Wahrnehmung der Leerheit in den vier tibetischen Traditionen

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Es gibt Bestätigungs- und Negierungs-Phänomene. Bei beiden handelt es sich um existierende Phänomene, die als Dinge definiert werden, die gültig erkannt werden können. Wir können gültig „ein Elefant“ wahrnehmen und wir können gültig „kein Elefant“ wahrnehmen. Wenn wir etwas betrachten, sind wir in der Lage zu erkennen, dass es nicht etwas anderes ist. Das ist ein Negierungs-Phänomen. Es ist etwas, das wir erkennen, indem wir etwas anderes negieren. Die interessante Frage ist natürlich: Wie erscheint uns „kein Elefant“, wenn wir ein Tier sehen und wissen, dass es kein Elefant ist? Das ist eine spannende Frage, über die man nachdenken kann. 

Wie dem auch sei, es gibt zwei Arten von Negierungs-Phänomenen: bestätigende und nicht-bestätigende; ich bezeichne sie als „implizierende“ und „nicht-implizierende“ Negierungs-Phänomene. Ein implizierendes Negierungs-Phänomen ist eines, dessen Worte, nachdem die Negierung gemacht wurde, sowohl etwas Negierendes als auch etwas Bestätigendes implizieren. Betrachten wir beispielsweise einmal die Negierung: „Das ist ein Tisch ohne eine Tischdecke.“ Die Worte des Negierungs-Phänomens „ein Tisch ohne eine Tischdecke“ negieren eine Tischdecke und bestätigen einen Tisch. Das ist eine implizierende Negierung. 

Eine nicht-implizierende Negierung wäre: „Es gibt keine Tischdecke auf dem Tisch.“ Das negierte Objekt ist „eine Tischdecke auf dem Tisch“. Die Worte der Negierung negieren nur etwas und bestätigen nichts. „Auf dem Tisch“ ist lediglich der Ort des Objektes der Negierung „eine Tischdecke“. Die Worte der Negierung negieren „eine Tischdecke auf dem Tisch“; sie bestätigen nicht „den Tisch“. 

Das Objekt der Negierung kann in einer nicht-implizierenden Negierung etwas sein, das es gibt, wie eine Tischdecke, oder es kann etwas sein, das es nicht gibt, wie ein Monster unter dem Bett. Es kann auch eine Existenzweise oder eine Weise sein, die Existenz von etwas zu begründen, das nicht gültig ist und somit nicht existiert. In der Meditation über Leerheit geht es uns um die nicht-implizierende Negierung einer Weise, die Existenz von etwas zu begründen, die kein gültiges Mittel ist, wie das Begründen der Existenz durch ein auffindbares Bezugs-Ding, das der unmöglichen Existenzweise entspricht, die unser Geist projiziert. Das bezieht sich übrigens auf alle indischen Lehrsysteme, außer dem des Vaibhashika. So etwas, wie ein auffindbares Bezugs-Ding, das der unmöglichen Existenzweise entspricht, die unser Geist projiziert, gibt es nicht und daher ist es nicht möglich, dass die Existenz von etwas durch solch ein Mittel begründet werden kann. 

Ein Beispiel, das ich gern anführe, ist das eines Mannes, der sich zur Weihnachtszeit auf der Straße als Weihnachtsmann verkleidet. Es scheint, als würde ihn das Kostüm, das er trägt, als Weihnachtsmann begründen, doch das entspricht nicht der Realität. Die Kleidung, die andere tragen, begründen nicht, wer sie sind und außerdem gibt es keinen Weihnachtsmann. Doch wie in dem Beispiel „keine Tischdecke auf dem Tisch“ ist in der Negierung „das Nicht-Begründen der Existenz des Mannes als Weihnachtsmann aufgrund der Kleidung, die er trägt“ der Mann lediglich der Ort oder, genauer gesagt, die Grundlage des Objektes der Negierung „die Begründung der Existenz als Weihnachtsmann aufgrund der Kleidung, die getragen wird“. Die Worte der Negierung bestätigen den Mann nicht.

