[Für Hintergrundinformationen dieser Diskussion, siehe: Grundlegendes Schema der fünf Aggregate]
Das Aggregat der anderen beeinflussenden Variablen
Unter den fünf Aggregat-Faktoren (tib. phung-po, Skt. skandha), die jeden Moment der Wahrnehmung ausmachen, umfasst das Aggregat der anderen beeinflussenden Variablen (tib. ‘du-byed-kyi phung-po, Skt. saṃskāraskandha, Aggregat der karmischen Formationen, Aggregat der Willensregungen) zwei Arten von beeinflussenden Variablen:
- kongruente beeinflussende Variablen (tib. ldan-pa’i ‘du-byed); und
- nichtkongruente beeinflussende Variablen (tib. ldan-min ‘du-byed).
Kongruente beeinflussende Variablen haben fünf kongruente Merkmale (tib. mtshungs-ldan lnga, fünf gemeinsame Dinge) mit dem Primärbewusstsein (tib. rnam-shes) gemeinsam, das sie in jedem Moment der Wahrnehmung begleiten. Diese sind nur hinsichtlich dieser fünf Variaben mit dem Primärbewusstsein kongruent, nicht in Bezug auf alles. Sie sind nicht identisch mit dem Primärbewusstsein, das sie begleiten.
Die nichtkongruenten beeinflussenden Variablen in diesem Aggregat haben nicht die fünf kongruenten Merkmale mit dem Primärbewusstsein gemeinsam, das sie begleiten.
Vier oder fünf kongruente Merkmale gemäß Vaibhashika
Aus der Vaibhashika-Sicht in Vasubandhus „Schatzhaus spezieller Themen des Wissens“ (tib. Chos mngon-pa’i mdzod, Skt. Abhidharmakośa) haben das Primärbewusstsein und die begleitenden Geistesfaktoren (tib. sems-byung; Nebengewahrsein) vier oder fünf Merkmale gemeinsam. Wie Vasubandhu in seinem Kommentar zu „Ein Schatzhaus spezieller Themen des Wissens“ (tib. Chos mngon-pa’i mdzod-kyi bshad-pa, Skt. Abhidharmakośa-bhāṣyā) erklärt, sind die vier Merkmale:
- Stütze (tib. rten) – sie stützen sich auf denselben kognitiven Sensor (tib. dbang-po) als vorherrschende Bedingung (tib. bdag-rkyen) für ihr Auftreten;
- Objekt (tib. yul) – sie zielen kognitiv auf dasselbe Objekt der Ausrichtung (tib. dmigs-yul) ab, das als fokale Bedingung (tib. dmigs-rkyen, objektive Bedingung) für ihr Auftreten dient;
- Kongruenz (tib. mtshung-pa) – sie finden gleichzeitig statt;
- geistiger Aspekt (tib. rnam-pa) – sie unterscheiden und beachten die (gleiche) spezifische Art von sensorischen Informationen ihres gemeinsamen Objektes der Ausrichtung.
Der Gelug-Meister des 18. Jahrhunderts Kachen Yeshe Gyaltsen (tib. ’dKa-chen Ye-shes rgyal-mtshan) erklärt in „Eine Halskette für einen klaren Geist, Klare Darlegung der Weise des Primärbewusstseins und der Geistesfaktoren“ (tib. Sems-dang sems-byung-gi tshul gsal-bar ston-pa blo-gsal mgul-rgyan), dass so, wie das Primärbewusstsein, wenn wir beispielsweise ein blaues Objekt sehen, im Aspekt Blau erzeugt wird, auch die Geistesfaktoren, die es begleiten, im Aspekt Blau hervorgebracht werden. Somit vertritt man im Vaibhashika direkte Wahrnehmung (tib. dngos-shes) eines Objektes der Ausrichtung, mit dem das Bewusstsein und die begleitenden Geistesfaktoren direkt den geistigen Aspekt ihres Objektes der Ausrichtung ohne das Zwischenmedium eines geistigen Hologramms annehmen, welches mit diesem Aspekt erscheint.
