Allgemeine Anwendung der sieben Arten der Wahrnehmung

Einleitung 

Unser Thema für dieses Wochenende behandelt die „sieben Arten der Wahrnehmung“ oder lorig auf Tibetisch. Es ist eine ausgesprochen hilfreiche Thematik, da sie sich damit befasst, wie wir etwas erkennen, wie wir wissen, ob das, was wir erkannt haben, korrekt ist, und wie wir wissen, ob es gewiss ist. Dies hat einen großen Einfluss darauf, wie wir auf dem spirituellen Pfad voranschreiten.

Wie wir alle aus den buddhistischen Lehren wissen, erfahren wir jede Menge Leiden. Wie kommen diese Leiden zu Stande? Es gibt viele unterschiedliche Ebenen des Leidens und all dies ist im Grunde auf unser mangelndes Gewahrsein, was für gewöhnlich als Unwissenheit bezeichnet wird, zurückzuführen. Mangelndes Gewahrsein beruht auf unseren Missverständnissen und Projektionen bezüglich der Realität. Wir wissen wirklich nicht und verstehen nicht, was los ist, und wenn wir uns von dieser Verwirrung befreien wollen, müssen wir ein klares Verständnis darüber haben, wie Dinge tatsächlich existieren. Es gilt all diese Missverständnisse und Verwirrungen oder die so genannte Unwissenheit zu beseitigen.  

Dafür ist es notwendig, erkennen zu können, ob wir Dinge korrekt sehen und verstehen. Wie verstehen wir die Lehren, wenn wir sie hören? Wie beurteilen wir, ob wir sie verstehen? Das ist besonders relevant, wenn wir versuchen, mit anderen klarzukommen und ihnen zu helfen. Sind wir uns sicher, dass wir andere richtig gehört und verstanden haben, wenn sie etwas sagen? All diese Dinge sind wirklich wichtig, wenn wir dem spirituellen Pfad folgen und uns mit anderen auseinandersetzen. Doch auch, wenn wir keinem spirituellen Pfad folgen, ist es in unserem täglichen Umgang mit anderen wichtig, dass wir ein klares Verständnis davon haben, was geschieht. 

Die buddhistische Landkarte des Geistes 

In der buddhistischen Analyse gibt es als Teil der allgemeinen Landkarte des Geistes oder Landkarte der Emotionen die Darstellung dieser Arten der Wahrnehmung. Wir haben auch eine ziemlich detaillierte Analyse der verschiedenen Bewusstseinsarten und Geistesfaktoren. Es gibt eine recht vollständige Erklärung dazu, wie unser Geist funktioniert und wie wir uns tatsächlich mit der Realität auseinandersetzen, Informationen verarbeiten und so weiter. Es gibt auch andere Aspekte, wie die verschiedenen Arten tiefen Gewahrseins. Es gibt zahlreiche verschiedene Facetten dieser recht komplexen, umfangreichen und ausgefeilten Landkarte des Geistes. 

Ich finde es überaus wichtig, eine klare Darstellung dieser Landkarte des Geistes zu haben und zu lernen, wie man sie lesen kann. Je mehr wir sie verstehen können, desto mehr werden wir in der Lage sein, korrekt und detailliert analysieren und unterscheiden zu können, was in unserem Geist abläuft und desto mehr werden wir all die Unruhestifter korrigieren und beseitigen können, die in unserer Wahrnehmung eines jeden Augenblicks unserer Wahrnehmung auftauchen.

Im buddhistischen Studium wird das Thema dieser Arten der Wahrnehmung im Kontext des Sautrantika-Lehrsystems, einem der Hinayana-Systeme, studiert. Es stammt aus den Texten von Dignaga und Dharmakirti, den großen buddhistischen Philosophen und Meditierenden Indiens, die augenscheinlich große hoch-verwirklichte Meister sind. Wenn wir die verschiedenen buddhistischen Lehren studieren, merken wir, dass verschiedene Aspekte aus Sicht der unterschiedlichen Lehrsysteme erklärt werden. Auf der einen Seite können wir das ziemlich verwirrend finden und uns fragen, warum wir so viele Systeme und all diese Komplikationen brauchen. Wir können uns darüber beschweren und es stimmt, dass es kompliziert ist, aber auf der anderen Seite ist es auch ziemlich hilfreich.  

Wollen wir etwas so Komplexes wie die Funktionsweise unseres Geistes zu verstehen, ist es wahrscheinlich nicht hilfreich, gleich zu Beginn die anspruchsvollste Erklärung darüber zu hören. Wir würden sie nicht wirklich klar verstehen können oder sie als etwas Bedeutungslosem betrachten, wenn wir den Hintergrund nicht kennen. Um das zu vermeiden, ist es nützlicher, uns zunächst eine einfachere Erklärung anzusehen, was besonders in unserem Studium der Leerheit oder Leere offensichtlich ist. Wir beginnen mit einer einfachen Darstellung und verfeinern unser Verständnis dann immer weiter. Dasselbe gilt für diese Arten der Wahrnehmung. Wir haben eine Darstellung des Sautrantika und obgleich es leichte Abweichungen gibt, wenn wir die Lehrsysteme darüber durchgehen, benötigen wir als Grundlage diese Sautrantika-Darstellung, bevor wir uns mit der Verfeinerung des Prasangika befassen.  

Sieben Arten der Wahrnehmung 

In dieser Sautrantika-Analyse gibt es sieben Arten der Wahrnehmung: 

  • bloße Wahrnehmung (tib. mngon-sum);  
  • schlussfolgernde Wahrnehmung (tib.rje-dpag); 
  • nachfolgende Wahrnehmung (tib. bcad-shes);  
  • unentschiedene Wahrnehmung (tib. snang-la ma-nges-pa); 
  • Vermutung (tib. yid-dpyod); 
  • unentschlossenes Schwanken (tib. the-tshom); und 
  • verzerrte Wahrnehmung (tib. log-shes).

Wir werden sie alle später in diesen Vorlesungen durchgehen. Es ist keine vollständige Liste, aber standardmäßig wird sie so gelernt. In der Darstellung werden jedoch auch noch ein paar zusätzliche Arten erwähnt. Es gibt verschiedene Weisen, diese Arten der Wahrnehmung zu gruppieren. Bevor wir uns mit einer ausführlichen Erklärung einer jeden befassen, ist es vielleicht hilfreich, einen Geschmack davon zu bekommen, worum es hier eigentlich geht und wie wir es im täglichen Leben anwenden. Bekommen wir eine Vorstellung von der Anwendung und eine Wertschätzung dafür, dass es hilfreich sein kann und unsere Erfahrung beschreibt, werden wir etwas motivierter sein, die Einzelheiten darüber zu lernen.

Nehmen wir einmal an, eine Freundin kommt auf der Straße auf uns zu, um uns zu treffen, aber wir haben unsere Brille nicht auf. Wir schauen auf die Straße, doch was sehen wir? Wir sehen etwas Verschwommenes, das sich auf uns zubewegt, doch unsere Sicht ist verzerrt, denn offensichtlich kommt da nichts Verschwommenes auf uns zu. Das wäre eine „verzerrte Wahrnehmung“. Was wir wahrnehmen, entspricht nicht der Realität.

Als nächstes setzen wir unsere Brille auf und schauen auf die Straße. Unsere visuelle Wahrnehmung wird etwas klarer, doch sie ist „unentschieden“, weil wir nicht erkennen, wer es ist. Die Person ist zu weit weg. Obwohl wir erkennen können, dass es sich tatsächlich um eine Person handelt, ist die Wahrnehmung unentschieden, weil wir nicht erkennen, dass es unsere Freundin ist. Sie ist gültig, weil wir eine Person erkennen, jedoch nicht entschieden oder gewiss, dass es unsere Freundin ist. Wir können auch wissen, dass wir warten müssen, bis die Person näher kommt, damit wir erkennen können, wer es ist. Das wäre auch gültig. Oder wir könnten zu einer vorschnellen Schlussfolgerung kommen und denken, es sei unsere Freundin. Das könnte korrekt oder falsch sein. Wir wissen es nicht wirklich. Das sind zwei Dinge, um die es hier geht.

