Wiederaufleben nach dem Fall des Tibetischen Reichs

Das Auseinanderfallen von Tibet nach der Ermordung Langdarmas

Nach der Ermordung Langdarmas im Jahr 842 u.Z. zerfiel das tibetische Reich. Eine zentrale Autorität wurde erst vier Jahrhunderte später wiederhergestellt.

Die kaiserlichen tibetischen Truppen hatten schon während Langdarmas Herrschaft begonnen, sich aus den Grenzregionen in China, Burma und an der Seidenstraße in Zentralasien zurückzuziehen. Bald nach seinem Tod entstanden zahlreiche kleine Pufferstaaten in diesen Gebieten. Doch die tibetische Sprache und die buddhistische Kultur spielten noch etliche Jahrhunderte danach weiterhin eine wichtige Rolle in diesen Pufferstaaten. In den vormals von Tibet kontrollierten Gebieten Amdo, Gansu und dem Tarim Basin zum Beispiel gehörten dazu die Staaten:

  • Tsongka (tib. Tsong-kha), das in der Kokonor-Region von Amdo bis 1182 bestand
  • Die Stadtstaaten der Gelben Yuguren (866 – 1028) im Gansu-Korridor
  • Guiyijun (848 – 890er Jahre) in der Region des westlichen Gansu um Dunhuang
  • Karakhoja (866 – 1209), dem Gebiet der Qocho-Uighuren in den Oasen am nördlichen Rand des Tarim-Beckens.

Bis mindestens 920 wurde im Gansu-Korridor und an der Seidenstraße bis hin nach Khotan die tibetische Sprache für kommerzielle und diplomatische Zwecke benutzt, da sie für die verschiedenen dortigen Völker die einzige gemeinsame Sprache war. Sogar etliche chinesische buddhistische Texte wurden in tibetische Buchstaben auf Tibetisch umgeschrieben, damit sie leichter rezitiert werden konnten.

Gelehrte in diesen Gebieten übersetzen buddhistische Texte aus dem Tibetischen in verschiedene andere Sprachen. 930 begannen zum Beispiel Gelehrte aus Tsongka damit, Texte aus dem Tibetischen ins Uighurische (tib. Yu-gur) zu übertragen.

Nach der Gründung des Tangutenstaates (tib. Mi-nyag, Chin. Xi Xia) (982 – 1227) im südlichen Gansu und dem heutigen Ningxia im Osten von Amdo, wurden ab 1049 tibetisch-buddhistische Texte in die tangutische Sprache übersetzt; allerdings wurden die meisten Texte im buddhistischen Kanon der Tanguten aus dem Chinesischen übersetzt. Die tibetische Sprache war jedoch in den tangutischen Gebieten schon vor der Gründung ihres Staates weit verbreitet gewesen. Daher wurde die tibetische alphabetische Schrift benutzt, um die äußerst komplexe tangutische ideographische Schrift zu transkribieren, die 1036 publik gemacht wurde.

Nach der Ermordung Langdarmas kämpften seine Söhne miteinander um den Thron. 929 hatte schließlich die Linie von Namde Ö-sung (tib. gNam-lde ‘Od-srung), dem Sohn von Langdarmas älterer Gemahlin, die Herrschaft über Ngari (tib. mNga’-ris) in Westtibet, dem Territorium des vorbuddhistischen Reiches von Zhang Zhung erlangt, während die Linie von Ngadag Yumden (tib. mNga’-bdag Yum-brtan), dem Sohn der jüngeren Gemahlin Langdarmas, über Ü (tib. dBus), die östliche Hälfte von Zentraltibet, herrschte. Das Königreich Ngari umfasste letzten Endes nicht nur West-Tibet, sondern auch einen großen Teil der südlichen Flanke des Pamir-Gebirges und des Himalayas, von Gilgit im heutigen nordwestlichen Pakistan über das östliche Ladakh, Spiti im heutigen indischen Himachal Pradesh bis einschließlich des heutigen nordwestlichen Nepal.

