefühlsbetont und teilt ihre Emotionen offen mit – ganz im Gegensatz zu mir, besonders als Kind. Obwohl sie ausgesprochen intelligent ist, ging sie nie auf die High School. Ihre Söhne taten es jedoch, Glen wurde Richter und Gary Professor an der Universität. Ich betrachte sie eher als meine jüngeren Brüder und nicht als Neffen. Auch wenn ich keinen großen Kontakt zu meiner Schwester und meinen Neffen hielt, als ich in Indien lebte, rufe ich sie, seitdem ich 1998 wieder in den Westen zog, jede Woche an.

Meine Eltern hatten auch noch einen Sohn, Joel, der plötzlich im Alter von zwei Jahren starb, bevor ich geboren wurde. Mit starkem Husten und Atemnot wurde er mitten in der Nacht im Schneesturm ins Krankenhaus gebracht und starb, bevor ein Arzt kommen konnte. Niemand in der Familie sprach jemals über ihn. 

Als ich ein Jahr später geboren wurde, sah ich genau wie Joel aus und als ich aufwuchs, hatte ich das Gefühl, gezeugt worden zu sein, um ihn zu ersetzen. Ich dachte, dass ich ohne seinen Tod niemals geboren wäre und fühlte mich somit für seinen Tod verantwortlich. Auch wenn ich in meinen jungen Jahren nicht viel darüber nachdachte, spielte diese Schuld des Überlebenden später in meiner spirituellen Entwicklung eine Rolle. Sie gab mir Denkanstöße bei meinen Versuchen, die buddhistischen Lehren über Karma und Wiedergeburt zu verstehen. 

Meine Kindheit 

Seit der frühen Kindheit hatte ich schweres Asthma und aus dem Grund verbrachte ich in meinen ersten paar Jahren viel Zeit im Krankenhaus. Meine frühste Erinnerung ist, mich im Krankenhaus in einem Gitterbett zu befinden und durch das Fenster eine Parade zu sehen, die unten auf der Straße vorbeizieht. Ich erinnere mich, dass ich weinte, weil ich nicht hinausgehen konnte, um sie mir anzusehen, aber niemand erwiderte auf mein Weinen. Nicht einmal zu Hause konnte mein Vater mich weinen hören, wenn er allein mit mir war. Sein erstes Hörgerät bekam er erst, nachdem Nachbarn sich bei meiner Mutter beschwerten, weil sie mich ständig weinen hörten, wenn sie nicht da war. Weil mein emotionales Wohlbefinden als Kleinkind nicht befriedigt wurde, lernte ich jedoch selbstständig zu werden und auf niemanden zu zählen, um diesem Bedürfnis in einer persönlichen Beziehung gerecht zu werden. So schmerzhaft es auch war, hatte es den Nutzen, dass ich mich dem Dharma zuwendete, um dieses Bedürfnis zu befriedigen. 

Meine Mutter war überaus fürsorglich mir gegenüber, da sie sich an meinen verstorbenen Bruder erinnerte, besonders wenn ich Asthmaanfälle hatte, doch ich sträube mich dagegen, zu sehr umhegt zu werden und wollte alles selbstständig tun. Dieser Antrieb der Unabhängigkeit hat mich mein ganzes Leben begleitet. Beim Verwirklichen und Nutzen meiner vollen Potenziale wollte nicht eingeschränkt werden. Meine Mutter war überaus gütig und gab mir beim Aufwachsen alle Freiräume. Als Kleinkind las sie mir viel vor und sobald ich lesen lernte, meldete sie mich in einem Klub für Kinderbücher des Monats an, der mir jeden Monat einen Kinderbuch-Klassiker zukommen lies. Später meldete sich mich dann in einem ähnlichen Klub für Science-Fiction-Bücher an, weil ich mich dafür interessierte. Als ich etwas älter wurde, überzeugte sie meinen Vater, mir eine illustrierte Enzyklopädie zu kaufen: „Die Bücher des Wissens“, die ich über alles liebte.

Als Kind übte ich keinen Sport aus und hatte kein Interesse daran, mir Sportveranstaltungen anzusehen. Ich wollte nicht einmal mit dem Dreirad fahren, das mein Vater mir gekauft hatte. Und so lernte ich auch nie Fahrrad oder Auto fahren, weil ich kein Interesse daran hatte. Einmal nahm mich mein Vater in seinem Lieferwagen zu einem Baseball-Spiel mit, aber ich langweilte mich dort zu Tode. 

