Dr. Alexander Berzin: Studium und Training in Dharamsala, Indien

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Umzug nach Dharamsala 

Während wir auf unsere Indien-Visas warteten, reisten Jon und ich mit meinem fünfzehn Jahre alten Neffen Glen Goodnough durch Europa und kamen im September 1972 wieder in Indien an. In Dharamsala hatte Sharpa Rinpoche am Rande des Indian Village eine Hütte für uns arrangiert, in der wir leben konnten. Ich hatte nie in McLeod Ganj, dem Tibetan Village weiter oben in den Bergen, gewohnt. Sönam Norbu schloss sich uns an und fuhr fort, für uns zu kochen und sich um uns zu kümmern, wofür wir unendlich dankbar waren. Auch nachdem Jon vier Jahre später ging, blieb Sönam die nächsten zehn Jahre bei mir. Nachdem Sönam in sein Kloster zurückkehrte, was nach Zentralindien umgesiedelt wurde, teilte ich mir mit meinen Nachbarn von nebenan einen tibetischen Koch namens Nyebala. Auch wenn es nur wenige Westler gab, die ähnliche Vorkehrungen trafen, so war es doch recht üblich für Inder, außer den ganz armen, dass jemand bei ihnen lebte, der jeden Tag auf dem Markt für sie einkaufen ging und kochte. Auch die Steins und sogar Geshe Ngawang Dhargyey hatten jemanden, der für sie kochte.

Die Hütte, die Sharpa für uns organisiert hatte, bestand aus Lehm und Steinen, einem kleinen Raum, den Jon und ich uns teilten und eine noch kleinere Küche, in der Sönam schlief. Es gab weder Kühlschrank noch Spülbecken und er kochte auf einem Kerosin-Ofen auf dem Boden. Auf der Hütte gab es ein Blechdach, darunter eine Holzdecke und in dem Zwischenraum huschten Mäuse und andere kleine Wesen herum. Im einzigen Fenster gab es kein Glas, sondern nur ein Eisengitter. Im Sommer hängten wir zum Schutz vor Insekten einen dünnen indischen Schleier davor und im Winter verkleideten wir das Fenster und die Holzdecke mit Plastikplanen, um uns vor der Kälte zu schützen. Wie in dem Bungalow in Dalhousie gab es kein Wasser. Sönam musste von einem Gemeindehahn in der Nähe Wasser holen und in Eimern aufbewahren – einen zum Kochen und den anderen zum Waschen. Wasser gab es nur zweimal am Tag, jeweils für eine Stunde, und manchmal war es nur ein kleiner Rinnsal. 

Es gab keine moderne Toilette, sondern lediglich ein indisches Plumpsklo ohne Spülung im Hof. In den ersten Jahren kam jeden Tag ein Kehrer, um die schmutzigen Zeitungen auf dem Boden einzusammeln und entsorgte das Ganze an der Seite des Berghangs. Als er dann nicht mehr kam und ich allein dort lebte, tat ich es selbst, aber ersetzte die Zeitungen mit einem Plastikkübel. Zum Waschen mussten wir kaltes Wasser in einem Eimer holen, es auf dem Kerosin-Ofen erhitzen, wenn wir es warm haben wollten, und es in einer winzigen Kabine aus Beton, die sich neben dem Haus befand, mit einer Schöpfkelle aus Plastik über uns gießen. Die Sachen mit der Hand in kaltem Wasser zu waschen, stellte immer eine Herausforderung dar, besonders im Winter, auch weil das Wasser so knapp war. Während der Monsun-Regenzeit, wenn es die meiste Zeit regnete, war es hingegen fast unmöglich, Sachen zu trocknen und alles aus Leder wurde ganz grün vor Schimmel. Das war meine Heimatbasis für die restliche Zeit, die ich in Indien verbrachte – insgesamt 29 Jahre. Auch wenn es so anders als das war, an was ich in Amerika gewöhnt war, vermisste ich nie die Annehmlichkeiten des Westens und hatte nie Heimweh.

Sobald ich wieder in Indien war, entschied ich mich, auch das Rauchen von Marijuana zusammen mit dem Trinken von Alkohol aufzugeben. Sich zu berauschen war vollkommen kontraproduktiv und genau das Gegenteil von dem, was ich mit der buddhistischen Schulung erreichen wollte. Anstatt die Konzentration zu erhöhen, war der Geist nur noch abgelenkter, und anstatt Hirngespinste zu vermindern, wurden sie nur noch vermehrt. Anstatt eine bessere Beziehung zu anderen zu haben, zog ich mich durch die Drogen sozusagen „in mich selbst“ zurück und beobachtete andere aus einer emotionalen Distanz oder verlor mich in meiner eigenen Fantasiewelt. Und anstatt sehnsüchtiges Verlangen und Anhaftung zu vermindern, nahmen diese Dinge zu, weil ich das Gefühl bekam, nichts mehr genießen zu können, ohne mich zu berauschen. Nichts davon wollte ich und seitdem habe ich nie wieder Marihuana oder irgendwelche Partydrogen genommen. Wenn es keinen medizinischen Grund gibt, sie zu nutzen, rate ich allen immer strikt davon ab, besonders wenn sie dem buddhistischen Pfad folgen wollen.

