Tschingis Khan
1207 u.Z. gelangte die Nachricht nach Tibet, dass Tschingis Khan (tib. Sog-po Ching-ge-se Kh’ang, 1162 – 1227) das Reich der Tanguten in Gansu und Amdo erobert hatte. Die Tibeter hatten damals eine enge Beziehung zu den Tanguten. Sie hatten bereits anderthalb Jahrhunderte lang buddhistische Texte aus dem Tibetischen ins Tangutische übersetzt. Lamas aus den Überlieferungslinien Linien der Tselpa-Kagyüpas und Barom-Kagyüpas hatten wichtige Stellungen am tangutischen Hof inne und tangutische Mönche studierten in Tibet, vor allem bei den Drigung-Kagyüpas.
Die Mongolen griffen die Tanguten 1206 an und schlugen sie 1211. Die Tanguten wurde dann zu einem Vasallenstaat des wachsenden mongolischen Reiches und mussten den Khan in seinen militärischen Unternehmungen unterstützen.
Bevor sie sich nach Westen wandten eroberten die mongolischen Truppen als nächstes das Reich von Jurchen (chin. Jin, 1115 – 1234), das sich östlich der Tanguten erstreckte, und zwar in der Mandschurei und Nordchina. Die Armee von Tschingis Khan schlug Jurchens Truppen und nahm die nördliche Hälfte ihres Territoriums ein, einschließlich Yanjing, das später als Beijing bekannt wurde. Die Mongolen zwangen die Jurchen 1214 zur Unterzeichnung eines Friedensabkommens.
Die Jurchen waren die Vorfahren der Mandschus. Nachdem sie ihre Herrschaft in der Mandschurei gefestigt hatten, hatten die Jurchen die chinesische Nördliche Song-Dynastie (960 – 1 126) gestürzt und das nördliche China 1126 in ihr Reich eingegliedert. Die chinesische Südliche Song-Dynastie (1127 – 1278) geht auf diese Niederlage zurück.
Als die Herrscher der verschiedenen Staaten in Tibet von dem mongolischen Feldzug gegen die Tanguten erfuhren, entsandten sie eine gemeinsame Delegation an Tschingis Khan, um ihre Unterwerfung zu deklarieren. Die Abmachung beinhaltete auch die Zahlung von Tributenund infolgedessen ließ der Khan seine Truppen nicht in Tibet einmarschieren.
Turrell Wylie („The First Mongol Conquest of Tibet Reinterpreted“, Harvard Journal of Asian Studies, Band 37, Nr. 1) stellt diesen Punkt in Frage. Tibet war zu jener Zeit immer noch zerstückelt und eine Kooperation der kleinen Staaten scheint unwahrscheinlich.
Die Qocho-Uighuren am Nordrand des Tarimbeckens unterwarfen sich Tschingis Khan im Jahr 1209 friedlich. Die Uighuren kooperierten mit den Mongolen, entwickelten eine Abwandlung ihrer eigenen Schrift für das Schreiben des Mongolischen und boten ihnen Unterstützung für die Verwaltung ihres wachsenden Reiches. Sie erstellten die ersten Übersetzungen buddhistischer Texte ins Mongolische, indem sie diese aus dem Uighurischen übersetzten.
Tschingis Khan starb 1227. Die Tanguten hatten sich geweigert, Truppen zu schicken, um mit den Mongolen in ihrem Feldzug gegen das Reich Choresmien im heutigen Usbekistan, Turkmenistan und Iran zu kämpfen. Daher kehrte Tschingis nach seinen erfolgreichen Eroberungen im Westen in das Land der Tanguten zurück und bestrafte seine vormaligen Vasallen, indem er einen Teil der Bevölkerung töten ließ. Tschingis starb dann während dieser Kampagne an einem Fieber. Nach dem Tod von Tschingis Khan stellte Tibet die Tributzahlungen an die Mongolen ein.
Die Einladung Sakya Panditas in die Mongolei durch Godan Khan
Tschingis‘ Nachfolger als Großkhan war sein dritter Sohn Ogedei (U-ge-ta Kh’a n, 1189 – 1241). Wie schon sein Vater war auch Ogedei aufgeschlossen für die Ratschläge und Gebeteder Vertreter der verschiedenen Religionen, denen die Mongolen begegneten. So beherbergte er an seinem Hof nicht nur herausragende Persönlichkeiten der einheimischen mongolischen schamanistischen Tradition, sondern auch Vertreter des chinesischen Chan-Buddhismus, des Taoismus, des nestorianischen Christentums sowie den kaschmirischen buddhistischen Lehrer Namo.