Die anderen Gebiete zerfielen in zahlreiche kleine Staaten, jeder mit seinem eigenen Herrscher (tib. sde-dpon) und seiner eigenen Festung (tib. rdzong), die sich gegenseitig abwechselnd bekämpften und verbündeten.

Die Wiederbelebung der Übertragungslinie für die Ordination von Mönchen

Langdarmas Söhne verbargen zahlreiche buddhistische Statuen und Texte, um sie sicher aufzubewahren, und die von Laien ausgeübte Tantra-Tradition bestand selbst in Zentraltibet weiter, aber die dortige monastische Gemeinschaft hatte ein Ende gefunden. Doch drei Mönche waren nach Amdoin das Tsongka-Reich geflohen und setzten dort mit der Hilfe zweier chinesischer Mönchen die Mulasarvastivada-Linie der Mönchsordination fort.

Bald reisten zehn junge Männer aus Zentraltibet unter der Leitung von Lume Tsultrim-Sherab (tib. Klu-mes Tshul-khrims shes-rab) dorthin, um zu studieren und die Mönchsgelübde zu erhalten. 912 brachten sie dann die Ordinationslinie zurück nach Ü, nachdem sie dort siebzig Jahre lang ausgestorben gewesen war, und bauten sieben neue Tempel, darunter Gyel Lhakang (tib. rGyal Lha-khang), der von Lumeys Schüler Nanam Dorje Wangchug (tib. sNa-nam rDo-rje dbang-phyug) errichtet wurde. Traditionelle buddhistische Quellen geben für den Bau dieses Tempels allerdings das Jahr 1012 an.

Der Beginn des späteren Aufblühens der Lehren

In der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts verzichtete der König von Ngari, Tsenpo Khore (tib. bTsan-po Kho-re) zugunsten seines Bruders Song-Nge (tib. Srong-nge) auf den Thron und wurde Mönch. Der Nachwelt wurde er als als Lha Lama Yeshe-Ö (tib. Lha bla-ma Yes-shes ‘od) bekannt.

Yeshe-Ö wollte den Niedergang des Buddhismus in Westtibet rückgängig machen. Deshalb entsandte er 21 junge Männer nach Kaschmir, um Sanskrit zu lernen und Buddhismus zu studieren. Von ihnen überlebten nur Rinchen-Zangpo (tib. Rin-chen bzang-po, 958 – 1051) und Legpe-Sherab (tib. Legs-pa’i shes-rab) die Reise. Sie entwickelten sich schließlich zu berühmten Übersetzern. Während sie in Kaschmir und an den berühmten Klöstern in Nordindien studierten, schickten sie mehrere gelehrte indische Meister nach Tibet. Diese Gelehrten vertraten verschiedene Schulen des indischen Buddhismus, vor allem jedoch die Tantra-Tradition des Mahayanas.

Yeshe-Ö lud weitere indische Meister nach Tibet ein. Unter diesen befand sich Dharmapala (tib. Dha-rma pa-la), der mit den ihn begleitenden indischen Schülern die zweite Übertragungslinie der Mönchs-Ordination des Mulasarvastivada in Tibet begann. Die von ihnen verliehenen Ordinationen kennzeichnen den Beginn einer Periode der tibetischen Geschichte, welche als das „spätere Aufblühen der Lehren“ (tib. bstan-pa phyi-dar) bekannt ist. Die vorige Periode hingegen wurde als das „frühere Aufblühen der Lehren“ (tib. bstan-pa rnying-ma) bekannt.

Andere traditionelle tibetische Quellen geben als Anfangspunkt dieser späteren Periode Lumes Ordination an und datieren diese auf das Jahr 973 oder 978. Diese Traditionen sind es, die die Gründung des Gyel Lhakang durch Lumes Schüler im Jahr 1012 ansetzen.

Rinchen–zangpo und Legpe-Sherab kehrten 988 nach Ngari zurück. Im Verlauf dieser späteren Zeit der Blüte gründete Rinchen Zangpo dort mehrere neue Klöster. Eines davon war das Kloster Tabo (tib. rTa-po dgon-pa) in Spiti, welches 996 gebaut wurde. Im selben Jahr gründete Yeshe-Ö das Kloster Toling (tib. mTho-ling, manchmal auch mTho-lding buchstabiert) in Guge (tib. Gu-ge).