Es ist ziemlich relevant, denn wenn andere uns etwas erklären oder erzählen, passiert es häufig, dass wir denken, es sei ja offensichtlich, was sie damit meinen und dann lassen wir sie nicht einmal ausreden. Wir kommen sofort zu der vorschnellen Schlussfolgerung, dass sie dieses oder jenes meinen, weil wir nicht die Geduld haben, ihnen zuzuhören. Dann können wir allerdings völlig falsch in Bezug darauf liegen, was sie sagen oder meinen. Haben wir die gültige Art der Wahrnehmung, zu warten, bis wir alle Informationen bekommen haben, können wir es klarer verstehen und das ist viel hilfreicher. Wir sollten darauf achten, nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen zu kommen und zu meinen, es wäre ja offensichtlich, was andere sagen wollen, wenn es gar nicht gewiss ist. 

Natürlich sollten wir auch unseren gesunden Menschenverstand nutzen, denn es gibt manche Menschen, die sich ständig wiederholen, was ziemlich anstrengend sein kann. Ist es offensichtlich, was sie meinen, können wir ihnen sagen, dass wir es verstanden haben. Doch wir sollten wirklich einschätzen können, ob wir wirklich verstanden haben, was sie gesagt haben oder nicht, und ob wir eine weitere Frage stellen müssen, wenn eine Person etwas erklärt und es nicht klar ist. Oft kommen wir zu einer vorschnellen Schlussfolgerung, wenn etwas unklar erklärt wurde und dann müssen wir nachfragen, um es klarzustellen. Das Wissen, nochmal nachfragen zu müssen, um etwas klarzustellen, ist eine weitere gültige Art der Wahrnehmung. Wir wägen selbst ab, ob wir etwas nicht wirklich verstanden haben, es nicht klar war und wir nachfragen müssen. Dann hat die andere Person vielleicht das Problem, dass sie denkt, es sei ja offensichtlich, was sie gesagt hat. Wenn sie dann nicht die Geduld hat, es uns nochmal zu erklären, wird sie wütend auf uns. 

Das erfordert eine Kommunikation zwischen zwei Menschen, in der beide sich der Tatsache bewusst sind, dass die Bedeutung, die jemand im Kopf hat, entweder offensichtlich oder nicht offensichtlich sein kann. Ist sie nicht offensichtlich, müssen wir in der Lage sein, es ausführlicher zu erklären und es nicht einfach nur lauter zu sagen oder die gleichen Worte zu wiederholen. In der Kommunikation zwischen zwei Menschen kann es in so einer Situation zu vielen Missverständnissen und Problemen kommen. 

Kommen wir aber auf unser Beispiel zurück, in dem wir jemanden die Straße entlangkommen sehen, und nehmen wir einmal an, wir haben entschieden, dass wir nicht wirklich sagen können, ob es unsere Freundin ist oder nicht. Wir haben also Geduld und warten, bis sie näher kommt. Nun hoffen wir vielleicht, dass es sich um unsere Freundin handelt, denken, dass sie es ist und projizieren ein Bild von ihr auf unsere Wahrnehmung der Frau, die die Straße entlangkommt. Doch die konzeptuelle Wahrnehmung, im Grunde eine Projektion unserer Freundin auf diese Person, ist das, was man als „scheinbare bloße Wahrnehmung“ (tib. mngon-sum ji-ltar-ba) bezeichnet. Es scheint, als würden wir sie tatsächlich sehen, doch im Grunde handelt es sich dabei um eine Projektion. Wie in der Darstellung der konzeptuellen Wahrnehmung erklärt wird, gibt es die Kategorie oder das Konzept „meine Freundin“, etwas wie eine geistige Schublade, und wir ordnen diese Person in unserem Geist dieser Schublade „meine Freundin“ zu. Ob sie nun tatsächlich in diese Kategorie passt oder nicht, wissen wir nicht wirklich, aber wir hoffen es. 

Das ist eine Art der konzeptuellen Wahrnehmung, die man als „Hoffnung“ kennt: wir hoffen, dass es unsere Freundin sein wird. Es gibt hier keine Gewissheit und wir wissen es nicht wirklich; daher ist es keine gültige Art der Wahrnehmung. Wir sind verwirrt, weil unsere konzeptuelle Wahrnehmung trügerisch ist. Sie wird als „trügerisch“ bezeichnet, weil sie uns in unserem Denken täuscht, zu meinen, es sei ganz sicher unsere Freundin, doch unsere Erwartung kann sich als falsch herausstellen.  

Im Grunde erleben wir ziemlich häufig trügerische Wahrnehmungen. Wir erwarten, dass jemand gegenüber uns auf bestimmte Weise handeln oder sprechen wird. Wir erwarten entweder, dass allerhand wunderbare Dinge passieren werden, oder wenn wir uns sorgen, erwarten wir alle möglichen Katastrophen. So meinen wir beispielsweise, dass wir sicherlich einen Fehlschlag erleiden werden. Es ist wichtig, diese Projektionen zu erkennen und uns bewusst darüber zu sein, dass sie nicht der Realität entsprechen. Wir haben diese geistigen Schubladen, die natürlich ziemlich abstrakt sind, da wir diese Schubladen oder Kategorien nicht wirklich in unserem Geist finden können, und ordnen ihnen Dinge zu, ohne wirklich zu untersuchen, ob sie dort hineinpassen oder nicht. 

Nehmen wir einmal an, wir hoffen nicht nur intuitiv und aus keinem triftigen Grund, es sei unsere Freundin, sondern schlussfolgern es. Zu glauben, sie sei es, ist kein gültiger Grund, etwas als tatsächlich anzunehmen. Wir denken also, dass sie es ist und sind überzeugt davon. Wir müssen nicht warten, bis die Person näher kommt, um sicher zu sein. Wie kommen wir zu dieser Schlussfolgerung? Wir begründen sie damit, dass unsere Freundin uns um diese Zeit treffen wollte und nun kommt da diese Frau auf uns zu. Unsere Freundin ist eine Frau und die Zeit, in der sie kommen wollte, ist jetzt; daher schlussfolgern wir, dass es sich um unsere Freundin handelt.  

Die Art der Logik, die hier benutzt wird, ist jedoch eine falsche Überlegung, da sie nicht ausschließt, dass die Person, die wir sehen, jemand anderes ist. Es handelt sich um eine fehlerhafte Schlussfolgerung: Wir sehen eine Person, die uns auf der Straße entgegenkommt und es ist eine Frau. Unsere Freundin ist auch eine Frau und sie wollte genau um diese Zeit kommen; daher schlussfolgern wir, dass sie es sein muss. 

Wir haben all diese verschiedenen Diskussionen und äußerst anspruchsvolle Logik, die mit diesen Arten der Wahrnehmung einhergehen, denn einige Arten der Wahrnehmung beruhen auf Logik. Doch wir sollten analysieren, ob unsere Begründungen korrekt sind oder nicht. Wenn wir überzeugt davon sind, dass die Frau unsere Freundin ist und sie ist es nicht, war unsere Schlussfolgerung falsch. Sind wir nicht wirklich überzeugt und vermuten, dass es sich um unsere Freundin handelt und sie ist es, haben wir gut geraten. Das ist eine „Vermutung“. Wir können eine korrekte Vermutung beruhend auf einer falschen Überlegung anstellen. Es gibt viele verschiedene Arten der Vermutung. 

