Siebenteiliges Bodhichitta: Die Lam-rim-Grundlage

Dharma-light versus Echter Dharma 

Ich freue mich wieder einmal hier in Seattle zu sein und die Möglichkeit zu haben, mit euch über das Entwickeln von Bodhichitta zu sprechen.

Ich denke es wäre angebracht, ein paar einleitende Worte dazu zu sagen.

Bodhichitta ist etwas ausgesprochen Fortgeschrittenes und eigentlich ist es ziemlich schwierig, sich vorzustellen, worum es dabei wirklich geht. Warum ist das so? Nun, was das relative oder konventionelle Bodhichitta angeht, so streben wir damit unsere individuelle zukünftige Erleuchtung an, die wir noch nicht erlangt haben, jedoch auf der Basis unserer Buddha-Natur erlangen können. Dafür muss man natürlich verstehen was Erleuchtung ist, und dass es sich dabei um etwas handelt, was momentan nicht stattfindet. Wie fokussieren wir uns also auf etwas, das momentan nicht oder noch nicht stattfindet?

Hier ist es notwendig, auch ein Verständnis über die Buddha-Natur zu haben, sowie darüber, wie Erleuchtung auf der Basis dieser Buddha-Natur möglich ist. Und wir sollten diese Möglichkeit nicht nur theoretisch verstehen, sondern überzeugt davon sein, selbst Erleuchtung erlangen zu können, denn sonst ist unser Wunsch, sie zu erlangen, vielleicht nicht aufrichtig.

Außerdem brauchen wir eine Absicht oder Intention, diese Erleuchtung zu erlangen. Was streben wir an und warum? Mit anderen Worten: Wie erfassen wir mit unserem Geist diese noch nicht stattfindende Erleuchtung, unsere eigene, individuelle, noch nicht stattfindende Erleuchtung als ein Objekt des Geistes? Wir erfassen sie als etwas, das wir erreichen wollen, mit der Absicht, allen Wesen dadurch zu nutzen. Das setzt natürlich voraus, Verantwortung dafür zu übernehmen, es zu tun.

Diese Absicht zu haben bedeutet auch, grundsätzlich über das, was wir als „Liebe“ und „Mitgefühl“ bezeichnen, zu verfügen – den Wunsch, andere mögen glücklich und nicht unglücklich sein, sowie den Wunsch, andere mögen die Ursachen des Glücks besitzen und frei von den Ursachen des Leidens sein. Diesen Wunsch hegen wir gegenüber allen gleichermaßen. „Alle“ ist eine ziemlich große Anzahl von Wesen und umfasst auch jene, die als Ameisen, Kakerlaken oder ähnliches wiedergeboren wurden. Wir alle wollen gleichermaßen glücklich sein. Wir ziehen niemanden vor und das heißt, sich um die Kakerlake und die Ameise genauso zu sorgen, wie um den besten Freund.

Hier geht es ganz sicher nicht um etwas, das ganz einfach umzusetzen ist und auch nicht darum, andere von ihrem Hunger, ihrer Armut und diesen Dingen zu befreien – obwohl uns natürlich daran gelegen ist, dass sie frei davon sind. Uns ist vielmehr daran gelegen, dass sie von etwas viel Tiefgründigerem befreit werden.

Wir wünschen uns, dass sie frei von unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt sind und das bedeutet natürlich, dass es wichtig ist zu verstehen, was unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt oder Samsara genau ist. Es bedeutet auch zu glauben, dass es so etwas wie Wiedergeburt gibt, denn wie könnten wir sonst einen aufrichtigen Wunsch haben, andere davon zu befreien? Und um andere von unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt zu befreien, müssen wir auch selbst frei davon sein.

Die Rede ist hier also nicht einfach davon, alle zu lieben und alle glücklich zu machen. Diese Art der Liebe und des Mitgefühls ist wunderbar und wirklich sehr hilfreich, aber um sie zu entwickeln, müssen wir keine Buddhisten sein. Sie können durch viele andere Religionen und zahlreiche säkulare Philosophien, dem Humanismus usw. entwickelt werden. Wenden wir uns dem Buddhismus zu, um Methoden zum Entwickeln humanistischer Liebe und humanistischen Mitgefühls oder christlicher Liebe und christlichen Mitgefühls zu entwickeln, ist das in Ordnung; es ist kein Problem. Im Buddhismus gibt es jede Menge hilfreicher Methoden, die man in anderen Zusammenhängen nutzen kann, aber diese Herangehensweise an den Buddhismus nenne ich dann „Dharma-light“ – wie Coca Cola light. Geht es uns jedoch um den „echten Dharma“ – wie die echte Coca Cola – müssen wir all die Punkte in Betracht ziehen, die ich gerade erwähnt habe, angefangen mit der Wiedergeburt.

Da es aber eine gewaltige Aufgabe ist, auf all das einzugehen und viel Vorbereitung braucht, dachte ich, es wäre vielleicht nicht so nützlich, nur über Liebe, Mitgefühl und all diese Dinge in einem Dharma-light-Stil zu sprechen. Ich bin auch nicht so gut darin, diesen „Wohlfühl-Dharma“ zu unterrichten und dachte, es wäre stattdessen sinnvoller, etwas tiefgründiger über einige Dinge zu reden, die für die Entwicklung von Bodhichitta auf eine wahrhaft buddhistische Weise wesentlich sind.