Raumgleiche und illusionsgleiche Leerheit 

Es gibt zwei Arten des Verstehens dieser nicht-implizierenden Negierung. Die Gelugpa-Art besteht darin, (1) die Existenzweise von etwas zu unterscheiden, was unmöglich durch (2) dessen Grundlage zu begründen ist, sodass die Worte der Negierung einfach die unmögliche Weise negieren, jedoch ohne die Grundlage entweder zu bestätigen oder zu negieren. Die andere Art, die im Kagyü, Nyingma und Sakya vertreten wird, besteht darin, dass die Worte der Negierung sowohl die unmögliche Existenzweise als auch dessen Grundlage beseitigen, da die zwei untrennbar sind. Beide Interpretationen leugnen jedoch nicht, dass unser verblendeter Geist die trügerische Erscheinung eines Mannes hervorbringt, der durch die Kraft der Kleidung, die er trägt, als Weihnachtsmann begründet wird.

In beiden Fällen erscheinen in der völligen Vertiefung in Leerheit weder die unmögliche Existenzweise noch dessen Grundlage; nur unser Verständnis des Objektes der Negierung unterscheidet sich. Doch in beiden Fällen richten wir uns einfach auf die völlige Abwesenheit von irgendetwas, das unsere Projektion wie eine Stütze oder ein Bühnenbild in einer Theateraufführung trägt oder aufrechterhält. Das Bühnenbild in einer Theateraufführung, wie das Bild eines Waldes auf einer großen Leinwand, wird immer von etwas gestützt, was dieses Bild aufrechterhält. Was die Leerheit betrifft, so gibt es jedoch keine auffindbares „Ding“ auf Seiten des Objektes, das der Realität entspricht und unsere Projektion, die erscheint, aufrechterhält. Zerlegen wir gedanklich das geistige Hologramm, das erscheint, können wir nichts finden, das es aufrechterhält und dessen Existenz begründet. 

In der völligen Vertiefung der Meditation über Leerheit richten wir uns darauf, dass es so etwas nicht gibt. Das ist raumgleiche Leerheit. Der Raum bezieht sich nicht auf einen leeren Raum. Hier sollten wir uns die Definition genauer ansehen. Es geht um die Abwesenheit von etwas Greifbarem oder Behinderndem, das etwas davon abhält, in den drei Dimensionen präsent zu sein. Es ist die statische Eigenschaft eines materiellen Objektes, wie dieses Buch. Egal wohin ich dieses Buch bewege, nichts hält es davon ab, in den drei Dimensionen präsent zu sein. Raum bezieht sich nicht auf den Raum, der besetzt wird. Die Leerheit ist wie Raum, weil es nichts auf Seiten der Grundlage gibt, das dessen Funktionsfähigkeit verhindert. Das ist raumgleiche Leerheit.

Nach einer Periode der Meditation völliger Vertiefung gibt es eine Periode der Meditation nachfolgender Erlangung, die zuweilen als die „Periode der Nachmeditation“ übersetzt wird. Während dieser Phase der Meditation richten wir uns auf die illusionsgleiche Leerheit. Hier erscheint das Objekt der Widerlegung erneut, doch wir richten uns nun mit dem Verständnis darauf, das es zwar wie eine Illusion auf unmögliche Weise zu existieren scheint, dies jedoch nicht dem entspricht, wie es wirklich existiert. 

Konzeptuelle und nicht-konzeptuelle völlige Vertiefung und nachfolgende Erlangung 

Zunächst sind unsere Meditationen der völligen Vertiefung und nachfolgenden Erlangung beide konzeptuell. Während der völligen Vertiefung gibt es eine konzeptuelle Erscheinung, welche die raumgleiche Leerheit repräsentiert, auf unmögliche Weise zu existieren, obgleich es keine konzeptuelle Erscheinung gibt, welche die Grundlage der Leerheit repräsentiert, auf unmögliche Weise zu existieren. Während der nachfolgenden Erlangung gibt es erneut eine konzeptuelle Erscheinung, welche die Grundlage der Leerheit repräsentiert, auf unmögliche Weise zu existieren. Kommen wir auf unser Beispiel des Mannes zurück, der als Weihnachtsmann verkleidet ist. Während der konzeptuellen völligen Vertiefung in seine Leerheit entsteht keine konzeptuelle Erscheinung des verkleideten Mannes, der durch die Kleidung, die er trägt, als Weihnachtsmann begründet zu sein scheint. Es entsteht nur eine konzeptuelle Erscheinung, die vielleicht eine Dunkelheit repräsentiert und als ein auffindbares „Ding“ begründet zu sein scheint. Während konzeptueller nachfolgender Erlangung entsteht erneut eine konzeptuelle Erscheinung des verkleideten Mannes, der durch seine Verkleidung als Weihnachtsmann begründet zu sein scheint. 