Die Vermutung kann sogar auf einer korrekten Überlegung beruhen, doch wir verstehen sie nicht wirklich. Mit der Leerheit können wir beispielsweise eine korrekte Überlegung haben – wir lesen etwas in einem Text und meinen etwas sei leer von wahrhaft begründeter Existenz wegen der Argumentation „weder eins noch viele“ – doch wir verstehen es nicht wirklich. In diesem Fall nehmen wir an, es sei wahr, und wir tun es mit einem korrekten Grund, jedoch ohne irgendeine Gewissheit. Das ist kein gültiges Verständnis der Leerheit, trotz der Tatsache, dass wir die korrekte Überlegung haben und gewissermaßen die Begründung rezitieren können. 

Eine weitere Möglichkeit ist, dass wir unschlüssig sind, ob die Person, die auf uns zukommt, unsere Freundin ist oder nicht. Während sie die Straße entlanggeht, schwanken wir zwischen den zwei Schlussfolgerungen hin und her: Ist sie es oder ist es jemand anderer? Was ist das Resultat davon, dieses unentschlossene Schwanken zu haben? Das Resultat ist, dass wir uns unbehaglich fühlen. Wir sind unsicher, weil wir die Situation nicht unter Kontrolle haben. Wir wissen es nicht wirklich. Wir haben keine Kontrolle darüber, wer diese Frau sein wird. Das ist ein Anzeichen dafür, warum das unentschlossene Schwanken in den buddhistischen Lehren eine grundlegende Täuschung ist. Es handelt sich um einen störenden Geisteszustand, der ein echter Unruhestifter ist. 

Hier geht es nicht nur darum, sich unschlüssig zu sein, was man heute tragen oder im Menü auswählen sollte, obwohl uns auch das unbehaglich ist. Es ist keine angenehme Sache, wenn wir uns nicht entscheiden können. Wir sind wie gelähmt. Der grundlegende störende Geisteszustand besteht jedoch im Wesentlich darin, sich unschlüssig darüber zu sein, welchen Weg man beim Helfen anderer einschlagen sollte, und insbesondere darin, sich nicht sicher in Bezug auf die Realität zu sein. Ist das, was ich im Hinblick auf meine Beziehung zu jemanden verstehe, korrekt oder nicht? Ist mein Verständnis darüber, wer ich bin und wie ich mit der Welt umgehe, korrekt oder falsch? Das sind die wirklich störenden Geisteszustände, wenn wir es einfach nicht wissen und hin und her schwanken. Es macht uns völlig unsicher und oft passiert es, dass wir uns unkontrollierbar Sorgen machen. Wie in unserem Beispiel sind wir uns nicht sicher, ob es unsere Freundin ist, die da auf uns zukommt. Hat sie uns versetzt? Wir sind uns nicht sicher, ob sie uns überhaupt noch liebt. Es gibt alle möglichen unangenehmen Geschichten voller Ängste und Sorgen, die in unserem Geist ablaufen und die wir erzeugen, wenn wir uns nicht wirklich sicher sind, was los ist. 

Ein weiteres Beispiel ist, wenn wir uns fragen, was sie damit meinte, als sie etwas sagte. Hier kehren wir wieder zu dieser anderen gültigen Art der Wahrnehmung zurück, die darin besteht zu wissen, dass wir nachfragen müssen. Wir benötigen mehr Informationen, anstatt unschlüssig zu bleiben. Das müssen wir recht häufig tun. Eine Person sagt etwas oder kommt nicht, wenn sie kommen sollte, und wir kommen zu der vorschnellen Schlussfolgerung, dass sie uns nicht mehr liebt oder wirklich wütend auf uns ist. Dann kommen wir entweder zu einer voreiligen Entscheidung oder nicht. Wir sind unschlüssig. Vielleicht war es so oder es war anders und wir regen uns alle auf. Wenn wir diese Arten der Wahrnehmung kennen, wissen wir, dass es sich dabei um einen störenden Geisteszustand handelt, den wir nicht haben wollen. Wir sind entschlossen, frei davon zu sein und daher werden wir fragen, was geschehen ist. Vielleicht kam der Bus zu spät, es gab einen wichtigen Telefonanruf, sie hat es vergessen oder was auch immer. Das beschreibt, was mit unentschlossenem Schwanken vor sich geht. 

Anfängliche Analyse 

Nun können wir beginnen zu analysieren, was es ist, das wir sehen. Unsere Freundin ist zu weit weg, um gültig zu erkennen, wer es ist. Was sehen wir? Wenn wir die visuelle Wahrnehmung analysieren, so findet die visuelle Wahrnehmung eines bestimmten Objektes in nur einem Augenblick statt und im nächsten sehen wir es etwas anders. Die undeutliche Person kommt ein wenig näher. Im Grunde sehen wir farbige Formen oder man könnte auch sagen, wir sehen farbige Pixel. Wir sehen einen Moment farbiger Formen und dann sehen wir einen weiteren Moment farbiger Formen. Sehen wir nur farbige Formen? Manche Erkenntnistheorien würden sagen, dass wir nur farbige Formen sehen, doch hier, gemäß der Gelug-Darstellung des Sautrantika-Systems, sehen wir nicht nur farbige Formen. Wir sehen tatsächlich ein ganzes Objekt, den Körper einer Person, und unser gesunder Menschenverstand sagt uns, dass er gesehen, gehört oder gefühlt werden kann, wenn wir uns die Hände reichen. Es handelt sich um ein allgemein verständliches Objekt, das über einen Zeitraum und nicht nur für eine Sekunde lang andauert. Wir sehen ein echtes Lebewesen, dass die Straße entlanggeht. Es sind nicht nur farbige Formen, welche die Straße entlang laufen.

Das mag ziemlich offensichtlich klingen, doch dies führt uns zur Diskussion darüber, ob wir, wenn wir einen Körper sehen, nur einen Körper oder auch eine Person sehen. Wir müssten sagen, dass das, was wir sehen, nicht nur eine Sache oder ein allgemeines Objekt ist, sondern eine ganz bestimmte Sache. Es ist auch nicht so, dass wir ein Nichts sehen. Wir sehen nicht einfach nur ein leeres Blatt Papier oder so etwas in der Art. Wir sehen tatsächlich etwas. Objektiv ist es ein Körper und nicht nur der eines Zombies oder dergleichen, der die Straße entlanggeht. Es ist eine lebendige Person. Das ist die besondere Art der Sache, die wir wahrnehmen. Die Frage stellt sich, ob ein allgemein verständliches Objekt nur ein Konzept ist, das auf die farbigen Formen oder Pixel projiziert wird, oder ob es eine Art konventionelle Realität gibt, die wir sehen, und ob es tatsächlich und objektiv konventionelle allgemein verständliche Objekte gibt. Es ist ja nicht so, dass das ganze Universum nur aus Lichtpixeln besteht.

Das ist auch eine ziemlich interessante philosophische Frage. Was ist denn eigentlich objektive Realität? Handelt es sich bei der objektiven Realität nur um Atome und Lichtpixel oder gibt es da tatsächliche Objekte? Diese Untersuchung kann ziemlich tief gehen und recht interessant werden. Gibt es eine Plastikfolie um dieses Bündel von Atomen, die es zu einem Objekt macht? Wo ist die Grenze, an der es nicht mehr das Objekt sondern die Luft daneben ist? Diese Analyse ist sehr tiefgründig und beruht auf der Wahrnehmungstheorie.

Wollen wir die Lehren über die Leerheit verstehen oder darüber, wie Dinge wirklich existieren, müssen wir sie mit der Wahrnehmungstheorie verbinden. Ansonsten sind die Lehren unvollständig und wir verstehen nicht wirklich, warum es in einem System heißt, konventionelle Objekte wären nur Konzeptualisierungen, und in einem anderen, es gäbe tatsächlich konzeptuelle Realität. Dinge mögen auf merkwürdige Weise zu existieren scheinen, doch wir können die konventionelle Realität nicht völlig leugnen; ansonsten wird es nihilistisch und wirklich schwer, Mitgefühl für jemanden zu rechtfertigen, wenn es sich bei der objektiven Realität nur um ein Bündel von Atomen und Lichtpixeln handelt. Für wen werden wir Mitgefühl haben? Die Wahrnehmungstheorie hat eine große Tragweite.

