An diesem Wochenende werden wir über die Bodhisattva-Gelübde sprechen. Um verstehen zu können, was Bodhisattva-Gelübde sind, müssen wir die Grundlagen kennen und wissen, was ein Bodhisattva und was Bodhichitta ist. Diesbezüglich gibt es zahlreiche Zitate und Quellen, in denen darauf hingewiesen wird, wie wichtig es ist, Bodhisattva-Gelübde abzulegen, sie einzuhalten und Bodhichitta zu entwickeln, um Erleuchtung zu erlangen.
Was ist nun also Bodhichitta? Bodhichitta ist ein Geisteszustand mit vielen Komponenten. Wenn wir Bodhichitta hervorbringen, sprechen wir von zwei Phasen. Zunächst richten wir unsere Aufmerksamkeit mit Liebe und Mitgefühl auf alle unerleuchteten Wesen. Liebe ist der Wunsch, die anderen mögen glücklich sein und die Ursachen für Glück besitzen, und Mitgefühl ist der Wunsch, sie mögen frei von Leiden und den Ursachen des Leidens sein. Und diesen Wunsch hegen wir gleichermaßen gegenüber allen.
Bei dem Wunsch, sie mögen frei von Leiden sein, geht es um die tiefste Ebene, nicht nur um das Erfahren von Unglück und Schmerz. Es geht nicht einfach nur um das Leiden, welches mit unserem gewöhnlichen Glück verbunden ist, der Sorte von Glück, die nie andauert, uns nicht zufriedenstellt und die sich in Unglück und Unbehagen verwandelt, wenn wir beispielsweise zu viel von unserer Lieblingsspeise essen und krank davon werden. Zusätzlich zu diesen zwei Dingen wünschen wir ihnen jedoch, sie mögen frei von dem alles umfassenden Leiden sein, der unkontrollierbar sich wiederholenden Wiedergeburt, dem so genannten „Samsara.“ Dieses alles umfassende Leiden ist die Grundlage dafür, dass wir diese ersten beiden Arten des Leidens erfahren. Samsara bedeutet, unter dem Einfluss von Unwissenheit, störenden Emotionen und darauf basierenden karmischen Handlungen, ständig wiedergeboren zu werden. Unter dem Einfluss dieser Faktoren haben wir dann die Art von Körper und Geist, die dem Leiden des Unglücklichseins und des gewöhnlichen, nicht zufriedenstellenden Glücklichseins unterliegt, welches man als Wirkung auf das karmische Verhalten erfährt. Mit karmischem Verhalten meinen wir das Verhalten unter dem Einfluss von Unwissenheit in Bezug auf Ursache und Wirkung und Unwissenheit in Bezug auf die Realität. Wir wünschen uns also, die anderen mögen frei von dieser Art des tiefgreifenden Leidens und dessen Ursachen sein. Die am tiefsten greifende Ursache ist die Unwissenheit in Bezug auf die Realität.
Bei der Liebe geht es darum, ihnen zu wünschen, sie mögen glücklich sein. Das bezieht sich nicht auf das gewöhnliche Glück, welches uns nie zufriedenstellt, obwohl es immer noch besser ist, als Schmerzen zu erfahren oder unglücklich zu sein. Aber auf einer tieferen Ebene wünschen wir ihnen das Glück der Befreiung und Erleuchtung und dieses Glücklichsein entsteht, wenn wir frei von den so genannten „Schleiern des Geistes“ sind. Es gibt zwei Arten von Schleiern. Zum einen sind das Schleier, die durch störende Emotionen hervorgerufen werden und Befreiung verhindern, und zum anderen Schleier, die den allwissenden Zustand eines Buddhas abwenden und so verhindern, den Zusammenhang von allem, von Ursache und Wirkung, vollständig zu verstehen; und dieses Verständnis ist notwendig, wenn man anderen bestmöglich helfen will.