Nach der Eroberung von Korea setzte Ogedei 1234 der Jurchen-Dynastie ein Ende und gliederte den Rest Nordchinas in das mongolische Reich ein. Zwei Jahre später, im Jahr 1236, verlieh er seinem Neffen Khubilai (Kublai) Khan (tib. Kub-la’i Kh’anoder, allgemeiner, Se-chen rGyal-po, Mong. Setsen Khan, 1215 – 1294) die vormaligen Gebiete der Jurchen als Lehen.Ogedeis Sohn, Godan Khan (tib. Go-dan Kh’an, Mong. Koton, 1206-1251) hatte eine Lehensherrschaft in der vormaligen Tanguten-Region inne. Die einheimischen Tanguten und Gelben Yuguren, die dort lebten, folgten überwiegend den tibetischen Formen von Buddhismus. Godans Truppen fielen oft in Amdo ein, das westlich seines Lehens lag, und plünderten dort buddhistische Klöster.
1240 schickte Godan 30.000 Soldaten tiefer ins tibetische Gebiet. Angeführt wurden sie von dem mongolischen General Doorda Darkhan. Laut Wylie war dies der erste Kontakt der Mongolen mit Zentraltibet.
Diese Armee stieß bis Penpo (tib. ‘ Phan-po) nördlich von Lhasa vor. Sie plünderte das Kloster Radreng und den Tempel Gyel Lhakang und brannten beides nieder. Godan Khan bedauerte diese Zerstörungen und änderte daraufhin seine Einstellung. Er kam nun zu der Überzeugung, dass die spirituellen Lehren des Buddhismus dem mongolischen Volk gut tun würden.
Gemäß Wylie verhielt es sich folgendermaßen: Da es keine Aufzeichnungen gibt, wonach die Mongolen während ihrer Expedition irgendwelche anderen als diese zwei Kadam-Klöster geplündert oder zerstört hätten, bestand der Hauptgrund zweifellos darin, einen geeigneten tibetischen Anführer zu finden, den man den Mongolen unterwerfen konnte. Da Tibet als Ganzes keinen politischen Anführer hatte, suchten die Mongolen nach einer renommierten spirituellen Führungspersönlichkeit.
Auf die Frage, wen man am besten einladen sollte, riet General Doorda Darkhan: „Die Kadampas sind die Besten, was monastische Institutionen angeht; die Taglungpas sind die geschicktesten in weltlichen menschlichen Angelegenheiten; in puncto Pracht angeht sind die Drigungpas die Größten; was aber den Dharma angeht, so ist Sakya Pandita der Gelehrteste von allen.“ Darauf sandte der Khan einen Befehl an Sakya Pandita Kunga-gyeltsen (tib. Sa-skya Pandita Kun-dga’ rgyal-mtshan, 1182 1251), sich an seinen Hof zu begeben, um ihm und seinem Volk den Dharma zu lehren.
Laut Wylie war der politische Grund hinter Godan Khans Auswahl von Sakya Pandita die Tatsache, dass in der Sakya-Linie die Nachfolge in der Kon (tib. ‘Khon)-Familie vererbt wurde. Somit sicherte diese Auswahl die Kontinuität der Unterordnung unter die Mongolen.
Sakya Pandita begab sich 1244 vom Sakya Kloster aus auf die Reise, begleitet von seinen Neffen, dem zehnjährigen Pagpa (tib. ‘ Gro-mgon Chos-rgyal ‘Phags-pa Blo-gros rgyal-mtshan, 1235 – 1280) und dem sechsjährigen Chagna-Dorje (tib. Phyag-na rdo-rje, 1239 – 1267). Gemäß Wylie zwangen die Mongolen die Neffen mitzukommen, um sich die langanhaltende Treue der Sakyas zu sichern. Pagpa war der religiöse Erbe der Sakyas und Chagna war dazu auserkoren, der Patriarch der Kon-Familie zu werden. 1247 erreichten alle drei Lanzhou (tib. Ling-chur), die heutige Hauptstadt von Gansu. Godan Khan traf sie dort bei seiner Rückkehr von der Inthronisierung seines älteren Bruders Guyuk (tib. Go-yug Kh’an, 1206 – 1248), dem neuen Großkhan. In der Zeit zwischen Ogedeis Tod im Jahr 1241 und der Thronbesteigung von Guyuk Ogedei Khan hatte dessen Mutter, Ogedeis nestorianisch christliche Witwe Toregene, die Macht innergehabt.