Daher ist es ausgesprochen wichtig, ein umfangreiches Studium der buddhistischen Lehren zu haben. Dinge beginnen erst einen tieferen Sinn zu ergeben, wenn wir die vielen verschiedenen Aspekte der Lehren miteinander verbinden. Schließlich bilden die buddhistischen Lehren ein ganzheitliches System und wir sehen nur ein Teil davon. Es ist wie das Beispiel, das Buddha gab, in dem mehrere Blinde einen Elefant berühren. Einer berührt ein Ohr, ein anderer den Rüssel, der nächste den Bauch und der letzte den Schwanz. Berühren sie alle den Elefanten? Ja, wir müssten sagen, dass sie alle den Elefanten berühren. Sie berühren nicht nur einen Rüssel, sondern auch einen Rüssel. Was ist der Unterschied, einen Rüssel und einen Elefant zu berühren? Der Elefant ist all diese Teile. Hier gibt es wiederum zahlreiche Dinge, die man dann analysieren kann und die sich daraus ergeben.

Kommen wir aber zurück zu unserem Beispiel: Wir sehen tatsächlich eine Person, eine allgemein verständliche Person, eine Person mit einem Geist, Emotionen und Gefühlen. Wir sehen nicht nur farbige Formen oder Lichtpixel, die sich die Straße entlang bewegen.

Nehmen wir einmal an, die Person, die wir auf der Straße sehen, ist tatsächlich unsere Freundin Mary. Wir können das noch nicht erkennen, da sie zu weit weg ist, aber es ist tatsächlich Mary. Wenn wir sie tatsächlich erkennen, sehen wir dann nur eine Person oder sehen wir auch Mary? Ist Mary mit anderen Worten nur eine konzeptuelle Vorstellung in unseren Köpfen oder ist es tatsächlich Mary?

Wenn die Person, die wir sehen, nicht Mary ist, wer ist sie dann? Ist sie jemand anderes oder ist sie ein Niemand ohne einen Namen? Doch es ist tatsächlich Mary. Würden wir sie fragen, wer sie ist, würden sie und alle anderen, die sie kennen, zustimmen, dass sie es ist. Objektiv müssten wir dann sagen, dass es Mary ist, die wir sehen. Doch wenn sie zu weit weg ist, um erkennen zu können, wer sie ist, wissen wir es nicht. Ungeachtet dessen sehen wir Mary, wenn es tatsächlich Mary ist, und wir sehen nicht jemand anderen oder niemanden. Das hat etwas mit der Thematik zu tun, ob es objektive Tatsachen gibt. Aus der Sautrantika-Sicht gibt es eine so genannte objektive Realität.

Kommt unsere Freundin nah genug, um gültig zu erkennen, dass es Mary ist, wie wissen wir dann, dass sie es ist. Wie können wir das wissen? Wie funktioniert das Erkennen? Wir wissen es konzeptuell. „Konzeptuell“ bedeutet, dass wir etwas durch eine geistige Kategorie erkennen, die wir von dieser bestimmten individuellen Person haben. Anders ausgedrückt ordnen wir jegliche Sinnesinformationen, die wir über diese Person bekommen, der geistigen Schublade der Kategorie „Mary“ zu, ob wir sie nun sehen, ihre Stimme am Telefon hören, ihre Hand schütteln, sie umarmen oder ähnliches. Unabhängig davon, was sie gerade tut, anhat, welchen Gesichtsausdruck sie hat oder was sie tatsächlich sagt: wir ordnen alles der gleichen Kategorie „Mary“ zu.

Wir beginnen zu verstehen, dass diese geistigen Kategorien festgelegt sind, wie die geistige Kategorie, die wir bezüglich unserer Freundin „Mary“ haben. Natürlich kann es alle möglichen Informationen und Eigenschaften geben, die wir mit dieser Kategorie verbinden, doch sprechen wir nur von der geistigen Schublade selbst, so handelt es sich um die geistige Schublade einer individuellen Person, die von anderen Menschen unterschieden werden kann. Was wir ihr dann hinzufügen, ist ein Name. So könnten wir beispielsweise eine bestimmte Person an der Kasse des Supermarktes erkennen, die dort immer arbeitet und die wir immer wieder dort sehen, allerdings ohne eine Vorstellung davon zu haben, was der Name dieser Person ist. Wir müssen nicht unbedingt einen Namen mit der Kategorie einer individuellen Person verbinden, doch wir könnten einen Namen haben und in diesem Fall ist der Name Mary.

Diese geistige Kategorie ist statisch, was bedeutet, dass sie nichts tut. Die einfachste Weise, sie zu verstehen, ist, sie als eine geistige Schublade zu beschreiben. Wir haben jede Menge dieser geistigen Schubladen. Wir können sie als Konzepte oder Vorstellungen davon bezeichnen, wer Mary ist, oder sie vorgefasste Meinungen nennen, wenn wir verschiedene Eigenschaften mit ihnen verbinden. Es hängt alles davon ab, wie wir diese geistigen Schubladen benutzen. Offensichtlich können wir diese Schubladen nicht irgendwo in unseren Köpfen finden. Aber so funktioniert konzeptuelle Wahrnehmung. Wir haben geistige Schubladen oder Konzepte von Objekten, Worten und der Bedeutung von Worten. 

Betrachten wir einmal den Klang des Wortes „Mary“. Egal wer es sagt und mit welcher Stimme, Lautstärke oder Aussprache: wir ordnen es dieser geistigen Schublade des Wortklanges „Mary“ zu. Wie erkennen wir es? Es könnten ja völlig unterschiedliche Klänge sein, denn sie sind nicht genau der gleiche Klang, wenn sie unterschiedlich laut oder von verschiedenen Stimmen ausgesprochen werden. Der einzige Grund, warum wir Sprache erkennen und verstehen können, liegt darin, dass wir diese so genannte „Hörkategorie“ haben. Dabei handelt es sich um Klangkategorien, denen wir viele Klänge zuordnen und die wir dann mit einer Bedeutung verbinden. Natürlich kann die Kategorie der Bedeutung, die wir mit einer Klangkategorie verbinden, für verschiedene Leute recht unterschiedlich sein. 

Was ich beispielsweise unter dem Wort „Liebe“ verstehe und was du darunter verstehst, kann etwas ganz anderes sein. Der Unterschied zwischen der Schublade „ich mag diese Person“ und „ich liebe diese Person“ kann für manche Leute ziemlich groß sein. Wie wissen wir denn, dass unser Gefühl zur Schublade „ich liebe dich“ und nicht nur zur Schublade „ich mag dich“ gehört?

Das ist besonders relevant, wenn es um unsere Emotionen geht, da sie oft nicht wirklich klar sind. Was fühlen wir denn wirklich? Wir können uns auch fragen, ob es tatsächlich hilfreich ist, unsere Gefühle einer geistigen Schublade zuzuordnen und ob sie erst echt sind, wenn wir sie in eine Schublade stecken. Empfinden wir wirklich Liebe, wenn wir es nicht als Liebe bezeichnen? Wir wollen, dass die andere Person sagt „ich liebe dich“, damit wir es der Schublade „er oder sie liebt mich“ zuordnen können. Sagen die anderen es nicht, haben wir das Gefühl, dass es nicht zählt oder dass ihre Liebe nicht echt ist. Wir meinen, „Liebe“ ist nur echt, wenn wir sie dieser Schublade oder dem Klang dieser Worte „ich liebe dich“ zuordnen, was jedoch albern ist.