Wenn wir frei von diesen Begrenzungen, von diesen zwei Arten von Schleiern (entweder von einem oder von beiden) sind, erfahren wir unbändige Freude, die nicht endet. Sie ist nicht zu vergleichen mit der Freude, die wir erfahren, wenn wir unsere Lieblingsspeise essen und uns schließlich unwohl fühlen, je mehr wir davon genießen. Mit dieser Art des gewöhnlichen Glücks kann man es keineswegs vergleichen. Wir wünschen uns, sie mögen die Ursachen für dieses nicht enden wollende Glücklichsein, also Befreiung und Erleuchtung, erfahren.
Diese Liebe und dieses Mitgefühl gründen auch auf dem soliden Verständnis und der festen Überzeugung, dass es tatsächlich für jeden möglich ist, frei von Leiden zu sein und dieses unendliche Glück zu erfahren. Es handelt sich also nicht einfach nur um einen Wunsch, von dem wir meinen, er könne nie wirklich in Erfüllung gehen. Vielmehr sind wir überzeugt, dass es möglich ist und wir übernehmen auch die Verantwortung dafür, diese Freiheit vom Leid und das Erlangen von Glück zu bewirken. Wir übernehmen die Verantwortung und fassen den außergewöhnlichen Entschluss, es zu tun, auch wenn wir es ganz allein tun müssen.
Das ist die erste Phase. Dieses Mitgefühl, die Liebe und der außergewöhnliche Entschluss der ersten Phase, all das läuft in gewissem Sinn im Hintergrund weiter. In der zweiten Phase, der eigentlichen Phase des Bodhichitta, ändern wir unseren Fokus und richten uns, statt auf alle begrenzten Wesen (mit anderen Worten, auf alle, die noch keine Buddhas sind), nun auf unsere eigene, persönliche Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat. Aber wir wissen, dass sie stattfinden kann und sind überzeugt davon. Sie kann aufgrund der so genannten „Buddhanatur“ stattfinden. Unter Buddhanatur verstehen wir jene Faktoren, die uns erlauben, Buddhaschaft zu erlangen und die verschiedenen Körper eines Buddha zu erzeugen – technisch gesehen den Formkörper, den Geist eines Buddha usw.
Das bezieht sich im Wesentlichen auf die grundlegende Reinheit des Geistes. Der Geist ist in seiner grundlegenden Natur nicht durch diese Begrenzungen oder Schleier befleckt. Sie sind nur oberflächlich vorhanden und können beseitigt werden, sodass sie nie wieder in Erscheinung treten. Wir sind dazu in der Lage, dies zu aktivieren und für immer auf dieser tiefsten Ebene des Geistes, der nicht befleckt ist, zu bleiben, denn die Ebene, auf der diese Makel, Begrenzungen oder Verwirrungen auftreten, sind grobere Ebenen des Geistes. Der Geist ist nicht durch unmögliche Existenzweisen befleckt. Wenn wir das verstehen und unsere Aufmerksamkeit kontinuierlich darauf richten können, ist es möglich, auf dieser Grundlage, der so genannten „Leerheit des Geistes", und auf der Grundlage unseres Verständnisses davon, auf dieser fundamentalen, unbefleckten Ebene, der Ebene, die nicht durch diese flüchtigen Verwirrungen befleckt ist, zu bleiben.
Auf der Grundlage der subtilsten Energie, die mit dieser tiefsten Ebene des Geistes verbunden wird, und auf der Grundlage der Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins, bei denen es sich in erster Linie um die positive Kraft handelt, die von diesem Kontinuum der tiefsten Ebene getragen wird, werden wir aus dieser subtilsten Energie die verschiedenen Formkörper eines Buddhas erzeugen und in ihnen erscheinen können. Die Formkörper, die Erscheinungen eines Buddha, bestehen, ob grob oder subtil, aus dieser subtilsten, reinen Energie. Sie kann mit den groben Elementen, wie Erde, Wasser usw., verbunden sein, aber diese groben Elemente machen nicht den Formkörper des Buddha aus, sondern es ist die subtile Energie, die auf dieser Basis mit ihnen verbunden ist. Das ist eine recht kurze Zusammenfassung der Buddhanatur und es tut mir leid, wenn es vielleicht zu viele Informationen auf einmal waren, aber das ist nicht unser Hauptthema.
