Das mitfühlende Herz des Bodhichitta

Ich wurde gebeten, heute Abend über Bodhichitta zu sprechen. Bodhichitta ist ein großes Thema, bei dem es um unsere Motivation geht – speziell um die Frage, warum wir einem spirituellen Pfad folgen wollen. Bodhichitta ist eine Motivation, die wir schrittweise in uns aufbauen; sie sofort entstehen zu lassen ist schwierig. Bodhichitta bezeichnet ein Herz, das danach strebt, ein Buddha zu werden, ein Herz, das den festen Entschluss gefasst hat: „Ich muss all meine Beschränkungen überwinden und all meine Potenziale verwirklichen, damit ich in der Lage bin, allen Gutes zu tun.“ Wir streben Erleuchtung nicht nur an, weil sie das Beste und Höchste ist. Wir streben sie an, damit wir, wenn wir sie erreichen, allen helfen können. Möglicherweise sagen wir oft, dass wir daran arbeiten, ein Buddha zu werden, um allen fühlenden Wesen zu helfen. Doch es ist sehr schwierig, dies ständig und aufrichtig in unserem Herzen zu spüren. Aber indem wir dieses Bestreben immer und immer wieder in uns entstehen lassen, können wir eine Ebene erreichen, auf der es spontan in uns entsteht. Ein Bodhisattva ist jemand, der Tag und Nacht ein authentisches Bodhichitta als Hauptmotivation hat.

Da Sie vermutlich bereits Lehren und Erklärungen darüber gehört haben, wie man Bodhichitta entwickeln kann, werde ich den Schwerpunkt nicht darauf legen. Stattdessen werde ich davon sprechen, wie wichtig es ist, alle Ebenen zu durchlaufen, die zu dieser Motivation führen. Es kommt oft vor, dass jemand diese Ebenen überspringen will und denkt, er könne sofort mit der höchsten Motivation des Mahayana anfangen. Möglicherweise sagen wir: „Ich übe, weil ich anderen helfen will. Es ist meine soziale Verantwortung.“ Da es offensichtlich etwas Gutes ist, versuchen wir, sofort damit anzufangen. Doch wir geraten in Schwierigkeiten, wenn wir die vorangehenden Ebenen nicht durchgegangen sind. Ich möchte hier darstellen, wie die Schwierigkeiten, die sich manchmal ergeben, wenn wir eine Motivation der Liebe und des Mitgefühls entwickeln, um anderen zu helfen, vermieden werden können,

Mit dem Lamrim, dem Stufenpfad zur Erleuchtung, arbeiten wir uns stufenweise die Pfade bis zur höchsten Ebene der spirituellen Entwicklung empor. Die erste Ebene der spirituellen Motivation besteht darin, dass wir für das Glück in unseren zukünftigen Leben arbeiten. Nur nach dem Glück in diesem Leben zu streben tun alle, sogar Tiere: Sie kümmern sich um ihre Nahrung und um ihre Jungen. Obwohl das sehr wichtige Anliegen sind, sind sie nicht notwendigerweise Bestandteile einer spirituelle Praxis.

Es ist natürlich wichtig, sich um die Belange dieses Lebens zu kümmern. Manche Menschen nehmen sich selbst und ihre Lage nicht ernst genug. Sie wollen sich nie näher damit beschäftigen, was in ihrem eigenen Leben geschieht, und so bemühen sie sich nicht einmal darum, ihre gegenwärtige Situation zu verbessern. Sie akzeptieren einfach die Umstände und streben nie etwas Besseres an. Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir zumindest auf dieser ersten Stufe anfangen, uns um uns selbst zu kümmern, um unsere Familien und um unsere allgemeine Situation – auch wenn dies keine besonders spirituelle Motivation ist. Wenn wir Probleme haben, sollten wir uns diese auch wirklich eingestehen. Wir sollten unser Leben untersuchen, um festzustellen, was für Schwierigkeiten wir haben und uns fragen: „Bin ich glücklich? Bin ich unglücklich? Habe ich Schwierigkeiten, die mein Leben unangenehm machen?“

Zukünftige Leben

Ab dem Zeitpunkt, an dem wir uns hauptsächlich mit unseren zukünftigen Leben beschäftigen, haben wir die Demarkationslinie überschritten, die zeigt, dass wir tatsächlich in die spirituelle Praxis eingetreten sind – darüber stimmen alle Texte überein. Wenn wir uns um unsere zukünftigen Leben kümmern, möchten wir vermeiden, schlimmere Probleme zu haben als die, die wir jetzt haben. Wir prüfen, was für zukünftige Situationen aus unserem jetzigen Verhalten entstehen könnten. Wir denken an unser kostbares menschliches Leben: „Was für ein Glück ich habe! Ich bin nicht am Verhungern. Ich bin nicht im Konzentrationslager. Ich bin nicht geistig behindert. Ich bin nicht in einer barbarischen Situation, in der jeder jeden angreift. Ich habe ein enormes Glück, von all diesen Dingen frei zu sein und die Gelegenheit zu haben, mich spirituell zu entwickeln. Doch diese Gelegenheit wird nicht für immer anhalten, der Tod wird mit Sicherheit kommen. Alle müssen sterben, und wir wissen nicht, wann dies geschehen wird. Ich könnte jederzeit von einem Lastwagen überfahren werden. Ich werde nicht notwendigerweise alt sein, wenn ich sterbe; es ist auch möglich, dass ich in jungen Jahren sterbe.“ Dann denken wir darüber nach, was nach unserem Tod geschehen könnte. Entweder wir kommen in eine bessere Situation oder in einer schlechtere. Wenn wir uns die schlechtere Situation vor Augen halten – etwa, dass wir als Insekt oder hungriger Geist wiedergeboren werden könnten – entwickeln wir ein starkes Gefühl der Abscheu (engl. dread ). Nicht der Angst, sondern der Abscheu.

Im Buddhismus versuchen wir nicht, Angst zu kultivieren. Wenn wir sagen, dass wir uns vor der Wiedergeburt in den niedrigeren Bereichen fürchten, ist die Übersetzung nicht korrekt. Richtig ist, zu sagen, dass wir eine niedrigere Wiedergeburt scheuen bzw. dass uns davor graut (engl. to dread). Angst ist ein lähmender Geisteszustand, in dem wir die Situation, die wir nicht mögen mit einer dicken, soliden Linie markieren und sie zu etwas Monströsem und Schrecklichem machen. Dann erstarren wir und sind oft nicht mehr in der Lage, damit umzugehen. Darum geht es im Buddhismus nicht. Was damit gemeint ist, dass wir nicht in eine schreckliche Situation geraten wollen. Es gibt einen Unterschied zwischen Abscheu und Angst: So beinhaltet z.B. die Aussicht, einen Nachmittag mit einer unausstehlichen und schrecklichen Person verbringen zu müssen, die die Stunden sehr unangenehm machen würde, nicht Angst, sondern Abscheu. Abscheu ist mit einem starken Wunsch verbunden, dass etwas nicht geschehen möge.

Eine sichere Richtung einschlagen

Indem uns vor diesen schlimmeren zukünftigen Situationen graut, suchen wir nach einer Richtung, die wir einschlagen können, um uns aus ihnen zu befreien. Die Richtung aus ihnen heraus wird eingeschlagen, indem wir Zuflucht nehmen. Die Zuflucht ist die sichere Richtung, die wir in unserem Leben einschlagen. Wir gehen in Richtung des Dharma. Der gesamte Dharma ist der Zustand, in dem all unsere Beschränkungen und Probleme beseitigt und all unsere Potenziale verwirklicht wurden.

Dharma bedeutet „vorbeugende Maßnahme“, d.h. Dinge, die wir tun, um Probleme zu vermeiden. Die größte und letztendliche Maßnahme, die wir ergreifen können, um uns von all unseren Problemen zu befreien, ist es, uns von den Beschränkungen zu befreien, die sie verursachen. „Wenn ich wütend, ärgerlich, nervös werde oder mir Sorgen mache, wird mir das eine Menge Schwierigkeiten bereiten. Doch wenn ich all meine Potenziale verwirklichen könnte, wäre ich dazu in der Lage, mit allen Situationen umzugehen und allen auf die bestmögliche Weise zu helfen.“ Wenn wir das erkennen, wollen wir in diese Richtung gehen.