Atishas Besuch in Tibet

In dieser Periode eroberten die Ghaznaviden unter Mahmud von Ghazni (Regierungszeit 998-1030) die heutigen pakistanischen und indischen Gebiete des Punjab, Himachal Pradesh und die Regionen um Delhi. Aufgrund der schweren Schäden, die Mahmuds Truppen den buddhistischen Klöstern dieser Region zufügten, flohen viele Mönche nach Ngari. Es suchten so viele von ihnen dort Asyl, dass der König von Ngari in den 1020er Jahren ein Gesetz erließ, nach dem Ausländer nicht länger als drei Jahre in seinem Land verbringen durften.

In diesen unsteten Zeiten lud Yeshe-Ö, bereits in fortgeschrittenem Alter, Atisha (tib. Jo-bo-che dPal-ldan A-ti-sha, 982 – 1054) aus dessen Kloster Vikramashila im Zentrum Nordindiens nach Tibet ein. Er hoffte, dass der indische Meister ihm nicht nur dabei helfen würde, den Buddhismus in Tibet wieder fest zu verankern, sondern auch Unklarheiten zu beseitigen, die sich aus Differenzen zwischen den verschiedenen Schulen ergeben hatten. Er entsandte Gyatsonseng (tib. rGya brTson-‘grus seng-ge), um Atisha die Einladung, zusammen mit Goldgeschenken, zu überreichen. Doch Atisha nahm weder die Geschenke noch die Einladung an. Er erklärte, dass er in Indien gebraucht wurde, um dem dortigen Niedergang des Buddhismus entgegenzuwirken.

Yeshe-Ö glaubte, dass Atisha abgelehnt hatte, weil nicht genug Gold geschickt worden war. Daher ging er zum König der Qarluqen (tib. Gar-log), um mehr Gold zu beschaffen. Die Qarluqen waren ein Turkvolk, das nordwestlich von Ngari lebte. Unglücklicherweise ließ der König der Qarluqen ihn einsperren.

Jangchub-Ö (tib. Byang-chub ‘od) war ein Großneffe von Yeshe-Ö und ebenfalls Mönch. Er versuchte, genug Gold zu sammeln, um das Lösegeld für seinen Onkel zu zahlen und ihn von den Qarluqen freizukaufen. Yeshe-Ö sagte ihm jedoch, er solle es stattdessen verwenden, um Atisha zum Kommen zu bewegen. Yeshe-Ö starb schließlich in Gefangenschaft.

Nachdem die Qarluqen das Qarakhanidische Reich (840 – 1137) gegründet hatten, unterhielten sie freundschaftliche Beziehungen zu ihren vormaligen militärischen Verbündeten, den Tibetern. Dies war auch nach Langdarmas Ermordung der Fall. In den 930er Jahren traten die Qarluqen/Qarakhaniden von einer Mischung aus Buddhismus und türkischem Schamanismus zum Islam über. Der westliche Zweig der Qarakhaniden, dessen Zentrum in Kaschgar lag, griff in dem Bestreben, die Route der Seidenstraße südlich des Tarimbeckens unter ihre Kontrolle zu bringen, 982 Khotan an. Sie belagerten den Oasenstaat bis 1006.

Traditionelle tibetische Quellen berichten, dass Yeshe-Ö während eines Krieges gefangengenommen wurde, den die Qarluqen/Qarakhaniden in Nepal ausfochten. John Brough („ Legends of Khotan and Nepal“, Bulletin of the School of African and Oriental Studies, Band 12) zeigte allerdings auf, dass der tibetische Name für Khotan, „Li“, sowie zahlreiche Legenden über Khotan von den Tibetern auf Nepal übertragen wurden. Demnach könnte man folgern, dass Yeshe-Ö den Qarluqen begegnete und von ihnen gefangengenommen wurde, als er zur Verteidigung des belagerten Khotan unterwegs war.