Zunächst werden wir uns einige dieser Dinge ansehen und dann können wir über die siebenteilige Meditation über Ursache und Wirkung zum Entwickeln von Bodhichitta reden. Wir könnten darüber auch nur in Bezug auf dieses Leben reden – freundlich gegenüber allen zu sein, anderen zu helfen etc. – was schön wäre, aber ich bin mir sicher, ihr habt darüber schon von vielen Anderen gehört. Nutzen wir also diese Gelegenheit, um einen tieferen Blick darauf zu werden, was tatsächlich notwendig ist, um Bodhichitta zu entwickeln.

Fortschreitende Stufen des Pfadgeistes 

Wo fangen wir an? Das ist eine gute Frage! Es gibt den so genannten „Stufenpfad“. Ich bin ein Übersetzer und habe große Vorbehalte gegenüber vielen standardmäßigen Übersetzungen. Wir reden hier nicht von den Stufen eines physischen Pfades. „Pfad“ bezieht sich hier auf einen Geist, auf einen „Pfadgeist“, wie ich ihn bezeichne. Dabei handelt es sich um einen Geisteszustand, eine Ebene des Geistes – eine Ebene des Verstehens und des Umgangs mit der Welt – die als ein Pfad zum Erlangen der Erleuchtung dient. Wir folgen den Stufen dieses Pfades, während wir unseren Geist entwickeln und arbeiten an unserer Einstellung, unserem Verständnis, unserer Motivation und so weiter. Die Rede ist also von den aufeinanderfolgenden Ebenen eines Geistes, eines Pfadgeistes.

Die anfängliche Ebene

Die anfängliche Ebene der Motivation ist eine Ebene, zu der die meisten von uns nicht so leicht einen Bezug und eine aufrichtige Verbindung herstellen können. Es handelt sich um die Ebene der Motivation, auf der wir einen Nutzen für unsere zukünftige Wiedergeburt bewirken wollen und uns weitere kostbare menschliche Wiedergeburten wünschen. Diese anfängliche Ebene ist jedoch nicht nur im Buddhismus zu finden. In vielen anderen Religionen geht es ebenfalls darum, sich nicht nur um dieses Leben zu sorgen, sondern den Blick auf ein besseres zu richten, wie eine höhere Wiedergeburt im Himmel. Es ist also nichts rein Buddhistisches.

Was diese Motivation zu etwas Buddhistischem macht, ist ein weiterer Schritt, auf dem wir danach trachten, Leben für Leben kostbare menschliche Wiedergeburten zu erlangen. Wir wollen fortgesetzt kostbare menschliche Wiedergeburten haben, weil wir uns bewusst darüber sind, dass es noch viel schlimmer kommen könnte und wir dann nicht über die derzeitigen Möglichkeiten verfügen würden. Warum sind uns diese momentanen Möglichkeiten wichtig? Weil wir bei unseren Freunden und Lehrern sein wollen und weiter dem Pfad zur Befreiung und Erleuchtung folgen möchten – weil wir Zuflucht genommen haben.

Die Zufluchtnahme ist kein passiver Akt, was das englische Wort „refuge“ bzw. das deutsche Wort „Zuflucht“ andeuten mag. Vielmehr geht es um etwas ausgesprochen Aktives und daher übersetze ich den Begriff mit „sicherer Ausrichtung“. Eine sichere Ausrichtung einzuschlagen heißt, unserem Leben eine sichere Richtung zu geben – die Richtung, wie sie von Buddha, Dharma und Sangha vorgegeben wird. Durch das Einschlagen dieser Richtung in unserem Leben schützen wir uns selbst. Wir schützen uns vor Leiden und darum geht es, wenn von Schutz die Rede ist. Von anderen können wir Inspiration bekommen, aber niemand kann uns retten; das müssen wir im Grunde selbst tun. Niemand kann für uns die Realität verstehen; wir müssen sie selbst begreifen.

Was ist nun diese Richtung? Dieser Punkt ist überaus wichtig, um zu verstehen, worum es bei der Entwicklung von Bodhichitta geht. Diese Richtung wird von Buddha, Dharma und Sangha, also den Dharma-Juwelen, vorgegeben. Der Buddha lehrt sie, aber was wir wirklich anstreben, ist das Dharma-Juwel – die dritte und vierte edle Wahrheit. Worum handelt es sich hier?

Die dritte edle Wahrheit ist eine wahre Beendigung der Leiden und dessen Ursachen. Die vierte edle Wahrheit ist ein wahrer Pfadgeist, der aus dieser wahren Beendigung hervorgeht. Das streben wir an und das ist die Richtung. Sie wir durch einen Geisteszustand angezeigt, der frei von Leiden und den Ursachen des Leidens ist, und der über das Verständnis verfügt, durch welches alle Leiden und dessen Ursachen beseitigt werden. Dieses Verständnis ist auch am Ende vorhanden. Es verschwindet nicht; wir haben es weiterhin. Buddhas sind all jene, welche dies vollkommen in ihrem geistigen Kontinuum erreicht haben. Die Arya Sangha sind jene, die es teilweise erreicht haben und somit einen Teil der Makel für immer beseitigt haben, jedoch noch nicht alle.

Das ist die Richtung und wenn wir darüber im Kontext von Bodhichitta reden, geht es darum, tatsächlich diese Beendigungen und den wahren Pfadgeist selbst zu erlangen, um in der Lage zu sein, allen anderen zu nutzen, indem wir sie ebenfalls auf diese Ebene erheben. Das ist ein Hinweis darauf, wie wichtig es ist zu verstehen, dass es tatsächlich möglich ist, diese Beendigung des Leiden und seiner Ursachen zu erlangen und dass es einen Widersacher gibt, den wir tatsächlich loswerden können.

