Die Beziehung zwischen Objekten der drei Zeiten
Wir haben gesehen, dass es keinen gemeinsamen Nenner gibt für das „Resultat, das noch nicht stattfindet“, das „Resultat, das gegenwärtig stattfindet“ und das „Resultat, das nicht mehr stattfindet“. Man kann der Abfolge
- einer „karmischen Ursache, die gegenwärtig stattfindet“,
- der „karmischen Tendenz zu dem Resultat dieser karmischen Ursache, die gegenwärtig stattfindet“
- und dem „Resultat dieser karmischen Ursache und Tendenz, das gegenwärtig stattfindet“,
ein Kontinuum gültig zuschreiben.
Aber es gibt kein Kontinuum, das man der Abfolge von
- einem „Resultat, das noch nicht stattfindet“,
- einem „Resultat, das gegenwärtig stattfindet“
- und einem „Resultat, das nicht mehr stattfindet“
gültig zuschreiben kann.
Diese drei Resultate entstehen nicht der Reihe nach eines aus dem anderen, indem jedes in der Abfolge als herbeiführende Ursache für das nächste wirkt.
Wir können nicht einmal sagen, dass das „Resultat, das noch nicht stattfindet“ die Ursache der gleichen Art für das „Resultat, das gegenwärtig stattfindet“ ist. Sie ist so wie beispielsweise auf der äußeren Ebene das Modell eines Tonkrugs, das als Ursache gleicher Art für einen Tonkrug fungiert, den jemand herstellt. Trotzdem kann die farbige Form eines „Tonkrugs, der noch nicht stattgefunden hat“ der farbigen Form eines „Tonkrugs, der gegenwärtig stattfindet“ gleichen.
- Eine Ursache gleicher Art (tib. rigs-´dra´i rgyu) ist ein „Phänomen, das gegenwärtig stattfindet“ und das als ein Muster für etwas Nachfolgendes dient, das ihm gleicht. Eine solche Ursache kann zu der Zeit des Phänomens, das ihr nachgebildet ist, weiterhin als gültiges Phänomen gegenwärtig stattfinden oder sie kann bereits vergangen und daher zu dieser Zeit ein ungültiges Phänomen sein.
- Jemand hat beispielsweise im alten Griechenland einen „gegenwärtig stattfindenden Tonkrug“ hergestellt. Der Tonkrug zerbrach und ist vor Jahrhunderten zerfallen. Das einzig gültige Phänomen, von dem wir heute in Bezug auf diesen ursprünglichen Tonkrug sprechen können, ist der „Tonkrug, der nicht mehr stattfindet“.
Heute stellen wir einen „gegenwärtig stattfindenden Tonkrug“ her, der jenem ursprünglichen „gegenwärtig stattfindenden antiken griechischen Tonkrug“ nachgebildet ist. Die Ursache gleicher Art für den „Tonkrug, der gegenwärtig stattfindet und der heute ein gültiges Phänomen ist“ ist der ursprüngliche „antike griechische Tonkrug, der gegenwärtig stattfindet und heute ein ungültiges Phänomen ist, der aber vor Jahrhunderten ein gültiges Phänomen war“.
- Die Ursache gleicher Art oder das Modell des „Tonkrugs, der gegenwärtig stattfindet und der heute ein gültiges Phänomen ist“ ist nicht der vollkommen imaginäre „Tonkrug, der nicht mehr stattfindet und der heute ein gültiges Phänomen ist“ oder der vollkommen imaginäre „Tonkrug, der noch nicht stattfindet und der heute ein gültiges Phänomen ist“.
Wie ist nun die Beziehung zwischen einem „Resultat, das noch nicht stattfindet“ und einem „Resultat, das gegenwärtig stattfindet“?
Können wir, auch wenn wir zu der Zeit einer karmischen Tendenz, die zu einem Resultat führt, das „Resultat, das noch nicht stattfindet“ gültig wahrnehmen, zu dieser Zeit auch das „Resultat, das gegenwärtig stattfindet“ und das von dieser karmischen Tendenz hervorgebracht werden wird, erkennen? Wie wir festgestellt haben, ist die Antwort: „Nein“. Nicht einmal ein allwissender Buddha kann es gültig wahrnehmen, da es ein ungültiges Phänomen ist.