Ratschläge Seiner Heiligkeit     

Nachdem ich angekommen war, hatte ich eine private Audienz bei Seiner Heiligkeit. Er wies mich an, als vorbereitende Praxis für meine Arbeit und meine Studien, die Mantras von Avalokiteshvara und Manjushri jeweils 600.000 Mal zu rezitieren und erklärte mir die Praktiken, die ich diesbezüglich ausführen sollte. Während ich das Avalokiteshvara-Mantra rezitierte, sollte ich Mitgefühl hervorbringen und mich darauf konzentrieren, sowie auf den Wunsch, als Motivation für das Studium anderen von Nutzen zu sein. Während ich das Manjushri-Mantra rezitierte, sollte ich einen klaren und fokussierten Geisteszustand als notwendiges Werkzeug hervorbringen, um die Lehren zu verstehen und zu wissen, wie ich anderen von Nutzen sein kann. Gern folgte ich seinen Anweisungen. Obgleich Seine Heiligkeit es nie als ein „Ngöndro“ bezeichnete, war dies tatsächlich der Beginn meiner vorbereitenden Übungen.

Ich fragte ihn auch wegen dem Übersetzen um Rat. Ich hatte es satt, in mühevoller Kleinarbeit all diese Fußnoten anzubringen, die nur wenige Menschen interessierten. In den Texten, die ich in Princeton und Harvard geschrieben hatte, nutzte ich stets sehr akademische und obskure Worte, die für die meisten Menschen unverständlich waren und streute auf arrogante Weise Fremdwörter ohne englische Übersetzung ein, was stets mit guten Noten belohnt wurde, doch ich erkannte selbst, wie überheblich das war. Seine Heiligkeit gab mir den Rat, so zu schreiben, als würde ich es meiner Mutter erklären. Der Punkt war, den Text so klar und leserlich wie möglich zu machen und ihn nicht absichtlich zu verschleiern. Wenn ich auch etwas für die Gelehrten tun wollte, konnte ich ja Notizen am Ende einfügen. Von da ab habe ich versucht, seinem Rat in Bezug auf meine Arbeit zu folgen.   

Die „Library of Tibetan Works & Archives“ 

Ich studierte bei Geshe Ngawang Dhargyey im LTWA, bis er Dharamsala 1982 verließ, zu einer längeren Vortragsreise um die Welt aufbrach und schließlich nach Neuseeland zog. Während dieser Jahre benötigten Studenten aus Commonwealth-Ländern kein Visum für Indien, während Amerikaner und Europäer leicht ein Langzeit-Studentenvisum für ein Studium in der Library bekommen konnten. Viele von uns blieben viele Jahre und manche Paare bekamen sogar Kinder, während sie dort waren. Die meisten lebten in kalten und feuchten Betonräumen in einem Block von Zimmern neben der Library, während andere in indischen Hütten am Berg wohnten, wie Jon und ich. Die Umstände waren einfach, aber sie waren für alle gleich und so wurden wir zu einer verschworenen Gemeinschaft. 

Unsere nächsten Nachbarn, Brian und Marie Beresford aus Neuseeland, bekamen in der Zeit, in der sie da waren, zwei Kinder. Jon und ich halfen, uns um sie zu kümmern, weil Brian häufig nach Afghanistan reiste, um Teppiche zu kaufen und zu exportieren, um ein Einkommen zu haben. Mit Sönam Norbus Hilfe brachten wir Marie sogar während eines schweren Monsun-Regens mitten in der Nacht ins Krankenhaus, damit sie Dolma, ihr ältestes Kind, zur Welt bringen konnte. Sie lag seit zwei Tagen in schweren Wehen und war in großer Not. Brian war nicht da und sie brauchte eine Notfallversorgung. Als Dolma erwachsen war, wurde sie Direktorin des „Meridian Trust“, einer britischen Organisation, die frühe Audio- und Video-Aufnahmen der tibetischen Lamas, die noch in Tibet ihre Ausbildung bekommen hatten, sammelte und aufbewahrte. 

Fünfmal die Woche gab es morgens zwei Dharma-Klassen und einmal die Woche Meditationsunterricht. Geshe Dhargyey leitete zweimal im Monat eine Lama Chöpa (Guru Puja) an und zuweilen kamen große Lamas, wie der Karmapa und Dilgo Khyentse Rinpoche zu Besuch, um Gastvorträge zu halten. Trijang Rinpoche wohnte gleich in der Nähe der Library und viele von uns kamen von Zeit zu Zeit auf einen Tee vorbei. Es war ein idyllischer Ort, um den Dharma zu studieren.

Da viele von uns einige Jahre dort warten, konnte Geshe Dhargyey mehrjährige Kurse zu den wichtigsten Texten geben, wie „Bodhicharyavatara“ (Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas), „Abhisamayalamkara“ (Filigranschmuck der Verwirklichungen), „Madhyamakavatara“ (Eintritt in den Mittleren Weg), „Abhidharmasamuccaya“ (Anthologie spezieller Themen des Wissens), „Suhrllekha“ (Brief an einen Freund), „Lam-rim chen-mo“ (Große Darstellung des Stufenpfades), „Ngag-rim chen-mo“ (Große Darstellung der Mantra-Ebenen), sowie kürzere Kurse über „Lorig“ (Arten der Wahrnehmung), verschiedene Lojong-Texte (Geistestraining) und mehrere andere Werke. Außerdem gab uns Geshe Dhargyey zu den damit verbundenen Sadhanas tantrische Initiationen und lange Vorträge. Ein paar Jahre später kam dann sein Schüler Geshe Sönam Rinchen, um seinen Wissensschatz mit uns zu teilen. Von ihm bekam ich mehrjährige Kurse zum „Abhidharmakosha“ (Ein Schatztruhe spezieller Themen des Wissens) und zum „Madhyamaka Catuhshataka“ (Vierhundert Verse über den Mittleren Weg), sowie mehrere andere kürzere Texte. 