Dies zu verstehen, heißt – und hiermit kommen wir zurück zur ersten edlen Wahrheit – sich bewusst zu werden, was das Leiden ist und es loswerden zu wollen. Was ist „wahres Leiden“? „Wahres Leiden“ ist die genaue wörtliche Übersetzung der ersten edlen Wahrheit. Es ist die Wahrheit des Leidens, welche die Aryas als wahr betrachten, und das versteht man dann als „edle Wahrheit“. Die Edlen sind die Aryas, jene, die eine nichtkonzeptuelle Wahrnehmung dieser vier Dinge hatten und im Grunde gesehen haben, dass dieses Leiden wahr ist. Gewöhnliche Menschen sehen das Leiden nicht, welches hier als wahres Leiden betrachtet wird, aber die Aryas erkennen es als wahres Leiden. Sie sehen, dass dieses Leiden wahres Leid ist und wissen, was die wahren Ursachen sind (zweite edle Wahrheit).

Auf dieser anfänglichen Ebene wollen wir nicht nur unser gewöhnliches alltägliches Leben verbessern – obwohl auch das in Ordnung ist; es ist ein rechtmäßiges Ziel. Mir ist es enorm wichtig, dass wir als Dharma-Praktizierende wirklich ehrlich gegenüber uns selbst sein müssen. Was streben wir eigentlich an? Geht es uns denn wirklich und von ganzem Herzen darum, gute Wiedergeburten zu bekommen oder nur darum, dieses Leben ein wenig zu verbessern und besser mit den alltäglichen Problemen des Lebens klarzukommen? Den Dharma mit dem Ziel zu praktizieren, unser jetziges Leben zu verbessern, ist das, was ich als Dharma-light bezeichne. Wenn wir gern Dharma-light trinken, dann ist das wunderbar, denn es ist ein gutes Getränk. Wir sollten uns jedoch klar darüber sein, dass es Dharma-light und nicht der echte Dharma ist. Wir sollten gegenüber dem echten Dharma Respekt haben. Wir können vielleicht anstreben, irgendwann einmal in der Lage zu sein, dem echten Dharma zu folgen, aber wir benötigen jede Menge Wissen, bevor dieses Ziel aufrichtig sein kann.

Das ist die anfängliche Ebene der Motivation und es kann Jahrzehnte dauern, bis wir wirklich aufrichtig ist. Natürlich erfordert das mehr als nur ein intellektuelles Verständnis. Welche Einstellung hätten wir denn aus dem Bauch heraus in Bezug auf zukünftige Leben, wären wir in diesem Moment mit unserem eigenen Tod konfrontiert? Würden wir wirklich mit vollster Überzeugung daran glauben, dass unser Leben weitergeht? Um zu verstehen, wie das funktionieren kann, ist es notwendig, die buddhistischen Lehren über das Selbst, das „Ich“ oder die Person zu kennen, die von einem Leben zum nächsten reist. Hier geht es allerdings nicht um eine „Seele“, wie im Hinduismus oder im Christentum, die von einem Leben zu nächsten wandert.

Obwohl wir nicht wirklich ein buddhistisches Verständnis der Leerheit einer Person benötigen, um bessere Wiedergeburten zu erlangen, was auch nicht auf dieser Stufe der Lehren des Lam-rim zu finden ist, habe ich aus erfahrungsgemäß das Gefühl, dass der Glaube an die Wiedergeburt zweifellos buddhistischer wird, wenn wir nicht an ein solides, beständiges „Ich“ denken, welches sich in einem nächsten Körper befinden wird.

Die drei Arten des Leidens

Was ist das Leiden – das „wahre Leiden“ – von dem wir uns lösen wollen? Es gibt drei Arten von Leiden.

Wir haben (1) das so genannte „Leid des Leidens“. Hierbei handelt es sich im Grunde um ein Gefühl des Unglücklichseins, welches ein Geistesfaktor ist, der jeden der physischen Sinne – Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken – sowie auch die geistige Aktivität des Denkens begleiten kann.

Hier ist es meiner Meinung nach wichtig, zwischen Unglücklichsein und Schmerzen zu unterscheiden. Es geht nicht um körperliche Schmerzen und auch nicht um eine körperliche Sinnesempfindung. Körperliche Sinnesempfindungen können mit glücklichen oder unglücklichen Gefühlen einhergehen. Zum Beispiel der Hunger: Manche Menschen sind ausgesprochen glücklich, wenn sie hungrig sind. Machen sie gerade eine Diät, stimmt sie das Hungergefühl vielleicht glücklich, weil sie denken: „Ah, jetzt werde ich abnehmen.“ Andere Menschen sind hingegen richtig unglücklich, wenn sie hungrig sind. Die Ebene von Glück oder Leid, welche diese Dinge begleitet, ist also maßgeblich. Und hier, in Bezug auf das Leid des Leidens, reden wir von dem begleitenden Gefühl des Unglücklichseins. Das wollen wir zuerst loswerden. Wir wollen dieses Unglücklichsein beseitigen, welches natürlich viele Ebenen der Intensität haben kann. Das ist das Leid des Leidens – etwas, das wir alle kennen.