Um die Beziehung zwischen diesen beiden Resultaten zu verstehen, müssen wir das Thema der Gewissheit oder Ungewissheit von Karma untersuchen.
Gewissheit und Ungewissheit von karmischen Resultaten
Bei karmischen Impulsen, wie karmischen Ursachen – und somit karmischen Tendenzen – kann es Gewissheit (tib. nges-pa) oder Ungewissheit (tib. ma-nges-pa) geben sowohl in Bezug auf die Zeit, zu der sie ein „Resultat, das gegenwärtig stattfindet“ hervorbringen, als auch in Bezug darauf, ob sie überhaupt ein „Resultat, das gegenwärtig stattfindet“ hervorbringen. Es gibt jedoch keine Diskussion über Gewissheit oder Ungewissheit in Bezug darauf, was die besonderen Einzelheiten des „gegenwärtig stattfindenden Resultats“ sein werden, das aus der karmischen Ursache und Tendenz entstehen wird.
Die besonderen Einzelheiten und die Zeit des Entstehens werden durch viele Umstände beeinflusst, die alle veränderlich sind; und ob das Entstehen überhaupt stattfinden wird, hängt von der Anwendung von Gegenkräften ab. Nur einige Varianten sind möglich, aber es gibt eine große Spannweite dessen, was möglich ist. Aber das allwissende Gewahrsein (tib. kun-mkhyen) eines Buddha nimmt in einem Moment gleichzeitig alle Phänomene wahr, die noch nicht stattfinden, die gegenwärtig stattfinden und die nicht mehr stattfinden.
Nun erhebt sich die Frage: „Wenn ein Buddha eine karmische Tendenz im geistigen Kontinuum von jemandem wahrnimmt, nimmt er dann auch
- alle möglichen Resultate wahr, die allgemein möglicherweise stattfinden können, erkennt aber nicht, welche stattfinden werden?“
Das scheint unwahrscheinlich, insbesondere da ein „Resultat, das stattfinden kann oder wird, aber das noch nicht stattfindet“ sich nicht in ein gegenwärtig stattfindendes Resultat verwandelt.
„Oder nimmt ein Buddha
- das eine Resultat wahr, das noch nicht stattfindet, aber mit Sicherheit stattfinden wird,
- all die Resultate wahr, die noch nicht stattfinden und die stattfinden könnten, aber definitiv nicht stattfinden werden, und
- all die anderen Resultate wahr, die noch nicht stattfinden und die nie stattfinden können?“
Vielerlei mögliche Resultate einer karmischen Tendenz
Wie wir festgestellt haben, ist eine Facette einer karmische Tendenz deren „Fähigkeit zum Entstehen-Lassen des Resultats, das noch nicht stattgefunden hat“, und wir haben angemerkt, dass das, was dabei noch nicht stattfindet, das „Entstehen-Lassen ihres Resultats“ ist, wohingegen das Resultat, das sie entstehen lässt bzw. hervorbringt, ein „gegenwärtig stattfindendes Resultat“ ist. Eine karmische Tendenz hat jedoch die Fähigkeit, nicht nur ein festgelegtes „Resultat, das gegenwärtig stattfindet“ entstehen zu lassen. Sie hat die Fähigkeit, viele verschiedene „Resultate, die gegenwärtig stattfinden“ entstehen zu lassen. Dies wird durch die Tatsache gezeigt, dass starke Reue die Fähigkeit der karmischen Tendenz, ihr Resultat hervorzubringen, beeinflussen kann, sodass das „gegenwärtig stattfindende Resultat“, das sie hervorbringt, weniger stark sein wird.
Eine karmische Tendenz hat also vielerlei Facetten der „Fähigkeit zum Entstehen-Lassen eines Resultats“. Jede davon ist mit einer anderen Facette der karmischen Tendenz verbunden, nämlich ihrem „zeitweiligen Nicht-Hervorbringen ihres gegenwärtig stattfindenden Resultats, solange die Umstände für das Entstehen des Resultats unvollständig sind“. Jede dieser Facetten von „zeitweiligem Nicht-Hervorbringen ihres Resultats“ ist die Grundlage für die Zuschreibung eines „Noch-nicht-Stattfindens des jeweiligen möglichen Resultats“. Folglich gibt es viele „Resultate dieser karmischen Tendenz, die noch nicht stattfinden“, welche gültige Phänomene sind, nämlich gültig erkennbar zu der Zeit der karmischen Tendenz.