Dies ist wirklich interessant und hilft uns, die zwanghafte Unsicherheit zu überwinden, mit der wir unseren Partner zwingen wollen, uns jeden Tag zu sagen, wie sehr er oder sie uns liebt. Wir meinen, die Person müsse uns eine Karte zum Valentinstag schicken, weil wir uns nicht sicher sind, ob ihre Gefühle gegenüber uns in diese oder jene geistige Schublade passen. Manchmal müssen sie einer geistigen Schublade zugeordnet werden, damit wir uns klar darüber sind, was los ist, doch zuweilen können wir zu besessen davon sein, etwas in diese geistigen Schubladen zu stecken. Dann denken wir, die Person würde uns nur lieben, wenn sie „ich liebe dich“ sagt, und wenn sie es nicht sagt, zählt es nicht oder zeigt ganz klar, dass sie uns nicht liebt.

Wie deuten wir, ob jemand in eine Kategorie passt? 

Es ist wirklich wichtig, konzeptuelle Wahrnehmung zu verstehen. Wie wissen wir, ob diese Person, die wir auf der Straße entlanggehen sehen, in unsere Kategorie „Mary“ passt? Um sie zuordnen zu können, ist es notwendig, einige außergewöhnliche charakteristische Eigenschaften der Person zu bestimmen, die wir sehen, sowie die zusammengesetzten Merkmale der Kategorie „Mary“. Das bringt uns zum Geistesfaktor des auseinanderhaltenden Gewahrseins (tib. ‘du-shes), den man manchmal auch als Erkennen bezeichnet. Wie unterscheiden wir diese Person von jener Person?

Wir könnten hier in eine recht anspruchsvolle und wirklich interessante Prasangika-Analyse beginnen. Um diesen Punkt zu illustrieren, nutze ich oft das Beispiel einer Reihe von Bildern von uns selbst als ein Baby, ein Kind, ein Jugendlicher, ein junger Erwachsener, einer Person mittleren Alters und einem alten Menschen – je nachdem wie alt wir sind. Wie wissen wir, dass sie alle uns zeigen, denn sie sehen doch völlig anders aus? Was ist die definierende Eigenschaft in jedem dieser Fotos, die es zu einem Bild von uns und nicht jemand anderem macht? Es ist auch kein Niemand in all diesen Bildern, sondern jemand. Es muss ein individuelles definierendes charakteristisches Merkmal in all diesen Fotos geben, das wir bestimmen können, obgleich es ziemlich schwierig ist, es herauszufinden. Im Sautrantika würde man sagen, dass es solch eine definierende Eigenschaft gibt, die auf Seiten all der Personen in den Fotos auffindbar ist und aus eigener Kraft begründet, dass wir es sind. Im Prasangika würde man zustimmen, dass es konventionell solch eine definierende Eigenschaft gibt, denn sonst könnten wir nicht korrekt bestimmen, wer es auf den Fotos ist. Allerdings hat sie nicht die Kraft zu begründen, dass wir es sind und ist nicht auf Seiten der Person auffindbar.

Gehen wir zurück zu unserer Diskussion, Mary zu sehen. In ihrer Stimme oder ihrem Aussehen gibt es eine konventionelle definierende Eigenschaft, egal was sie trägt, wie alt sie ist und so weiter. Es gibt auch ein so genanntes „zusammengesetztes Merkmal“ in der geistigen Schublade, das aus all den verschiedenen Begegnungen mit ihr besteht – eine allgemeine Charakteristik, welche die geistige Schublade als die geistige Schublade „Mary“ und nicht als die geistige Schublade eines anderen kennzeichnet. Dann ordnen wir die individuellen definierenden Eigenschaften der Person „Mary“, die wir sehen, der Schublade mit diesen zusammengesetzten definierenden Eigenschaften von „Mary“ zu.

Hier machen wir in unserer Wahrnehmung oft Fehler. Wir projizieren eine bestimmte geistige Schublade auf etwas, das nicht die definierenden Eigenschaften hat, um ein Mitglied einer Reihe von Dingen zu sein, die in diese Schublade passen. Das passiert ständig, wenn wir vorgefasste Meinungen und Missverständnisse darüber haben, was jemand gemeint hat, wer jemand ist oder gar was unsere Gefühle sind. Wir bestimmen, was wir empfinden und meinen, es gehöre in eine bestimmte geistige Schublade, als würden Emotionen tatsächlich in Schubladen existieren und wir nun eine aus dieser oder jener Schublade empfinden.

Doch Emotionen existieren nicht auf diese Weise. Es ist nicht so, dass Emotionen in Schubladen unterteilt werden und ein Gefühl in diese Schublade und ein anderes in jene Schublade gehört. Wir erfahren eine ganze Palette verschiedenartiger Emotionen, doch um sie vollkommen zu verstehen, müssen wir diese Analyse mit der Diskussion darüber verbinden, wie Dinge existieren.

Wenn wir mit diesen geistigen Kategorien oder Schubladen arbeiten, lernen wir jedenfalls, wie wir eine Sache von einer anderen unterscheiden. Wie wissen wir, dass es Mary ist? Es gibt eine individuelle definierende Eigenschaft, die ich erkenne, wenn ich sie sehe und die ich der geistigen Schublade „Mary“ zuordne. Wir schlussfolgern, dass es Mary ist, beruhend auf der Überlegung, dass diese Person, wenn sie diese und jene außergewöhnliche charakteristische Eigenschaft hat, in diese bestimmte geistige Schublade mit jenen zusammengesetzten definierenden Eigenschaften passt. Die Überlegung lautet: Diese Person hat dieses Merkmal; alle Dinge mit diesem Merkmal gehören in diese Schublade; es gibt keine Dinge mit diesem Merkmal, die nicht in diese Schublade passen und daher ordnen wir diese Person dieser geistigen Schublade zu.

Hätten wir fälschlicherweise gedacht, die Person sei Susan, als wir Mary von weitem sahen, würden wir sie der geistigen Schublade „Susan“ und somit nicht der richtigen geistigen Schublade zuordnen. Wir hatten eine fehlerhafte Betrachtung und dachten, die außergewöhnliche charakteristische Eigenschaft von Mary wäre die außergewöhnliche charakteristische Eigenschaft von Susan. Wir dachten, diese Person hätte die Merkmale von Susan, obwohl sie tatsächlich die Merkmale von Mary hatte. Beruhend darauf, haben wir fälschlicherweise geschlussfolgert, es wäre Susan, weil wir ein falsches auseinanderhaltendes Gewahrsein der Kategorie hatten, in die sie passt. Wir haben Susan konzeptuell auf Mary projiziert und diese konzeptuelle Wahrnehmung war trügerisch.

Es gibt eine ganze Liste verschiedener trügerischer Arten der Wahrnehmung, die uns täuschen. Mit anderen Worten: Wir denken, es wäre so, obwohl es nicht so ist. Vielleicht sah sie nur von weitem wie Susan aus, aber das war falsch. 

Negierung: Wie wir wissen, dass etwas dieses und nicht jenes ist 

Was wissen wir, wenn sie näher kommt, wir sie konzeptuell als Mary erkennen und sie der Schublade Mary zuordnen? Wir wissen, dass es nicht Susan ist. Wir dachten, es wäre Susan, aber sie war es nicht. Wir negieren, dass es Susan ist. Wie nehmen wir das war? Wie erkennen wir das? Wenn wir eine Person sehen und erkennen, dass es Mary ist, wie wissen wir gleichzeitig, dass es nicht Susan ist? Das bringt uns zur Theorie von Negierungs-Phänomenen und dazu, wie wir erkennen, dass etwas dieses aber nicht jenes ist.