In diese Richtung zu gehen ist positiv und nutzbringend. Es ist die Richtung, die die Buddhas eingeschlagen haben und die Richtung, auf die die Sangha-Gemeinschaft hinarbeitet. Der Sangha ist die Gemeinschaft hoch verwirklichter Wesen, die die Realität einfach und nichtkonzeptuell gesehen haben. Die monastische Gemeinschaft der Mönche und Nonnen symbolisiert für uns diese hoch verwirklichten Wesen. Eine sichere und positive Richtung in unserem Leben einzuschlagen ist die Lösung, um zu vermeiden, dass wir in zukünftigen Leben in eine schlechtere Richtung gehen.

Spezifischer müssen wir an die verhaltensbedingten Ursachen und Wirkungen denken. Wir müssen erkennen, dass wenn wir destruktiv handeln, dies zu Schäden und Problemen führt. Wir schaffen viel negative Energie und erleben diese dann selbst, weil sie an uns hängen bleibt. Wenn wir uns dagegen von destruktiven Handlungsweisen zurückhalten und konstruktiv handeln, bauen wir ein positives Potenzial auf, und als Konsequenz daraus werden die Dinge künftig besser werden. So arbeiten wir daran, unsere zukünftigen Leben zu verbessern.

Die Entschlossenheit, frei zu sein

Egal welcher Art unser zukünftiges Leben sein wird, es wird weiterhin unkontrollierbar wiederkehrende Probleme geben – Frustrationen, Konfrontationen und Konflikte mit anderen. Außerdem werden wir nicht bekommen, was wir uns wünschen und uns wird widerfahren, was wir uns nicht wünschen und so weiter. Diese Dinge lassen sich nicht vermeiden. Sie ergeben sich, weil wir uns nicht gewahr darüber sind, wer wir sind, wie wir existieren und wie andere Menschen existieren. Da wir uns dessen nicht gewahr sind, werden wir verwirrt, da wir verwirrt sind, fühlen wir uns unsicher, und da wir uns unsicher fühlen, greifen wir nach einer Identität, die uns irgendeine Form der Sicherheit geben soll. Wir greifen nach einem wirklichen oder imaginären Aspekt unserer selbst und identifizieren uns damit: „Das bin ICH.“

Wir können uns mit bestimmten sozialen Rollen oder Beschäftigungen identifizieren: „Ich bin ein GESCHÄFTSMANN, das ist es, was ich bin.“ Oder: „Ich bin eine MUTTER“ oder „Ich bin ein VATER.“ Wir begründen unsere gesamte Identität darauf, und da wir uns weiter unsicher fühlen, versuchen wir, diese Identitäten zu verteidigen oder zu bestätigen. Hierbei handeln wir in einer sehr unbesonnenen und zwanghaften Weise. Wir tyrannisieren die Menschen um uns herum: „Ich bin ein VATER und muss respektiert werden!“ Natürlich hat unser Kind damit dann Schwierigkeiten und es gibt einen großen Konflikt. Das Kind sagt: „Ich bin eine unabhängige Person. Ich weiß, was ich tun will!“ Im Teenageralter gründet das Kind jedoch seine Identität auf seiner Unabhängigkeit. Dann muss der Vater seine eigene Identität bewahren und sagen: „Nein, du MUSST mir gehorchen!“ Alle sind unsicher und halten immer stärker an ihrer sozialen Rolle fest. Dieses Verhalten bewirkt unkontrollierbar wiederkehrende Diskussionen, Kämpfe und jede Menge Ärger usw.. Das ist, was Samsara genannt wird unkontrollierbar wiederkehrende Probleme.

Wir müssen eine Entschlossenheit entwickeln, uns von diesem Zyklus ständig wiederkehrender Probleme zu befreien. Dies wird oft als „Entsagung“ bezeichnet, was aber eine fehlleitende Übersetzung ist. Auf Deutsch impliziert das Wort Entsagung die Bedeutung, dass man alles aufgeben und sich in eine Höhle zurückziehen muss. Doch das hat Buddha nicht gesagt. Wir machen uns diese Vorstellung, weil wir von Menschen wie Milarepa gelesen haben, die ihre Familie und ihr Dorf verlassen haben, um in einer Höhle zu leben. Wir denken, wir müssten dies auch tun. Das ist jedoch nicht die Bedeutung von Entsagung. Natürlich müssen wir unsere groben Formen der Anhaftung und unser Klammern an unseren Besitz loslassen, doch das bedeutet nicht, dass wir alles aus dem Fenster werfen müssen.

Die Vorstellung, die wirklich mit dem Begriff Entsagung gemeint ist, ist „die Entschlossenheit, frei zu sein.“ Unser Geist ist klar und entschlossen: „Alle Probleme, die ich habe, alle Konfrontationen mit meiner Familie, alle Schwierigkeiten an meiner Arbeitsstelle genug damit! Ich habe es satt! Es ekelt mich an! Ich muss da raus!“ Auf dieser Grundlage versuchen wir, das unterscheidende Gewahrsein zu entwickeln, das die Realität erkennt und versteht, wie wir existieren. Denn tatsächlich existieren wir nicht in der Zwangsjacke dieser soliden Identitäten. Die Dinge sind weit offener als dies. Wir existieren nicht auf diese merkwürdige, vorgestellte, unmögliche Art und Weise. Wir sind nicht nur Eltern, wir sind auch Freunde und die Kinder unserer eigenen Eltern. In Bezug auf andere sind wir viele Dinge. Wir wollen daher Entschlossenheit entwickeln, frei zu sein. Diese Entschlossenheit wird uns dazu antreiben, einer spirituellen Praxis zu folgen und an Weisheit zu gewinnen.

Universelle Verantwortung

Danach denken wir: „Ich bin nicht der einzige, der in diesem Universum existiert. Es gibt außer mir viele andere Menschen. Was mit ihnen? Habe ich irgendeine Verantwortung ihnen gegenüber?” Die Antwort könnte lauten: „Nein, wer interessiert sich schon für sie? Ich habe keine wirkliche Verbindung zu ihnen. Ich kann einfach für mich allein arbeiten.“ Doch das ist eine sehr unrealistische Einstellung. Der große indische Meister Shantideva hat das Beispiel von der Hand und dem Fuß gegeben. Wenn wir einen Dorn in unserem Fuß hätten und unsere Hand unserem Fuß sagen würde: „Pech gehabt, lieber Fuß! Das ist dein Problem, mir geht’s gut hier oben,“ dann wäre das äußerst dumm. Die Hand muss dem Fuß helfen, da sie miteinander verbunden sind. In einer ähnlichen Weise können wir nicht nur für uns selbst arbeiten, da wir mit allen anderen auf vielfache Weise verbunden sind.

Wir können dies leicht erkennen, wenn wir an all die Dinge denken, die wir innerhalb eines Tages benutzen oder genießen. Denken wir zum Beispiel an das, was wir heute morgen zum Frühstück gegessen haben, beispielsweise eine Schale warmen Grießbreis. Woher kommt diese Schale Grießbrei? Zahlreiche Menschen waren beim Anbau des Weizens beteiligt. Andere haben ihn geerntet und zur Mühle gebracht, wo er gemahlen und Grieß daraus gemacht wurde, und andere haben diesen dann verpackt. All diese Menschen waren daran beteiligt, den Grieß für uns vorzubereiten. Anschließend musste das Produkt per Flugzeug, Schiff oder auf dem Landweg zu uns gebracht werden. Wer hat die Straßen gebaut, Wer die Flugzeuge? Woher stammen die Materialien, aus denen die Lastwagen und Flugzeuge gefertigt wurden? Was ist mit dem Treibstoff? Man denke an die Dinosaurier, deren Körper verwest sind, um das Benzin zu bilden! Es gibt so viele Menschen und Tiere, die dabei beteiligt waren, damit wir diese eine Schachtel Grieß kaufen konnten.

Wie haben wir den Gries gekocht? Wir benötigen in unserer Küche Elektrizität oder Gas. Diese Dinge stehen uns zur Verfügung dank den Menschen, die in den Stromzentralen arbeiten und dank denen, die nach dem Gas bohren und es fördern. Es gibt so viele Menschen, die bei all diesen Dingen eine Rolle spielen – und wir sprechen hier nur über eine kleine Schale Grießbrei! Was, wenn wir über all die anderen Dinge sprechen würden, die wir essen? Und über die Kleider, die wir tragen? Was ist mit den unzähligen Gegenständen in unserem Haus? Woher kam die Schale, aus welcher der Grießbrei gegessen wurde? Woher stammte die Verpackung? Denken Sie an all die Menschen in der Holz-, Papier- und Plastikindustrie, die daran beteiligt waren, die Verpackung herzustellen.