Wie wir festgehalten haben, wird das tatsächliche „gegenwärtig stattfindende Resultat“, das von der karmischen Tendenz hervorgebracht wird, von verschiedenen Umständen abhängen. Solange also die karmische Tendenz die Facette des „zeitweiligen Nicht-Hervorbringens ihres gegenwärtig stattfindenden Resultats hat, solange die Umstände für das Entstehen des Resultats unvollständig sind“, ist es ungewiss, was das „gegenwärtig stattfindende Resultat“ tatsächlich sein wird. Was es sein wird, entsteht abhängig von den Umständen. Aber ist das für jeden unsicher?
Was gewöhnliche Wesen wahrnehmen
Gewöhnliche Wesen (tib. so-so´i skye-bo) – Wesen, die noch nicht Aryas sind – nehmen die karmischen Tendenzen usw., die ihrem eigenen geistiges Kontinuum oder von anderen Personen zugeschrieben sind, nicht gültig wahr. Nichtsdestoweniger können sie eventuell aufgrund einer Besonderheit ihres Wiedergeburtszustands oder einer Nachwirkung starker Eindrücke von Errungenschaften aus Meditationspraxis in früheren Leben einige „Resultate, die noch nicht stattfinden“ gültig wahrnehmen. Die meisten gewöhnlichen Wesen haben aber keine derartige gültige Wahrnehmung.
Wenn gewöhnliche Wesen jemanden sehen, der etwas erlebt, z.B. das „gegenwärtige Stattfinden, dass diese Person mit einem Tonkrug auf den Kopf geschlagen wird“, können sie mit schlussfolgernder Wahrnehmung, die auf Überzeugung basiert, gültig erkennen, dass dieses gegenwärtig stattfindende Ereignis das Resultat einer karmischen Ursache ist.
- Schlussfolgernde Wahrnehmung, die auf Überzeugung basiert (tib. yid-ches rjes-dpag), ist eine gültige Art, extrem verschleierte Phänomene (tib. shin-tu lkog-gyur) wahrzunehmen, z.B. die Einzelheiten von Karma.
- Extrem verschleierte Phänomene sind solche, für deren Wahrnehmung es erforderlich ist, sich auf zuverlässige Texte oder Reden zu stützen, z.B. die erleuchtenden Worte eines Buddha.
Auch wenn gewöhnliche Wesen auf gültige Weise allgemein verstehen können, dass dieses gegenwärtig stattfindende Ereignis Resultat einer karmischen Ursache ist, können sie sich nur durch Vermutung (tib. yid-dpyod) zusammenreimen, was die besondere karmische Ursache dafür war. Wenn sie sich solch eine karmische Ursache – in der vollkommen imaginären Form einer „karmischen Ursache, die nicht mehr stattfindet“ – vorstellen, ähnelt das, was sie sich darunter vorstellen, möglicherweise keineswegs dem „gegenwärtig stattfindenden Ereignis“, das schließlich auftritt. Ihre mutmaßliche Wahrnehmung kann zudem von unentschlossenem Schwanken (tib. the-tshoms) begleitet sein, da sie keine Gewissheit haben, was die besondere Ursache war.
Was die „gegenwärtig stattfindenden karmischen Tendenzen, die zeitweilig ihre Resultate nicht hervorbringen“ im geistigen Kontinuum von jemandem sowie ihre karmischen Ursachen und karmischen Resultate betrifft, können gewöhnliche Wesen, wenn sie jemanden sehen, nur vermuten, dass solche Dinge existieren. Die völlig imaginären Formen der „karmischen Ursachen, die nicht mehr stattfinden“ und „Resultate, die noch nicht stattfinden“, die mit diesen „gegenwärtig stattfindenden karmischen Tendenzen“ verbunden sind, sind noch ungewissere vermutende Annahmen, die auf dem beruhen, was in der westlichen Wahrnehmungstheorie „Intuition“ genannt wird.