Guyuk Khan war dem Buddhismus wohlgesonnen. Er hatte unter dem kaschmirischen buddhistischen Lehrer Namo studiert. Er verlieh Namo den Titel „Guusi“ (gu-shri, Chin: guoshi), was „Staatslehrer“ bedeutet. Die Mongolen hatten diesen chinesischen Titel von den Tanguten übernommen. Vor Namo hatte diesen Titel der Gelehrte aus der Tselpa-Kagyü-LinieGushri Togpa-Yongsel (tib. rTogs-pa Yongs-su gsal-ba) am tangutischen Hof innegehabt, bevor Tschingis Khans Truppen in das Land einmarschierten.
Nach Guyuk Khans Tod im Jahr 1248 und einer weiteren kurzen Zwischenherrschaft wurde Mongke (Regierungszeit 1251 – 1259) Großkhan. Er war der älteste Sohn von Tschingis Khans viertem Sohn Tolui (1190 – 1232). 1252 wurde Namo von Mongke mit der Verwaltung aller buddhistischen Angelegenheiten in seinem Reich beauftragt.
Sakya Pandita unterrichtete Godan Khan im Buddhismus; er überzeugte ihn, die einheimische chinesische Bevölkerung nicht mehr durch Ertränkung zu dezimieren. Er heilte zudem den Khan auch von einer schlimmen Hauterkrankung. Im Gegenzug wurde Godan die zeitweise weltliche Autorität im Namen der Mongolen über Tibet erteilt. Sakya Pandita schrieb einen Brief an die gelehrten buddhistischen Meister und an ihre Sponsoren im Laienstand (tib. yon-mchod) in Ü und Tsang in Zentraltibet und in Kham (tib. mDo-khams). In diesem Brief schrieb er ihnen, dass es aussichtslos sei, sich der mongolischen Armee zu widersetzen, und riet ihnen, stattdessen Tribute zu zahlen. Die Tibeter ersuchten darum, dass Sakya Pandita nach Zentraltibet zurückkehren sollte, doch da Godan ihn gut behandelte und er den Eindruck hatte, dass seine Anwesenheit bei den Mongolen und den einheimischen Uighuren, den Tanguten und Chinesen von größerem Nutzen sei, entschuldigte er sich und blieb.
Wylie schreibt, dass die obige Vorgehensweise den Bräuchen entsprach, die die Mongolen üblicherweise anwandten, wenn sie ein neues Territorium eingliederten. Eine Unterwerfung erforderte, dass sich der Herrscher des Territoriums persönlich dem Khan ergab. Der Khan behielt dann den Herrscher als Geisel bei sich, forderte Tribute und ernannte einen mongolischen Gouverneur, der das neue Territorium regierte.
Sakya Pandita spürte, dass er bald sterben würde. Er hinterließ ein Buch mit dem Titel „ Klärung der Absichten Buddhas“ (tib. Thub pa’i dgong gsal) und einen Brief an die Laien, in dem er sein Vertrauen in Godans gute Absichten für Tibet schilderte. Nachdem er Pagpa als seinen Nachfolger eingesetzt hatte, starb Sakya Pandita 1251 in Lanzhou.
Etablierung einer Beziehung zwischen Lama und Schutzherr zwischen Kublai Khan und Pagpa
Kurz darauf starb auch Godan Khan. Als Herrscher des vormaligen Tanguten-Gebiets folgte ihm Kublai Khan einer der jüngeren Brüder des Großkhans Mongke und ein Vetter von Godan Khan. Kublai war schon seit 1236 der Lehnsherr von Nordchina.
Kublai berief Pagpa 1253 in sein Lager und machte ihn zu seinem Lehrer. Es wurde abgemacht, dass sich Kublai privat vor Pagpa niederwerfen würde, aber nicht öffentlich. Ferner würde der Khan Pagpas Einwilligung für Entscheidungen in Bezug auf Tibet einholen; und Pagpa würde sich nicht in Angelegenheiten einmischen, bei denen es um andere von den Mongolen kontrollierte Gebiete ging. Diese Vorgehensweise wurde zum Prototyp für die Beziehung zwischen Lama und Schutzherr (tib. bla-yon) in asiatischen Regierungen.