Unglücklichsein wird mit einfachen Worten als der Geisteszustand definiert, den wir, wenn wir ihn haben, gern loswerden würden. Ihn gern loswerden zu wollen ist kein verzweifelter, sondern eher so ein ganz normaler Wunsch, sich gern davon zu lösen. Für die meisten von uns ist er jedoch mit einer gewissen Verzweiflung verbunden, was dann zur Kategorie des Klammerns gehört, weil wir daran klammern uns zu lösen. Das ist jedoch ein anderer Geistesfaktor.

Als jemand mit einer Motivation der anfänglichen Ebene konzentrieren wir uns im Grunde darauf, diese erste Art des Leidens, das Leid des Leidens, loszuwerden, was auf dieser Stufe jedoch nicht vollständig möglich ist. Wir können das Unglücklichsein auch als Weise definieren, das Reifen von negativem oder destruktivem Karma zu erfahren – aufgrund zuvor begangener destruktiver Handlungen erleben wir also etwas mit einem Gefühl des Unglücklichseins. Das Unglücklichsein, das wir erleben, deutet also auf die Arten von Ursachen hin, von denen wir frei werden wollen. Das Gefühl des Unglücklichseins ohne ein Verständnis der Leerheit völlig zu beseitigen ist schwierig, aber indem wir nicht auf destruktive sondern auf konstruktive Weise handeln, können wir uns vorübergehend von einem Teil des Unglücklichseins lösen – zumindest von dem groben Leid.

Dann haben wir (2) das Leiden der Veränderung, welches das Leiden unseres gewöhnlichen Glücks ist. Was ist denn falsch an unserem gewöhnlichen Glück? Das Problem ist, dass es nicht andauert, nie zufriedenstellend ist und wir zu keiner Zeit wissen, was als nächstes kommen wird. Würde es sich bei unserem gewöhnlichen Glück um wahres Glück handeln, wären wir um so glücklicher, je mehr wir davon bekämen. Ein einfaches Beispiel: Beim Essen unserer Lieblingsspeise, wie Eis, würden wir um so glücklicher werden, je mehr wir davon auf einmal essen. Nach fünf Eisbechern sind wir jedoch ganz und gar nicht mehr glücklich und unser Gefühl des Glücklichseins ist zu einem Gefühl des Unglücklichseins geworden. Dieses Glück ist also kein zuverlässig Glück. Daher wollen wir uns auch von dieser Art des Unglücklichseins lösen.

Sich lediglich von dieser Art des Unglücklichseins zu befreien ist nichts rein Buddhistisches. Auch in Systemen des Hinduismus gibt es Übungen, in denen man sich in tiefe meditative Trance begibt und dort nur ein neutrales Gefühl erlebt, also weder glücklich noch unglücklich ist. Es ist also nichts Buddhistisches, sondern eine ganz allgemeine Art der Meditation, zumindest in den indischen Meditationssystemen. Das ist nicht unser Ziel, aber wir wollen uns auch davon lösen.

Damit kommen wir zum Bereich der mittleren Ebene der Motivation, die ebenfalls schwierig ist. Was die Ursachen für eine glückliche Wiedergeburt betrifft, so gibt es einiges was wir tun können, anstatt nur Wunschgebete zu machen: wir können konstruktiv handeln, destruktives Verhalten meiden und uns den anderen weitreichenden Geisteshaltungen, wie Geduld, Ausdauer, Großzügigkeit usw. Zuwenden. Aber auch wenn wir zu dem Punkt kommen, an dem wir ernsthaft über unsere nächsten Wiedergeburten nachdenken und aktiv etwas dafür tun, so denke ich, dass es wichtig ist, auch wirklich etwas in Vorbereitung auf unsere nächste Wiedergeburt zu unternehmen. So können wir beispielsweise helfen, junge Menschen zu unterrichten, denn wir werden sie in unserem zukünftigen Leben brauchen. Wenn wir also wiederkommen und erneut in einem kostbaren menschlichen Körper wiedergeboren werden, benötigen wir Lehrer. Außerdem ist es wichtig, buddhistische Texte für zukünftige Generationen bereitzustellen – nicht nur für die Kinder anderer Menschen und nicht nur für unsere eigenen Kinder, sondern auch für uns selbst und unsere nächste Wiedergeburt. So zu denken erzeugt bei vielen von uns ein Gefühl der Dringlichkeit, mit dem wir denken: „Ich sorge für diese Dinge, weil ich möchte, dass es Dharma-Zentren und andere Institutionen gibt, wenn ich das nächste Mal wiederkomme.“ Das ist meine persönliche Einstellung: zusätzlich zu den Wunschgebeten, tatsächlich auch etwas in Vorbereitung auf unsere zukünftigen Wiedergeburten tun zu müssen.

Sich auf der anfänglichen Ebene zu befinden, birgt die Schwierigkeit, Anhaftung an eine kostbare menschliche Wiedergeburt zu haben und zu denken: „Ich würde wirklich gern eine kostbare menschliche Wiedergeburt bekommen und hätte gern auch all meine Dharma-Freunde und Lehrer um mich.“ Wir alle trachten nach den Dingen, die wir mögen: gute Freunde, eine angenehme Situation und so weiter. Da gibt es also Anhaftung und es ist unser weltliches Glück, um das es geht. Für viele von uns besteht das Ziel wahrscheinlich nicht darin, eine höhere Ebene eines neutralen Gefühls zu erreichen, und daher geht es uns lediglich darum, Samsara zu verbessern. Vielleicht wünschen wir es uns nicht für dieses Leben, aber für das nächste: ein gutes Samsara.