Vasubandhu fährt damit fort, die hinzukommende Kongruenz in dem System der fünf Merkmale zu erklären, bezeichnet das vierte Merkmal hier jedoch als „Zeit“ (tib. dus) und nicht als „Kongruenz“:
- Substantielle Entität (tib. rdzas) – so, wie es nur ein Primärbewusstsein als eine substantielle Entität gibt, bildet nur ein Geistesfaktor eines jeden eine substantielle Entität.
So, wie es nur ein Bewusstsein und nicht zwei oder drei der homogenen Klasse (tib. ris-mthun) aller anderen Instanzen derselben Bewusstseinsart gibt, gibt es jeweils nur einen Geistesfaktor, wie das Empfinden, einer homogenen Klasse. Weil sie eine substantielle Entität sind, ist jede in der Lage, ihre eigene spezifische individuelle Funktion zu erfüllen und hat somit eine substantiell begründete Existenz (tib. rdzas-su grub-pa), die der Existenz entspricht, die von sich aus begründet ist.
Das Wort, welches als „substantielle Entität“ (tib. rdzas, Skt. dravya) übersetzt wird, bedeutet auch Ursprungsquelle. Somit stammen im Vaibhashika-System das Primärbewusstsein und jeder der Geistesfaktoren, die sie begleiten, aus ihrer eigenen Ursprungsquelle – nämlich ihrer eigenen individuellen Tendenz (tib. sa-bon; Samen), mit der Fähigkeit, sie hervorzubringen.
Fünf kongruente Merkmale gemäß Sautrantika, Sautrantika-Svatantrika und Prasangika
In den Lehrsystemen des Sautrantika, des Sautrantika-Svatantrika und des Prasangika vertritt man die kongruenten Merkmale von Stütze und Objekt, wie im Vaibhashika. Die Kongruenz der Zeit wird etwas anders definiert: als gleichzeitiges Entstehen, Verweilen und Vergehen wie alle anderen. In Bezug auf das vierte Merkmal gibt es jedoch einen großen Unterschied:
- Geistiger Aspekt – Hervorbringen des gleichen kognitiven Abbildes (geistiges Hologramm) des Objektes der Ausrichtung als Aspekt des Objektes der Ausrichtung, der es prägt und den es annimmt.
Im Gelugpa werden diese geistigen Hologramme als vollkommen transparent interpretiert und man geht davon aus, dass ein äußeres allgemein verständliches Objekt durch sie wahrgenommen wird. Im Vaibhashika stimmt man dem jedoch nicht zu, dass ein äußeres Objekt der Ausrichtung seinen Aspekt in der Form eines geistigen Hologrammes auf ein Bewusstsein wirft.
Während man im Sautrantika und Sautrantika-Svatantrika so, wie im Vaibhashika, ebenfalls die Kongruenz substantieller Entität und Ursprungsquelle akzeptiert, vertritt man jedoch im Prasangika keine substantiell begründete Existenz, obgleich man anerkennt, dass das Primärbewusstsein und jeder der Geistesfaktoren ihren eigenen individuellen Tendenzen als ihrer Ursprungsquelle entstammen.
Fünf kongruente Merkmale gemäß Chittamatra und Yogachara-Svatantrika
Gemäß der Chittamatra-Sichtweise in Asangas „Anthologie spezieller Themen des Wissens“ (tib. Chos mngon-pa kun-las btus-pa, Skt. Abhidharmasamuccaya) sind die fünf kongruenten Merkmale:
- fokussiertes Objekt (tib. dmigs-pa) – die identische Sache als das zu erkennen, worauf man sich fokussiert und nicht als verschieden voneinander;
- kognitiver Ansatz (tib. mthun-par rtogs-pa) – als Dinge, die andere Arten wirksamer Phänomene (tib. dngos-po) sind, sich also voneinander unterscheiden und nicht die gleiche Art wirksamer Phänomene sind;
- Kompatibilität (tib. mthun-pa) – als Dinge, die miteinander kompatibel und nicht inkompatibel sind;
- Zeit (tib. dus) – als Dinge, die „Zeit-ähnlich“ und nicht „Zeit-unähnlich“ sind;
- Bereich und Ebene (tib. khams-dang sa) – als sich in kompatiblen Bereichen der samsarischen Existenz oder auf Ebenen der geistigen Beständigkeit befindend und nicht in inkompatiblen Bereichen oder auf inkompatiblen Ebenen.