Auch wenn wir keinen dieser Texte besonders tiefgründig oder mit Debatten studierten, wie in den Klöstern im Geshe-Training, haben wir doch all das Material in ihnen behandelt. Im Unterricht gab es keinen Raum für Diskussionen oder Zeit für Fragen und Antworten. Es lag an uns, die Lehren zu durchdenken und zu verinnerlichen. Dafür war unsere eigene Initiative notwendig und das passte mir sehr gut. Ich war dankbar für meine akademische Ausbildung, da sie mir die Grundlage gab, mit all diesem Lehrstoff zu arbeiten. Wie ich es gelernt hatte, machte ich mir in all den Unterrichtsstunden umfangreiche Notizen und machte grobe Übersetzungen der Texte, während wir sie durchnahmen. Die breite Grundlage, die ich in Sutra und Tantra bekam, war mir für meine zukünftige Arbeit und Praxis eine große Hilfe. 

Mehrere andere Studenten in den Kursen, die später Dharma-Lehrer oder Übersetzer wurden, erhielten in den Siebzigern ebenfalls einen Teil ihrer grundlegenden buddhistischen Ausbildung in der Library. Dazu zählten Thubten Chodron, Alan Wallace, Stephen Batchelor, Karma Lekshe Tsomo, Glen Mullin, Michael Roach, Ruth Sönam, Gavin Kilty, Ian Coghlan, und Michael Richards. Es war eine lebendige Gemeinschaft und wir befreundeten uns alle miteinander. Während diesen ersten Jahren in Dharamsala ging ich auch meinen nicht-dharmischen Interessen nach und lernte bei Karma Lekshe Tsomo, der später ein Professor in der Universität von Hawaii wurde, westliche Astrologie. Dies stellte sich als ausgesprochen hilfreich heraus, als ich einige Jahre später tibetische Astrologie lernte, um meine Kalachakra-Studien zu ergänzen.

Während dieser Periode fuhr Seine Heiligkeit fort, uns verschiedene Texte zu geben, die ich mit Geshe Dhargyey übersetzte, sowie mit Sharpa und Khamlung Rinpoche, bis sie in den Westen gingen, und mit Jon, bis auch er wieder heimkehrte. Sie wurden vom LTWA als Teil der Gründung ihrer Übersetzungsabteilung veröffentlicht, mit der ich auf informelle Weise verbunden war. 

In Harvard wurde mir beigebracht, in ein so genanntes „Translationese“ zu übersetzen, ein Englisch, in dem jedes grammatische Merkmal der ursprünglichen Sprache repliziert wird. Das Resultat war ein recht merkwürdiges Englisch, das jedoch zeigte, dass man die Grammatik verstanden hatte. In unseren ersten Übersetzungen gingen wir nun in das andere Extrem. Jon und ich machten uns viel Arbeit mit manchen Texten, besonders jenen, die in Versform verfasst waren, und übersetzten sie in eine poetische Sprache und ein Versmaß, wodurch sie leichter zu rezitieren waren. Jahre später habe ich versucht, einen mittleren Weg zu finden, also nah an der ursprünglichen Formulierung und Grammatik zu bleiben, aber auch das Englisch möglichst sanft klingen zu lassen.    

Lebensstil als Übersetzer 

Seine Heiligkeit und Geshe Dhargyey ermutigten mich nie ein Mönch zu werden und ich hatte auch keine Neigungen in diese Richtung, obwohl mein Lebensstil sehr dem eines Mönches glich. Ich hatte Universitäten nur für Männer besucht und in Indien hatte ich meistens Gemeinschaft mit Mönchen, insbesondere Geshes und Rinpoches. Mit wenigen Ausnahmen ging ich während meiner Universitätszeit nie zu Partys. Aber dennoch hatte ich das Gefühl, Seiner Heiligkeit als ein Laie nützlicher sein zu können. 

Sharpa Rinpoche erklärte, der Hauptgrund dafür, ein Mönch zu werden, liege darin, Disziplin zu entwickeln und sich dem Dharma zu verschreiben. Ich war jedoch bereits äußerst diszipliniert und hatte mich dem Dharma verschrieben; das musste ich nicht weiter fördern. Als Mönch hätte ich auch an täglichen Gruppen-Pujas teilnehmen müssen, die langsam rezitiert wurden und lange dauerten. Obwohl es mir nicht schwer fiel, zweimal im Monat in der Library an ihnen teilzunehmen, zog ich es immer vor zu studieren und meine Meditationspraktiken für mich und in meiner eigenen Geschwindigkeit zu machen. Mich als Mönch zu kleiden und nicht in einem Kloster zu leben, ergab für mich keinen Sinn, und durch ein Klosterleben wäre ich von der Gesellschaft abgetrennt, genau wie in an der Universität.