Pagpa erteilte dann dem Khan, seiner ältesten Gemahlin und 25 seiner Minister die Hevajra-Ermächtigung. Im Gegenzug erhielt Pagpa die Oberherrschaft über die 13 Myriarchien (tib. khri-skor bcu-gsum) – die administrativen Einheiten – von Zentral- und Westtibet und später über die drei Regionen Tibets (tib. chol-kha gsum), nämlich, Zentraltibet (Ü und Tsang), Kham (tib. mDo-stod) und Amdo (tib. mDo-smad).
Wylie weist darauf hin, dass die Erwähnung der Myriarchien in dieser traditionellen Darstellung ein Anachronismus ist. Denn die Unterteilung von Zentral- und Westtibet in 13 Myriarchien erfolgte erst nach der Volkszählung von 1268, die die Mongolen durchführten, um die Eintreibung der Steuern zu erleichtern. Eine Myriarchie sollte aus einer Region mit einer Bevölkerung von 10.000 Familien bestehen, tatsächlich war die Anzahl jedoch weit weniger.
Im Jahr 1253 befahl Mongke Khan dem Kublai, in das Nanzhao-Reich (im heutigen Yünnan) einzufallen und es zu erobern. Nanzhao war zu dieser Zeit als „Dali“ (tib. Ta-li) bekannt. Kublai Khan rückte durch Kham vor, um Dali zu erreichen, aber danach verblieben keine mongolischen Truppen in dieser tibetischen Region. Chinesische kommunistische Historiker behaupten hingegen, dass Tibet seit der Zeit dieses Einfalls ein Teil von Yuan-China wurde, ungeachtet der Tatsache, dass die Yuan-Dynastie erst 1271 gegründet wurde.
Nach seiner Rückkehr aus Dali lud Kublai den Zweiten Karmapa, Karma Pakshi (tib. Kar-ma-pa Pakshi, 1204 – 1283) in sein Lager ein. Das Oberhaupt der Karma-Kagyü-Tradition kam 1255 an. Kublai bat ihn zu bleiben, doch Karma Pakshi weigerte sich und begab sich stattdessen an den Hof des Großkhans Mongke nach Karakorum, seiner Hauptstadt in der Mongolei. Dort traf er im darauffolgenden Jahr 1256 ein.
Debatten zwischen Buddhisten und Vertretern anderer Religionen
Wie die vorherigen Großkhane beherbergte auch Mongke Vertreter verschiedener Religionen an seinem Hof. Er hatte Interesse daran, Debatten zwischen ihnen zu veranstalten, um zu sehen, welche Religion überlegen war. 1254 debattierte William von Rubruck, ein flämischer Missionar des Franziskaner-Ordens, gemeinsam mit Vertretern des nestorianischen Christentums und des Islams gegen die chinesischen Chan-Buddhisten, die er als „Götzenanbeter“ beschrieb. 1255 organisierte der Großkhan eine Debatte zwischen den Buddhisten, die von Namo vertreten wurden, und den Taoisten. Dabei ging es um die taoistische Behauptung, dass Buddhaein Schüler von Laotse sei und dass Laotse die westlichen Länder zum Taoismus bekehrt habe. Namo ging aus dieser Debatte als Sieger hervor.
Mongke Khan war darauf bedacht, die Eroberung Chinas, die sein Großvater Tschingis und sein Onkel Ogedei Khan begonnen hatten, abzuschließen. Kublai hatte sich 1256 als Lehnsherr von Nordchina in Shandu (chin. Shangdu, Xanadu) nördlich des heutigen Beijings, einen Palast bauen lassen, und stieß von dort aus 1258 zu Mongke und dessen Feldzug gegen das China der Südlichen Song-Dynastie.
Bevor sie zu dem Feldzug aufbrachen, befahl Mongke dem Kublai, eine weitere Debatte zwischen den Buddhisten und den Taoisten zu organisieren, bei der es erneut um die Frage ging, ob Buddha ein Schüler von Laotse sei. Diesmal vertrat Pagpa die buddhistische Seite und wieder unterlagen die Taoisten. Da der Taoismus sehr beliebt in den Gebieten der Südlichen Song-Dynastie war, wurde der Sieg im Disput der Lehren als glücksverheißend angesehen.