Zunächst können wir nur wissen, dass es nicht Susan ist, wenn wir Susan vorher kannten. Kannten wir Susan nicht schon vorher, können wir nicht ausschließen oder negieren, dass es Susan war. Daher legt Tsongkhapa in seiner Darstellung der Leerheit so große Betonung auf das Wahrnehmen des zu negierenden Objektes. Können wir nicht erkennen, was es ist, das wir widerlegen oder negieren, können wir es nicht korrekt widerlegen. Er bezieht sich damit auf eine Aussage von Shantideva: Wenn man das Ziel nicht sieht, kann man keinen Pfeil dorthin schießen. Wir haben vielleicht Glück und treffen mit dem Pfeil ins Ziel, aber wir werden kein beständiges Ziel haben. In ähnlicher Weise müssen wir Susan bereits kennen, um zu sehen, dass es sich nicht um Susan handelt.

Wenn wir Mary erkennen, erkennen wir gleichzeitig auch „nicht Susan“, obwohl es kein Nichts oder eine Art „nicht Susan“ gibt, das erscheint. Wenn wir sehen, dass es Mary ist, haben wir alle anderen außer Mary ausgeschlossen. Es ist niemand anderes als Mary, was festlegt, dass es tatsächlich Mary ist. Damit wird es eingegrenzt; das ist Mary. Es ist nichts anderes als Mary, niemand außer Mary, und natürlich wird damit ausgeschlossen, dass es Susan ist.

Wir sehen Mary und sind wirklich überzeugt, dass es Mary ist. Das bedeutet zu wissen, dass es niemand außer Mary ist. Wir müssen nicht jedes andere menschliche Wesen auf dieser Erde kennen und jedes einzelne, eines nach dem anderen ausschließen, um zu wissen, dass es niemand außer Mary ist. Müssten wir das tun, würden wir uns nie über irgendetwas gewiss sein, das wir kennen. Doch wenn wir wirklich sicher sein wollen, dass es nicht Susan ist, müssten wir wissen, dass auch Susan damit gemeint ist, wenn wir von niemandem außer Mary sprechen.

Werden wir uns der Leerheit gewiss, erkennen wir, dass die Leerheit nicht dieser Tisch oder diese Blume ist – das ist offensichtlich. Sagen wir jedoch „nichts außer Leerheit“, wäre das zu vage, obwohl es ziemlich spezifisch zu sein scheint. Um überzeugt zu sein, dass es Leerheit ist, müssen wir in der Lage sein, einige Missverständnisse oder halbe Verständnisse auszuschließen, die wir haben könnten. Diese Negierungen können ganz allgemein sein, wie „es ist nichts anderes als das, was es ist“, womit wir alles andere ausschließen. Zusätzlich könnten wir auch ganz bestimmte Arten falscher Sichtweisen ausschließen, wie die nihilistischen und eternalistischen Sichtweisen.

Das Thema des Ausschließens ist ein recht großer Studienbereich in der buddhistischen Erkenntnistheorie, in der es um Negierungs-Phänomene geht. Es ist recht ausführlich und überaus wichtig, um zu verstehen, wie wir uns auf die Leerheit richten. Die Leerheit ist eine Abwesenheit von etwas Unmöglichem, dass nicht existieren kann. Wie fokussieren wir uns darauf? Es gibt Wege und Beispiele dafür. Vielleicht dachten wir, es gäbe Milch im Kühlschrank. Wir gehen zum Kühlschrank, schauen hinein und sehen, dass es keine Milch gibt. Was sehen wir? Wir sehen einen leeren Kühlschrank. Wir sehen nicht „keine Milch“, aber wir wissen, dass diese Abwesenheit keine Milch bedeutet, weil wir nach der Milch gesucht haben. Es gibt diese allmählichen Wege, um verstehen zu können, wie wir uns tatsächlich auf die Leerheit richten. Es umfasst das ganze Thema der Ausschlüsse und des Negierungs-Phänomens. 

Nachfolgende Wahrnehmung 

Ein letzter Punkt ist folgender: Wenn wir zu Beginn erkennen, dass es sich um Mary handelt, ist der erste Moment unserer schlussfolgernden Wahrnehmung, die eine Art konzeptuelle Wahrnehmung ist, frisch. Wir denken: „Oh, das ist Mary, die da kommt.“ Das ist frisch und ziemlich stark. Anschließend denken wir nicht in jedem Augenblick unserer Begegnung: „oh, das ist Mary.“ Wir wissen, dass es Mary ist, doch es unterscheidet sich von dem ersten Augenblick, der noch ganz frisch ist. Was wir nach der anfänglichen Wahrnehmung von ihr erfahren, ist die so genannte „nachfolgende Wahrnehmung“. Sie ist nach wie vor korrekt; wir wissen immer noch, dass es Mary ist. Sie ist nicht zu Susan geworden und ist auch kein niemand geworden. Wir wissen immer noch, dass es Mary ist, aber es ist nicht frisch wie der erste, anfängliche Augenblick.
Es ist eine andere Art der Wahrnehmung und es ist wirklich wichtig, in der Meditation zu erkennen, wenn wir uns auf etwas wie Leerheit oder Mitgefühl richten. Anfangs bringen wir beispielsweise Mitgefühl hervor, indem wir eine Kette von Argumenten durchgehen, wie: jeder war schon einmal unsere Mutter, war so gütig zu uns und so weiter.

Wir erzeugen Mitgefühl, empfinden es wirklich intensiv, doch dann wird es schwach. Das liegt daran, dass unser Geisteszustand des Mitgefühls zu einer nachfolgenden Wahrnehmung geworden ist. Er ist nicht mehr frisch. Wird er zu schwach, sodass wir kaum noch etwas empfinden, müssen wir ihn erneut hervorbringen, um eine frische Schlussfolgerung und Erzeugung dieses Mitgefühls zu haben. Sind wir uns bewusst, dass es sich dabei um zwei verschiedene Weisen von Mitgefühl handelt – das eine frisch und das andere schal, wie ein altes Stück Brot, ohne Energie dahinter – wissen wir, dass wir zurückgehen und es erneut hervorbringen müssen. Das ist eine äußerst wichtige Anweisung in der Meditation. 

Nützlichkeit der sieben Arten der Wahrnehmung in der Meditation und dem tätlichen Leben 

Auf diese Weise versuchen wir zu veranschaulichen, dass diese sieben Arten der Wahrnehmung nicht nur eine langweilige Liste sind, die man in den buddhistischen Lehren finden kann, bei der man sich fragt, ob man sie denn wirklich kennen muss und warum man sich nicht einfach nur hinsetzen und meditieren kann. Tatsächlich handelt es sich dabei um ein ausgesprochen nützliches Werkzeug, um analysieren zu können, was in unserer Meditation vor sich geht, und um es korrigieren und wissen zu können, wie man einen bestimmten Geisteszustand, wie den korrekten Fokus auf die Leerheit oder Bodhichitta, erzeugen kann. 

Wie sind wir uns sicher, dass wir über die korrekte Sache meditieren? Wir mögen denken, dass wir es korrekt tun, während dem nicht so ist. Die Menschen denken recht häufig, dass sie über Bodhichitta meditieren, während sie eigentlich über Mitgefühl meditieren. Es ist nichts Falsches daran, über Mitgefühl zu meditieren, aber es ist nicht dasselbe, wie die Meditation über Bodhichitta. Vielleicht wissen wir nicht, worauf wir uns mit Bodhichitta konzentrieren müssen. Das führt uns zu all den Geistesfaktoren, die mit einer Wahrnehmung verbunden sind. Worauf ist der Geist wirklich gerichtet, wie erfasst er es, welche Teile sind mit diesem Geisteszustand verbunden und wie nimmt er wirklich sein Objekt wahr, erfasst oder erkennt dieses Objekt? Gibt es da eine Gewissheit? Ist es korrekt oder nicht? Erkennen wir die korrekte Sache oder nicht? Projizieren und ordnen wir sie einer Schublade zu und betrachten sie durch eine Kategorie – und handelt es sich um die korrekte Kategorie – mit allen möglichen vorgefassten Meinungen?