Als ich Serkong Rinpoches Schüler wurde, sagte er aus Spaß zu mir, ich wäre wie eine Fledermaus. In der Gemeinschaft mit Vögeln gibt sie vor, kein Vogel, sondern eine Maus zu sein, und in der Gemeinschaft mit Mäusen ist sie keine Maus, sondern ein Vogel. In ähnlicher Weise habe ich auch während meiner Zeit in Dharamsala mit den Tibetern studiert, aber bei den Indern gelebt und gehörte weder zu den einen noch den anderen. So war es auch mit Mönchen und Laien. Im Grunde war ich auch in der Gemeinschaft von Asiaten und Westlern eine Fledermaus und bin es heute in der Gemeinschaft von Deutschen und Amerikanern.

Noch bevor ich etwas über die Selbstlosigkeit von Personen und ihr Fehlen einer selbst-begründeten Identität lernte, habe ich es immer instinktiv gemieden, mich mit einer Gruppe auf festgelegte und solide Weise zu identifizieren, und das betraf beispielsweise buddhistische Organisationen, Dharma-Zentren und sogar eine partnerschaftliche Beziehung. Ich hatte zwar die Neigung, bei einigen meiner guten Freunde emotionalen Halt zu suchen und zu bekommen, aber da ich diesen Halt als Kleinkind von meinem Vater nicht bekommen hatte, konnte ich mich nie mit der Idee einer Paarbeziehung anfreunden, weder mit einem Mann noch mit einer Frau. Ich sah mich nicht einmal als Mitglied meiner Familie; mit wem ich auch war, ich fühlte mich immer wie eine Fledermaus.

Neben dem Mönchstum wurde mir auch nie empfohlen, das Debattieren zu lernen und ich vermied es von selbst. Auch wenn ich dessen Wert schätze und in Harvard einen Text über Logik studiert hatte, wusste ich, dass ich ein „Debattier-Monster“ werden würde, wenn ich in diese Richtung ging. Ich wäre dann nicht mehr in der Lage, den Debattier-Modus auszuschalten, wann immer jemand etwas Unlogisches sagen würde. Schon seit jungen Jahren wollte ich nie mit anderen wetteifern, nicht einmal beim Kartenspielen, ganz zu schweigen beim Schach. Ich mochte die Mentalität nicht, danach zu trachten den Gegner zu besiegen und stellte mir vor, dass ich diese aggressive Mentalität benötigen würde, um beim Debattieren erfolgreich zu sein. Mir gefiel es auch nicht, mich selbst verteidigen zu müssen und vermied Konflikte, wenn es möglich war. So willigte ich beispielsweise nie ein, die Arbeit von jemandem zu rezensieren und eine Bewertung zu schreiben.

In der Library wurden auch Kurse in tibetischer Sprache angeboten. Der Lehrer, Narkyid Ngawang Thondub, der später der Archivar und Biograph Seiner Heiligkeit wurde, hatte ein Manuskript eines Lehrbuches zum Erlernen der gesprochenen Umgangssprache zusammengestellt. Obwohl ich bereits viel davon verstehen konnte, was Leute sagten, gab es in meinem gesprochenen Tibetisch viele Lücken. Ngawang Thondup bat mich, ihm mit dem Text zu helfen und dadurch verbesserte sich meine Aussprache zusehends. 

Als mein Tibetisch schließlich salonfähiger war, begann ich Ling Rinpoche zu besuchen. Nachdem ich von ihm im Januar 1973 in Bodh Gaya erneut die Vajrabhairava-Initiation bekommen hatte und begann, als eine der Verpflichtungen meine erste tägliche Sadhana-Praxis auszuführen, beantwortete er mir freundlicherweise immer Fragen, die ich zur Praxis hatte. In den nachfolgenden Wintern übersetzte ich dann gelegentlich für ihn in Bodh Gaya, wenn er Besuchern in seinem Raum Belehrungen gab. 

Während dieser ersten Jahre in Dharamsala nahm ich an all den öffentlichen Unterweisungen teil, die Seine Heiligkeit gab und langsam begann ich, immer mehr von seinem anspruchsvollen und redegewandten Tibetisch zu verstehen. Als die Jahre vergingen, erlaubte mir Seine Heiligkeit sogar, an den fortgeschrittenen Lehren teilzunehmen, die er in seinem Wohnbereich erteilte und die „nur mit Einladung“ zugänglich waren.

Das wichtigste Ereignis während dieser Zeit war die Kalachakra-Initiation, die Seine Heiligkeit im Januar 1974 in Bodh Gaya erteilte. Über einhunderttausend Menschen nahmen teil und sie kamen aus der gesamten Himalaya-Region, wobei manche aussahen, als wären sie direkt dem Mittelalter entstiegen. Manche von ihnen führten noch immer Tieropfer aus und so ermahnte er sie mit Nachdruck, damit aufzuhören. 