Jeden Tag sind Hunderttausende von Menschen daran beteiligt, unser Leben möglich zu machen. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, nur für uns selbst zu arbeiten, da wir so sehr verbunden mit allen anderen sind. Wenn es allen anderen übel geht und nur uns selbst gut, wird das so nicht funktionieren. Genauso wird es nicht funktionieren, wenn wir die einzigen Überlebenden nach einem Atomkrieg sind ganz allein in unserem Atombunker mit einer Gasmaske auf dem Kopf, während alle anderen tot sind. Wie lange könnten wir so überleben? Wohl nicht sehr lange. Außerdem würde ein solches Leben kaum viel Spaß machen.

Mit diesen Überlegungen beginnen wir, an andere zu denken. Wir erinnern uns an ihre Freundlichkeit und entwickeln den Wunsch, sie zu erwidern. Wir entwickeln Liebe, indem wir ihnen wünschen, glücklich zu sein, und wir entwickeln Mitgefühl, den ehrlichen Wunsch, dass sie frei von ihren Problemen sein mögen. Zusätzlich übernehmen wir die Verantwortung dafür, etwas zu tun, um ihnen dabei zu helfen. Es reicht nicht, einfach neben dem Swimmingpool zu stehen und zuzuschauen, wie unser Kind ertrinkt und zu sagen: „Nein, so was! Ich wünschte mir, das würde nicht passieren!“ Mitgefühl reicht nicht. Wir müssen tatsächlich etwas tun. Wir müssen ins Wasser springen, um unserem Kind zu helfen und somit die Verantwortung übernehmen, es zu retten. Es ist ein außergewöhnlicher Entschluss, der Entschluss: „Ich werde etwas tun, um den anderen zu helfen.“

Wenn wir uns anschließend fragen, ob wir wirklich in der Lage sind, anderen bestmöglich zu helfen, müssen wir dies verneinen, wenn wir ehrlich sind. Weil wir kaum in der Lage sind, uns selbst zu helfen. Wie könnten wir dann anderen helfen? Der einzige Weg führt über den Entschluss, selbst ein Buddha zu werden. Denn um ein Buddha zu werden, muss ich all meine Beschränkungen überwinden und all meine Potenziale verwirklichen. Erst dann kann ich allen bestmöglich helfen. Wir entwickeln Bodhichitta: wir setzen unser Herz daran, Buddhas zu werden, um allen zu helfen. Bodhichitta zu entwickeln bedeutet, dass wir unser Herz zunehmend anderen öffnen, dass wir unser Herz dem Ziel öffnen, unsere höchsten Potenziale zu verwirklichen und all unsere Beschränkungen zu überwinden, damit wir anderen bestmöglich helfen können.

Das ist der Stufenpfad, durch den wir uns entwickeln. Als Erstes wollen wir sicherstellen, dass wir gute zukünftige Leben haben werden. Dann entwickeln wir die Entschlossenheit, von all unseren Problemen vollkommen frei zu sein. Schließlich widmen wir uns mit ganzem Herzen der Verwirklichung der Buddhaschaft, damit wir in der Lage sind, allen zu helfen. Wir übernehmen diese Verantwortung aufgrund von Liebe und Mitgefühl, da wir uns wünschen, dass alle glücklich sein mögen und dass niemand unglücklich sein möge.

Ohne zukünftige Leben ernst zu nehmen

Was geschieht, wenn wir direkt auf die letzte Ebene springen wollen und sofort die Buddhaschaft anstreben, ohne die vorangehenden Ebenen durchlaufen zu haben? Wir geraten in Schwierigkeiten. Der erste wichtige Schritt ist zum Beispiel, dass wir an zukünftige Leben denken und sie ernst nehmen. Wir haben möglicherweise nicht viel daran gedacht. Oder vielleicht haben wir ihre Existenz auf sehr vage Weise angenommen, ohne sie uns wirklich zu Herzen zu nehmen. Wenn wir nicht über die Tatsache nachgedacht haben, dass wir unendlich viele Leben haben, könnten wir z.B. meinen: „Nun, meine Beziehung zu dieser speziellen Person ist nicht besonders gut. Warum lasse ich sie nicht einfach fallen und beginne mit jemand anderem eine Beziehung?“ Es kann sein, dass wir diese Geisteshaltung gegenüber Menschen haben, die wir gut kennen oder gegenüber Freunden, mit denen die Stimmung schlecht geworden ist – wir wollen sie deshalb verlassen. Wenn wir unserer Partner überdrüssig sind oder wir Schwierigkeiten mit ihnen haben, nehmen wir uns einfach einen neuen Ehemann oder eine neue Frau. In einigen Ländern enden mehr als 50 Prozent aller Ehen in einer Scheidung. Das ist wirklich schockierend und auch sehr traurig.

Was steht hinter einer solchen Haltung? Es ist die Vorstellung, dass wir keine Verbindungen zu anderen haben und dass wir sie daher wie alte Kleider wegwerfen können. „OK, ich werde dieser Person nicht mehr helfen. Ich kann sie/ihn links liegen lassen. Es spielt keine Rolle.“ Doch wenn wir an die Unendlichkeit zukünftiger Leben denken, erkennen wir, dass wir nie einer Beziehung zu jemandem aus dem Weg gehen können. Wenn die Beziehung nicht gut funktioniert, können wir uns ihr nicht entziehen, indem wir die Person ignorieren oder sie nie wieder treffen. Wenn wir diese Beziehung nicht im jetzigen Leben in Ordnung bringen, werden sich in zukünftigen Leben wieder sehr ähnliche Situationen ergeben. Wenn wir jetzt mit dieser Person Probleme haben und wir einfach weggehen, werden wir in zukünftigen Leben eine sehr ähnliche Person treffen (die Kontinuität dieser Person) und werden wieder dieselben Schwierigkeiten und Probleme haben. Wir können nicht vor ihnen fliehen.

Wenn wir mit jemandem Schwierigkeiten haben, bedeutet dies nicht, dass wir immer mit ihr oder ihm zusammenbleiben müssen. Manchmal könnte es schwierig sein, dies zu tun. Doch wir müssen zumindest versuchen, die Situation zu verbessern oder uns freundschaftlich zu trennen. Wir sollten versuchen, die Qualität der Beziehung etwas zu verbessern, da sie in zukünftigen Leben weiter bestehen wird. Möglicherweise sind wir jetzt nicht ganz in der Lage, mit der Situation umzugehen, doch hoffentlich werden wir es in zukünftigen Leben sein.

Wenn wir versuchen, unser Herz zu allen hin zu öffnen und die Buddhaschaft zu erlangen, um ihnen zu helfen, ist es sehr hilfreich, über zukünftige Leben nachgedacht zu haben. Wenn wir dies nicht getan haben, könnten wir folgendes Problem haben: „Ich versuche, alle in mein Herz zu schließen, doch ich kann diese Person nicht leiden, und deshalb befasse ich mich nicht mit ihr, sondern nur mit anderen Menschen.“ Wenn uns klar wird, dass wir vor niemandem fliehen können und dass wir diesen Menschen in zukünftigen Leben weiter begegnen werden, hilft uns dies, unser Herz allen zu öffnen. Daher müssen wir uns mit ihnen befassen. Wir müssen in der Lage sein, allen gegenüber mehr Liebe, Wärme und Freundlichkeit zu entwickeln. Das ist ein wichtiger Punkt.

Ein weiterer Aspekt ist, dass wir uns sehr oft mit unseren eigenen kleinen Gruppen identifizieren. Wir sehen uns selbst ausschließlich als Amerikaner, als Chinesen, als Buddhisten oder wir identifizieren uns nur mit unseren eigenen Familien oder unserem Geschlecht oder unserer Altersgruppe Teenager, Erwachsene oder Senioren und denken: „Ich kann mich nur mit Menschen meiner Gruppe identifizieren. Ich kann nur ihre Probleme verstehen. Daher kann ich nur ihnen helfen. Ich kann nur anderen Amerikanern helfen. Wie könnte ich die Menschen in Afrika verstehen?“ „Ich kann nur anderen Buddhisten helfen, da es mir unmöglich ist, Menschen mit einem anderen religiösen Hintergrund zu verstehen.“ „Ich kann nur anderen Männern helfen, denn wie könnte ich je Frauen verstehen?“ „Ich kann nur Frauen helfen, da alle Männer Chauvinisten sind und mich herumkommandieren. Wie könnte ich mich je mit ihnen identifizieren?“ „Ich kann nur andere Teenager verstehen und kann nur ihnen helfen, da Eltern keine Ahnung davon haben, was abgeht sie kapieren nichts.“ „Ich kann nur reifen Erwachsenen helfen, weil alle Jugendlichen verdorben sind und man ihnen nichts sagen darf.“

So beschränken wir uns, wenn wir nur das jetzige Leben in Betracht ziehen und die spezifischen Situationen, in denen wir uns jetzt befinden (in Bezug auf unser Alter, Geschlecht, unsere Familie, unser Land und so weiter). Wenn wir an die Unendlichkeit der Leben denken – an unsere zukünftigen und vergangenen – – dann wird uns klar: „Ich habe alle Altersstufen erlebt. Ich bin jung gewesen, in mittlerem Alter und alt. Ich kann mich mit Menschen in allen Alterstufen identifizieren, da ich sie selbst durchlaufen habe. Ich weiß sie zu schätzen. Ich wurde in allen Rassen und Nationalitäten wiedergeboren. Ich komme aus allen kulturellen Hintergründen.“ Diese Einsicht hilft uns, uns mit allen Gruppen zu identifizieren und zu allen eine Verbindung zu spüren.