In seinem zweibändigen Geschichtswerk erwähnt Shakabpa allerdings keinerlei Schlachten im Zusammenhang mit diesem Ereignis. Er berichtet vielmehr, dass der König der Qarluqen Jangchub-Ö vor die Wahl stellte, entweder alle Bemühungen aufzugeben, indische Meister nach Tibet einzuladen, oder ein Lösegeld zu zahlen, das sein Gewicht in Gold aufwog, oder aber hingerichtet zu werden. Diese Wahl, vor die Jangchub-Ö gestellt wurde, lässt darauf schließen, dass sich der Vorfall höchstwahrscheinlich nach der Eroberung von Khotan durch die Qarluqen ereignete. Nachdem der Qarluqen-König das buddhistische Khotan zum Islam konvertiert hatte, schien er gegen jedwede Stärkung des Buddhismus in Tibet zu sein.

David Snellgrove („ Indo-Tibetan Buddhism: Indian Buddhists and Their Tibetan Successors“) schreibt, dass diese Darstellung des Todes von Yeshe-Ö’s in qarluqischer Gefangenschaft zweifelhaft ist. Als Beleg führt er an, dass Yeshe-Ö 1027 ein Edikt herausgab, das die Übersetzung buddhistischer Texte regelte und dass Yeshe-Ö gemäß Rinchen Zangpos Biographie in seinem Palast in Toling an einer Krankheit starb. Rinchen Zangpo führte die Bestattungsrituale persönlich durch. Wenn Yeshe-Ö allerdings in friedlicher Mission zu den Qarluqen reiste, um finanzielle Unterstützung zu beantragen, dann ist es einleuchtend anzunehmen, dass die Mission nach 1027 durchgeführt wurde, denn Atisha kam 1042 in Toling an. Nichtsdestotrotz widerspricht Rinchen Zangpos Biographie der traditionellen Darstellung von Yeshe-Ös Tod in Gefangenschaft.

Nebenbei bemerkt war 1027 auch das Jahr, in dem die Lehren des Kalachakra-Tantra zum ersten Mal nach Tibet gelangten, und zwar auf der Grundlage einer Übersetzung aus dem Sanskrit ins Tibetische, die der indische Pandit Bhadrabodhi und der tibetische Übersetzer Gyijo (tib. Gyi-jo Zla-ba’i ‘od-zer) erstellt hatten. Dieses Jahr markiert auch den Anfang des Kalenders nach Kalachakra-Art in Tibet mit dem ersten 60-Jahres-Kalenderzyklus Prabhava (tib. rab-‘byung, Skt. prabhava).

Jangchub-Ö sandte Nagtso (tib. Nag-mtsho Lo-tsa-ba), einen hervorragenden Übersetzer, nach Indien. Er gab ihm Gold und eine weitere Einladung an Atisha mit. Als dieser die Einladung erhielt und die Geschichte ihres Zustandekommens hörte, und nachdem er von der Buddha-Gestalt Tara Anweisungen erhalten hatte, willigte Atisha ein, für drei Jahre nach Tibet zu kommen. 1042 kam er in Toling an. Während seines Aufenthalts dort überarbeitete er Übersetzungen und schrieb den Text „Lampe für den Pfad zur Erleuchtung“ (tib. Byang-chub lam-gyi sgron-ma, Skt. Bodhipathapradipa).

Als sich Atisha 1045 auf dem Rückweg nach Indien befand, schloss sich ihm ein Laie, Dromtönpa (tib. ‘ Brom-ston rGyal-ba’i ‘byung-gnas, 1004 – 1064) an, der unter seiner Anweisung studieren wollte. Der Weg nach Nepal war aufgrund eines Bürgerkriegs der von 1039 bis 1045 dauerte abgeschnitten, und daher bat Dromtönpa Atisha stattdessen Zentraltibet zu besuchen. Atisha willigte ein. Nachdem er das Kloster Samye in der Nähe von Lhasa besucht hatte, hielt er sich hauptsächlich in Nyetang (tib. sNye-thang) in Ü auf, bevor er 1054 verstarb.