Wie dem auch sei, wir richten uns auf diesen Aspekt unseres geistigen Kontinuums, auf die Aspekte der Buddhanatur aus: die Leerheit des Geistes, die grundlegende Reinheit des Geistes, die tiefste subtile Energie des Geistes, die Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins. Auf dieser Grundlage können wir von einer noch nicht eingetretenen Erleuchtung ausgehen, von der wir wissen, dass wir sie erlangen können, um eine gegenwärtig sich ereignende Erleuchtung zu erfahren, wenn wir diese zwei Netzwerke der positiven Kraft und des tiefen Gewahrseins stärken und vervollkommnen. Mit Bodhichitta richten wir unsere Aufmerksamkeit auf diese Dinge. Wie tun wir das nun? Indem wir diese noch nicht eingetretene Erleuchtung repräsentieren. Dabei handelt es sich um unsere persönliche, noch nicht eingetretene Erleuchtung, nicht jene von Shakyamuni Buddha oder irgendeine vor uns im Himmel. Wir können sie repräsentieren, indem wir einen Buddha visualisieren (das wäre die übliche Methode), oder wir visualisieren unseren eigenen spirituellen Lehrer oder einen Lehrer der Übertragungslinie, der diese Erleuchtung für uns repräsentiert. Im Mahamudra oder Dzogchen würde die Methode darin bestehen, sich auf die grundlegende Reinheit des Geistes zu auszurichten, aber das ist ziemlich schwierig.
Der Fokus, das Ausrichtungsobjekt von Bodhichitta, ist diese noch nicht eingetretene Erleuchtung und es gibt zwei Absichten, die damit einhergehen. Die erste Absicht besteht darin, diese Erleuchtung tatsächlich zu erlangen, die sich noch nicht ereignet hat und die zweite ist, allen Wesen dadurch von Nutzen sein zu können. Mit anderen Worten stützt sich das auf die Liebe, das Mitgefühl und den außergewöhnlichen Entschluss, die wir in der ersten Phase entwickelt haben. Und natürlich versuchen wir auf dem Weg, bis hin zum Erlangen der Erleuchtung, so vielen Wesen wie möglich zu helfen. Die Bodhisattva-Gelübde werden uns Richtlinien geben, wie wir das umsetzen können, wie wir anderen so gut wie möglich von Nutzen sein können und welche Dinge wir vermeiden müssen, die unsere Fähigkeit, anderen zu helfen, behindern würden. Die Gelübde sind im Grunde immer so formuliert, uns zu sagen, was wir vermeiden sollten und was sich nachteilig auf unser Entwickeln von Bodhichitta und unserem Helfen anderer auswirken würde.