Vom Gesichtspunkt gewöhnlicher Wesen aus gibt es also gar keine Gewissheit, welches Resultat aus einer karmischen Ursache und Tendenz heranreifen wird.
Was Arya-Bodhisattvas wahrnehmen
Arya-Bodhisattvas mit einem Geisteszustand auf der ersten bis zur zehnten Bodhisattva-Ebene haben noch nicht das allwissende Gewahrsein eines Buddha. Nichtsdestoweniger können sie mit höher entwickeltem Gewahrsein die karmischen Tendenzen im geistigen Kontinuum von jemandem wahrnehmen und sogar die verschiedenen Fähigkeiten jeder Tendenz, ein mögliches Resultat entstehen zu lassen. Sie können auch in Verbindung mit diesen verschiedenen „Fähigkeiten zum Entstehen-Lassen eines Resultats“ eine bestimmte Spannweite „möglicher Resultate, die noch nicht stattfinden“ gültig wahrnehmen. Sie sind aber nicht imstande, unter all den „möglichen Resultaten einer speziellen karmischen Tendenz, die noch nicht stattfinden“ vollständig unter denjenigen zu unterscheiden, die vergehen, wenn
- ein „Resultat, das gegenwärtig stattfindet“ entsteht (tib. skye-ba) – z.B. die körperliche Empfindung, mit einem Tonkrug auf den Kopf geschlagen zu werden,
- eine nicht-analytische Beendigung des „Resultats, das nie stattfand“ – z.B. der körperlichen Empfindung, mit einem Tonkrug auf den Kopf geschlagen zu werden - erlangt wird (tib. thob-pa), sobald diese karmische Tendenz zu etwas anderem herangereift ist, für das sie ebenfalls die Fähigkeit hatte, es entstehen zu lassen – z.B. die körperliche Empfindung, von einer Feder auf den Kopf getroffen zu werden, aufgrund von starker Reue über die karmische Ursache für die Tendenz,
- eine analytischen Beendigung des „Resultats, das nie stattfand“ - z. B. der körperlichen Empfindung, mit einem Tonkrug auf den Kopf geschlagen zu werden – erlangt wird, sobald diese karmische Tendenz mit dem Erreichen der Befreiung vollkommen bereinigt wurde.
Der Grund für diese Unfähigkeit von Arya-Bodhisattvas, unter diesen drei Gruppen vollständig zu unterscheiden, ist der begrenzten Umfang ihres höher entwickelten Gewahrseins. Entsprechend der jeweiligen Ebene ihres Geisteszustands auf den Bodhisattva-Ebenen sind sie fähig, diese Phänomene - karmische Tendenzen usw. – lediglich innerhalb der Spannweite einer bestimmten Anzahl von Äonen wahrzunehmen.
Bei Arya-Bodhisattvas mit einem Geisteszustand der ersten Bodhisattva-Ebene z.B. reicht die Spannweite von hundert Äonen vor bis hundert Äonen nach dem gegenwärtig stattfindenden Moment. Solche Wesen nehmen eine karmische Tendenz im geistigen Kontinuum von jemandem mit der Gewissheit in Bezug darauf, zu was sie heranreifen wird, gültig wahr, jedoch nur innerhalb der Spannweite des Umfangs dieser Anzahl von Äonen. Im Falle der Arya-Bodhisattvas der ersten Ebene hängt diese Eigenschaft des Geistes auch von ihrer gültigen Erkenntnis folgender Phänomene ab:
- der „Ursachen und Umstände, die das Heranreifen dieser karmischen Tendenz beeinflussen, die aber nicht mehr stattfinden“ und „deren Nicht-mehr-Stattfinden“, soweit dies innerhalb der Zeitspanne von Hundert Äonen vor dem „gegenwärtig stattfindenden Moment“ des „gegenwärtigen Stattfindens der karmischen Tendenz“ eintrat,
- all der „Resultate, für die diese karmische Tendenz die Fähigkeit hat, sie innerhalb der nächsten hundert Äonen entstehen zu lassen, die jedoch noch nicht stattfinden“,
- welche dieser Resultate innerhalb von hundert Äonen als „Noch-nicht-Stattfinden“ vergehen werden und welche nicht, wobei diese Unterscheidung nur auf den Ursachen und Umständen beruht, die sie gültig wahrgenommen haben,
- welche von denen, die vergehen werden, aufgrund welcher der folgenden drei Möglichkeiten vergehen werden, die in Bezug auf das „Resultat, für das die Tendenz die Fähigkeit hat, es entstehen zu lassen“ eintreten können: (1) Auftreten des „gegenwärtigen Stattfindens dieses Resultats“, (2) Erlangen „seines Niemals-Stattfindens“ als nicht-analytische Beendigung oder (3) Erlangen „seines Niemals-Stattfindens“ als analytische Beendigung.