Wir können dies noch weiter fassen, indem wir uns daran erinnern, dass wir in vergangenen Leben auch Tiere gewesen sind. „Wie habe ich mich gefühlt, als mich jemand getreten oder zerdrückt hat?“ Auf diese Weise erinnern wir uns daran, dass auch Tiere Schmerz und Glück empfinden, und dadurch behandeln wir sie sorgsamer.

Um ein Gefühl der Verbundenheit mit allen zu entwickeln, ist es also sehr hilfreich, an vergangene und zukünftige Leben zu denken. Wir können uns auch mit Menschen beider Geschlechter in identifizieren: „In der Vergangenheit bin ich sowohl männlich als weiblich gewesen.“ Wir können die Probleme und Situationen aller Gruppen erkennen, nachfühlen und verstehen. Dies ist sehr hilfreich, um allen gegenüber unser Herz zu öffnen und um eine Sehnsucht nach dem Erreichen der Buddhaschaft zu entwickeln, um dies bestmöglich tun zu können. Dies sind nur einige wichtige Punkte, die daraus folgen, dass wir an zukünftige Leben denken. Ohne sie bleibt der Umfang, in dem wir unser Herz öffnen, sehr beschränkt.

Ohne die Entschlossenheit, frei zu sein

Wenn wir unser Herz der Aufgabe widmen, anderen zu helfen, ist ein weiterer großer und wichtiger Aspekt die Entschlossenheit, frei zu sein. Wenn wir anderen helfen, tun wir dies oft aus bestimmten neurotischen Gründen. Wir helfen ihnen, weil wir geliebt werden wollen. „Ich werde euch helfen, um sehr beliebt zu werden.“ „Alle mögen mich, weil ich dieser Person helfe. Ich tue dies, um geliebt und geschätzt zu werden.“ „Ich tue dies, weil alle anderen denken werden, was für ein guter Mensch ich doch bin. Dann werde ich einen guten Ruf haben.“ „Ich tue dies, denn wenn ich es nicht tue, werde ich mein Gesicht verlieren und die anderen werden schlecht von mir denken; ich fühle mich gezwungen, es zu tun.“ Oder wir wollen uns gebraucht fühlen: „Ich werde dir helfen, damit ich mich wichtig fühle. Im Gegenzug für die Hilfe, die ich gebe, werde ich geliebt werden.“ Eltern haben manchmal diese Einstellung: „Auch wenn meine Kinder schon 30 oder 40 sind, muss ich ihnen weiterhin sagen, was sie anziehen und essen sollten, weil ich mich dann gebraucht fühle. Ich habe dann das Gefühl, eine Funktion zu haben und dass ich im Leben meiner Kinder wichtig bin.“ Wenn wir anderen helfen, damit wir uns gebraucht fühlen, nutzen wir sie bloß aus.

Wenn wir die Entschlossenheit haben, frei zu sein, erkennen wir diese unkontrollierbar wiederkehrenden Situationen, diese neurotischen Beziehungen und die Probleme, die sie verursachen. Dann entwickeln wir die Entschlossenheit, frei zu sein. „Jetzt reicht es mir! Ich muss da raus. Das ist einfach lächerlich! Das führt zu so viel Ärger, zu so viel Angst, zu so vielen Spannungen!“

Wenn wir diese Entschlossenheit haben, frei zu sein, sind wir auch dazu entschlossen, uns von allen Arten neurotischer Interaktion mit Menschen, denen wir helfen wollen, frei zu sein. „Ich helfe, damit alle denken, dass ich ein wunderbarer Mensch bin. Ich mache mir Sorgen darüber, was dieser und was jener Mensch denkt. Ich helfe anderen nur, wenn jemand dabei ist, der es sieht und es dann herumerzählt. Ich tue es, um die Leute zu beeindrucken. Ich geben Almosen, aber ganz sicher nicht anonym. Ich tue es, damit alle wissen, dass ich etwas gegeben habe. Ich werde selbst eine Ehrentafel mit meinem Namen aufstellen, auf der steht, dass ich diese Summe gespendet habe!“ Mit der Entschlossenheit, frei zu sein, erkennen wir die Nachteile dieses Denkens: „Ich helfe anderen, damit sie von mir abhängig sind und ich mich wichtig fühlen kann.“ Wenn wir eine starke Entschlossenheit haben, von diesen Problemen frei zu werden, geben wir solch neurotische Motive auf.

Obwohl wir es möglicherweise nicht gleich unterlassen können, erkennen wir zumindest, dass es zu Problemen führen wird, den anderen aus neurotischen Gründen zu helfen. Die anderen werden es uns zudem letztlich übel nehmen. Sie werden merken, was wir tun und uns damit konfrontieren. Dies kann auch unsere ehrlichen Bemühungen, anderen wirklich zu helfen, unterminieren. Nicht nur unsere neurotischen Gründe, den anderen zu helfen, sondern unsere gesamten Aktivitäten, um den anderen zu helfen, in Frage zu stellen, kann dazu führen, dass wir dann ganz aufhören, auch nur zu versuchen, jemandem unter die Arme zu greifen.

Wir müssen alle neurotischen Motivationen, die wir haben, beseitigen. Wir tun dies mit Hilfe der Entschlossenheit, uns von allem Ärger und von allen Anmaßungen zu befreien, die entstehen, wenn wir mit einer unreinen Motivation handeln. Es ist sehr wichtig, diese Entschlossenheit, frei zu sein zu entwickeln, damit unsere Interaktionen mit anderen nicht so sehr von neurotischen Motivationen befleckt sind. Aber obwohl dieser Schritt so wichtig ist, tendieren wir dazu, ihn zu überspringen.

An sich selbst arbeiten

Der Hauptzweck des Dharmas ist es, unsere Schwächen zu erkennen, sie zu korrigieren und unsere guten Qualitäten zu entwickeln. Indem wir daran arbeiten, uns zu verbessern, machen wir dadurch Fortschritte, dass wir einen Stufenpfad von Methoden anwenden und durch unsere persönlichen Erfahrungen etwas über uns selbst lernen. Nehmen wir zum Beispiel an, dass wir die Gewohnheit haben, an unserem Partner oder unseren Kindern herumzunörgeln. „Warum tust du dies nicht? Warum tust du jenes nicht? Warum bist du nicht rechtzeitig heimgekommen? Warum hast du nicht telefoniert? Warum bringst du den Müll nicht raus?“ Wir wissen, dass das sehr destruktiv ist und viele Spannungen in einer Beziehung schafft. Es wird wahrscheinlich dazu führen, dass unsere Partner oder unsere Kinder uns gegenüber kälter und distanzierter werden und sagen: „Lass mich in Ruhe!“ Und wenn sie es nicht explizit sagen, werden sie uns einfach ignorieren und kalt werden. Dann sagen wir: „Warum sprichst du nicht mit mir? Warum tust du dies nicht? Warum tust du jenes nicht?” Daraufhin werden sie sogar noch stiller und werden sich mehr von uns zurückziehen kommen überhaupt nicht mehr nach Hause. Das führt dazu, dass sich Menschen in einer Familie unglücklich fühlen. Was tun wir normalerweise, um so etwas zu beenden?