Angelockt durch diese vielen Menschen kamen auch hunderte indischer Bettler und Leprakranke, welche die einzige Straße säumten. Noch nie hatte ich Menschen in solch schlechtem Zustand gesehen, der sogar noch jenen während der Hungersnot in dem ersten Winter überstieg, den ich dort war. Hinzu kam, dass es keine öffentlichen Toiletten gab und jeder sein Geschäft ohne jegliche Privatsphäre in den Feldern erledigte, was dazu führte, dass es schon bald eine Fliegenplage gab. Eine Gruppe von uns Westlern kam aus Dharamsala, um teilzunehmen. Wir drängten uns in den Mehrbettzimmern des PWD-Gästehauses zusammen und kochten gemeinsam in einem abgelegenen Feld. Die Kameradschaft, die wir miteinander teilten, war einfach wunderbar.   

Ich werde der erste Schüler von Tsenshap Serkong Rinpoche 

Tsenshap Serkong Rinpoche war ebenfalls bei der Kalachakra-Initiation und kam nach einem erweiterten Aufenthalt in Nepal in Bodh Gaya an. Doch aufgrund der riesigen Menschenmenge und all dem Chaos hatte ich ihn dort nicht gesehen. Doch als wir wieder in Dharamsala waren, erteilte er uns Schülern in der Library im Mai die Vajrabhairava-Initiation und Geshe Dhargyey brachte uns daraufhin den Sadhana bei. 

Kurz danach kehrten Jon und ich nach New Jersey zurück, um im Sommer unsere Familien zu besuchen und dem indischen Monsunregen zu entkommen. Dort besuchten wir Lama Yeshe und Lama Zopa, die zu der Zeit in New York waren. Jon lud Lama Zopa ein, unsere Heimatstadt zu besuchen und einigen unserer Freunde Unterweisungen zu geben, was er im Haus meiner Tante Sarah und meines Onkels Irving Weinberg tat. 

Als wir im Herbst 1974 nach Dharamsala zurückkehrten, besuchte ich Serkong Rinpoche und konnte nun direkt mit ihm ohne einen Übersetzer reden. Er schien zu merken, dass ich die karmische Verbindung hatte, sein persönlicher Übersetzer und schließlich ein Dharma-Lehrer zu werden und so nahm er mich unter seine Fittiche. Wenn ich zu ihm ging, was oft geschah, lies er mich in seinem Zimmer an der Seite sitzen, während er sich mit den verschiedenen Leuten unterhielt, die kamen, um ihn zu sehen. Er wollte, dass ich lernte, wie er mit Menschen umging und so erklärte er mir, was er tat und einige Worte, die ich nicht verstanden hatte. 

Auf diese Weise wurde ich, ohne dass eine verbale Bestätigung vonnöten war, sein Schüler und begann eine mittelalterlich anmutende Lehrzeit. Ich wollte, dass er mir beibrachte, wie ich mit anderen umgehen sollte und ihnen helfen konnte, und so bat ich ihn mit einer traditionellen tibetischen Formulierung, aus einem Esel wie mir einen Menschen zu machen. Er lächelte nur, aber danach erwiderte er alle meine dummen Taten oder Worte, egal wie viele Leute gerade bei ihm waren, indem er mich laut einen Idioten nannte. Genau genommen war „Idiot“ sein Spitzname für mich. In den neun Jahren, die ich fast jeden Tag bei ihm war, wurde ich nie wütend oder verärgert, wenn er mich auf diese Weise zurechtwies. Meist erwiderte ich mit einem nervösen Lachen und verstand, warum er mich so nannte, denn ich hatte ihn darum gebeten. Des Weiteren bedankte er sich, trotz all der Arbeit, die ich für ihn tat – übersetzen, Briefe schreiben, seine Weltreisen organisieren und so weiter, nur zweimal. Alles, was ich tat, war dazu da, ihm zu helfen anderen von Nutzen zu sein und nicht dazu, auf dem Kopf gestreichelt zu werden und mit dem Schwanz zu wedeln, wie er es immer formulierte. 

Obgleich diese klassische tibetische Weise der Ausbildung von ernsthaften Schülern für die meisten Westler, besonders wenn sie ein niedriges Selbstwertgefühl hatten, nicht wirklich angemessen war, so war es doch die perfekte Methode für mich. Serkong Rinpoche war wirklich ein Meister der geschickten Mittel. Ich war als ein arroganter junger Mann nach Indien gekommen, der in der Klasse immer ganz weit oben stand, sogar in Harvard. Für mich war es notwendig, Demut zu entwickeln und gesellschaftliche Umgangsformen zu lernen. Im Vergleich zu den großen Meistern wie Seiner Heiligkeit, seinen Lehrern und großen Lamas war ich nicht einmal im Kindergarten und was meine Handlungsweise betraf, war ich wirklich ein Idiot. Als ich beispielsweise ein paar Jahre später einmal für Rinpoche übersetzte, war mein Stift leer und ich bat eine Frau, die neben mir saß, mir einen auszuleihen. Am Ende der Belehrung hielt sie ihre Hand auf, um ihn zurückzubekommen, und weil ich dachte, dass sie mir für das Übersetzen danken wollte, schüttelte ich ihre Hand. Rinpoche brüllte daraufhin nur: „Du Idiot, gib ihr den Stift zurück“. Ich war wirklich dankbar für Rinpoches Güte, mich auf diese Weise zu schulen. Es war genau das, was ich brauchte. 