Vom Gesichtspunkt der Arya-Bodhisattvas aus besteht also Gewissheit darüber, welches Resultat aus einer karmischen Ursache und Tendenz innerhalb einer bestimmten Zeitspanne heranreifen wird, aber keine Gewissheit über diese Zeitspanne hinaus.
Was Buddhas wahrnehmen
Das spezielle Resultat einer karmischen Tendenz kann, unter all den vielen „gegenwärtig stattfindenden Resultaten, für die sie die Fähigkeit zum Entstehen-Lassen hat“, nur dann entstehen, wenn alle Ursachen und Bedingungen, von denen es abhängt, vollständig sind und gleichzeitig gegenwärtig auftreten. Da das „gegenwärtige Stattfinden“ jeder dieser Ursachen und Bedingungen aus seinen eigenen Ursachen und Bedingungen entsteht, kann nur das allwissende Gewahrsein eines Buddha alle ursächlichen Faktoren wahrnehmen, die bestimmen, welches spezielle „gegenwärtig stattfindende Resultat“ aus einer karmischen Tendenz hervorgeht, die die Fähigkeit hat, zahlreiche Resultate hervorzubringen. Ein Buddha weiß also genau, was aus jeder karmischen Tendenz im geistigen Kontinuum eines jeden Wesens mit begrenztem Bewusstsein heranreifen wird.
- Wie wir schon betont haben sind derartige „gegenwärtig stattfindenden Resultate“ ungültige Phänomene, die unmöglich jetzt auftreten können und die keine auffindbare wahrhafte Existenz besitzen, welche von ihrer eigenen Seite aus bestehen würde. Sie und das, was daraus folgt, sind auf abhängige Weise entstehende Phänomene.
Vom Gesichtspunkt der Buddhas aus gibt es also Gewissheit, was für ein Resultat aus einer karmischen Ursache und Tendenz heranreifen wird.
Die Gültigkeit verschiedener Gesichtspunkte in Bezug auf die Gewissheit
Lassen Sie uns ein Beispiel heranziehen, das uns hilft, dieses scheinbare Paradox bezüglich der Gewissheit oder Ungewissheit, welches karmische Resultate aus einer karmischen Ursache und Tendenz heranreifen wird, zu verstehen.
Ein konventionell existierendes Phänomen kann z.B. von Menschen als Joghurt, von Klammergeistern als Eiter, von himmlischen Wesen als Nektar wahrgenommen werden, und jede dieser drei Wahrnehmungen ist gültig in Bezug auf die jeweilige dieser drei Arten von Wesen. Die Existenz als Joghurt, Eiter oder Nektar wird nicht von der Seite des existierenden Objektes begründet, sondern entsteht abhängig davon, dass es ein Bezugsobjekt (der Bezeichnung) für das gültige geistige Zuschreiben durch eine Klasse von Lebewesen ist.
Das Gleiche ist auch der Fall im Hinblick auf eine konventionell existierende karmische Tendenz. In Bezug darauf, zu welchem von den verschiedenen Phänomenen, zu denen sie heranreifen kann, heranreifen wird, kann die karmische Tendenz folgendermaßen gültig wahrgenommen werden:
- von gewöhnlichen Wesen so, dass diesbezüglich keine Gewissheit besteht,
- von Arya-Bodhisattvas so, dass diesbezüglich Gewissheit nur innerhalb der Spannweite einer bestimmten Anzahl von Äonen besteht,
- von Buddhas so, dass diesbezüglich Gewissheit besteht.