Als Erstes versuchen wir, uns selbst zu kontrollieren: „Ich weiß, dass ich dies nicht sagen sollte, deshalb werde ich es nicht mehr sagen.“ Wir versuchen, uns selbst stark zu beherrschen, doch das ist oft schwierig und bald stellen wir fest, wie wir wieder anfangen zu nörgeln: „Ich weiß intellektuell, dass ich nicht nörgeln sollte, doch ich kann es nicht lassen. Ich habe nicht die Kraft, es zu stoppen.“ Dann werden wir auf uns selbst wütend: „Es ist schrecklich! Ich habe versucht, meinen Mund zu halten, aber ich habe es nicht geschafft.“ In einem Zustand voller Wut ist es sehr schwierig, sich zu verändern oder zu verbessern, da wir so außer uns sind.

Wut verwandelt sich schnell in ein schlechtes Gewissen. „Ich habe es vermasselt! Ich fühle mich schuldig! Ich bin schrecklich! Ich hätte nicht nörgeln sollen. Ich habe einen neuen Streit verursacht.“ Schuldgefühle sind ein Geisteszustand, indem wir leiden und unglücklich sind und uns selbst stark mit dem Bild eines unartigen Kindes identifizieren: „Ich bin so unartig. Schau dir an, was ich getan habe! Mutti und Papi werden mich nicht mehr lieb haben.“ Wir fühlen uns schlecht. Je schuldiger wir uns fühlen, desto mehr identifizieren wir uns mit einem unartigen Kind, und je mehr wir uns mit einem unartigen Kind identifizieren, umso schuldiger fühlen wir uns. Es ist ein Teufelskreis. Und auch hier ist es schwierig, die Situation zu verändern während wir solche Schuldgefühle haben.

Dann erreichen wir das Stadium jenseits des Schuldgefühls, und wir haben es satt. „Ich habe es wirklich satt, immer zu streiten. Ich habe es wirklich satt, all diese Szenen zu erleben, wenn ich herumnörgele. Als Reaktion verschließen sich mein Partner und meine Kinder und sind ärgerlich. Sie sagen mir, ich solle aufhören zu nörgeln. Es hängt mir zum Hals heraus! Ich habe es satt! GENUG! Ich muss da herauskommen.“

Das sind die Schritte, die wir durchlaufen, wenn wir die Entschlossenheit entwickeln, frei zu sein. Wir verändern uns nicht, wenn wir auf uns selbst wütend sind. Wir verändern uns nicht, wenn wir voller Schuldgefühle sind. Wir verändern uns erst, wenn wir es satt haben: „Diese Situationen sind idiotisch!“ An diesem Punkt versuchen wir, da heraus zu kommen.

Wenn wir nicht alle Stadien der Arbeit an uns selbst durchlaufen haben, tendieren wir dazu, bei unsere Hilfestellung für andere diese destruktiven Emotionen auf sie zu projizieren, was sehr unfair ist. Dann ist zum Beispiele das Erste, wenn ich jemandem zu helfen versuche, dass ich die andere Person herumkommandiere: „Ich möchte mich selbst kontrollieren, deshalb MUSST auch du dich verändern. Du MUSST aufhören, dich so zu verhalten.”

Sehr oft verhalten wir uns so mit unseren Kindern. Es ist leicht, sie herumzukommandieren und zu versuchen, ihnen unseren Willen und unsere Kontrolle aufzuzwingen. Niemand mag es, wie ein Kind behandelt zu werden, besonders, wenn die Person nicht unser Kind ist.

Niemand wird gerne dazu gedrängt, sich zu verändern oder zu verbessern. Wenn wir die anderen drängen, indem wir sagen: „Du musst dich verändern. Du musst zur Schule gehen. Du musst einen Job finden. Du musst dieses tun, du musst jenes tun.“, dann üben wir zu viel Druck aus. Wir versuchen, Macht auf andere auszuüben, was dazu führen kann, dass die andere Person unsere Ratschläge nicht befolgt und unsere Hilfe nicht akzeptiert. Und deshalb werden wir wütend auf sie, genau wie wir auf uns selbst wütend geworden wären. „Du schreckliche Person! Ich habe dir gesagt, dies zu tun, aber du hast es nicht getan. Schau dir an, wie viele Schwierigkeiten du dir geschaffen hast!“ Das ist bei weitem nicht die ideale Form der Interaktion, die man mit jemandem haben kann, dem man zu helfen versucht. Es führt zu viel Unmut, wenn wir auf jemandem wütend werden, der unseren Rat nicht annimmt.

Dann erreichen wir die nächste Stufe: Genau wie wir uns selbst schuldig gefühlt haben, versuchen wir, auch der anderen Person Schuldgefühle einzureden. „Du schätzt nicht, was ich versuche, für dich zu tun. Schau dir all die Schwierigkeiten an, die ich durchgemacht habe! Das Mindeste, was du tun könntest, wäre, es zu versuchen.“ Wir werden die „Eltern“ der anderen Person und versuchen, ihr Schuldgefühle einzureden.

Dann gehen wir weiter zur nächsten Stufe „Ich habe mich selbst so satt, ich bin es so satt, all diese Probleme und Schwierigkeiten zu haben. Ich muss sie loswerden.“ In der selben Weise betrachten wir die andere Person und denken: „Wir müssen hier raus. Das ist wirklich zuviel!“ Auf diese Wiese arbeiten wir, um der anderen Person zu helfen. Genau, wie wir diese Entschlossenheit fühlten, selbst frei von Schwierigkeiten zu werden, haben wir auch die Entschlossenheit, der anderen Person zu helfen, sich von ihren Problemen zu befreien. Das ist sehr wichtig. Wenn wir uns nicht selbst auf der Grundlage unserer eigenen Erfahrungen durch die verschiedenen Stufen gearbeitet haben, dann tendieren wir dazu, all unsere Probleme auf die Person zu projizieren, der wir zu helfen versuchen. Wir versuchen sie zu verändern indem wir sie tyrannisieren, werden wütend oder versuchen der Person Schuldgefühle zu machen. Das sind große Hindernisse, dabei, anderen zu helfen.

Selbst-Respekt

Ein weiterer Aspekt, dessen man sich gewahr sein muss, wenn man anderen hilft, ist die Situation, die sich ergibt, wenn jemand mit einem Problem zu uns kommt, uns seine Geschichte erzählt und wir es nach einer nicht mehr hören können. Es ist wie ein schlechtes Fernsehprogramm, wir wollen den Sendern wechseln und eine andere Show sehen, weil die gebotene Sendung unangenehm und uninteressant ist. Dies geschieht, weil wir die andere Person nicht ernst nehmen. Sie spricht über ein Problem und wir denken: „Diese ’Sendung’ dauert zu lange! Ich bin hungrig. Jetzt werde ich den Aus-Knopf drücken und den Fernseher ausschalten.“ Obwohl diese Probleme für die andere Person ernst sind und ihr weh tun, nehmen wir sie nicht ernst. Oft liegt das daran, dass wir uns selbst auf den Anfangsstufen des Pfades nicht ernst genommen haben.

Es ist sehr wichtig, dass wir uns selbst ernst nehmen, indem wir unsere Probleme betrachten und versuchen, mit ihnen umzugehen. Wenn wir uns selbst und unsere Probleme nicht ernst nehmen, wie können wir dann jemand anderen mit seinen Schwierigkeiten ernst nehmen? Wenn es uns egal ist, ob wir glücklich sind oder nicht, wie können wir dann den Geist entwickeln, der wünscht, dass andere glücklich sind?

Uns um uns selbst zu kümmern bedeutet nicht, dass wir egoistisch sind. es bedeutet nicht, sich eine Million Dollar zu beschaffen, um dies oder jenes zu kaufen. Es bedeutet, dass wir uns selbst als vollwertiges Lebewesen respektieren.

Viele Menschen haben sich selbst gegenüber negative Ideen und Geisteshaltungen. Sie haben das Gefühl, nichts zu taugen und es deshalb nicht zu verdienen, geliebt zu werden und glücklich zu sein. Wenn wir uns selbst so sehen, folgt dem leicht der Gedanke: „Wenn ich es nicht verdiene, glücklich zu sein, warum solltest du es verdienen, glücklich zu sein?“ Doch wenn wir uns anders betrachten und denken: „Ich habe eine Buddha-Natur. Ich habe alle Faktoren in mir, die es mir erlauben, mich zu entwickeln und zu wachsen, bis ich ein Buddha werde und allen helfen kann. Ich habe einen Geist, Energie, die Fähigkeit, zu kommunizieren, und ich habe in einem gewissen Umfang ein gutes Herz. All diese Dinge können entwickelt werden. Daher verdiene ich es natürlich, glücklich zu sein. Ich verdiene es, ein besseres Leben zu haben.“

So nehmen wir uns selbst ernst und respektieren uns selbst. Wir erkennen, dass wir es verdienen, uns aus unseren Problemen zu befreien und glücklich zu sein. Auf dieser Grundlage können wir den Respekt auch auf andere übertragen. Wir sehen, dass auch sie die Fähigkeit haben, sich zu verbessern. Sie haben ebenfalls eine Buddha-Natur und alle Potenziale. Auf dieser Grundlage verdienen auch sie es, glücklich und frei von ihren Problemen zu sein. Mit diesen Gedanken nehmen wir andere Menschen ernst.