Aus diesem Grund sehen wir uns die dritte Art des Leidens, (3) das alles umfassende beeinflussende Leiden, an und im Buddhismus geht es hauptsächlich um diese Form des Leidens, von der wir frei werden wollen. Ich würde auch nicht sagen, dass es etwas rein Buddhistisches ist, diese Form des Leidens zu beseitigen, denn die Hindus und Jains streben ebenfalls an, Befreiung von Samsara zu erlangen – je nachdem, was sie unter Samsara verstehen. Buddhistisch ist das, was als Ursache von Samsara gesehen wird.

Wovon wollen wir uns hier also befreien? Was ist die alles umfassende beeinflussende Form des Leidens? Mit anderen Worten: Was ist diese alles umfassende Sache, welche die ersten zwei Arten des Leidens beeinflusst? Es ist die samsarische Wiedergeburt, die durch mangelndes Gewahrsein oder Unwissenheit – in Bezug darauf, wie wir existieren und wie alles andere existiert – angetrieben wird, und dazu führt, die Art von Körper und Geist zu haben, die mit dieser Verwirrung und Unwissenheit durchsetzt sind, und als solche die Grundlage dafür schaffen, die ersten zwei Arten des Leidens zu erfahren.

Die ersten zwei Arten des Leidens haben etwas mit unseren täglichen Höhen und Tiefen zu tun. Wir wissen nie, was als nächstes kommen wird. Momentan fühlen wir uns gut, aber dann, ganz plötzlich, haben wir schlechte Laune. In diesem Moment sind wir glücklich – meist ist es nichts Dramatisches, sondern nur, dass alles seinen Gang läuft – und im nächsten Moment sind wir unglücklich. Irgendeine Sorge, ein Gefühl der Nervosität oder ein Schmerz taucht auf. Es muss gar nichts Dramatisches sein, aber alles geht ständig auf und ab, auf und ab, auf und ab. Was ist es also, das wir loswerden wollen? Wir wollen die Grundlage dieser Höhen und Tiefen beseitigen. Ob wir nun ganz oben und voller weltlicher Freude oder ganz unten und tief betrübt sind, es ist eine Last. Es ist langweilig, nicht lustig und wird immer so weitergehen, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Daher wollen wir von uns von dieser Basis, der unkontrollierbar sich wiederholenden Wiedergeburt lösen. Aber dafür müssen wir daran glauben, dass es so etwas gibt.

Wir streben danach sie zu beseitigen, indem wir deren Ursache loswerden. Wie gesagt, glaubt man in anderen indischen Systemen ebenfalls an die Wiedergeburt, aber das, was man im Buddhismus als Ursache für solche Wiedergeburten identifiziert, macht es so einzigartig. Und was identifiziert man im Buddhismus als Ursachen? Es gibt viele unterschiedliche buddhistische Lehrsysteme, aber ganz generell dreht es sich um das, was man als „Unwissenheit“ übersetzt.

Ich mag das Wort „Unwissenheit“ nicht, weil es sich so anhört, als wären wir dumm. Wir sind jedoch nicht dumm, sondern „nicht gewahr“, was die wörtliche Bedeutung des Begriffes ist: wir wissen es einfach nicht. Man könnte auch sagen, dass wir es „ auf fehlerhafte Weise verstehen“ – verhaltensbedingte Ursache und Wirkung, und insbesondere die Realität, also wie ich, du und alles existiert, nicht korrekt verstehen. Entweder wissen wir es einfach nicht und sind naiv oder verstehen es nicht richtig.

Mangelndes Gewahrsein: die Wurzel von Samsara

Warum führt dieses mangelnde Gewahrsein zu unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt? Es ist wichtig, sich darüber bewusst zu werden. Was haben wir hier?

Wir haben das Unglücklichsein, die erste Art des Leidens, also das Gefühl, welches wir gern loswerden würden. Das Unglücklichsein ist, genauer gesagt, die Weise, wie wir das Reifen von negativem Potenzial erfahren, welches durch destruktives Verhalten entstanden ist.

Das Leiden der Veränderung, unser gewöhnliches Glücklichsein, ist die Weise, wie wir das Reifen von positivem Potenzial oder positiver Kraft erfahren, welches auf konstruktives Verhalten zurückzuführen ist. (Ich benutze die Worte „Verdienst“ und „Sünde“ nicht, da sie nicht in einen buddhistischen Kontext passen und christliche Begriffe sind. Stattdessen verwende ich „positive Kraft“, „negative Kraft“, „konstruktives und destruktives Verhalten“, da es in diesen Begriffen kein Werturteil gibt.) Dieses Glücklichsein wird als das Gefühl definiert, von dem wir uns nicht trennen wollen, wenn wir es erleben.

Auf der Basis dieses mangelnden Gewahrseins in Bezug darauf, wie wir existieren, kommen alle möglichen störenden Emotionen in uns hoch: „Ich will glücklich sein und noch glücklicher werden“ – wir handeln aus Anhaftung, Verlangen oder Gier; „Ich will nicht unglücklich sein“ – wir empfinden Abneigung, Wut oder Hass gegenüber allem, was uns vermeintlich unglücklich macht. Zudem sind wir im Allgemeinen naiv und wissen nicht, was wirklich geschieht.

All dies führt dann zu impulsivem Verhalten und zu Impulsen, auf bestimmte Weise zu handeln. Wie werden diese Impulse hervorgebracht? Nun, Impulse sind das, worum es beim Karma geht. Karma ist ein Drang, ein geistiger Impuls, etwas zu tun, zu sagen oder zu denken. Er wird durch ein Gefühl hervorgerufen, etwas tun zu wollen. Vielleicht haben wir Lust, jemanden anzuschreien und dieses Gefühl führt dann zu dem Impuls, der uns handeln lässt. Dieser Impuls ist das Karma.