Rinpoche gab sich viel Mühe, mich als einen Übersetzer zu trainieren. Im Nachhinein glaube ich, dass er mich ausbildete, damit ich später für Seine Heiligkeit übersetzen konnte, sozusagen als eine Opfergabe an ihn. Er hatte eine unglaublich große Hingabe gegenüber Seiner Heiligkeit und wusste, welche Fertigkeiten ich brauchte. So begann er beispielsweise, mein Erinnerungsvermögen zu trainieren. Wenn ich bei ihm war, hielt er während der Konversation irgendwann inne und dann musste ich Wort für Wort wiederholen, was er gerade gesagt hatte oder was ich gesagt hatte. Ich musste lernen, stets wachsam zu sein und meinen inneren „Aufnahmeknopf“ immer gedrückt zu halten. Einmal fragte ich ihn, was ein Wort bedeutete, worauf er streng erwiderte: „Das Wort habe ich dir doch vor sieben Jahren erklärt. Ich kann mich daran erinnern, warum du nicht?“ Daraufhin sagte er mir, dass er sich an alles erinnerte, was er jemals studiert hatte. Er war damals in seinen späten Sechzigern und ich fand das höchst inspirierend. Das wollte ich auch können.

Bald kamen auch andere Westler, um Rinpoche zu besuchen und ihn um Belehrungen zu bitten, besonders über Tantra. Rinpoche hielt mich nun für vorbereitet genug, um sie zu übersetzen und so begannen wir damit im Herbst 1975. Der Teilnehmer mit der größten Begeisterung an diesen Belehrungen war Alan Turner, ein junger Engländer, der ebenfalls die Kurse in der Library besuchte. Alan war nach Indien gekommen, weil er sich sehr zur Tantra-Praxis hingezogen fühlte und alles darüber lernen wollte. Später wurde er einer meiner engsten Freunde, doch leider erlitt er 2009 einen schweren Herzinfarkt, starb und hinterließ seine brasilianische Frau und zwei Kinder. Weil er so intensiv und ernsthaft praktizierte, nannte in Rinpoche liebevoll seinen „Inji Yogi“, wobei sich „Inji“ auf Briten bezieht, von den Tibetern aber auch für Ausländer im allgemeinen gebraucht wird. 

Studium mit Nyingma-, Sakya und Kagyü-Lehrern 

Früher in diesem Jahr, im Juni 1975, bekamen Sharpa und Khamlung Rinpoche, sowie Jon und ich von Seiner Heiligkeit den Sakya-Text „Sich von den vier Arten des Klammerns lösen“, einen Karma-Kagyü Mahamudra-Text und einen Nyingma-Dzogchen-Text, die wir für die Library übersetzen sollten, um sie zu veröffentlichen. Wir konnten als ein Team beginnen, die zwei Sutra- und Tantra-Kapitel des Nyingma-Textes mit Geshe Dhargyey zu übersetzen, aber wie sich herausstellte, wurde es zu meiner Aufgabe, einen Nyingma-Lehrer für die zwei verbleibenden Dzogchen-Kapitel, sowie Kagyü- und Sakya-Lehrer für die anderen zwei Texte zu finden und sie selbst zu übersetzen. Im darauffolgenden Jahr legten Sharpa und Khamlung ihre Roben ab, heirateten und zogen nach Wisconsin, während Jon nach Nepal ging, um mit Lama Yeshe und Lama Zopa zu studieren. Jon wurde später ein internationaler buddhistischer Lehrer und Autor, heiratete eine niederländische Schülerin von Lama Yeshe und zog drei Kinder groß.

Im Grunde war es nicht so schwierig, diese Lehrer zu finden. Tatsächlich fand der erste von ihnen mich. Wie immer ging ich in diesem Winter 1975-76 nach Bodh Gaya; Ling Rinpoche erteilte erneut die Vajrabhairava-Initiation und gab einen Vortrag über die Praxis. Jon ging stattdessen nach Nepal, um an einem Kopan-Kurs teilzunehmen. In Bodh Gaya kontaktierte mich Beru Khyentse Rinpoche, der zu einer Gruppe junger Karma-Kagyü-Tulkus gehörte, die persönlich vom Sechzehnten Karmapa ausgebildet wurden, und bat mich, zwei Jenangs (anschließende Erlaubnisse) zu übersetzen, die er einer Gruppe von jungen Westlern erteilte. Ich willigte ein und war beeindruckt von seinen Erklärungen und der Tiefe seines Wissens. Aus diesem Grund bat ich ihn, den Mahamudra-Text zu lehren, den Seine Heiligkeit übersetzt haben wollte. In diesem Winter gab es keine Zeit dafür, aber er stimmte zu, es im nächsten Winter in Bodh Gaya zu tun. 