Von Anfang an

Dies sind einige der wesentlichen Punkte, die wichtig sind, wenn wir eine Bodhichitta-Motivation entwickeln, um die Erleuchtung zu erlangen und allen bestmöglich helfen zu können. Das bedeutet nicht, dass wir anderen nicht von Anfang an helfen, oder dass wir nur für uns selbst arbeiten sollten und uns anderen erst zuwenden können, wenn wir eine fortgeschrittene Ebene erreicht haben. Aus der Perspektive des Mahayana ist es gut, anderen von Anfang an zu helfen. Doch wir tun dies nicht mit dem Gedanken „Ich kann die früheren Stufen überspringen und brauche nur den anderen zu helfen.“ Wir helfen anderen so gut wir können, entlang des ganzen Pfades. Das ist auf dem buddhistischen Pfad von zentraler Wichtigkeit.

Trotzdem müssen wir, während wir anderen nach besten Kräften helfen, sicherstellen, dass wir uns ausreichend Zeit nehmen, um die vorangehenden, wesentlichen, Grundstein legenden Motivationen und Erfahrungen aufzubauen. Denn wenn wir dies nicht tun, werden wir wahrscheinlich Probleme bekommen, wenn wir anderen helfen. Möglicherweise kommen wir auf den Gedanken, dass wir Menschen, mit denen wir Schwierigkeiten haben, ignorieren können. Doch das ist unmöglich, denn wir haben unendlich viele Leben und werden diese Menschen immer wieder treffen. Oder vielleicht denken wir, dass wir nur denjenigen helfen können, die gleichaltrig sind oder den selben kulturellen Hintergrund wie wir haben. Doch so ist es nicht, denn wir haben mehrfach alle Alterstufen durchlaufen, in allen Kulturen und in männlichen und weiblichen Körpern gelebt. Daher können wir uns mit allen identifizieren. Wir sollten anderen außerdem nicht nur helfen, damit wir geliebt werden, uns wichtig und gebraucht fühlen können, sondern wir sind entschlossen, von diesen neurotischen Interaktionen frei zu werden, weil wir sehen, dass sie zu unkontrollierbar wiederkehrenden Problemen führen. Wir werden uns nicht zu einem Macht-Trip verleiten lassen, während wir anderen helfen und werden auch nicht versuchen, sie herumzukommandieren, damit sie unsere Ratschläge annehmen. Wir werden nicht wütend auf sie werden und werden ihnen keine Schuldgefühle einreden, weil sie unserem Ratschlag nicht gefolgt sind. Das liegt daran, dass wir den ganzen Prozess der Arbeit an uns selbst durchgegangen sind: wir haben versucht, uns selbst zu kontrollieren, wir sind ärgerlich mit uns geworden, haben uns schuldig gefühlt und dann hatten wir es schließlich so satt, dass wir den Entschluss gefasst haben, frei zu davon werden. Wir haben den festen Entschluss gefasst, uns aus von unseren Problemen zu befreien. Da wir all dies durchgemacht haben, werden wir es nicht auf andere projizieren.

Während des ganzen Prozesses nehmen wir uns auch selbst ernst. Wir erkennen unsere Buddha-Natur an und wissen, dass wir die Fähigkeit und alle Faktoren haben, die es uns erlauben, zu wachsen, die Erleuchtung zu erlangen und allen zu helfen. Da wir uns selbst ernst genommen haben, respektieren wir uns selbst. Im Buddhismus meinen wir mit Respekt nicht, dass wir Angst vor der anderen Person haben. Respekt bedeutet vielmehr sich selbst ernst zu nehmen, sich selbst positiv zu sehen und sich Glück zuzugestehen. Dann können wir auf ehrlichen Weise anderen gegenüber die selbe Geisteshaltung entgegenbringen: „Ich respektiere auch dich. Ich respektiere, dass du eine Buddha-Natur hast. Auch wenn du dich jetzt wie ein Idiot verhältst, sehe ich trotzdem, dass du das Potential hast, eine mitfühlende und weise Person zu sein. Genau wie ich meine eigenen Probleme ernst nehme, nehme ich auch deine ernst. Genau wie ich erkenne, dass meine Probleme weh tun, kann ich nachvollziehen, dass deine ebenfalls weh tun.“ Eine solche Geisteshaltung erlaubt es uns, anderen auf eine ehrliche Weise zu nutzen und zu helfen.

Karma verstehen

Eine weitere Problemquelle ist, dass wir versuchen, jemandem zu helfen und unsere Hilfe keine Wirkung zeigt. Oft lassen wir uns davon entmutigen. Ein drastisches Beispiel wäre, wenn wir versuchen, jemandem in unserer Familie zu helfen und er oder sie dann Selbstmord begeht. Das ist eine schrecklich Situation, und es wäre leicht, in Selbstvorwürfe zu verfallen. „Hätte ich bloß dieses oder jenes getan, dann hätte sie/er sich nicht umgebracht!“ Wir können Momente großer Enttäuschung erleben, wenn wir versuchen, uns wie ein Bodhisattva zu verhalten. Wenn es den Anschein hat, dass wir versagt haben, fühlen wir uns derart schuldig und schlecht, dass dies zu einem großen Hindernis auf unserem Pfad werden kann.

Das Problem hierbei ist, dass wir uns an überzogenen Vorbildern orientieren. Wir denken, dass wir Gott sind oder dass wir wie Gott sein sollten, und dass wir dazu in der Lage hätten sein sollen, etwas zu verhindern, das einer anderen Person geschehen ist. Im Buddhismus sagen wir: „Das ist nicht möglich. Niemand ist allmächtig. Es gibt nur eine beschränkte Menge an Energie im Universum.“ Die Wissenschaftler pflichten dem ebenfalls bei. Ein Aspekt der Energie des Universums ist die Kraft der Buddha-Aktivität, der erleuchtende Einfluss, den ein Buddha auf jemanden ausüben kann. Der andere Aspekt ist die Energie der Impulse, die im Geist der Menschen auftreten – mit anderen Worten, die Energie des Karmas. Karma bezeichnet die Impulse, die in unserem Geist aufgrund vorangehender Gewohnheiten, Dinge in einer gewissen Weise zu tun, auftreten. Weil es nur eine beschränkte Menge an Energie im Universum gibt, kann nicht eine Energie die andere überwinden. Alles, was ein Buddha oder ein Bodhisattva tun kann, ist, zu versuchen, jemanden in einer positiven Weise zu beeinflussen. Die Buddhas und Bodhisattvas können niemanden davon abhalten, etwas zu tun. Wenn eine Person in ihrem Geist einen starken Impuls hat, Selbstmord zu begehen, wird sie es trotzdem tun.

Ein sehr interessantes Beispiel erlebte ich eines Tages, als ich mich in Dharamsala in Indien befand. Vor der Bibliothek, in der ich arbeite, war eine Maus dabei, in einem Abwasserkanal zu ertrinken. Einer meiner Freunde rettete die Maus und setzte sie auf den Boden, damit sie sich erholen konnte. Doch sobald er sich entfernt hatte, stürzte ein großer Falke herab und riss die Maus an sich.

Dieses Beispiel sollte uns nicht zur Meinung verleiten, dass wir niemandem helfen können, weil es das Karma jeder einzelnen Person ist, das determiniert, was ihr passieren wird. Denkt nicht, dass Karma gleichbedeutend mit Schicksal sei, nach dem Motto: „Es ist das Schicksal der Maus, dass sie sterben wird. Es gibt überhaupt keinen Grund dafür, dass ich ihr helfe, weil die Maus das Karma hat, zu sterben.“ Wir sollten unser Bestes geben, um zu helfen. Wenn die Person, der wir helfen wollen, einen Samen oder ein Potential dafür hat, dass ihr geholfen wird, wird sich unsere Hilfe damit verbinden und wir werden ihr nutzen können. Wenn sie keinen solchen Samen in sich hat, wäre es wie im Beispiel mit der Maus: Wir retten sie, doch sie stirbt trotzdem.