Um nun diese Geisteshaltung des Bodhichitta zu entwickeln und die Bodhisattva-Gelübde ablegen zu können, müssen wir darauf hinarbeiten, diese Geisteshaltung des Bodhichitta zu haben. Und das hängt natürlich mit einem langen Prozess der Entwicklung, spiritueller Entwicklung, zusammen, bei der wir uns der Kostbarkeit der menschlichen Wiedergeburt bewusst werden und erkennen, dass sie nicht ewig währen wird. Wir haben also ein Verständnis von Tod und Vergänglichkeit und sind fest von der Wiedergeburt überzeugt. Wir erkennen: wenn wir keine vorbeugenden Maßnahmen ergreifen (was die Bedeutung des Wortes: „Dharma“ ist), um eine schlechte Wiedergeburt in der Zukunft zu vermeiden, werden wir in einer Situation wiedergeboren, in der es uns nicht möglich sein wird, unsere spirituelle Entwicklung weiterzuführen. Wir sind uns all dessen bewusst und nehmen es sehr ernst. Und um eine schlimmere Wiedergeburt zu vermeiden und weiter auf dem spirituellen Pfad gehen zu können, schlagen wir eine sichere Richtung in unserem Leben ein; das wird „Zuflucht“ genannt. Diese Ausrichtung wird repräsentiert durch den Buddha, durch seine Errungenschaften und Lehren und durch jene, die all das, zumindest in gewissem Grade, verwirklicht haben, was der Buddha verwirklicht hat – also Buddha, Dharma und Sangha. Das ist die Ausrichtung, die wir in unserem Leben einschlagen. Wir nehmen diese Richtung, weil wir schlimmere Wiedergeburtszustände vermeiden wollen und weil wir überzeugt sind, dass dieser Weg uns sowohl dabei helfen wird, dies zu vermeiden, als auch unsere spirituellen Ziele der Befreiung und Erleuchtung zu erreichen. Schlimmere Wiedergeburten zu vermeiden, befreit zu werden und Erleuchtung zu erlangen: dies sind die drei Ziele des so genannten „Lam-rim,“ des Stufenpfades.
Damit unsere Lage nicht noch schlimmer wird, ist es zuallererst einmal wichtig, sich von schädlichem Verhalten zu distanzieren, also ethische Disziplin zu wahren. Und wir tun dies mit dem Verständnis, dass schädliche Handlungen zu Leid und Problemen führen werden und ein Unterlassen dieser Handlungen uns zumindest eine gewöhnliche Art von Glück bringen wird. Und obwohl wir schließlich auch über dieses gewöhnliche Glücklichsein hinausgehen wollen, ist dies der spirituellen Praxis immer noch förderlicher, als zu leiden und unglücklich zu sein.
Wir denken an all die Probleme, die eine unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt mit sich zieht. Ob wir nun furchtbar unglücklich sind oder Situationen erleben, in denen wir übermäßiges, aber gewöhnliches Glück erfahren, sind wir uns bewusst, dass alles mit Mängeln behaftet ist. Und wir verstehen, dass diese Zustände enormen, leidvollen Schmerzes und die Wiedergeburtszustände voller gewöhnlichen Glücks, durch karmisches Verhalten hervorgerufen werden, welches auf Unwissenheit in Bezug auf Ursache und Wirkung, und in Bezug auf die Realität beruht, sowie auf unsere Gier nach gewöhnlichem Glück und unser Streben, uns von diesem üblichen Leid und Unglück fernzuhalten, um nur gewöhnliches Glück zu erfahren. Wir entwickeln die Entschlossenheit, von all diesen Dingen völlig frei zu sein. Das wird „Entsagung“ genannt. Auf diese Weise sind wir fest entschlossen, frei zu sein.
Mit dieser Grundlage und einer bereits entwickelten Fähigkeit der Konzentration, kommen wir zum Mahayana. Vielleicht bringen wir schon zu Beginn einige Mahayana-Konzepte des Mitgefühls mit, indem wir denken: „Ich möchte weiterhin eine kostbare menschliche Wiedergeburt haben, damit ich anderen helfen kann.“ Dieses Mitgefühl kann also gleich zu Beginn mit eingebracht werden. Was jedoch eine Mahayana-Praxis ausmacht, ist, dass wir sie auf wirklich alle ausrichten. Wir konzentrieren uns also nicht nur auf uns selbst, unsere eigenen Probleme und unsere Befreiung davon. Wir richten uns auch nicht nur auf ein paar andere, die wir mögen und auf all jene, die in diesem Leben als Menschen wiedergeboren wurden. Es handelt sich vielmehr um einen überaus weitreichenden Geisteszustand, in dem wir uns auf alle Wesen, in allen Wiedergeburtszuständen, im gesamten Universum richten.