Im (Asangas) Kommentar „Anthologie spezieller Themen des Wissens“ (tib. Chos mngon-pa kun-las btus-pa’i bshad pa, Skt. Abhidharmasamuccayabhāṣyā) erklärt Jinaputra Yashomitra (tib. rGyal-ba’i sras Grags-pa’i bshes-gnyen, Skt. Jīnaputra Yaśomitra) die letzten vier Verse:
- kognitiver Ansatz – in jeglicher Wahrnehmung ist ein Bewusstsein nicht kongruent mit einem anderen Bewusstsein oder Gefühl und ist beispielsweise nicht kongruent mit einem anderen Gefühl;
- Kompatibilität – ohne inkompatible Paare von Geistesfaktoren, wie sehnsüchtiges Verlangen und Feindseligkeit oder konstruktiv und destruktiv;
- Zeit – ohne Dinge zweier unterschiedlicher Zeiten, wie ein Paar von gegenwärtig stattfindend und noch nicht stattfindend oder ein Paar von nicht mehr stattfindend und gegenwärtig stattfindend;
- Bereich und Ebene – ohne Dinge verschiedener Bereiche oder Ebenen, wie ein Paar von Dingen, die in dem Bereich von Sinnesobjekten der Begierde (Bereich der Begierde) und dem Bereich der ätherischen Formen (Bereich der Form) existieren, oder auf der ersten Ebene der geistigen Beständigkeit (erster Dhyana) und der zweiten Ebene.
Tsongkhapas Schüler Gyaltsab Je (tib. rGyal tshab rJe Dar-ma rin-chen) erklärt sie in „Die Essenz eines Ozeans spezieller Themen des Wissens, Eine vortreffliche Erklärung“ (tib. Legs-par bshad-pa chos mngon rgya-mtsho’i snying-po), seinem Kommentar zu Asangas Werk, etwas anders, mit etwas anderen Namen und in unterschiedlicher Reihenfolge:
- Ursprungsquelle (tib. rdzas) – die Geistesfaktoren, wie Gefühle, die in jeglicher Wahrnehmung ein Primärbewusstsein begleiten, stammen nur von einem und nicht zwei einer homogenen Klasse (tib. ris-mthun) ab. Darüber hinaus werden das Primärbewusstsein und die begleitenden Geistesfaktoren, obgleich sie eine Sache wahrnehmen, auf die sie sich fokussieren, nur von jedem ihrer homogenen Klasse begründet und müssen nicht von anderen begründet werden.
Kachen Yeshe Gyaltsen erklärt die Aussage „sie müssen nicht von anderen begründet werden“ bedeute, dass sie nicht von Ursprungsquellen stammen müssen, die verschieden voneinander sind. Mit anderen Worten entstehen das Primärbewusstsein, die begleitenden Geistesfaktoren und das Objekt der Ausrichtung in jeglicher Wahrnehmung aus der gleichen Ursprungsquelle, einer karmischen Tendenz für diese Wahrnehmung. Diese Chittamatra-Behauptung steht in dem Sinne im Kontrast zur Vaibhashika-Behauptung, dass jede Komponente in einer Wahrnehmung aus seiner eigenen Ursprungsquelle, seiner eigenen Tendenz, abstammt.
- Objekt der Ausrichtung – auf das gleiche Objekt der Ausrichtung und dessen gleichen Aspekt (tib. rnam-pa) gerichtet sein.