Seit frühester Kindheit war es meine Leidenschaft, alles zu lernen und zu studieren. Ich liebte die Schule, machte gern Hausaufgaben und freute mich sogar auf die Prüfungen. Ich war immer selbst-motiviert, äußerst diszipliniert und von Natur aus konzentriert. Ich brauchte keine Ermutigung oder Hilfe von meinen Eltern. In meiner gesamten Ausbildung lernte ich schnell und mit Leichtigkeit und erzielte immer ausgesprochen gute Noten in allen Fächern. Zweimal wurde ich in die nächsthöhere Klasse versetzt und war jünger als die meisten meiner Klassenkameraden, was mir in der Grundschule den Spitznamen „Professor“ einbrachte. 

All meine Tanten und Onkel, sowie alle Cousins meiner Eltern lebten nur wenige Meilen voneinander entfernt. Sie waren alle nette Leute und niemand von ihnen trank oder rauchte. Wir waren freundlich zueinander und besuchten uns ziemlich häufig. Obgleich ich viele Cousins hatte, waren nur ein paar in meinem Alter. Wir spielten miteinander, wenn meine Eltern sie besuchten, aber ich fand keine große Freude am Spielen. 

Während dieser frühen Jahr war ich nicht wirklich glücklich. Ich war ein dickliches, arrogantes und, ehrlich gesagt, widerliches Kind, das die Lehrer zurechtwies und ein Besserwisser war, was mir nicht gut tat. Ich hatte kaum Freunde und wurde gelegentlich in der Schule gemobbt. Die buddhistische Schulung erfordert Methode und Weisheit – das Herz und den Geist. Mir fiel es nicht schwer, den Geist zu entwickeln, hatte aber große Schwierigkeiten, was das Herz betraf. Ich musste viel daran arbeiten, meine Charakter und sozialen Kompetenzen zu verbessern. 

Beginn mit dem Lernen fremder Sprachen 

Meine beiden Großväter starben, bevor ich geboren wurde, aber meine beiden Großmütter waren in meiner Kindheit da und sie sprachen ausschließlich Jiddisch. Aus diesem Grund schickten mich meine Eltern zu einer jiddischen Schule, um ein wenig die Sprache und Kultur zu lernen. Ich ging gern dorthin und entwickelte eine Liebe für fremde Sprachen und Schriften. Außerdem waren zwei meiner Cousins mütterlicherseits in einer Theatergruppe für Jugendliche, die einige der Werke des großen jiddischen Bühnenautors Shalom Aleichem auf Englisch aufführten. Als ich alt genug war, trat ich der Gruppe ebenfalls bei. Schon als junger Teenager war ich nie nervös, vor einem Publikum zu sprechen.

Zur Freude meines Vaters ging ich mit elf Jahren auch auf die hebräische Schule, um mich auf mein Bar Mitzvah vorzubereiten. Obwohl viele Jungen in einem früheren Alter begannen, sagte meine Mutter dem Lehrer Rabbi Reuben Kaufman, er solle sich keine Sorgen machen, dass ich so spät begann. Sie versicherte ihm, dass ich kein Problem damit haben würde, die anderen einzuholen, da ich bereits die hebräische Schrift kannte. Freundlicherweise nahm er mich auf und lies mich teilnehmen. Somit ging ich jeden Tag nach der Schule zu seinem Tempel in den Unterricht. Dort lasen wir zusammen ein Kinderbuch über die Geschichte der Juden und die jüdischen Feiertage. Ich hätte auch gern etwas über die jüdischen Glaubensvorstellungen gelernt, aber Rabbi Kaufman sprach nie darüber. Was das Studium des Hebräischen betraf, so lasen wir lediglich das Buch Genesis und lernten die englische Übersetzung der Worte. Im Unterricht rief uns Rabbi Kaufman einzeln nach vorn und jeder von uns musste diese englische Übersetzung des täglichen Abschnitts rezitieren. Leider brachte er uns keine Grammatik bei, die ich gern gelernt hätte und so musste ich sie mir, so gut es ging, selbst erarbeiten. 