Jede der drei Wahrnehmungen karmischer Tendenzen in Bezug auf den Faktor der Gewissheit darüber, zu welchem der „gegenwärtig stattfindenden Resultate“, die sie entstehen lassen können, heranreifen wird – also die Wahrnehmung dessen bei gewöhnlichen Wesen, bei Arya-Bodhisattvas und bei Buddhas - ist gültig in Bezug auf diejenige Gruppe der Wesen, die diese Wahrnehmung hat.
- Diese Unterscheidung dreier gültiger Wahrnehmungen – solche bei gewöhnlichen Wesen, Arya-Bodhisattvas und Buddhas – entspricht der analytischen Struktur, die im Buddhismus üblich ist, nämlich derjenigen der Ebenen von Grundlage, Pfad und Ergebnis.
Auf Seiten der karmischen Tendenz gibt es nichts, das durch eigene Kraft oder durch eigene Kraft in Verbindung damit, dass bestimmte Bedingungen vollständig vorhanden sind, diese Gewissheit begründet.
- Des Weiteren gibt es weder auf Seiten des „gegenwärtig stattfindenden Resultats“ das aus einer karmischen Tendenz hervorgehen wird, noch auf Seiten des „noch nicht stattfindenden Resultats“, das dem „gegenwärtig stattfindenden Resultat“ ähnelt, irgendetwas, das die Existenz eines Gewissheits-Faktors begründet.
Das Heranreifen einer karmischen Tendenz zu einem bestimmten Resultat entsteht in Abhängigkeit davon, dass unzählige Ursachen und Bedingungen vollständig sind.
Die Existenz des Faktors von Gewissheit in Bezug darauf, welches Resultat heranreifen wird, wird auf abhängige Weise so begründet, dass er lediglich dasjenige Objekt ist, auf das sich die geistige Benennung „Gewissheit“ bezieht, die von jeder dieser drei Gruppen einer unterschiedlichen Spannweite von Ursachen und Bedingungen, welche das Auftreten des Resultats beeinflussen, gültig zugeschrieben wird.
Was die Spannweite der Ursachen und Bedingungen betrifft, die das Auftreten eines karmischen Resultat beeinflussen, müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass jedes Ereignis, das von jemandem erfahren wird, aus fünf Aggregat-Faktoren besteht. Wie wir im Zusammenhang mit dem Beispiel des Ereignisses derjenigen Erfahrung analysiert haben, dass man von jemandem mit einem Tonkrug auf den Kopf geschlagen wird, beinhaltet dieses Ereignis, neben vielen anderen Faktoren, Folgendes:
- ein gegenwärtig stattfindendes Körperbewusstsein der physischen Empfindung und des Schmerzes, mit einem Tonkrug auf den Kopf geschlagen zu werden,
- den gegenwärtig stattfindende Geistesfaktor, die Person, die uns mit dem Tonkrug auf den Kopf geschlagen hat, zurückzuschlagen,
- das gegenwärtig stattfindende visuelle Bewusstsein, die Person zu sehen, die uns geschlagen hat, während wir sie zurückschlagen wollen,
- das gegenwärtig stattfindende Gefühl von Unglücklichsein, das auf fünffache Weise mit dem Körper- und dem Augenbewusstsein übereinstimmt, eine gegenwärtig stattfindende störende Emotion von Ärger, die ebenfalls auf fünffache Weise mit dem Körper- und dem Augenbewusstsein übereinstimmt,
- unseren menschlichen Körper, seine physischen Elemente und physischen Sensoren, aber nur in dem Zusammenhang, dass sie als physische Grundlage für die oben erwähnten Bedingungen dienen.
Jeder Punkt der obigen Liste ist das Resultat einer unterschiedlichen Tendenz als seiner herbeiführenden Ursache. Jede dieser Tendenzen hat zahlreiche „Fähigkeiten, dieses oder ein anderes Resultat entstehen zu lassen“ sowie zahlreiche Facetten von „zeitweiligen Nicht-Hervorbringen dieses oder eines anderen jener Resultate“. Jede dieser Facetten ist die Grundlage für die Zuschreibung des „Noch-nicht-Stattfindens der jeweiligen dieser Resultate“.