Bei seinem Besuch in Samye war Atisha erstaunt über die enorme Anzahl von Sanskrit-Texten in der Bibliothek des Klosters. Er äußerte die Bemerkung, dass selbst in Indien keine so große Sammlung zu finden war. Dass diese Text-Sammlung erhalten geblieben war, deutet darauf hin, dass die Verfolgung Langdarmas gegen die buddhistische monastische Institution gerichtet war und nicht gegen die buddhistischen Lehren als solche.

Die Gründung neuer Klöster und die Entwicklung des tibetischen Buddhismus und des Bön in verschiedene Schulen

Vor Atisha

Einige der älteren buddhistischen Klöster, wie zum Beispiel Samye, hatten in Zentraltibet seit der früheren Blüte der Lehren überlebt und hatten sich, als Atisha dort ankam, bereits wieder mit tibetischen Mönchen gefüllt. Zusätzlich waren dort einige neue Klöster gebaut worden. Das Kloster Zhalu (tib. Zha-lu dgon-pa, Zhva-lu dgon-pa) zum Beispiel war 1040 von Chetsun Sherab-Jungne (tib. lCe-btsun Shes-rab ‘byung-gnas) in Tsang gebaut worden – zwei Jahre vor Atishas Ankunft in Ngari. Es wurde später zu einem wichtigen Studienzentrum der Sakya-Tradition.

Die Kadam-Tradition

Atisha hatte Dromtönpa zu seinem Nachfolger ernannt. 1057 gründete Dromtönpa das Kloster Radreng (tib. Rva-sgreng rGyal-ba’i dben-gnas) in Ü, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 1064 lehrte. Er formte Atishas Lehren zu einer neuen buddhistischen Schule namens „Kadam“ (tib. bKa’- gdams). Ein zweites Kloster der Kadam-Schule, das Kloster Sangpu-Ne‘utog (tib. gSang-phu sne’u-thog-gi dgon-pa), ebenfalls in Ü, wurde 1073 von einem anderen Schüler Atishas, Ngog Legpe-Sherab (tib. rNgog Legs-pa’i shes-rab) erbaut.

1076 berief König Tsede (tib. rTse-lde) von Ngari im Kloster Toling in Ngari das Konzil von Toling ein. Er versammelte Übersetzer aus den westlichen, zentralen und östlichen Regionen Tibets sowie mehrere kaschmirische und nordindische Meister, um ihre Übersetzungstätigkeit zu koordinieren. 1092 erließ Prinz Zhiwa-Ö (tib. Zhi-ba ‘od) von Ngari ein Edikt, das Standardkriterien aufstellt, anhand derer festgestellt wurde, welche buddhistische Texte vertrauenswürdig waren. Das Hauptkriterium für ihre Authentizität war, ob es ein Sanskrit-Original des Textes gab. Bald wurde Sangpu-Ne‘utog ein wichtiges Zentrum für Übersetzungen sowie für das Studium und die Debatte.

Ein weiteres wichtiges Studienzentrum der Kadam-Schule war das Kloster Nartang (tib. sNar-thang dgon-pa), welches 1153 in Tsang gegründet wurde. Es wurde später ein Zentrum für das Drucken buddhistischer Texte. Einige traditionelle tibetische Quellen nennen für die Gründung von Nartang das Jahr 1033 und schreiben sie dem Kadam-Meister Tumtön Lodrö-drag (tib. gTum-ston Blo-gros grags) zu, aber das widerspricht der zeitlichen Abfolge, da Atisha erst 1042 in Ngari ankam. Die Differenz von 120 Jahren zwischen den beiden Gründungsdaten lässt vermuten, dass man den 60-Jahres-Zyklus im Kalachakra-Kalender verwechselte, in dem die Gründung stattfand.