Die Darstellung einer konzeptuellen völligen Vertiefung und nachfolgenden Erlangung der Leerheit ist, was das Gelugpa-System und das System des Kagyü, Nyingma und Sakya betrifft, gleich. In beiden wird die konzeptuelle völlige Vertiefung in raumgleiche Leerheit durch die Kraft der Logik erlangt.

Was die nicht-konzeptuelle völlige Vertiefung in Leerheit betrifft, vertreten beide Systeme gleichermaßen, dass es hier keine konzeptuelle Erscheinung gibt, welche Leerheit repräsentiert. Sie unterscheiden sich jedoch in Bezug auf die nachfolgende Phase des Erlangens, die unmittelbar darauf folgt. Im Gelugpa geht man davon aus, dass der nicht-konzeptuellen völligen Vertiefung in Leerheit die nicht-konzeptuelle nachfolgende Erlangung folgt, während der beispielsweise der verkleidete Mann auf eine unmögliche Weise zu existieren scheint. Im Kagyü, Nyingma und Sakya vertritt man, dass diese nachfolgende Erlangung konzeptuell ist, da die Erscheinung des verkleideten Mannes als ein allgemein verständliches Objekt nur in einer konzeptuellen Wahrnehmung entstehen kann, da diese Erscheinung ein konzeptuelles Konstrukt ist.

Die Methode des Erlangens nicht-konzeptueller Wahrnehmung der Leerheit 

Die Weise des Erlangens nicht-konzeptueller Wahrnehmung der Leerheit unterscheidet sich ebenfalls in den zwei Systemen, obgleich in beiden im Sutra gesagt wird, dass man ein zahlloses Weltalter des Aufbauens positiver Kraft benötigt, um sie zu erlangen. Im Gelugpa-System wird die nicht-konzeptuelle Wahrnehmung durch Meditation über die Leerheit, durch Logik, erlangt. Im System des Kagyü, Nyingma und Sakya wird sie hingegen durch Meditation über die Leerheit erlangt, die jenseits von Worten und Konzepten ist, und somit nicht, indem man sich auf Logik stützt.     

Leerheitsmeditation im Tantra 

In den ersten drei Tantra-Klassen richten wir uns in völliger Vertiefung auf die Leerheit von uns selbst, als eine Buddha-Gestalt, als ein Yidam erscheinend. Im Anuttarayoga-Tantra tun wir das ebenfalls, jedoch im Mahamudra-Stil des Anuttarayoga-Tantra, wie es beispielsweise im Kagyü und Sakya praktiziert wird. Hier richten wir uns auf die Leerheit des Geistes klaren Lichts, der die Erscheinung eines Yidams hervorbringt. Er ist nicht nur frei von den konzeptuellen Kategorien wahrhaft begründeter Existenz, nicht wahrhaft begründeter Existenz, beidem und keinem von beiden, sondern auch frei von allen gröberen Ebenen des Geistes, sowohl konzeptueller als auch nicht-konzeptueller. Im Gelugpa stimmt man dem zu, dass der Geist des klaren Lichts frei von allen gröberen Ebenen ist. In der Gelug-Guhyasamaja-Tradition nennt man dieses Merkmal des Geistes klaren Lichts „vollkommene Leere“. 

In den Dzogchen-Systemen des Kagyü und Nyingma wird die Anderesleerheit des Geistes klaren Lichts mit der Anderesleerheit des Rigpa, dem reinen Gewahrsein, ersetzt. Ein weiterer Punkt in Bezug auf Rigpa ist, dass es als „schon immer rein“ und vollständig mit allen guten Eigenschaften versehen beschrieben wird. „Schon immer rein“ bezieht sich auf dessen Leerheit jenseits von Worten und Konzepten. Obgleich es jenseits der Konzepte von Bestätigungs- und Negierungs-Phänomenen ist, bedeutet das nicht, dass es ein auffindbares „Ding“ in unserem Geist ist.    

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