All diese Dinge sind damit verbunden, jedoch nicht nur in der Meditation, sondern auch in all unseren Interaktionen mit anderen. Was erkennen wir denn, wenn wir uns allein oder trübselig fühlen und uns als einen Verlierer sehen? In welche geistige Schublade stecken wir uns und warum ordnen wir uns dieser geistigen Schublade zu? Vielleicht haben wir uns der Schublade „Verlierer“ zugeordnet und uns folglich traurig gefühlt, weil wir eine Schlussfolgerung aus der Überlegung gezogen haben: „ich habe fast keine „Likes“ für etwas bekommen, was ich in den sozialen Medien veröffentlicht habe, zumindest nicht die erwartete Anzahl, was bedeutet, dass ich ein langweiliger Verlierer bin.“  Das ist jedoch eine falsche Logik. Ein weiteres Beispiel ist, zu denken: „niemand hat mir heute eine Nachricht geschrieben“ und zu schlussfolgern, dass uns niemand liebt. Das ist ebenfalls eine falsche Schlussfolgerung. Vielleicht war die Batterie unseres Telefons leer und es schien nur so, dass uns niemand geschrieben hat. Wir müssen es überprüfen, um zu sehen, was geschehen ist.

Besonders in unseren Gesprächen und unserem Austausch mit anderen ist es überaus wichtig unsere Projektionen zu erkennen. Wir sollten wissen, wie wir tatsächlich erkennen, was die andere Person meint, wenn sie etwas sagt. Nehmen wir etwas an oder projizieren bestimmte Dinge? Verstehen wir wirklich, was sie bedeuten? Es ist notwendig zu wissen, wie wir etwas einschätzen und wie wir erkennen, ob wir mehr Informationen benötigen oder bereits genügend haben und nur unnötige Fragen stellen. Es kann in beide Richtungen gehen. Das ist hier eine der Bedeutungen dieser Thematik. 

Fragen 

Vielleicht gibt es ein paar allgemeine Fragen zur Relevanz dieser Thematik, bevor wir uns den Einzelheiten zuwenden. Ich denke, hier ist es wichtig zu verstehen, wie relevant es ist, eine Art Landkarte des Geistes und der Emotionen zu haben, wenn wir die Arbeit mit unseren emotionalen Zuständen wirklich auf eine wissenschaftliche Weise und mit einem rationalen Ansatz angehen wollen. Es mag unlogisch erscheinen, einen rationalen Ansatz für den Umgang mit unseren Emotionen zu nutzen, aber wenn wir es nicht systematisch angehen, ist alles zu vage. Es wird zu schwierig sein, uns für die Arbeit mit unseren Emotionen nur auf Intuition und Gefühle zu stützen, um zu klären, was vor sich geht. 

Suchen wir beispielsweise nach innerem Frieden, so ist er auf zahlreiche verschiedene Faktoren zurückzuführen. Einer von ihnen besteht darin zu verstehen, was in uns los ist. Wenn wir nicht verstehen, was in uns selbst und in der Welt geschieht, fehlt uns Selbstvertrauen und wir fühlen uns unsicher. Empfinden wir diese Unsicherheit, haben wir natürlich keinen inneren Frieden. Außerdem ist es ausgesprochen wichtig, über einen klaren Geist zu verfügen, um gütige Gedanken und all diese Dinge zu haben. Daher liegt die Betonung auf Mitgefühl und Weisheit, diese so genannten Flügel, mit denen wir in unserer Entwicklung fliegen. Weisheit beginnt mit dem Wissen, wie unser Geist funktioniert, sowie damit, eine klare Vorstellung und die Werkzeuge zu haben, mit denen wir analysieren, was in unserer von einem Augenblick zum nächsten stattfindenden Erfahrung des Lebens passiert. 

Wie kann man die Diskussion über die Arten der Wahrnehmung nicht nur auf die Meditation und das gewöhnliche Leben, sondern auch auf das Verständnis des Dharma anwenden, sowie darauf, was wir hören und wie wir zuhören?

Wie können wir dies auf korrekte Weise für unser Verständnis des Dharma anwenden? Es bezieht sich darauf, die Lehren zu hören, über ihre Bedeutung nachzudenken und über sie zu meditieren. Wir haben diesen Vorgang in drei Schritten. Was ist denn das Resultat davon, die Lehren zu hören? Das Resultat, das wir anstreben, ist das unterscheidende Gewahrsein (tib. shes-rab), das sich aus dem Hören ergibt und oft als Weisheit bezeichnet wird. Es bedeutet, dass wir uns sicher sein sollten, die Worte korrekt gehört zu haben. Wir könnten denken, jemand habe etwas gesagt, obwohl er es überhaupt nicht gesagt hat. Das passiert häufig in einer Unterhaltung mit jemandem. Wir denken, die Person hätte etwas gesagt, doch unsere Erinnerung ist fehlerhaft. Wir könnten uns auch auf eine Aufnahme stützen, doch auch sie könnte undeutlich sein. Mit dem unterscheidenden Gewahrsein, welches sich aus dem Hören ergibt, unterscheiden wir korrekt und entschieden, dass es sich bei den charakteristischen Merkmalen der Klänge um die Klänge dieser oder jener Worte handelt.

Denkt daran, wie wir Sprache verstehen. Es gibt eine definierende Eigenschaft dieses Lautes, der in die geistige Schublade eines Wortes mit dieser Bedeutung passt. Daher müssen wir erst einmal sicher sein, dass wir die Worte korrekt gehört haben. Wir überprüfen und das ist mit bloßer Wahrnehmung verbunden. Sind wir unentschlossen und schwanken? Hat der Lehrer dies oder jenes gesagt? In diesem Text wird eine Sache gesagt, aber in einem anderen Text ist die Übersetzung ganz anders. Geht es um die gleiche Sache oder um etwas anderes? Das ist ein grundlegendes Problem, was das Studium des Dharma im Westen betrifft. Um uns der Bedeutung gewiss zu sein, müssen wir wissen, um welche Übersetzung aus dem Sanskrit oder Tibetischen es sich handelt. Übersetzen sie dasselbe Wort oder ein anderes? Gibt es kein Wortverzeichnis, ist das wirklich schwierig. Wir haben dieses große Problem nur in Bezug auf das Hören und Verstehen der eigentlichen Worte.

Dann gilt es, über sie nachzudenken. Denken wir über sie nach, haben wir das unterscheidende Gewahrsein, welches sich aus dem Denken ergibt. Hier geht es uns darum, zwei Dinge zu entwickeln: zum einen ein korrektes Verständnis, mit dem wir die Worte nicht nur korrekt und entschieden gehört, sondern auch die Bedeutung korrekt und entschieden verstanden haben. Hier gibt es auch andere Arten der Wahrnehmung, die wir beseitigen wollen, wie falsches Verstehen, unentschlossenes Schwanken und die Vermutung, etwas zu verstehen, wenn dem nicht so ist. Wir sollten uns nicht nur gewiss sein, was die Worte der Lehren bedeuten, sondern auch, dass ihre Bedeutung stimmt. Wir können verstehen, was etwas bedeutet, aber meinen, es wäre völliger Unsinn.

Um dies zu vermeiden, müssen wir prüfen und sehen, ob sie in unserer Erfahrung einen Sinn ergeben. Dann können wir Gewissheit darüber haben, ob sie korrekt sind oder nicht und ob sie hilfreich sind oder nicht. Dafür ist es notwendig zu wissen, wie man sie anwendet.