Die Sakya-Tradition

Andere Traditionen des „späteren Aufblühens der Lehren“, die zusammen als die Sarma (tib. gSar-ma) – d.h. die „Neuen“ – Schulen bekannt sind, begannen zu dieser Zeit ebenfalls, Klöster zu bauen. Zum Beispiel: 1073, im selben Jahr also, in dem Sangpu-Ne‘utog gegründet wurde, wurde das Kloster Sakya (tib. Sa-skya dgon-pa) in Tsang (tib. gTsang), der westlichen Hälfte von Zentraltibet, von Kon Konchog-Gyelpo (tib. ‘ Khon dKon-mchog rgyal-po) gegründet. Nach diesem Kloster ist die Sakya (tib. Sa-skya)-Schule benannt.

Die Bön-Tradition

Auch die nicht-buddhistische Bön-Tradition baute zu dieser Zeit ihr erstes Kloster. 1072 gründete Druje Yungdrung Lama (tib. Bru-rje g.Yung-drung Bla-ma), ebenfalls in Tsang, das Kloster Yäru- Ensaka (tib. g.Yas-ru dBen-sa-kha dGon-pa). Er baute das Kloster, um eine Debattentradition zu etablieren, die sich mit dem Studium der Texte befasste, welche vom ersten großen Entdecker von Schatztexten (tib. gter-ston), Shenchen Luga (tib. gShen-chen Klu-dga’, 996-1035) in den Mauern von Samye aufgefunden wurden. Die ersten verborgenen Schatztexte des Bön waren 913 in Samye durch Zufall von einem Hirten gefunden worden.

Die Nyingma-Tradition

Die ersten Schatztexte der Nyingma (tib. rNying-ma)-Schule waren gegen Ende des 10. oder Anfang des 11. Jahrhunderts von dem Mönch Sang-Gye Lama (tib. Sangs-rgyas bla-ma) offenbart worden. „Nyingma“, die „Alte“ Schule, war der Name, mit dem, im Gegensatz zu den „Sarma“, den Neuen Schulen, die buddhistische Tradition Padmasambhavas benannt wurde. Sang-Gye Lama fand die oben erwähnten Texte in einem Tempel und ihm nahegelegenen Felsen in Ngari. Ihre Übermittlungslinie erlosch allerdings bald nach seinem Tod.

1038 entdeckte jedoch Drapa Ngönshe (tib. Gra-pa mNgon-shes) (geboren 1012) mehrere Nyingma-Schatztexte, die in Samye verborgen lagen. Er offenbarte auch „ Die Vier Glorreichen Tantras des Medizinischen Wissens“ (tib. gSo-ba rig-pa dpal-ldan rgyud-bzhi), die ebenfalls im Kloster verborgen waren. Die Übermittlungslinie der Texte, die Drapa Ngönshe fand, setzte sich nach ihm fort.

Mehrere Klöster aus der Zeit vor Langdarma, wie zum Beispiel Samye, waren zu neuem Leben erwacht und wurden zu Zentren dessen, was nun die Nyingma-Tradition genannt wurde. Das erste neue Nyingma-Kloster dieser Periode entstand jedoch erst 1159. Es handelt sich um das Kloster Katog-Dorjeden (tib. Ka:-thog rDo-rje gdan dGon-pa, Kloster Kathog), welches im südöstlichen Tibet im Distrikt Derge (tib. sDe-dge) in Kham (tib. Khams) von Ka Dampa-Desheg (tib. Ka Dam-pa bDe-gshegs, 1122-1192) gegründet wurde.

Die Kagyü-Tradition

Die dritte große Sarma-Schule neben derjenigen der Kadam und der Sakya war die Kagyü (tib. bKa’-brgyud)-Schule. Ihre wichtigste Überlieferungslinie ging von dem indischen Meister Tilopa aus und verlief über den indischen Meister Naropa (1016 – 1100) zu dem tibetischen Übersetzer Marpa (tib. Mar-pa Lo-tsa-ba Chos-kyi blo-gros) (1012 – 1097), seinem Schüler Milarepa (tib. Mi-la bZhad-pa rdo-rje, 1040 – 1123) und Milarepas Schüler Gampopa (tib. sGam-po-pa bSod-nams rin-chen, 1079-1153).