Im Einklang mit der Interpretation der Vertreter der wahren Aspekte des Chittamatra, geht man im Gelugpa davon aus, dass man mit nichtkonzeptueller Sinneswahrnehmung allgemein verständliche Objekte wahrnimmt, die sich auf all ihre sensorischen Daten sowie auf den zeitlichen Bereich erstrecken, obwohl die Existenz dieser Objekte nicht außerhalb des Bewusstseins begründet wird, durch die sie wahrgenommen werden. Somit hat die nichtkonzeptuelle Sinneswahrnehmung ein allgemeinverständliches Objekt als Objekt der Ausrichtung, obgleich ihr ein äußeres Objekt der Ausrichtung (tib. dmigs-yul) fehlt, welches vor dessen Wahrnehmung existiert. Das erscheinende Objekte der Wahrnehmung ist jedoch ein fokaler Aspekt (tib. dmigs-rnam) dieses Objektes, in etwa wie ein geistiges Hologramm der sensorischen Information, welche durch die Art des Sinnesbewusstseins der Wahrnehmung durch die Kraft des beteiligten kognitiven Sensors wahrgenommen werden kann – wie beispielsweise die farbige Form eines Anblicks, den das Sehbewusstsein durch die Kraft der lichtempfindlichen Zellen der Augen wahrnehmen kann.
- Wesensnatur (tib. ngo-bo) – wenn sie auf das gleiche Objekt der Ausrichtung und den gleichen fokalen Aspekt gerichtet sind, sind sie kompatibel, wie zum Beispiel alles störend oder nicht störend, bzw. konstruktiv oder destruktiv;
- Zeit (tib. dus) – sie gleichen sich im Entstehen, Verweilen und Vergehen;
- Bereich (tib. khams, Reich) und Ebene des Geistes (tib. sa) – sie sind Elemente innerhalb des gleichen Bereichs samsarischer Existenz oder auf der gleichen Ebene der geistigen Beständigkeit (bsam-gtan, Skt. dhyāna). Es gibt drei Bereiche der samsarischen Existenz: den Bereich der begehrenswerten Sinnesobjekte (tib. ‘dod-khams, Bereich der Begierde), den Bereich ätherischer Formen (tib. gzugs-khams, Bereich der Form) und den Bereich der formlosen Wesen (tib. gzugs-med khams, formloser Bereich).
Kongruente beeinflussende Variablen
Alle Geistesfaktoren sind kongruente beeinflussende Variablen. Das Aggregat der beeinflussenden Variablen umfasst alle außer das Empfinden verschiedener Grade von Glücklichsein (tib. tshor-ba) und das Unterscheiden (tib. ‘du-shes, Erkennen). Obwohl die letzteren zwei Geistesfaktoren fünf kongruente Variablen mit dem Primärbewusstsein, das sie begleitet, teilen, bilden sie ihre eigenen individuellen Aggregat-Faktoren.
Nichtkongruente beeinflussende Variablen
Nichtkongruente beeinflussende Variablen sind nichtstatische (unbeständige) Phänomene, die weder Formen physischer Phänomene (tib. gzugs), noch Weisen sind, sich etwas gewahr zu sein (tib. shes-pa). Als Zuschreibungsphänomene auf der Grundlage eines geistigen Kontinuums bringen sie Auswirkungen in diesem Kontinuum hervor. Sie sind in dem Aggregat der anderen beeinflussende Variablen enthalten, teilen jedoch nicht fünf kongruente Merkmale mit dem Primärbewusstsein und den Geistesfaktoren, die es begleiten. Zu den Beispielen gehören positive karmische Potenziale (tib. bsod-rnams, Skt. puṇya), negatives karmisches Potenzial (tib. sdig-pa. Skt. pāpa), Tendenzen, Gewohnheiten (tib. bag-chags) und das konventionelle „Ich“ (nga).