Genauso verhält es sich, wenn wir versuchen, anderen zu helfen. Wir streben an, Bodhisattvas zu sein und tun unser Bestes, um ihnen zu helfen. Wenn es gelingt, ist es gut. Doch wir gratulieren uns nicht selbst, gehen herum und erzählen, wie mitfühlend und wundervoll wir sind. Wenn es nicht gelingt, fühlen wir uns aber auch nicht schuldig. Wir brauchen uns nicht emotional auszupeitschen oder zu bestrafen. Wir haben unser Bestmögliches getan, und wenn die Person aufnahmefähig gewesen wäre, hätte es funktioniert. Sie war es nicht, und daher gibt es nichts, das wir hätten tun können. Niemand ist ein allmächtiger Gott. Ganz sicher sind wir keine allmächtigen Götter. Niemand kann jemanden davon abhalten, etwas zu tun, wenn die Impulse im Geist einer Person stark sind.

Es ist wichtig, realistisch zu sein, wenn wir versuchen, anderen zu helfen. Wir müssen einsehen, dass wir nicht die Probleme aller Menschen beseitigen können. Wir entwickeln den Wunsch, die Fähigkeit dazu zu entwickeln. Wir nehmen uns die anderen in einer ehrlichen Weise zu Herzen und übernehmen aufrichtig die Verantwortung, ihnen zu helfen. Wenn es funktioniert, funktioniert es, wenn nicht, haben wir unser Bestes gegeben. Wir verlieren nicht den Mut.

Der Sinn der Erleuchtung

Seine Höchste Präsenz, Seine Heiligkeit der Dalai Lama, hat gesagt, dass das oft rezitierte Gebet „Möge ich die Erleuchtung verwirklichen, um allen fühlenden Wesen zu nutzen“ in einer gewissen Hinsicht gefährlich ist, da die Reihenfolge der Wünsche fehlleitend sein kann. Es kann bei manchen den Anschein erwecken, der Hauptschwerpunkt liege darauf, zu sagen „Möge ich die Erleuchtung erlangen.“ Warum? Weil dies das höchste, größte und glückseligste Ziel ist. Schließlich müssen wir den höchsten Rang erlangen, den höchsten Titel. Doch auf den Satzteil „Möge ich Erleuchtung erlangen“ folgt „um allen Wesen zu dienen“. Dieser zweite Teil scheint eine lästige Steuer zu implizieren, die wir danach zahlen müssen. Das wollen wir nicht wirklich, doch wenn wir ein Buddha werden wollen, sind wir dazu „verdonnert, allen fühlenden Wesen dienen zu müssen“. Seine Heiligkeit betont, dass der Schwerpunkt gerade anders herum gesetzt werden sollte: „Ich will allen fühlenden Wesen so sehr wie möglich helfen, und um dies zu tun muss ich ein Buddha werden.“ Der Hauptschwerpunkt sollte sein: „Ich will allen helfen.“

Manchmal, wenn wir daran denken, anderen zu helfen, sehen wir uns mit dem Hindernis konfrontiert, in unserer Praxis nicht ehrlich zu sein. Wir sagen zwar: „Ich werde allen fühlenden Wesen helfen, und ich liebe alle fühlenden Wesen“, doch wenn unsere Eltern oder unsere Kinder um etwas bitten, herrschen wir sie an: „Hör auf mich zu stören! Ich versuche, allen fühlenden Wesen zu helfen! “ Wie es in den Lojong -Lehren des Reinigens unserer Geisteshaltungen (Geistestraining) heißt, müssen wir zuerst anfangen, uns selbst zu helfen. Später können wir unsere Hilfe auf unsere Familie ausdehnen und dann auch auf die Menschen um uns herum und so weiter. Mit anderen Worten: Wir müssen denen helfen, die uns nahe sind. Wir ignorieren sie nicht. Oft haben Menschen, die sich in der Sozialarbeit engagieren, Kinder, die es ihnen sehr übel nehmen, da sie derart damit beschäftigt sind, anderen zu helfen, so dass sie nie Zeit für die eigene Familie haben. Das ist sehr unfair. Wenn wir den Ratschlägen Buddhas folgen, sollten wir mit unseren Familien anfangen und uns zuerst um sie kümmern.

Gleichmut zu entwickeln bedeutet nicht „Jetzt werde ich meine eigenen Kinder ignorieren und nur für alle anderen arbeiten.“ Es bedeutet: „Genau wie ich eine intensiv liebende Einstellung meinen Kindern gegenüber habe, werde ich diese Haltung ausdehnen, damit sie mehr und mehr Menschen umfasst. Statt zwei Kinder zu haben, habe ich jetzt fünf, zehn und mit der Zeit hundert, tausend!“ Wir weiten die Reichweite unserer Liebe und unseres Mitfühlens aus. Wir entziehen nicht einem Bereich unsere Liebe und Fürsorge, um sie einem anderen Bereich zukommen zu lassen. Es ist wichtig, sich um diejenigen zu kümmern, die uns nahe sind und nach und nach andere mit einzubeziehen: unsere Freunde, Unbekannte Menschen, die wir nicht mögen, Tiere, Geister und Wesen in den verschiedenen Reichen.

Bodhichitta zu entwickeln bedeutet, unser Herz weiter werden zu lassen. Es bedeutet nicht, den Zustand, in dem wir uns egoistisch verhalten, in einem Schritt zu verlassen und sofort den Zustand, in dem wir allen Wesen unser Herz öffnen, zu erreichen. Wir müssen uns schrittweise darauf hinbewegen. So werden wir aufrichtiger sein. Wir können nicht aufrichtig sein, wenn wir einerseits sagen „Ich arbeite zum Wohl aller fühlenden Wesen“ und uns andererseits nicht um unsere Eltern und Kinder kümmern. Bodhichitta widerspricht überhaupt nicht unseren üblichen kulturellen Werten, wonach man Familie, Eltern und Kinder wichtig nehmen sollte. Bodhichitta baut vielmehr auf dieser Basis auf und erweitert sie immer mehr.

Es gibt einige wichtige Punkte, auf die wir achten müssen, wenn wir uns auf dem Mahayana-Pfad befinden, auf dem wir unser Herz anderen öffnen, uns mit ganzem Herzen dafür einsetzen, unsere Beschränkungen zu überwinden und unsere Potenziale zu verwirklichen, damit wir allen bestmöglich helfen können. Wenn wir diese Dinge im Hinterkopf behalten, werden wir auf diesem Pfad weniger Schwierigkeiten begegnen.

Fragen

Ist es möglich, diese vorbereitenden Schritte in diesem Leben zu überspringen und eine Abkürzung zu nehmen, wenn man in vergangenen Leben schon Erfahrungen gesammelt hat?

Ja, das ist möglich. Es gibt zwei Arten von Übenden: die, bei denen alles gleichzeitig geschieht und die, die einem Stufenpfad folgen. Es gibt also den „schlagartigen Pfad“ und den „graduellen Pfad“. Einer der großen tibetischen Meister schrieb einen Kommentar über diesen speziellen Punkt und sagte dabei allerdings, dass die Personen, bei denen alles gleichzeitig geschieht, sehr selten sind. Es ist sehr selten, dass wir in den vergangenen Leben alle positiven Gewohnheiten und Instinkte aufgebaut haben, so dass wir in diesem Leben dazu in der Lage sind, Schritte zu überspringen. Oft liegt es eher an unserer Faulheit, dass wir nicht alle Stufen durchschreiten wollen und uns folgende Entschuldigung bereitlegen: „Ich bin jemand, der in vergangenen Leben viele Potenziale aufgebaut hat. Ich bin einer der wenigen Auserwählten, bei denen alles gleichzeitig passiert, daher kann ich einige Stufen überspringen und weiter vorne anfangen.“ Wir sollten wirklich ehrlich zu uns selbst sein. Es ist äußerst selten, dass jemand in vergangenen Leben so viele positive Potenziale aufgebaut hat. Es schadet nichts, alle Stufen durchzugehen, obwohl wir nicht mit jeder einzelnen von ihnen Jahre verbringen müssen. Einer der Texte über den Stufenpfad zur Erleuchtung sagt, dass es sogar für Menschen, die die Instinkte für diese Schritte bereits haben, gut ist, sie nochmals rasch durchzugehen, um sie neu zu bestärken, statt sie einfach zu überspringen.

Können wir gütig und mitfühlend sein, ohne uns ausnutzen zu lassen?