Daraufhin kehrte ich wieder nach Dharamsala zurück und auch Jon kam wieder, damit wir unsere Studien in der Library mit Geshe Dhargyey fortsetzen konnten und ich setzte auch meine Ausbildung bei Serkong Rinpoche fort. In diesem Sommer 1976 kehrten Jon und ich erneut nach New Jersey zurück, um unsere Familien zu besuchen. Dieser Besuch fiel mit einem Aufenthalt von Dudjom Rinpoche, dem Oberhaupt der Nyingma-Tradition, und Dezhung Rinpoche, einem der Sakya-Lehrer Seiner Heiligkeit, zusammen, die beide gerade in New York waren. In der Zeit kam auch gerade Matthew Kapstein, ein Freund von mir und ein Schüler von Dudjom Rinpoche, wieder aus Indien nach New York, um seine Familie zu besuchen. Er war mit den Nyingma-Fachausdrücken vertraut, die ich nie gelernt hatte, und so gingen wir zusammen Dudjom Rinpoche besuchen und baten ihn, uns einen Kommentar zu dem Nyingma-Text zu geben. Dudjom Rinpoche erklärte sich freundlicherweise einverstanden, doch es gab nur Zeit für das dritte Kapitel, welches das schwierigste war. Kapstein half mir, es zu übersetzen. Dann gingen wir zu Dezhung Rinpoche und brachten eine ähnliche Bitte in Bezug auf den Sakya-Text hervor, der er freundlicherweise nachkam. Kapstein wurde später ein Professor an der Universität von Chicago. 

Treffen mit Catherine  

Nach diesen Besuchen bei unseren Familien kehrte ich am Ende des Sommers nach Dharamsala zurück. Da Jon nach Kathmandu gezogen war, teilte ich die Hütte nun nur mit Sönam Norbu, der die nächsten paar Jahre weiter für mich kochte. Ich studierte weiter in der Library und setzte meine Ausbildung mit Serkong Rinpoche fort. 

Später im Herbst kam Catherine Ducommun, eine junge Frau aus der französischen Schweiz, in Dharamsala an, die gerade in der Woche davor ihren Abschluss an der medizinischen Fakultät gemacht hatte. Schon bald wurde sie eine enge Freundin und eine wichtige Person in meinem Leben. Sie war eine Jugendfreundin von George Dreyfus, der sie an den tibetischen Buddhismus herangeführt hatte, und hatte eine enge Beziehung zu Madame Anne Ansermet aufgebaut, die sie eingeladen hatte. Dreyfus und Ansermet stammten ebenfalls aus dem französischen Teil der Schweiz. Dreyfus studierte in Dharamsala im „Institute of Buddhist Dialectics“ und wurde später der erste westliche Geshe und ein Professor im Williams College. Madame Ansermet, die Tochter des weltbekannten Orchesterdirigenten Ernest Ansermet, war Nonne geworden, als sie nach der Krankenpflege in den Ruhestand gegangen war. Sie hatte in ihren Sechzigern Englisch gelernt, stand Seiner Heiligkeit sehr nahe und schreckte nicht davor zurück, ihm Ratschläge bezüglich seiner Gesundheit zu erteilen. Catherine wurde später eine Psychiaterin und Familientherapeutin, die sich in kontextueller Therapie spezialisiert hatte.

Eines Tages im Dezember klopfte Catherine an meine Tür, um mir ein Buch zu geben, das sie mir im Auftrag gemeinsamer Freunde aus Genf gebracht hatte. Kurz danach kontaktierte mich Madame Ansermet. Sie hatte nicht genug Kraft, Catherine auf einer Pilgerreise nach Bodh Gaya zu begleiten, machte sich aber große Sorgen, dass sie allein reiste. Als sie herausfand, dass ich auch dorthin gehen würde, bat sie mich, Catherine mitzunehmen und ich erklärte mich einverstanden. 

Zunächst nahmen wir den Bus nach Delhi, aber anstatt meinen Plänen zu folgen, was eine Unterkunft betraf, nahm sie ein billiges Gästehaus, das ihr jemand empfohlen hatte, merkte aber bald, dass es zu gefährlich war, dort zu bleiben. Zum Glück konnte sie mich erreichen und so half ich ihr in der Notlage. Ich nahm meine Mission sehr ernst, sie auf der Reise zu beschützen und kümmerte mich auch in Bodh Gaya um sie. Die enge Verbindung, die ich ihr gegenüber empfand, wurde noch verstärkt, als ich herausfand, dass wir intellektuell ziemlich kompatibel waren. Instinktiv fühlte ich eine tiefe Verpflichtung, mich auch über diese Reise hinaus um sie zu kümmern und das hat seitdem angehalten. Es ist ein wenig wie die Verpflichtung, die mein Vater einging, sich um das Wohl seiner Mutter und seiner Frau zu kümmern.  

Während ich in Bodh Gaya war, übersetzte ich für Beru Khyentse Rinpoche, der eine lange Erklärung zu dem Mahamudra-Text gab, den Seine Heiligkeit empfohlen hatte, sowie auch zu dem letzten Kapitel des Dzogchen-Textes. Auch den nächsten Winter fuhr ich fort, in Bodh Gaya für ihn zu übersetzen, als er Belehrungen zu anderen Mahamudra- und Dzogchen-Texten gab, und die Karma-Kagyü-Darstellung der Arten der Wahrnehmung erklärte. Das öffnete mir die Augen bezüglich eines häufigen Fehlers, den viele Studierende des Buddhismus machen. Dieser Fehler besteht darin zu glauben, die Erklärung einer Thematik, die sie aus der Sicht einer bestimmten buddhistischen Schule bekommen haben, würde vom Buddhismus im Allgemeinen so akzeptiert werden. Tatsächlich gibt es jedoch von den meisten Themen, die im Buddhismus besprochen werden, unterschiedliche Darstellungen. Schließlich hat Buddha jeden Schüler etwas anders unterrichtet, um sich seinen Vorkenntnissen und Bedürfnissen anzupassen.