Während des Feldzugs starb jedoch Mongke Khan 1259 an einem Fieber. Nach seinem Tod brach ein Kampf um die Position des Großkhans aus. Die Kontrahenten waren die beiden Brüder Mongkes, Kublai und Ariq Boke. Mongke hatte Ariq Boke im Karakorum die Verantwortung übertragen, als er zu seinem Feldzug aufbrach. Ariq Boke wurde dann 1260 in Karakorum zum Grosskhan gewählt, während Kublai in Khanbaliq zur selben Position gewählt wurde. Zwischen den beiden brach Krieg aus, und Kublai schlug schließlich Ariq Boke im Jahr 1264.
Als dieser interne Kampf beendet war, verlieh Kublai dem Pagpa den Titel „Tishri“ (tib. Ti-shri, chin. Di-shi), was „Kaiserlicher Lehrer“ bedeutet. Laut Wylie und anderen erhielt Pagpa zu dieser Zeit nur den Titel „Gushri“ (Staatslehrer).
Kublai wollte nur die Ausübung von Pagpas Sakya-Tradition erlauben, doch Pagpa bestand darauf, dass auch andere tibetisch-buddhistische Schulen praktiziert werden durften, einschließlich der Karma-Kagyü-Tradition. Weil Karma Pakshis Kublais frühere Einladung, bei ihm zu bleiben, abgelehnt hatte und verdächtigt wurde, Ariq Boke unterstützt zu haben, bot ihm Kublai keinen Schutz und keine Unterstützung an, nachdem er Großkhan wurde. Gemäß Angaben von Luciano Petech („ Central Tibet and the Mongols: The Yüan – Sa-skya Period of Tibetan History“) ließ Kublai Karma Pakshi festnehmen und nach Dali verbannen, von wo aus er erst 1269 nach Tibet zurückkehren durfte.
Errichtung der mongolischen Oberherrschaft über Tibet
Nachdem Kublai Ariq Boke geschlagen und sich damit als Großkhan behauptet hatte, gründete er im selben Jahr, 1264, das Oberste Regierungsamt (chin. Zongzhi yuan) für tibetische und buddhistische Angelegenheiten. Dies geschah sieben Jahre bevor Kublai die Yuan-Dynastie in China gründete. Das Amt bestand aus drei Abteilungen, die den drei oben erwähnten tibetischen Regionen entsprachen: Zentraltibet, Amdo und Kham. Jede davon wurde von einem separaten Büro verwaltet. Das Amt wurde von Seng-ge (chin. Sang-ge, Wade-Giles: Sang-ko), einem in Uighur ansässigen tibetischen Mönch, geleitet. Auch später wurde das Amt stets von einem buddhistischen Mönch geleitet. Das Amt hatte die Oberhoheit über die Postämter in Tibet und veranstaltete buddhistische Riten für den Staat und die kaiserliche Familie. Militärische Angelegenheiten in Tibet wurden ebenfalls von diesem Amt geregelt, und zwar von dessen Befriedungs-Büro (chin. Xuanwei shisi).
Herbert Franke („Tibetans in Yuan China” in: „ China under Mongol Rule“) erklärt, dass im Obersten Regierungsamt für tibetische und buddhistische Angelegenheiten nur Tibeter und Mongolen arbeiteten, keine Han-Chinesen, während im Befriedungs-Büro ausschließlich Mongolen arbeiteten. Das Amt stellte somit eine klar unterscheidbare Einheit in der kaiserlichen mongolischen Regierung dar und war völlig getrennt von den Regierungsorganen, die später gebildet wurden, um Yuan-China zu regieren. Die drei tibetischen Regionen wurden nie zu Provinzen von Yuan-China; sie wurden vielmehr als mongolische Gebiete immer separat verwaltet. Tatsächlich richteten die Mongolen an den Grenzen von Amdo und Kham zu China sogar Handelsposten mit lizensierten Grenzmärkten ein. Das zeigt ganz klar, dass die tibetischen Regionen einen eigenen Teil des mongolischen Reiches bildeten, der von China getrennt war. Innerhalb der Grenzen Chinas wurden solche Handelsposten nicht errichtet.
1265 kehrte Pagpa zum ersten Mal seit seiner Kindheit nach Tibet zurück. Er wurde begleitet von seinem jüngeren Bruder Chagna Dorje, der kein Mönch war, und der nach Zentraltibet geschickt wurde, um Leiter der dortigen einheimischen Verwaltung zu werden. Die Reisenden wurden von 6.000 mongolischen Soldaten begleitet. Laut Wylie („The First Mongol Conquest of Tibet Reinterpreted“) begleitete die mongolische Kavallerie Pagpa, um mit der Oberhoheit des Obersten Regierungsamts für buddhistische und tibetische Angelegenheiten die zentrale Macht der Mongolen sicherzustellen. Unterwegs sicherten die Mongolen ihre Machtposition über Amdo.