Aber wie entsteht er? Hier wird es etwas komplizierter. Im Grunde ist es folgendermaßen: Fühlen wir uns glücklich oder unglücklich, klammern wir auch. Das ist auf die Lehren der zwölf Glieder zurückzuführen. Sind wir glücklich und haben ein Gefühl, von dem wir uns nicht trennen wollen, begehren wir danach, es nicht zu verlieren und klammern uns daran fest. Sind wir hingegen unglücklich und haben ein Gefühl, von dem wir uns gern trennen würden, begehren wir danach, es loszuwerden. Das Wort „klammern“, welches in den zwölf Gliedern benutzt wird, kommt eigentlich aus dem Sanskrit-Wort, welches so viel bedeutet, wie „Durst“. Wörtlich dürsten wir also danach, etwas loszuwerden oder etwas anderes zu bekommen. In gewissem Sinn sind wir verzweifelt.

Dieses Begehren oder Dürsten aktiviert die karmische Kraft, die wir zusammen mit einer ganzen Reihe anderer Geisteshaltungen angesammelt haben, insbesondere der herbeiführenden Geisteshaltung, die oft mit dem weniger aussagekräftigen Begriff „Greifen“ übersetzt wird. Diese Übersetzung ist verwirrend, weil es andere Begriffe gibt, in denen das Wort „Greifen“ benutzt wird, wie beispielsweise beim „Greifen nach wahrer Existenz“. Dabei handelt es sich nicht um das gleiche Wort, wie in diesem Fall. Hier geht es vielmehr um eine „herbeiführende Geisteshaltung“, also eine Geisteshaltung, die eine aktivierte karmische Kraft herbeiführt, welche dessen Resultat hervorbringen wird.

Das hat also mit einer Reihe von Dingen zu tun, aber im Grunde geht es um dieses mangelnde Gewahrsein. Wir identifizieren uns mit dem, was geschieht, und denken – „Oh, das ist ja furchtbar!“ – und trachten dann danach, von diesem Gefühl des Unglücklichseins getrennt zu werden: „Ich muss es loswerden.“ Es braucht gar nichts Dramatisches sein, aber ich denke, ihr wisst, worum es geht. Vielleicht meinen wir: „Oh, ich bin so glücklich! Es geht uns so richtig gut!“ oder: „verlass mich nie, ich kann ohne dich nicht leben“, „es muss nach meinem Kopf gehen“ oder „ich muss als erstes drankommen.“ Diese Dinge aktivieren die karmische Kraft, mit der wir dann noch mehr Glück und Leid erfahren. Aufgrund des Erfahrens von weiterem Glück und Leid, haben wir dann Gier, Anhaftung und Wut, was zu mehr karmischen Impulsen führt, die vorangegangenen Handlungen zu wiederholen. Das geht einfach immer weiter und weiter.

Dieses mangelnde Gewahrsein ist also die Wurzel für eine andauernde Grundlage des Erlebens der Höhen und Tiefen, des Glücklich- und Unglücklichseins von Samsara. Und es ist auch die Wurzel, welche uns samsarisches Glück und Leid beschert.

Mittlere Ebene

Was ich gerade erklärt habe, ist etwas komplex und erfordert viel Kopfarbeit, aber es macht deutlich, wofür wir Mitgefühl bei anderen empfinden – wovon sie freiwerden sollen. Es handelt sich nicht nur darum, Hunger zu beseitigen und eine Mahlzeit anzubieten, sondern geht sehr viel tiefer. Es ist Mahayana – groß, weit und ausgesprochen tiefgründig.

Auf dieser mittleren Ebene der Motivation wollen wir – für uns selbst – Befreiung von unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt erlangen. Das ist jedoch eine ziemlich heikle Sache, denn dann stellt sich natürlich die Frage, was wir dann tun, nachdem wir Befreiung erlangt haben. Die meisten von uns werden denken: „Nun, ich würde trotz allem gern mit meinen Freunden zusammen sein. Ich würde nach wie vor gern bei meinen Lehrern sein“ und so weiter. Und wenn wir Lehren darüber gehört haben, einen Lichtkörper zu bekommen und in einem Buddhafeld zu leben, streben wir vielleicht an, so etwas zu erreichen. Das läuft dann jedoch sehr schnell darauf hinaus, sich ein Paradies zu wünschen, was auch nicht gerade buddhistisch ist.

Wir müssen verstehen, dass das geistige Kontinuum etwas ist, das ewig andauert. Die Frage ist, was es antreiben wird. Wird es von mangelndem Gewahrsein, Verwirrung, Karma, störenden Emotionen und all diesen Dingen sowie impulsivem Verhalten getrieben, sodass wir auf zwanghafte Weise in Schwierigkeiten geraten? Oder wird es durch Gleichmut und dem Wunsch nach Frieden von alledem motiviert werden? Vielleicht ist die Motivation auch viel tiefer, wie beim Bodhichitta – dem Wunsch, zum Nutzen aller Erleuchtung zu erlangen. Wäre es genug, einfach nur von Mitgefühl und Liebe angetrieben zu werden? Im Theravada meditiert man über Liebe und Mitgefühl. Ist das genug? Würden wir unser geistiges Kontinuum gern davon antreiben lassen?