Unter all den „Resultaten, für die jede dieser Tendenzen die Fähigkeit zum Entstehen-Lassen hat, die aber noch nicht stattfindet“, gibt es für jede dieser Tendenzen ein „Resultat, das noch nicht stattgefunden hat“, welches dem „gegenwärtig stattfindenden Resultat, das tatsächlich aus dieser Tendenz entsteht“ ähnelt.
- Erinnern Sie sich daran, dass keines dieser „Resultate, die noch nicht stattgefunden haben“ sich in das entsprechende „Resultat, das gegenwärtig stattfindet“ verwandelt, welches einen Bestandteil des Ereignisses ausmachen wird, das jemand später erfahren wird.
Buddhas nehmen all die „nicht mehr stattfindenden Phänomene“, „gegenwärtig stattfindenden Phänomene“ und „noch nicht stattfindenden Phänomene“ gleichzeitig wahr, welche gültige Phänomene sind, die im geistigen Kontinuum eines jeden Wesens, einschließlich ihrer selbst, oder als äußere Phänomene auftreten.
- Diese Wahrnehmung ist die allwissende Wahrnehmung der drei Zeiten.
- Ein Buddha nimmt die „gegenwärtig stattfindenden Ursachen“ von irgendeinem der obigen Phänomene nicht wahr, wenn diese „gegenwärtig stattfindenden Ursachen“ zu der Zeit des Moments seiner Wahrnehmung ungültige Phänomene sind. Denn diese „gegenwärtig stattfindenden Ursachen“ finden nicht zu diesem Zeitpunkt gegenwärtig statt.
- Ähnlich gilt: Buddhas nehmen die „gegenwärtig stattfindenden Resultate“ von irgendeinem der obigen Phänomene nicht wahr, wenn diese „gegenwärtig stattfindenden Resultate“ zu der Zeit des Moments ihrer Wahrnehmung ungültige Phänomene sind. Denn diese „gegenwärtig stattfindenden Resultate“ finden zu diesem Zeitpunkt ebenfalls nicht gegenwärtig statt.
Ferner gibt es für das allwissende Gewahrsein eines Buddha keine Einschränkung in Bezug auf den Zeitraum, innerhalb dessen die gesamte Spannweite dieser „gegenwärtig stattfindenden Ursachen“ gegenwärtig stattfanden und innerhalb dessen die gesamte Spannweite dieser „gegenwärtig stattfindenden Resultate“ gegenwärtig stattfinden werden. Folglich nehmen Buddhas die vollständige Grundlage für die Zuschreibung des Faktors von Gewissheit darüber wahr, welches Resultat als Folge der „gegenwärtig stattfindenden Ursachen und Bedingungen“ heranreifen wird. Überdies gilt dieser Gewissheits-Faktor für jeden Bestandteil, der jedes künftige Ereignis mit ausmachen wird. Somit kennt nur ein Buddha das gesamte Ausmaß von Karma und, allgemein, das gesamte Ausmaß von Ursache und Wirkung.
Weil gewöhnliche Wesen nicht imstande sind, ein signifikantes Ausmaß der Grundlage für die Zuschreibung dieses Faktors von Gewissheit wahrzunehmen, haben sie also keine Gewissheit, was geschehen wird. Weil gewöhnliche Wesen bezüglich „der Zukunft“ diese Ungewissheit erfahren, erleben sie dann die Entscheidungen, die sie treffen, als eine Folge ihrer „Wahl“. Der Grund dafür ist, dass sie nicht das vollständige Ausmaß der Faktoren kennen, die ihre so genannte „Wahl“ beeinflussen. Nichtsdestotrotz ist ihre Wahrnehmung von „Auswahl“ und „Wahl“ für sie gültig, genauso wie für die Buddhas deren Wahrnehmung von Gewissheit gültig ist.