Wir verstehen, dass alle ein anfangsloses geistiges Kontinuum, eine anfangslose Wiedergeburt, haben und jeder bereits jede der verschiedenen Lebensformen durchlebt hat und so auch schon einmal unsere Mutter gewesen ist. Wir empfinden Gleichmut gegenüber allen und sind nicht von einigen angezogen, von anderen abgestoßen, oder betrachten wieder andere völlig gleichgültig. Wir denken an die Güte aller, nicht an unsere Mütter, sondern auch an jene, die unsere Nahrung anbauen, unsere Straßen pflastern oder den Honig gewinnen, den wir essen. Wir schätzen diese Güte und wollen auch selbst im Gegenzug gütig sein. Dies erzeugt eine herzerwärmende Liebe gegenüber allen und wir empfinden Wärme und Glück, wenn wir einfach nur an sie denken. Wir fänden es schrecklich, wenn ihnen etwas Schlechtes widerfahren würde. Das wird noch verstärkt, wenn wir ein Verständnis von der Gleichheit aller haben. So, wie wir selbst glücklich und nicht unglücklich sein wollen, empfinden auch alle anderen gleichermaßen. Ich bin nur einer, aber alle anderen sind unzählig viele Wesen. Anstatt nur an uns selbst zu denken und daran zu arbeiten, unsere eigenen Probleme zu überwinden, sehen wir uns als Teil einer ganzen Klasse von Wesen und daher ist es angemessen, für alle zu arbeiten, denn wir gehören auch dazu. Und wir alle haben das gleiche Problem: Samsara, samsarische Existenz. Aufgrund dessen haben wir Liebe, Mitgefühl, einen außergewöhnlichen Entschluss und Bodhichitta, wie ich bereits erklärt habe.
Zuerst ist es wichtig, etwas über Bodhichitta zu hören und wenn wir korrekt zugehört haben, wissen wir, worum es dabei geht. Wir verwechseln Bodhichitta nicht mit Liebe und Mitgefühl, was viele Menschen tun. Bodhichitta ist viel mehr als das. Es beruht auf Liebe und Mitgefühl, aber, wie gesagt, geht es darüber hinaus. Dann arbeiten wir damit und denken darüber nach, damit wir verstehen, was Bodhichitta wirklich bedeutet. Wir verstehen, wie wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten und welchen Geisteszustand wir erzeugen. Wir sind überzeugt, dass wir diesen Zustand erreichen können und sind überzeugt, dass alle Wesen Erleuchtung erlangen können und wir ihnen dabei sogar helfen können, indem wir ihnen den Weg weisen. Und wir verstehen, dass niemand ein allmächtiges göttliches Wesen ist und man nicht einfach jemanden mit dem Finger berühren und ihn damit zur Erleuchtung führen kann. Wir haben ein realistisches Verständnis davon, wie Menschen Erleuchtung erlangen können. Sie müssen im Grunde selbst daran arbeiten. Und indem wir die Methoden kennen, um diesen Geisteszustand zu erzeugen, sind wir in der Lage, Bodhichitta auf dieser anfänglichen Ebene hervorzubringen.
Nun wissen wir genau, um was für einen Geisteszustand es sich handelt. Wir verstehen ihn und sind überzeugt, dass wir ihn erreichen können. Wenn wir nun diese Stadien durchgehen, auf denen wir uns bewusst werden, dass alle schon einmal unsere Mutter waren, dass alle gütig sind usw., sind wir in der Lage, diesen Zustand des Bodhichitta hervorzubringen und es geschieht auf ernsthafte Weise. Die eigentliche Schwierigkeit besteht hier darin, es auf alle Wesen zu beziehen und den Wunsch zu hegen, allen gleichermaßen hilfreich zu sein.