Es ist nicht leicht, überzeugt davon zu sein, dass es so etwas wie Befreiung gibt – dass es möglich ist, mangelndes Gewahrsein, störende Emotionen und karmische Impulse zu beseitigen. Wir müssen überzeugt davon sein, dass diese Dinge nicht Teil der Wesensnatur des Geistes, des geistigen Kontinuums, sind. Um davon überzeugt zu sein, gilt es zunächst zu verstehen, was der Geist ist.

Was ist Geist? Aus buddhistischer Sichtweise ist der Geist kein Ding. Wir reden hier nicht über eine Art Werkzeug in unserem Kopf oder Herzen, welches ein getrenntes „Ich“ nutzt, um Dinge zu verstehen. Diese Art der Erklärung findet man in manchen nichtbuddhistischen indischen Systemen, aber dabei handelt es sich nicht um die buddhistische Darlegung. Geist ist geistige Aktivität. Es handelt sich um eine Aktivität und nicht um ein Ding, welches die Aktivität ausführt. Niemand streitet ab, dass es eine physische Grundlage gibt, aber davon ist hier nicht die Rede. Und es handelt sich auch nicht um etwas Nichtkörperliches oder Nichtmaterielles.

Vielmehr reden wir hier von geistiger Aktivität, die von einem Augenblick zum nächsten stattfindet. Es findet immer nur ein Augenblick auf einmal statt. Es gibt einen Augenblick, dann einen nächsten und wieder einen nächsten, also ein Kontinuum von Augenblicken. Und jedes Kontinuum ist individuell. Bei den meisten von uns ist es so, dass unser geistiges Kontinuum von Ursache-Wirkung-Sequenzen unseres Verhaltens getrieben wird. Wir sind unser eigener persönlicher Film, der von Unwissenheit gedreht und produziert wird, und den Titel „Ich“ trägt. Der Film „Ich“ läuft gerade. Nun, ganz so ist es nicht, aber ihr versteht, was ich meine. Es läuft immer nur ein Augenblick auf einmal. Das ist tatsächlich eine sehr gute Metapher für das Verständnis der Natur des „Ichs“, des Selbst.

Jedenfalls gibt es Augenblicke von geistiger Aktivität. Nun stellt sich die eigentliche Frage, ob Verwirrung und mangelndes Gewahrsein zur Natur der Augenblicke geistiger Aktivität gehören. Sind diese störenden Emotionen – Wut und so weiter, die so genannten flüchtigen Makel – Teil der Wesensnatur der geistigen Aktivität? Sind sie immer da? Nun, wir sind nicht immer wütend. Wenn wir gerade schlafen, ist die Wut beispielsweise nicht da, aber sie kommt wieder zurück, nicht wahr? Obwohl die störenden Emotionen also nicht immer da sind – wir können vorübergehend von einigen von ihnen frei sein und sind es tatsächlich auch – ist das kein Beweis dafür, dass sie nicht Teil der Wesensnatur des Geistes sind.

Wo geht die Wut hin, wenn wir nicht wütend sind. Befindet sie sich in einer kleinen Schublade in unserem Kopf und wartet nur darauf herauszukommen? Nein, das tut sie nicht. Ist sie unmanifestiert? Wir können große philosophische Diskussionen darüber halten, was passiert, wenn wir gerade keine Wut erleben. Sie kommt jedenfalls irgendwie zurück und wie sie zurückkommt, ist eine ziemlich komplizierte Sache. Die Tatsache, dass die Wut nicht immer da ist, beweist aber nicht, dass wir uns von ihr lösen können. Was wir mit einer wahren Beendigung, dieser dritten edlen Wahrheit, erreichen wollen, ist, für immer von Dingen wie Wut frei zu werden; wir wollen, dass sie nie wieder zurückkommen. Ist das möglich? Wie können wir zu der Überzeugung gelangen, dass es möglich ist?

Warum Unwissenheit ein flüchtiger Makel ist, und Mitgefühl nicht

Das ist eine recht interessante Frage, nicht wahr? Wie können wir zu dieser Überzeugung gelangen? Hier wird es wirklich ziemlich kompliziert. Warum? Weil es bestimmte Dinge, wie flüchtige Makel, gibt, die wir loswerden können, und andere Geistesfaktoren, wie Mitgefühl, die wir nicht loswerden – sie sind gewissermaßen Teil der Wesensnatur des Geistes, je nachdem, welches System wir nutzen, um die Natur der geistigen Aktivität zu erklären.

Es ist so, dass es mit nichtkonzeptueller Wahrnehmung der Leerheit – und man muss ein wenig erklären, was das bedeutet – kein mangelndes Gewahrsein gibt. Das mangelnde Gewahrsein ist verschwunden. Ein Teil davon kommt anfangs zurück, denn es völlig loszuwerden ist ein langer Prozess des nichtkonzeptuellen Fokussierens auf die Leerheit. Erst auf der dritten der fünf Stufen, den fünf Arten des Pfadgeistes, dem so genannten Pfad des Sehens oder Pfadgeist des Sehens, beginnen wir, wahre Beendigungen zu haben. An diesem Punkt werden wir einige Arten des mangelnden Gewahrseins für immer los und müssen dann daran arbeiten, uns zunehmend von ihnen zu lösen.