Weitere Untersuchung der Gültigkeit verschiedener Gesichtspunkte im Hinblick auf Gewissheit
Es ist nicht so, dass die konventionelle Wahrheit (tib. kun-rdzog bden-pa, relative Wahrheit, oberflächliche Wahrheit) darin besteht, dass es keine Gewissheit darüber gibt, welches Resultat auftreten wird, die tiefste Wahrheit (tib. don-dam bden-pa) hingegen darin, dass es Gewissheit gibt.
- Gemäß dem Prasangika-System in der Darstellung der Gelug-Tradition betrifft die konventionelle bzw. oberflächliche Wahrheit über etwas dessen Erscheinungsweise (tib. snang-tshul).
- Die tiefste Wahrheit über etwas betrifft dessen Existenzweise (tib. gnas-tshul); das bezieht sich darauf, was seine Existenz begründet.
Es ist nicht so, dass es fälschlich so scheint, als gäbe es keine Gewissheit, während es tatsächlich Gewissheit gibt. Die Tatsachen, dass es (1) vom Gesichtspunkt der Grundlage gewöhnlicher Wesen so erscheint, dass es keine Gewissheit gibt, (2) vom Gesichtspunkt der Arya-Bodhisattvas so, dass es ein bestimmtes Ausmaß an Gewissheit und ein bestimmtes Ausmaß an Ungewissheit gibt, und (3) vom resultierenden Gesichtspunkt der Buddhas so, dass es Gewissheit gibt, sind alle konventionelle, relative, oberflächliche Wahrheiten über ursächliche Abfolgen.
- Vom Gesichtspunkt der Erscheinungsweise des Ausmaßes dessen, was sie sind (tib. ji-snyed-kyi snang-tshul), sind alle drei Erscheinungen insofern im Einklang stehende konventionelle Wahrheiten (tib. tshul-bzhin kun-rdzob bden-pa), als sie genau damit übereinstimmen, was der jeweiligen Klasse von Wesen auf gültige Weise erscheint.
- Vom Gesichtspunkt der Erscheinungsweise davon, wie ihre Existenz begründet ist (tib. ji-ltar-gyi snang-tshul), erscheinen gewöhnlichen Wesen und Arya-Bodhisattvas die Ungewissheit bzw. die Gewissheit und Ungewissheit so, als wären diese wahrhaft von Seiten der ursächlich miteinander verbundenen Phänomene her begründet, wohingegen den Buddhas die Gewissheit nicht so erscheint, als wäre sie wahrhaft von Seiten der ursächlich miteinander verbundenen Phänomene her begründet.
- Diese Erscheinungsweisen, wie die Existenz des Faktors der Gewissheit begründet ist, sind eigentlich das, was der jeweiligen Klasse dieser Wesen tatsächlich erscheint. Im Falle gewöhnlicher Wesen und Arya-Bodhisattvas ist diese Erscheinungsweise trügerisch (tib. khrul-ba). Sie ist eine nicht im Einklang stehende konventionelle Wahrheit (tib. tshul-min kun-rdzob bden-pa): Die Art und Weise der Erscheinung stimmt nicht mit der eigentlichen Art und Weise ihrer Existenz überein. Im Falle von Buddhas ist diese Art und Weise der Erscheinung eine im Einklang stehende konventionelle Wahrheit.
Kurz gesagt: Die Gewissheit darüber, welches Resultat aus einem Netzwerk von Ursachen und Umständen entstehen wird, ist nicht auf Seiten der Ursachen und Umstände begründet oder auf Seiten all der möglichen „Resultate, die noch nicht stattfinden“ oder auf Seiten des tatsächlichen „Resultats, das gegenwärtig stattfindet“, welches auftritt. Der Gewissheits-Faktor entsteht abhängig im Sinne geistiger Zuschreibung. Genauer gesagt:
- Der Faktor von Gewissheit entsteht in Abhängigkeit von dem Ausmaß der Grundlage für die Zuschreibung von Gewissheit.
- Dieses Ausmaß entsteht wiederum in Abhängigkeit von der Spannweite dessen, was der Geist, der diese Gewissheit gültig zuschreibt, wahrnehmen kann.
- Diese Spannweite wiederum hängt von der Ebene der Errungenschaften des Geistes ab, der den Faktor der Gewissheit geistig zuschreibt und dem dieser Faktor der Gewissheit erscheint.