Chagna starb 1267 in Tibet. Sein Amt übernahm Shakya Sangpo (tib. Sha-kya bzang-po, starb 1275). Dieser erhielt den Titel „Oberster Magistrat“ (tib. dpon-chen). Sein Hauptquartier befand sich in Sakya.
Pagpa verließ Tibet 1267, um in Kublais neue Hauptstadt Khanbaliq (Daidu) (chin. Dadu) (das heutige Beijing) zu gehen. Das war der Zeitpunkt, zu dem – 1268, nach Pagpas Abreise – die Volkszählung in Tibet durchgeführt wurde. Sie wurde unter der Aufsicht von Shakya-Sangpo und den zurückgebliebenen mongolischen Offizieren in mongolischer Sprache vorgenommen. Als Resultat der Volkszählung wurde die Unterteilung von Zentraltibet in 13 Myriarchien Verwaltungseinheiten – in die Wege geleitet. Jede davon wurde von einem „ Myriarchie-Magistrat“ (tib. khri-dpon) geleitet. Gleichzeitig setzten die Mongolen ihr Vorhaben fort, auch Kham der Aufsicht des Amts für tibetische und buddhistische Angelegenheiten zu unterstellen.
Pagpa traf 1269 wieder an Kublai Khans Hof ein drei Jahre nachdem Marco Polo dort im Jahr 1266 angekommen war. Er brachte eine Schrift mit sich, die er zum Schreiben der mongolischen Sprache auf der Grundlage der tibetischen Schrift erfunden hatte. Sie war besser geeignet, Buchstaben aus dem Sanskrit und dem Tibetischen zu transkribieren, als es die vorherige, aus dem Uighurischen abgeleitete Schrift gewesen war. Eine kurze Zeit lang wurde die „Pagpa-Schrift“ für offizielle Angelegenheiten benutzt, doch ihre quadratische Form machte sie schwerfällig und sie wurde nach Kublais Tod im Jahr 1295 aufgegeben.
Laut Wylie erhielt Pagpa 1270 den Titel „Tishri“ angesichts der bevorstehenden Gründung der chinesischen Yuan-Dynastie durch Kublai und dessen Inthronisierung 1271 als ihr erster Kaiser, Yuan Shizu. Indem er einem tibetischen Lama diesen Titel verlieh, folgte Kublai dem Beispiel der Tanguten jener Region, die er seit 1251 regiert hatte. Am Hof der Tanguten hatte der Barom-Kagyü-Lama Tishri-Repa (tib. Ti-shri Ras-pa Sangs-rgyas ras-chen, geb. 1164) diesen Titel von 1196 bis 1226 unter der Herrschaft von drei oder vier tangutischen Königen getragen. Normalerweise impliziert der Titel „ Tishri“, dass derjenige, der ihn trägt, dem Kaiser tantrische Ermächtigungen erteilt hat.
Pagpa kehrte 1276 nach Sakya zurück. Laut Wylie tat er dies, um einen Vertreter für Shakya-Sangpo zu finden, der im Vorjahr gestorben war. Pagpa ernannte Kunga-Sangpo (tib. Kun-dga’ bzang-po) zum nächsten obersten Magistraten.
Kublai Khan erweiterte nun den Zuständigkeitsbereich des obersten Regierungsamts für tibetische und buddhistische Angelegenheiten auf ganz China. 1277 erhielt es die Oberhoheit über alle buddhistischen Klöster – nicht nur in den tibetischen Regionen, sondern auch in China. Bis 1279 eroberte Kublai innerhalb von zwei Jahren den Rest des Chinas der Südlichen Song-Dynastie. Der letzte Song- Kaiser wurde nach Tibet ins Exil geschickt, um dort ein buddhistischer Mönch zu werden.