Um unterscheidendes Gewahrsein zu entwickeln, müssen wir die Definitionen der buddhistischen Begriffe kennen. Die definierenden charakteristischen Merkmale von Worten und Bedeutungen sind ihre Definitionen. Im Tibetischen handelt es sich bei definierenden charakteristischen Merkmalen und Definitionen um dasselbe Wort (tib. mtshan-nyid). Es ist wirklich ausschlaggebend, diese Definitionen beim Hören von Lehren zu bekommen, besonders von einem Lehrer, der uns Dinge definieren kann.

Seine Heiligkeit der Dalai Lama spricht beispielsweise davon, dass es äußerst wichtig ist, liebevoll und warmherzig zu sein. Hier könnten wir meinen, es beziehe sich auf alle möglichen sexuellen Andeutungen, doch darum geht es dem Dalai Lama nicht im entferntesten, wenn er dieses Wort benutzt. Er meint damit, sanft und gütig zu sein, ohne irgendwelche sexuellen Assoziationen damit zu verknüpfen. Daher ist es ist notwendig, die Definitionen zu verstehen und nachzufragen. Wir nehmen an, ein bestimmtes Wort bedeutet dieses oder jenes, während es im Grunde gar nicht darum geht. So viele unserer Missverständnisse sind darauf zurückzuführen. Mit unserem westlichen Hintergrund beziehen wir uns zum Beispiel gedanklich auf Kategorien, wie Schuld, die keinen Platz im Buddhismus haben. Wir projizieren sie auf die buddhistischen Begriffe. Ich ziehe beispielsweise die Begriffe „konstruktiv“ und „destruktiv“ vor, weil sie keine Moralvorstellungen vermitteln, während „tugendhaft“ und „nicht tugendhaft“ wie „gut“ und „schlecht“ klingen und darauf hindeuten, dass wir verurteilt und bestraft werden könnten, wenn wir nicht tugendhaft sind. Darauf bezieht es sich allerdings nicht. Um all diese Dinge geht es in dem Prozess, über die Dharma-Lehren nachzudenken, die wir gehört haben.

Wenn wir dann tatsächlich meditieren, werden wir in der Meditation vertraut mit einem konstruktiven Geisteszustand und lassen ihn so tief verwurzeln, dass wir einen neuen neuronalen Pfad anlegen, damit unser Geist ganz automatisch in diese Richtung gehen kann. 

Im Prasangika wird beispielsweise zwischen zwei Ebenen unterschieden, den neuronalen Pfad des Mitgefühls anzulegen. Die erste Ebene besteht darin, Mitgefühl für jemanden durch auf Überlegung beruhende Schlussfolgerung zu erzeugen. Vielleicht sehen wir einen Betrunkenen auf der Straße, der eine furchtbare Szene macht, herumbrüllt usw. Um nun Mitgefühl hervorzubringen, denken wir, dass diese Person in früheren Leben unsere Mutter gewesen ist, gütig uns gegenüber war und so weiter. Wir müssen daran arbeiten, tatsächlich Mitgefühl für diese Person zu empfinden. Das ist mühevolles Mitgefühl, die erste Ebene beim Entwickeln von Mitgefühl. 

Die zweite Ebene kommt, wenn dieses Mitgefühl so tief verwurzelt ist, dass es ganz automatisch entsteht, ohne eine Ketten von Argumenten durchgehen zu müssen. Wir bringen Mitgefühl einfach ganz automatisch hervor, wenn wir den Betrunkenen sehen. Danach streben wir stets mit allen positiven Geisteszuständen, die in den buddhistischen Lehren beschrieben werden. Es ist das Ziel unserer Meditation. Wir streben an, diese neuronalen Pfade so stark zu machen und den alten neuronalen Pfad ausreichend zu schwächen, dass der gewünschte Geisteszustand automatisch entsteht, ohne uns dafür bemühen zu müssen. „Mühelos“ (tib. rtsol-med) ist der Fachausdruck dafür und damit verstehen wir Unbeständigkeit zum Beispiel ganz wie von selbst. Wir verstehen die Leerheit einer Situation ganz automatisch, sowie, dass all unsere Projektionen Fantasie und völliger Unsinn sind. Wir müssen dies nicht mit Logik widerlegen. Indem wir einfach an Unbeständigkeit oder Leerheit denken, lösen wir uns ganz automatisch davon.

Letzten Endes geht es uns darum, ständig einen Geisteszustand wie Bodhichitta zu haben. Wir müssen uns nicht einmal an ihn erinnern, denn er ist ständig in unserem Gewahrsein. Wir sind uns stets Bodhichitta gewahr. Es gibt zwei Ebenen der Vergegenwärtigung. Vergegenwärtigung (tib. dran-pa) ist der geistige Klebstoff, der uns davon abhält, etwas zu vergessen. Wieder ist es notwendig, die Definition des Begriffes zu kennen. Das gleiche Wort benutzen wir dafür, uns etwas einzuprägen oder an etwas zu denken. Es geht nicht darum, etwas aus unserer Erinnerung abzurufen, sondern vielmehr darum, wirklich etwas im Geist zu behalten und es nicht zu verlieren. Es gibt die Vergegenwärtigung, mit der wir uns bemühen müssen, etwas im Geist zu behalten. Wir machen es uns bewusst und bewahren es mit dem geistigen Klebstoff, der Vergegenwärtigung, damit wir unser Gewahrsein dessen nicht verlieren. Und dann gibt es die mühelose Vergegenwärtigung, mit der dieser Geisteszustand einfach da ist. Wir müssen ihn nicht hervorrufen; er ist ganz automatisch und jederzeit da. Wir müssen uns nicht abmühen, uns die Sache ständig zu vergegenwärtigen, denn wir werden uns ganz automatisch gewahr sein. 

Es gibt noch ein anderes Gebiet der geistigen Landkarte, die wir in Bezug darauf verstehen müssen, wie die Geistesfaktoren miteinander verbunden werden. Sprechen wir über den Zustand von Vipassana, oder Vipashyana im Sanskrit, geht es darum in der Lage zu sein, in jeder Situation ganz genau zu wissen, was vor sich geht. Wir verfügen nicht nur über vollkommene Konzentration, Shamatha, sondern zusätzlich über diese unfassbare Schärfe des Geistes, mit dem wir alle Einzelheiten erkennen, ohne jedoch eine Unmenge geistiger Schubladen mit den dazugehörigen Worten in unserem Kopf zu haben. Wir müssen nicht sagen, dass es sich dabei um Vergegenwärtigung oder um diesen und jenen Faktor handelt. Wir verstehen es einfach und das ist ein überaus beflügelter Geisteszustand. Wir sehen einfach alles, was vor sich geht, als würden wir Dinge in einen hoch-auflösenden Fokus stellen. Haben wir diesen außergewöhnlich wahrnehmungsfähigen Zustand von Vipashyana, zusammen mit der Kraft des Mitgefühls, Bodhichitta, einem korrekten Verständnis der Leerheit und, wie im Anuttarayoga-Tantra, einem glückseligen Geisteszustand, verfügen wir über das mächtige Werkzeug, das uns zu Erleuchtung führt. All diese verschiedenen Faktoren arbeiten zusammen und das ist wirklich wunderschön. 

Die andere Sache, die wir vermeiden wollen – und dabei handelt es sich um eine große Gefahr, um Mara mit dämonischen Einflüssen – ist, durch die Schönheit dieser Darstellung wie hypnotisiert, fasziniert oder verleitet zu werden. Diese Erklärung des Geistes und der Arten der Wahrnehmung ist so schön, dass wir durch sie verleitet werden. All die Einzelheiten faszinieren uns so sehr, dass wir darin gefangen werden und die Schärfe unseres Geistes verlieren. Hier gilt es sehr vorsichtig zu sein. Das System und die Analyse sind fantastisch, aber wir sollten keine große Sache daraus machen.

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