Chögyam Trungpa Rinpoche hat einen ausgezeichneten Begriff geprägt, der sehr nützlich zur Beantwortung dieser Frage ist. Er sprach von „idiotischem Mitgefühl.“ Idiotisches Mitgefühl ist Mitgefühl ohne Weisheit. Nehmen wir zum Beispiel an, ein Kind möchte immer Süßigkeiten essen. Mit idiotischem Mitgefühl geben wir dem Kind ständig Süßigkeiten, nur, weil es darum bittet. Oder ein Wahnsinniger kommt daher und sagt: „Besorg mir eine Pistole, ich will jemanden abknallen.“ Wenn wir uns sagen: „Ich übe Großzügigkeit, daher werde ich ihm eine Pistole besorgen,“ ist das idiotisches Mitgefühl.

Ähnliches gilt, wenn andere uns ausnutzen und wir ihnen gegenüber weiterhin großzügig sind. Damit helfen wir ihnen überhaupt nicht, sondern es ist im Gegenteil eher hindernd für ihr Wachstum. Manchmal ist es wichtig, sehr resolut und streng zu sein. Wir sollten anderen geben, was sie brauchen, aber möglicherweise brauchen sie auch Disziplin in Form einer Person, die ihnen Grenzen setzt. Ein unbändiges Kind zum Beispiel braucht Disziplin. Im Westen wurde eine ganze Generation mit der Philosophie der Disziplinlosigkeit erzogen: „Lasst die Kinder einfach tun, was sie wollen, lasst sie frei sein.“ Diese Haltung führte zu einem Desaster. Viele Kinder fühlten sich nicht geliebt und unsicher, da andere Eltern Grenzen setzten und ihre nicht. Sie dachten, ihre Eltern würden sie nicht lieben und dass sie nicht genug um ihr Wohl besorgt waren, Regeln aufzustellen. Manchmal ist es also sehr wichtig nein zu sagen, Grenzen zu setzen und ein Ausnutzen nicht zuzulassen.

Idiotisches Mitgefühl hilft niemandem. Wir brauchen eine Form von Mitgefühl, die sich mit Weisheit verbindet. Dies ist ein grundlegender Punkt in den buddhistischen Lehren, der im Mantra Om mani padme hum ausgedrückt wird. Mani bedeutet „Juwel,“ und symbolisiert das Mitgefühl und padme bedeutet „im Lotus,“ was sich auf die Weisheit bezieht. Beide Dinge gehören zusammen.

Manchmal ist es deshalb notwendig, nein zu sagen, obwohl es die Person verletzen kann, da sie es nicht versteht. Ist das hilfreich? In den Lehren über Karma wird Folgendes gesagt: Wenn eine Handlung kurzfristig etwas schmerzhaft ist, aber langfristig sehr nützlich, dann sollte sie ausgeführt werden. Natürlich ist es am allerbesten, wenn etwas sowohl kurz- als auch langfristig nützlich ist. Wenn ich den Kindern dagegen beispielsweise Süßigkeiten gebe, damit sie mit dem Schreien aufhören und ich schlafen gehen kann, ist das zwar kurzfristig nützlich, aber langfristig schadet es den Kindern, da sie vom vielen Zucker krank werden. Außerdem werden sie verzogen und verwöhnt. In diesem Fall ist es besser, sie kurzfristig etwas zu verletzen und sie etwas Unangenehmem auszusetzen, da es langfristig gut für sie ist. Um zu erkennen, was nützlich sein wird und was nicht, braucht man Weisheit, doch einige dieser Dinge kann man auch mit dem gesunden Menschenverstand nachvollziehen.

Wenn wir zu früh sterben, werden wir dann im nächsten Leben wieder der Mann oder die Frau derselben Person sein?

Nicht unbedingt, obwohl dies möglich ist. Es kann passieren, wenn die Verbindung sehr stark ist. Es gibt hierfür Beispiele: Ein Kind wurde in eine Familie hineingeboren und starb als Baby. Da dieses Individuum aber eine derart starke Verbindung zu dieser Familie hatte, wurde es noch einmal, als ein anderes Baby, in derselben Familie geboren. Solche Dinge geschehen, doch im Allgemeinen gibt es viele verschiedene karmische Möglichkeiten. Im Augenblick des Todes können verschiedene karmische Eindrücke aktiviert werden, die uns in verschiedene Wiedergeburten befördern.

Außerdem haben wir nicht nur mit einer Person eine Beziehung als Ehemann oder Ehefrau gehabt: Wir haben in zahlreichen verschiedenen Leben mit zahlreichen verschiedenen Menschen Beziehungen gehabt. Diese Beziehungen verändern sich ständig. In einem Leben kommt es zu Interaktionen mit einer anderen Person und unsere Beziehung verändert sich. Daher wird die Kontinuität der Beziehung nicht notwendigerweise weiterhin die Form von Mann und Frau beibehalten. Möglicherweise wird man als zwei Kühe wiedergeboren, die zusammen Gras fressen oder als zwei Ameisen, die gemeinsam auf einem Ameisenhügel arbeiten. Es hängt davon ab, wie sich die Beziehung vorher entwickelt hat. Außerdem brauchen wir die Person nicht unbedingt im nächsten oder übernächsten Leben zu treffen. Eine Wiederbegegnung könnte auch erst nach tausend weiteren Leben stattfinden.

Es ist wichtig, das Verständnis der Wiedergeburt mit den grundlegenden Lehren des Mangels an wahrer Existenz, eines soliden Ichs oder einer soliden Person zu kombinieren. Es ist nicht so, dass ich in einem zukünftigen Leben meinen Mann wie auch immer sein Name sei oder meine Frau wie auch immer ihr Name sei wiedersehen werde. Jede Person ist eine, eine Kontinuität von Energie, eine Kontinuität des Bewusstseins, eine Kontinuität von Tendenzen und Gewohnheiten. In irgendwelchen zukünftigen Leben werden sich die Kontinuitäten der Beiden wieder treffen, doch es wird sich nicht um „dich“ und „mich“ handeln, so wie wir jetzt sind.

Wir alle haben die Erfahrung gemacht, einen Raum zu betreten, der voller Menschen ist, und sofort fallen uns eine oder zwei Personen besonders auf. Wir spüren ihnen gegenüber ein warmes Gefühl und wollen mit ihnen sprechen. Und andererseits gibt es Menschen, bei denen wir das Gefühl haben, nichts mit ihnen zu tun haben zu wollen. Warum passiert das? Es ist ein Hinweis auf eine vorangehende Verbindung zu dieser Person. Wir haben Verbindungen zu Millionen von Wesen. Einige Verbindungen sind frischer und stärker und deshalb haben unsere Erfahrungen mit diesen Menschen eine größere Wirkung auf uns. Andere Verbindungen können schwach sein, wir mögen in der selben Stadt geboren werden, uns aber nie begegnen.

Einige hier tragen als Schutz kleine Buddhastatuen. Wie funktioniert das?

Hier kommen zwei Faktoren ins Spiel. Der eine liegt auf der Seite des Gegenstandes. Solche Statuen werden von sehr hohen Lamas gesegnet. Möglicherweise kommen zahlreiche Meister zusammen, um zehn Millionen Male Om mani padme hum zu rezitieren, und dann blasen sie auf die Gegenstände. Es könnte sich auch um einen einzigen Lama handeln, der dies tut oder er könnte tief und konzentriert meditieren. Um eine wissenschaftliche Analogie zu benutzen: die Rezitation von Mantras und der Segen verändern das magnetische Feld das Energiefeld der Gegenstände, so dass sie eine bestimmte spirituelle magnetische Qualität annehmen.

Der zweite Faktor ist der Glaube und das Vertrauen der Menschen, die diese Objekte benutzen und die Handlungen oder das Karma, das sie zuvor geschaffen haben. Wenn Menschen glauben und darauf vertrauen, dass sie etwas schützen wird, kann sie ihr eigenes Vertrauen schützen. Es wird sie zwar wahrscheinlich nicht vor einer Atombombe schützen, doch es könnte sie in Situationen schützen, in denen sie sonst beispielsweise nicht das Vertrauen gehabt hätten, auf positive Weise mit diesem Ereignis umzugehen.

Wenn eine gesegnete Schnur oder ein gesegnetes Bild an den Hals eines Schweines gehängt würde, weiß ich nicht, ob es verhindern könnte, dass das Tier geschlachtet wird. Doch wenn eine Person das Potenzial hat, diesen Segen möglich zu machen, wird er funktionieren. Beide Faktoren sind notwendig. Es ist, wie wenn zwei Puzzleteile zusammenpassen.

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