Die Drigung-Rebellion gegen die Sakyas
Derweil starb Pagpa im Jahr 1280 in Tibet einen mysteriösen Tod. Kunga-Sangpo wurde angeklagt, ihn vergiftet zu haben, und Kublai ließ ihn 1281 für den Mord hinrichten. Es folgte eine unruhige Zeit. 1285 rebellierten Drigung-Kagyüs gegen die Herrschaft der Sakyas und brannten mehrere Sakya-Klöster nieder. Die Rebellion wurde von mongolischen Truppen niedergeschlagen, die unter dem Kommando von Kublais Enkel Temur Khan (1265 – 1 307) kämpften, und von Seng-Ge, dem Leiter des Obersten Regierungsamts für tibetische und buddhistische Angelegenheiten organisiert worden waren. Mit der Hilfe von Anhängern der Sakyas brannte die mongolische Armee das Hauptkloster der Drigung nieder.
Laut Wylie waren diese Ereignisse vermutlich Teil einer größeren Militärkampagne Kublais gegen seinen Rivalen Khaidu (Kaidu) Khan (1230 – 1301), dem Enkel von Ogedei. 1268 hatte Khaidu in Ostturkestan und in Teilen Westturkestans sein eigenes Khanat etabliert. Er hatte Kublai nie als Großkhan akzeptiert. Khaidu, der dem Islam positiv gegenüberstand, unterstützte die Drigung-Kagyüpas. Wylie nimmt an, dass Khaidu hinter der Drigung-Rebellion in Tibet stand. Kublais Truppen schlugen Khaidu 1288.
Im selben Jahr ersetzte Kublai das Oberste Regierungsamt durch das Allgemeine Amt zur Regelung (tib. Svon-ching dben, chin. Xuanzheng yuan) tibetischer und buddhistischer Angelegenheiten. Es hatte dieselben Funktionen wie das vorherige Amt und wurde ebenfalls von Seng-Ge geleitet. Dem Namen nach unterstand es der Oberhoheit des Kaiserlichen Lehrers. Diese Umstrukturierung fand statt, nachdem die Mongolen 1287 eine zweite Volkszählung in Tibet durchgeführt hatten.
Kublais Nachfolger war Temur Khan; er bestieg als Yuan-Kaiser Chengzong den Thron. Während seiner Herrschaft (1294 – 1307) gab er 1305 den Druck der tangutischen Tripitika-Sammlung buddhistischer Schriften in Auftrag. Dies ist ein klares Zeichen für den anhaltenden Respekt den Tanguten gegenüber trotz ihrer Dezimierung unter Tschingis Khan. Unter der Herrschaft des nächsten mongolischen Kaisers, Khaishan Khan, Yuan Wuzong (1308 – 1312) wurde unter anderem mit der Übersetzung des Kangyur(tib. bKa’-‘gyur), der tibetischen Übersetzung der Worte Buddhas, begonnen. Der erste tibetische Kangyurwurde zu dieser Zeit im Nartang-Kloster zusammengestellt. Er wurde 1351von dem Sakya-Lama Buton (tib. Bu-ston Rin-chen grub, 1290 – 1364) im Kloster Zhalu überarbeitet.
Der Niedergang der Macht der Mongolen
Nach dem Tod von Kublai Khan im Jahr 1294 ging die Macht der Mongolen in China allmählich zurück. Dies hatte seine Ursachen in der Korruption, schlechter finanzieller Verwaltung und Hungersnot. Die Macht der Sakya-Familie in Tibet war ebenfalls im Niedergang begriffen, was an zu vielen Söhnen mit Anspruch auf die Erblinie lag und zu Abspaltungen führte. 1319 zerbrach die herrschende Familie der Sakya in vier Häuser. Die Mongolen, enttäuscht von dieser Entwicklung und selbst geschwächt, zogen ihre militärische Unterstützung der Sakyas schrittweise zurück.
In dieser Phase wuchs jedoch der Einfluss der Karmapas. Chang Jiunn Yih („The Relationship between the Yuan and the Sa-skya Sect after Kublai Khan“ in: „ Bulletin of the Institute of China Border Area Studies“, Band 16) vermutet, dass den Mongolen daran lag, eine tibetisch-buddhistischen Schule mit einer stabileren Erbfolgelinie zu unterstützen. Die Karmapas bildeten die erste Linie von Tulkus, reinkarnierten Lamas, und boten somit eine vielversprechende Alternative zu den Sakyas.