Nach einem intensiven Frühling, in dem ich mein Studium und meine Ausbildung in Dharamsala fortsetzte, reiste ich im August zusammen mit Alan, Dreyfus und Madame Anserment nach Südindien zum Gyume Tantric College in Hunsur, um die Guhyasamaja-, Vajrabhairava- und Chakrasamvara-Initiationen zu empfangen, die Seine Heiligkeit dort erteilte. Als wir dort waren, kam Thupten Jinpa, um uns zu besuchen. Madame Ansermet war seine Sponsorin und damals war er ein junger Mönch im Zongkar Choede Kloster neben dem Gyume, der sich gerade selbst Englisch beigebracht hatte. Wir ahnten nicht, dass er später im Ganden Shartse Kloster ein Lharampa-Geshe-Titel und einen Doktortitel in der Cambridge Universität bekommen und der wichtigste Dharma-Übersetzer Seiner Heiligkeit werden würde. 

In dem Winter kehrte Catherine nach Dharamsala für einen Besuch zurück, nachdem sie ein Jahrespraktikum in Allgemeinmedizin absolviert hatte. Als sie dort war, wurde sie gebeten, als vertretende Ärztin für das tibetische Kinderdorf zu arbeiten, um für den behandelnden Arzt einzuspringen, der abberufen worden war. Durch ihre Arbeit entwickelte sie eine besondere Beziehung zu der tibetischen Gemeinschaft, die sich im Rest ihres Lebens fortgesetzt hat. Während diesem zweiten Besuch bauten wir eine engere Beziehung auf. Ich wusste, dass sie ein Interesse an mir hatte und weil ich seit Bernice während meiner Zeit in Rutgers keine Freundin mehr gehabt hatte, wollte ich es trotz meiner Fledermaus-Einstellung und meinem fehlenden Interesse an einem Eheleben noch einmal mit einer Paarbeziehung versuchen. Ich lud sie also ein, zusammen mit mir Dalhousie zu besuchen. Nachdem sie in die Schweiz zurückgekehrt war, um ihren Plan umzusetzen, eine Psychiaterin zu werden, unterhielten wir fast zehn Jahre eine Teilzeit-Fernbeziehung und trafen uns von Zeit zu Zeit in Indien, Europa oder Amerika.

Irgendwann wurde sie jedoch durch meine widersprüchlichen Botschaften meines Fledermaus-Verhaltens entmutigt. Daraufhin ging sie nach Amerika, um ihren Mentor Ivan Boszormenyi-Nagy, einen ungarisch-amerikanischen Psychiater zu heiraten, der einer der Pioniere der Familientherapie und Begründer der kontextuellen Therapie war. Folglich trug sie den Namen Catherine Ducommun-Nagy. Ihre Ehe unterbrach jedoch nicht unseren Kontakt und auch nicht meine Verpflichtung, mich um ihr Wohlergehen zu kümmern. Auch mit ihrem Mann habe ich eine gute Freundschaft aufgebaut und hatte einen interessanten Austausch mit beiden. Über die Jahre habe ich eine ganze Menge über die kontextuelle Therapie und dessen Kernkonzepte der zwischenmenschlichen Ethik durch diese Kontakte gelernt. 

Seit fast zwanzig Jahren arbeitet Catherine daran, Klienten, die unter ernsthaften geistigen Krankheiten leiden, sowie deren Familien zu helfen, besonders Jugendlichen, die aus den am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen der afroamerikanischen Gemeinschaft im Gebiet von Philadelphia stammen. Als eine Lehrerin der kontextuellen Therapie hatte sie mehrere akademische Positionen und arbeitet momentan als klinische außerordentliche Professorin der Paar- und Familientherapie an der Drexel Universität in Philadelphia. Seit Jahrzehnten unterrichtet sie auch weltweit, was eine Erfahrung ist, die wir miteinander teilen.

Nachdem Boszormenyi-Nagy im Jahr 2007 verstarb, begannen Catherine und ich wieder Zeit miteinander zu verbringen und wurden faktisch wieder Teilzeitpartner. Als ich siebzig wurde, begannen wir zusammen in den Urlaub zu fahren. Davor war ich nie einfach nur für einen Urlaub verreist, doch sogar im Urlaub gehen wir beide weiter unserer Arbeit nach. Dabei helfe ich ihr bei ihren Schreibprojekten und sie hilft mir bei einigen meiner Ideen. Aus diesen Diskussionen sind ein Buch und ein Artikel mit aktualisierten Fachausdrücken für mehrere der Kernkonzepte der kontextuellen Therapie entstanden, die sie mir zuschreibt. Außerdem haben wir zusammen an dem Artikel „Abhängiges Entstehen des Selbst in Bezug auf Beziehungen zu anderen“ für die Study Buddhism Webseite gearbeitet und die Prinzipien der kontextuellen Therapie benutzt, um die Guru-Schüler-Beziehung zu analysieren. Wir hoffen, in den kommenden Jahren noch mehr gemeinsam zu tun. 

[Siehe: Abhängiges Entstehen des Selbst im Umgang mit anderen]

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