Uns wurde beigebracht, wie man die Rituale auf Hebräisch rezitiert, aber wir lernten nie ihre Bedeutung. An meinem Bar Mitzvah leitete und rezitierte ich den gesamten Morgendienst – nicht aus religiöser Hingabe, sondern in erster Linie um zu zeigen, was ich schon konnte. Rabbi Kaufman saß an der Seite, voller Hoffnung, dass ich seinen Fußspuren folgen würde. Nachdem ich jedoch meinen Vater, besonders in Anwesenheit seiner reichen Cousins, stolz gemacht hatte, ging ich nicht mehr hin. Auch wenn ich mich zu einem gewissen Grad am Rezitieren erfreute, fand ich es nicht erfüllend. Ohne die Bedeutung war es ein leeres Ritual und ich suchte nach etwas Tieferem. Als ich später mit den tibetisch-buddhistischen Ritualen in Kontakt kam, hatte ich ihnen gegenüber anfangs eine ähnliche Einstellung. Glücklicherweise hatte ich die Reife und Geduld, sie nicht gleich abzulehnen, sondern zu warten, bis ich deren Bedeutung kennenlernen konnte.

Im Alter von etwa zwölf Jahren entwickelte ich, vielleicht inspiriert durch „Die Bücher des Wissens“, den Wunsch, mir Wissen über das spirituelle Gedankengut und die literarischen Errungenschaften aller Zivilisationen der gesamten Geschichte anzueignen, um sie alle zusammenzufügen und gemeinsam betrachten zu können. Mit diesem hohen Ziel begann ich, sogar noch mehr als vorher zu lesen und fokussierte mich auf die Klassiker der westlichen Literatur. Ich las ziemlich schnell und wenn die Bücher nicht zu dick waren, konnte ich eins am Tag durchlesen, was meiner Mutter einige Sorgen bereitete. Um mich von meinen Büchern wegzubekommen, sandten meine Eltern mich jeden Sommer zunächst in ein Tagessommercamp und schließlich in ein Übernachtungscamp, wo ich körperlich aktiv sein und sozialen Austausch mit anderen im meinem Alter haben musste, was wirklich notwendig für mich war.

In der High School, in der ich war, gab es so genannte „Alpha“-Klassen für fortgeschrittenere Schüler, die ich alle besuchte und dort traf ich auch andere, die ebenfalls schneller lernten. Inzwischen hatte ich einen guten Sinn für Humor entwickelt und dadurch war es leichter, mich mit ein paar von ihnen zu befreunden. Ich schloss mich der Theatergruppe an, trat bei ein paar Aufführungen auf und hatte sogar in meinem Abschlussjahr eine Freundin, Sharon Gordon. Doch mein eigentliches Interesse war, soviel wie möglich zu lernen. 

Auf der High School lernte ich Lateinisch und Deutsch, was mir viel Freude bereitete. In dieser Zeit ging man davon aus, Latein zu brauchen, um auf die Universität zu gehen, und Deutsch, um Wissenschaften zu studieren. Unsere deutschen Bücher waren noch in der altdeutschen Schrift und so begann meine Liebe zu den nicht-romanischen Schriften zu wachsen. 

Erwachendes Interesse am Buddhismus  

Obgleich niemand in meiner Familie meine Interessen teilte, fühlte ich mich seit meinen frühen Jugendjahren von Natur aus zur asiatischen Kultur hingezogen. Es war die Beatnik-Ära und weil ich an spirituellen Dingen interessiert war, las ich, was immer in jenen Tagen verfügbar war – die Bücher von Alan Watts und D.T. Suzuki, sowie natürlich „Siddhartha“ und andere Werke von Hermann Hesse. Ich war sehr von ihnen angezogen und begann, mit ein paar Freunden einfache Hatha-Yoga-Übungen zu machen. 

Obgleich es in unserer großen erweiterten Familie keine Probleme gab, entwickelte ich in diesem Alter eine Abneigung dagegen zu heiraten, eine Familie zu haben, ein Haus und ein Auto zu kaufen, und mein ganzes Leben einer Arbeit nachzugehen, die mich nicht ausfüllen würde, nur um eine Hypothek und Darlehen abzuzahlen. Ein so genanntes „normales“ Leben zu führen betrachtete ich als eine Falle, als ein Hindernis, das mich davon abhalten würde, mein volles Potenzial zu nutzen. Vielleicht war ich von Hesses Büchern beeinflusst worden, besonders von „Demian“ und „Narziß und Goldmund“, aber ich habe dieses Gefühl mein ganzes Leben lang bewahrt. 