Daher wurde der Dritte Karmapa Rangjung Dorje (tib. Kar-ma-pa Rang-byung rdo-rje, 1284 – 1339) 1331 von Togh Temur, Kaiser Yuan Wenzong (1329 – 1332) an den Hof der mongolischen Yuan nach China berufen. Der Dritte Karmapa hatte zu seiner Zeit großes Ansehen als Gelehrter und Praktikant erlangt und hatte ausgiebig in den uighurischen und mongolischen Gebieten gelehrt. Togh Temur und sein Nachfolger Irinchibal, Yuan Ningzong (tib. Rin-chen dpal, Regierungszeit 1332) starben, während der Dritte Karmapa auf dem Weg war. Als der Karmapa 1333 endlich in Daidu ankam, leitete er die Zeremonie für die Thronbesteigung von Toghan Temur (tib. Tho-gan the-mur) als Kaiser Yuan Shundi, dem letzten Yuan-Kaiser (Regierungszeit 1333 – 1370).
Der Dritte Karmapa kehrte 1334 nach Tibet zurück und wurde zwei Jahre später noch einmal vom mongolischen Kaiser nach China eingeladen, diesmal in respektvollerem Ton. Er traf 1338 ein, verlieh dem Kaiser die Kalachakra-Ermächtigung und erhielt den Titel „Gushri“, „ Staatslehrer.“ Bis zu diesem Zeitpunkt war dieser Titel nur Sakyapas verliehen worden. Er beinhaltete allerdings keinerlei politische Autorität. Der Dritte Karmapa gründete in Daidu auch einen Karma-Kagyü-Tempel, wo er kurz darauf starb.
Die Gründung der Pagmodru-Hegemonie
1352 begann Jangchub Gyeltsen (tib. Byang-chub rgyal-mtshan, 1302 – 1364), der Magistrat der Myriarchie Pagmodru (tib. Phag-mo-gru), eine Militätoffensive in Ü, Zentraltibet, um den Sakyapas die Macht über Tibet zu entreißen. Wie bei den Sakyapas wurde auch bei den Pagmodrupas die Erbfolge innerhalb einer Familie weitergegeben. Der mongolische Kaiser Toghun Temur schickte den Sakyapas keine militärische Unterstützung. Statt sich in den Konflikt hineinziehen zu lassen, lud er 1356 den jungen Vierten Karmapa (tib. Kar-ma-pa Rol-pa’i rdo-rje, 1340 – 1383) nach Daidu ein. Während sich der Karmapa noch auf der Reise befand, wurde der letzte Sakya in der Stellung des Obersten Magistrats von Tibet gestürzt und Jangchub Gyeltsen gründete 1358 die zweite religiöse Hegemonie von Tibet, nämlich diejenige der Pagmodru. Sie währte bis 1434.
Toghun Temur ließ sich weiterhin nicht in die politischen Angelegenheiten in Tibet hineinziehen. Nachdem die Hegemonie der Pagmodru errichtet worden war, erkannte er jedoch Jangchub Gyeltsens Titel „Tai Situ“ (tib. ta’i si-tu, chin. da situ) an. Indem er den Vierten Karmapa einlud, schien er allerdings vermeiden zu wollen, sich in dem tibetischen Konflikt zwischen den beiden Sippen auf eine Seite zu stellen.
„Da Situ“ oder einfach „Situ“ war ein traditioneller Titel in der chinesischen Verwaltung, mit dem entweder Minister für Arbeit und Einnahmen oder Minister für Bildung und Erziehung bezeichnet wurden. In Tibet wurde die tibetisierte Form des Titels „Tai-situ“ für Myriarchie- Magistrate gebraucht. In späteren Zeiten wurde der Titel von chinesischen Kaisern an prominente tibetische Lamas verliehen, die an den Kaiserhof kamen.
Obwohl Toghun Temur berüchtigt dafür war, an seinem Hof tantrische Riten in degenerierter, wörtlicher Weise mit Frauen auszuüben, blieb der Vierte Karmapa von 1359 bis 1363 am Hof der Yuan. Wie sein Vorgänger, der Dritte Karmapa, erteilte er dem Kaiser und seiner Gemahlin die Kalachakra-Ermächtigung.
Toghun Temur wurde 1368 von Zhu Yuanzhang aus Daidu vertrieben. Er zog sich in die Mongolei zurück, wo er die Nördliche Yuan-Dynastie (1368 – 1412) fortsetzte. Zhu Yuanzhang übernahm die Herrschaft von China und gründete die Ming-Dynastie (1368-1644), dessen Hauptstadt in Nanjing lag. Er wurde als Kaiser Hongwu Ming Taizu bekannt (Regierungszeit 1368-1399).