1158 gründete einer von Gampopas Schülern, Pagmodrupa (tib. Phag-mo gru-pa rDo-rje rgyal-po, 1110-1170), das Kloster Pagdrui Densatel (tib. Phag-gru’i gDan-sa thel), das früheste Kloster der Kagyü-Tradition. Es wurde der Sitz der Pagmodrupa-Kagyü (tib. Phag-mo gru-pa bKa’-brgyud)-Schule.

Im Jahr 1161 gründete Barompa (tib. ‘Ba’-rom-pa Dar-ma dbang-phyug, 1127 – 1199), der Schüler eines anderen Schülers von Gampopa namens Wön-Gom Tsultrim-Nyingpo (tib . dBon-sgom Tshul-khrims snying-po) das Kloster Barom (tib. ‘Ba’-rom dgon­-pa). Hier entwickelte sich die Barom-Kagyü (tib. ‘ Ba’-rom bKa’-brgyud)-Schule.

1175 erbaute Pagmodrupas Schüler Tselpa Zhang Yudragpa (tib. Tshal-pa Zhang ‘Gro-ba’i mgon-po g.Yu-brag-pa brTson-‘grus grags-pa, 1123 – 1194) das Kloster Tsel Yanggön (tib. Tshal Yang-dgon grva-tshang). Zusammen mit dem Kloster Tsel Gungtang (tib. Tshal gung-thang-gi dgon-pa), das er 1187 gründete, wurde es zum Zentrum der Tselpa-Kagyü (tib. Tshal-pa bKa’-brgyud)-Schule.

1179 gründete ein weiterer von Pagmodrupas Schülern, Drigungpa (tib. ‘Bri-gung sKyob-pa ‘Jig-rten dgon-po rin-chen dpal, 1143-1217), das Drigungtil-Kloster (tib. ‘Bri-gung mthil ‘Og-min byang-chub gling). Von Drigungpa leitet sich die Drigung-Kagyü (tib. ‘Bri-kung bKa’-brgyud)-Schule ab.

Im darauffolgenden Jahr, 1180, gründete noch ein weiterer von Pagmodrupas Schülern namens Taglung-Tangpa (tib. sTag-lung thang-pa bKra-shis dpal, 1142-1210), das Kloster Taglungpa (tib. sTag-lung-gi dgon-pa). Es wurde zum Zentrum der Taglung-Kagyü (tib. sTag-lung bKa’-brgyud) Schule.

Als nächstes fand im Jahr 1189 der Bau des Klosters Tsurpu (tib. Tshur-phu dgon-pa) durch den Ersten Karmapa, Dusum-Kyenpa (tib . Kar-ma Dus-gsum mkhyen-pa, 1110-1193) statt. Der Erste Karmapa war ein persönlicher Schüler Gampopas. Das Kloster Tsurpu wurde Zentrum der Karma-Kamtsang-Kagyu (tib. Kar-ma kam-tshang bKa’-brgyud)-Schule und das Zentrum für die darauffolgende Linie der Karmapas.

Das erste große Kloster der Drugpa-Kagyu (tib. ‘Brug-pa bKa’-brgyud)-Schule, das Kloster Namgyipur (tib. gNam-gyi phur dgon-pa), wurde 1205 von Tsangpa Gyare (tib. gTsang-pa rGya-ras Ye-shes rdo-rje, 1161 – 1211) gebaut. Tsangpa Gyare war ein Schüler von Ling-Repa (tib. gLing Ras-pa Pad-ma rdo-rje, 1128 – 1211), der seinerseits Schüler von Pagmodrupa war.

Als sich die Tibeter der mongolischen Bedrohung von Seiten des Tschingis Khans (Genghis Khan) bewusst wurden, hatten sich die wichtigsten Klöster der größeren Schulen des tibetischen Buddhismus und des Bön bereits in Tibet etabliert. Später unterstützten verschiedene mongolische Khans die eine oder andere dieser tibetisch-buddhistischen Schulen.

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