Als ich vierzehn war, hatte mein Vater einen Schlaganfall, nach dem er halbseitig gelähmt war, nicht mehr sprechen konnte und niemanden mehr erkannte. Er war erst 47 als ihm das passierte und im Grunde weinte und schrie er die meiste Zeit. Obwohl die Ärzte uns versicherten, dass er sich seiner Situation nicht bewusst war, überzeugte mich das nicht. Ich vermied es, darüber nachzudenken. Nachdem meine Mutter versucht hatte, sich zu Hause um ihn zu kümmern, was einfach überhaupt nicht funktionierte, musste er in einer staatlichen Einrichtung für Unheilbare untergebracht werden. Er war zur erregt und zu laut, um irgendwo anders behandelt zu werden. 

Als ich ihn das erste Mal dort mit meiner Mutter besuchte, schob man in unseren Aufzug eine Trage mit einer Leiche darauf, und als wir ihn wieder verließen und auf die Station kamen, auf der sich mein Vater befand, betraten wir ein Zimmer voller Patienten, von denen die meisten, wie mein Vater, weinten und schrien. Mein Vater erkannte mich nicht einmal und daraufhin habe ich mich emotional verschlossen. Weil meine Mutter sah, welche traumatisierende Wirkung die Begegnung mit solchem Leid auf mich hatte, nahm sie mich nie wieder zu einem Besuch bei ihm mit. 

Ab dann musste meine Mutter in Vollzeit arbeiten gehen und ich musste schnell erwachsen werden und Verantwortung für mich selbst übernehmen. Glücklicherweise nahm sich die Familie meines besten Freundes, Jonathan Landaw, meiner an und so verbrachte ich viel Zeit bei ihnen zu Hause. Jons Vater, der ein netter Arzt war, nahm sich Zeit, mit mir lebhafte intellektuelle Diskussionen zu führen, was ich nie mit meinem eigenen Vater erlebt hatte, auch nicht bevor er krank wurde, und so verbrachte ich gern Zeit mit ihm. Er wurde zu meinem Vorbild.

Bald waren Jon und ich wie Brüder. Ich erinnere mich, dass ich einmal, als wir zusammen an einem Schulprojekt arbeiteten, plötzlich das Gefühl hatte, wir würden irgendwie in etwas historisch Wichtigem eine Rolle spielen. Natürlich hatte ich keine Ahnung, dass Jon und ich als Erwachsene buddhistische Lehrer werden und helfen würden, den tibetischen Buddhismus in die nicht-tibetische Welt zu bringen. 

Ausbildung in Rutgers 

Die späten Fünfziger waren in Amerika auch die Sputnik-Ära und in der High School wurden wir alle ermutigt, Naturwissenschaften zu studieren. Mich interessierte, wie die Russen es geschafft hatten, den Amerikanern so weit voraus zu sein und so entschied ich mich mit 15 in unserer örtlichen Bibliothek darüber zu recherchieren. Das Ergebnis war ein 50-seitiger Aufsatz, den ich über das Bildungssystem in der UdSSR schrieb, das sehr viel intensiver war, als das, was ich in den Vereinigten Staaten kannte. Ich konnte nicht ahnen, dass ich in der Zukunft viel Zeit in der UdSSR verbringen und dort an Projekten für Seine Heiligkeit den Dalai Lama arbeiten würde.

Nachdem ich mit 16 mein Abitur gemacht hatte, ging ich in New Brunswick, New Jersey, auf die Rutgers Universität, um Chemie zu studieren, was ich zwei Jahre tat. Das Chemiestudium war ein gutes Training, um meine analytischen Fertigkeiten zu verfeinern: ich liebte es, Lösungen für komplexe mathematische, chemische und physikalische Probleme zu finden. Diese Liebe wurde dann auf das Analysieren von Texten übertragen, sowie auf die analytische Meditation über komplexe Themen in den buddhistischen Lehren. Ich fühlte mich nie zur Konzentrationsmeditation hingezogen. Besonders in meinen Studien hatte ich das Gefühl, über genügend Konzentration zu verfügen und wollte andere Fertigkeiten entwickeln.

In Rutgers wurde von allen Studenten erwartet, eine fundierte Ausbildung zu haben und so mussten Studenten der Naturwissenschaften eine Prüfung in Geisteswissenschaften ablegen und Studenten der Geisteswissenschaften eine Prüfung in Naturwissenschaften. Ich fand diese Strategie wunderbar und so entschied ich mich zusätzlich zu meinen naturwissenschaftlichen Kursen für einige Wahlfächer in Geisteswissenschaften, wie Kunstgeschichte. Ich schätzte sehr, dass dies all meinen naturwissenschaftlichen Kursen eine Art Gleichgewicht gab. 