Daher entwickeln wir zuerst einmal das so genannte „anstrebende Bodhichitta.“ Dabei handelt es sich um den Wunsch, Erleuchtung, die noch nicht eingetreten ist, zu erlangen, um anderen damit zu nutzen. Hier gibt es zwei Phasen. Die erste Phase ist, lediglich diesen Wunsch zu haben und bei der zweiten handelt es sich um die so genannte „Stufe des Versprechens,“ auf der wir versprechen, nicht aufzugeben, bis wir Erleuchtung erlangt haben. Dann gehen wir weiter, zum so genannten „ausübenden“ Bodhichitta. Hierbei handelt es sich um eine weitere Stufe, welche die Stufen des Wünschens oder Anstrebens mit einbezieht und auf der wir uns fest dazu entschlossen haben, uns vollkommen auf die Übungen einzulassen, die uns zur Erleuchtung führen werden.
Auf diesen Stufen würden wir dann das Bodhisattva-Gelübde ablegen. Indem wir diese Gelübde ablegen, strukturieren wir unser Verhalten, denn wir geloben, bestimmte Dinge zu vermeiden, die unserer Entwicklung von Bodhichitta im Allgemeinen schaden würde – dabei handelt es sich um die Wurzelgelübde des Bodhisattva. Die Nebengelübde des Bodhisattvas bestehen darin, jene Dinge zu vermeiden, die sich insbesondere für unser Entwickeln der sechs weitreichenden Geisteshaltungen (oder Vollkommenheiten) nachteilig auswirken würden. Außerdem gilt es auch, die Dinge zu vermeiden, die generell hinderlich wären, wenn wir anderen von Nutzen sein wollen. Wenn von den weitreichenden Geisteshaltungen die Rede ist, geht es um Großzügigkeit, ethische Selbstdisziplin, Geduld, freudige Ausdauer, geistige Stabilität (hier handelt es sich nicht nur um Konzentration, sondern um einen stabilen Geisteszustand, der nicht von störenden Emotionen beeinflusst wird) und unterscheidendes Gewahrsein (wir unterscheiden zwischen Realität und Fantasie).
Natürlich können wir diese weitreichenden Geisteshaltungen bereits entstehen lassen und anwenden, bevor wir Bodhichitta entwickeln, aber die echte Mahayana-Praxis besteht darin, dass diese Dinge mit Bodhichitta verbunden werden. Auf Grundlage der Bodhisattva-Gelübde üben wir uns also in dieser Art des Bodhisattva-Verhaltens und entwickeln immer mehr von den sechs weitreichenden Geisteshaltungen. Es gibt auch eine Liste von zehn weitreichenden Geisteshaltungen; die zusätzlichen vier sind Untergruppen des unterscheidenden Gewahrseins. Es ist nicht notwendig, hier in alle Einzelheiten zu gehen. Auf diese Weise bauen wir zunehmend unsere Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins auf.
Auf dieser Stufe erarbeiten wir uns den Zustand des Bodhichitta – das ist der Fachbegriff und bedeutet, Anstrengung und Mühe hineinzustecken. Das heißt, wir müssen der Argumentationskette folgen, um die Geisteshaltung des Bodhichitta erneut aufbauen zu können. Es ist also notwendig, die Stufen des Gleichmutes durchzugehen und sich bewusst zu werden, dass alle schon einmal unsere Mutter gewesen sind usw. und auf diesen bewussten Geisteszustand hinzuarbeiten. Durch ein hohes Maß an Vertrautheit und positiver Kraft, die entstehen, indem wir anderen helfen, werden wir schließlich Bodhichitta mühelos entwickeln können. Das bedeutet, wir müssen nicht der Argumentationskette folgen, um Bodhichitta hervorzubringen; dieser Geisteszustand ist ganz natürlich und automatisch da. Und es spielt keine Rolle, ob wir uns darüber bewusst sind oder nicht. Ob wir uns über diesen Geisteszustand des Bodhichitta bewusst sind (ob er, mit anderen Worten, im Moment das Objekt unserer Ausrichtung ist), oder ob es sich nur um einen Unterstrom handelt (und wir uns, anders gesagt, nicht darüber bewusst sind) ist das Gleiche, denn dies ist die Hauptrichtung in unserem Leben, egal was passiert. Wir haben ihn so tief verinnerlicht und erst auf dieser Stufe werden wir, genau genommen, zu einem Bodhisattva. Das ist ein Boddhisattva, jemand der müheloses Bodhichitta besitzt. So beziehen sich beispielsweise der Nutzen und die Lopreisung in Bezug auf Bodhichitta im ersten Kapitel von Shantidevas Buch: „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattva,“ auf diese Stufe des mühelosen Bodhichitta, auf der man zum Bodhisattva wird.
Es ist wichtig zu verstehen, dass sowohl erarbeitetes, wie auch müheloses Bodhichitta, immer noch konzeptuell ist, denn nur ein Buddha hat ein unbegriffliches Verständnis davon, was Erleuchtung ist. Wir hingegen, die wir noch keine Buddhas sind, können uns nur auf Erleuchtung, sogar auf eine sich noch nicht ereignende Erleuchtung, ausrichten, indem wir ein Konzept von ihr haben. Wenn Shantideva also davon spricht, dass man durch das Entwickeln von Bodhichitta ein hohes Maß an positiver Kraft aufbauen kann, ob man wach ist, schläft oder gar betrunken ist, dann bezieht er sich auf dieses mühelose Bodhichitta.
Wenn wir diesen mühelosen Zustand des Bodhichitta entwickeln, erreichen wir an diesem Punkt den so genannten „Pfad des Aufbauens“ oder den „Pfad der Ansammlung.“ Das ist die erste der fünf Arten des Pfadgeistes. Es handelt sich um eine Ebene des Geistes, die als Pfad für die eigentliche Ebene des Pfades fungiert, die uns, in diesem Fall, zur Erleuchtung führen wird. Wenn also von den fünf Pfaden die Rede ist, handelt es sich um die fünf Ebenen des Geistes; es sind keine Straßen, sondern Ebenen des Geistes, die uns, wie ein Pfad, weiterführen werden. Wir können diesen Weg auf eine Mahayana-Weise gehen, damit uns dieser Strom der Entwicklung zur Erleuchtung führen wird. Den Anfang der ersten Ebene dieser fünf Pfade werden wir erreichen, wenn wir dieses mühelose Bodhichitta besitzen.
Die meisten von uns befinden sich auf davor liegenden Ebenen des Geistes. Auch wenn wir Liebe, Mitgefühl und Bodhichitta praktizieren, tun wir das wahrscheinlich nur, weil wir etwas von den Lehren über Bodhichitta gehört haben. Vielleicht verstehen wir auch ein wenig davon, aber ich denke, die meisten von uns sind auf einer rationalen Ebene nicht völlig überzeugt davon, dass wir und alle anderen wirklich erleuchtet werden können. Tatsächlich ist es recht schwierig, vollkommen davon überzeugt zu sein, denn man muss ein Verständnis davon haben, was Erleuchtung ist. Das ist nicht so einfach. Wir haben also lediglich ein so genanntes „vermutendes Verständnis.“ Wir vermuten, dass es so sein könnte, sind aber nicht wirklich davon überzeugt. Und wenn wir ehrlich sind, ist die Ebene unserer Mahayana-Gedanken ziemlich begrenzt. Wir denken nicht an wirklich alle Wesen. Wir können sie uns momentan nicht einmal alle vorstellen – all die Insekten und anderen Lebensformen, die sich überall im Universum befinden. Darauf arbeiten wir hin. Wir sollten nicht so tun, als wären wir große Praktizierende des Mahayana, ganz zu schweigen davon, Bodhisattvas zu sein. Das wäre einfach absurd. Aber jede Ebene der Entwicklung von Bodhichitta, auf der wir uns befinden mögen, ist sehr nützlich und hilfreich.