Rutgers war in dieser Zeit eine rein männliche Schule, aber wir könnten uns auch für Wahlfächer im Douglass College einschreiben, welches das rein weibliche Schwester-College von Rutgers am anderen Ende der Stadt war. Im meinem zweiten Jahr nutzte ich diese Gelegenheit und schrieb mich für ein Wahlfach mit dem Namen „Tradition und Wandel in Asien“ ein. In einer Vorlesung ging es darum, wie sich der Buddhismus in Asien verbreitete und sich an jede Kultur, in die er kam, anpasste. Dies zu hören veränderte mein Leben. Ich war erst 17, aber als ich davon erfuhr, wusste ich, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Ich wollte lernen, wie die buddhistischen Meister die Lehren in andere Kulturkreise brachten und sie ihnen anpassten, und ich wollte es selbst tun. Ich wollte eine Brücke zwischen den Kulturen werden und von diesem Ziel bin ich mein ganzes Leben nie abgewichen. Das passte genau in mein Kindheitsziel, das Wissen aller Zivilisationen zu kennen und zusammenzufügen.

Professor Ardath Burks, einer der drei Professoren, die den Douglass-Kurs unterrichteten, erzählte uns von dem „Cooperative Undergraduate Program in Critical Languages“, das im darauffolgenden Jahr an der Princeton Universität begann, die sich gleich in der Nähe von Rutgers befand. In Princeton gab es all die Möglichkeiten, die Sprachen des Mittleren Ostens und Asiens zu lernen, aber kaum Studenten, die daran interessiert waren. Ich erkannte, dass ich nicht den Rest meines Lebens in einem Chemielabor verbringen wollte und freute mich über diese einmalige Gelegenheit nach Princeton zu gehen und diesem Pfad zu folgen, zu einer Brücke zwischen den Kulturen zu werden. Somit bewarb ich mich, Chinesisch zu studieren und war einer von sechs Leuten, die in das Programm aufgenommen wurden. Wie Rutgers war auch Princeton damals eine rein männliche Schule, aber einer der sechs ausgewählten Bewerber war eine Frau, welche die erste Studentin war, die dort studierte.

Gerade als ich von diesem Princeton-Programm erfuhr, starb mein Vater, den ich seit meinem ersten traumatisierendem Besuch in der staatlichen Einrichtung nicht mehr gesehen hatte. Seitdem weigerte ich mich darüber nachzudenken, ob sein Weinen und Schreien bedeutet hatte, dass er sich seiner Situation bewusst war. Nicht einmal bei seiner Beerdigung hatte ich irgendwelche Empfindungen, doch als ich erfuhr, dass im Buddhismus viel über die Wahrheit des Leidens gesprochen wurde, war ich bereit tiefer zu gehen und mehr darüber zu lernen. Das Princeton-Programm wurde vollständig von der Carnegie Foundation gefördert und so gab es keine finanziellen Hindernisse, ihm beizutreten. Wegen meiner guten Noten und meinen bescheidenen Verhältnissen, aus denen ich stammte, erhielt ich für mein Studium vom Bachelor bis zum PhD ein volles Stipendium und großzügige Unterstützungen. Meine Ausbildung kostete mich keinen Cent und ich absolvierte das Studium ohne irgendwelche Schulden. Heutzutage haben Studenten in den USA häufig Schulden und für gewöhnlich sind sie ziemlich hoch, aber damals war das nicht der Fall und sie waren viel niedriger.  

In meiner Zeit in Rutgers hatte ich eine Freundin, Bernice Berzof. Als ich ihr sagte, dass ich nach Princeton ging, was nur eine kurze Busfahrt von New Brunswick entfernt war, schlug sie vor, dass wir uns verloben und in zwei Jahren, nach unserem Abschluss, heiraten sollten. Da ich mich jedoch nicht an eine Ehe binden wollte, beendete ich die Beziehung, als ich umzog. Nachdem sie geheiratet und eine erfolgreiche Steueranwältin in Philadelphia mit ihrem neuen Namen Bernice Koplin geworden war, blieben wir dennoch in Kontakt.

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