Mangelndes Gewahrsein beruht auf dem so genannten „Greifen nach wahrer Existenz“. Ich will gar nicht näher darauf eingehen, was das wörtlich bedeutet, denn in jedem Lehrsystem wird es anders definiert und das würde wirklich kompliziert werden. Sagen wir einfach, es handelt sich um das „Greifen nach unmöglichen Existenzweisen“. Wahre Existenz ist eine unmögliche Existenzweise. Wenn wir über die Leerheit reden, muss ich zunächst sagen, dass ich das Wort „voidness“ (Leerheit, Leere) dem Wort „emptiness“ vorziehe. Ich „erhebe Einspruch“ gegen dieses Wort, weil ich denke, dass es irreführend ist. „Emptiness“ deutet darauf hin, dass etwas leer ist, als gäbe es etwas, das leer von etwas anderem ist, was so nicht stimmt. Das ist nicht die Bedeutung des Begriffes und er ist irreführend, wenn es darum geht zu verstehen, wie man über die Leerheit meditiert.

Die Leerheit ist eine völlige Abwesenheit. So etwas, wie diese unmögliche Existenzweise, gibt es ganz einfach nicht. Meditieren wir über die Leerheit, trennen wir uns von jeglichem Glauben an dieses unmögliche Zeug. Gewissermaßen ist es wie ein Vakuum. Die Leerheit bezieht sich natürlich auf die unmögliche Existenzweise von etwas, aber es ist nicht so, dass dieses Etwas in Erscheinung tritt, während wir über die Leerheit meditieren. So etwas gibt es nicht, Punkt.

Richten wir uns nichtkonzeptuell auf die Leerheit, tun wir dies nicht durch eine Kategorie, wie die Kategorie der Leerheit. Das ist natürlich recht schwer zu verstehen. Was bedeutet denn eigentlich nichtkonzeptuell? Es bedeutet „nicht durch eine Kategorie“ und muss nicht in unserem Kopf verbalisiert werden. Es handelt sich einfach um eine allgemeine Kategorie. Betrachte ich zum Beispiel dieses Objekt, sehe ich einen Tisch. „Tisch“ ist eine Kategorie, durch die ich dieses Objekt wahrnehme. Ich muss nicht „Tisch“ sagen, wenn ich dieses Objekt sehe, um zu erkennen, dass es ein Tisch ist, aber dennoch sehe ich es konzeptuell als einen Tisch. Es ist eine Kategorie. Die konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit geschieht durch die Kategorie Leerheit. Nichtkonzeptuelle Wahrnehmung findet hingegen ohne die Kategorie statt.

Es ist so, dass unser Geist Erscheinungen unmöglicher Existenzweisen entstehen lässt und wir dann glauben, diese Erscheinungen wären wahr. Beim Greifen nach wahrer Existenz gibt es, in Bezug auf diese unmöglichen Existenzweisen, zwei Phasen. Der Begriff „Greifen“ umfasst zwei Dinge und aus diesem Grund ist es nicht einfach, ihn korrekt zu übersetzen. Er bedeutet nicht das, was wir für gewöhnlich unter ihm verstehen. Vielmehr geht es darum, „etwas kognitiv als ein Objekt zu erfassen“. Hier gibt es zwei Komponenten. Die eine besteht darin, einfach eine unmögliche Existenzweise wahrzunehmen – denn der Geist lässt diese Erscheinung entstehen; und bei der anderen geht es darum zu glauben, dass sie der Realität entspricht.

Wovon wir frei werden müssen, ist zu glauben, dass sie der Realität entspricht. Das ist unser mangelndes Gewahrsein: Wir denken, die Erscheinungen würden der Realität entsprechen und Dinge würden tatsächlich auf diese unmögliche Weise existieren. Konzentrieren wir uns darauf, dass es so etwas nicht gibt, hören wir nicht nur auf, an diesen Unsinn, den unser Geist produziert, zu glauben; unser Geist wird diese Dinge in dem Moment nicht einmal produzieren. So etwas gibt es ganz einfach nicht und daher entsteht keine Erscheinung dieser unmöglichen Existenzweise und auch kein Glauben daran. Wir verstehen, dass es Unsinn ist. Dies gab es nie und konnte es nie geben. Je mehr wir uns darauf fokussieren und um so mehr wir in diesem Zustand bleiben, desto mehr kommt es zu einem Bruch dieses Momentums – es ist etwas, das wir selbst erfahren müssen. Wenn wir uns auf die Leerheit fokussieren, unterbrechen wir das Momentum des Geistes, diesen Unsinn zu produzieren sowie das Momentum, daran zu glauben.

Dieses Momentum zu unterbrechen ist nicht das gleiche, als wütend zu sein und dann das Momentum der Wut zu unterbrechen, indem wir schlafen gehen. Vielleicht sind wir nicht mehr so wütend oder verärgert, wenn wir am nächsten Morgen aufstehen, aber die Wut kommt ziemlich schnell zurück. Das Unterbrechen des Momentums ist hier also anders. Warum ist es anders? Es ist anders, weil wir die Erscheinung der unmöglichen Existenz und den Glauben daran durch Verständnis beendet haben – und nicht einfach nur dadurch, schlafen zu gehen. Dieses Verständnis ist etwas, das bleibt.

Obwohl wir vielleicht kein manifestiertes Mitgefühl haben, wenn wir uns nichtkonzeptuell auf die Leerheit richten, wird durch unser Verständnis, über das wir in dem Moment verfügen, das Mitgefühl nicht beseitigt. Auch wenn es in den verschiedenen Lehrbüchern der buddhistischen Schulen hierzu unterschiedliche Meinungen gibt, so sind sich doch alle darin einig, dass wir in diesem Moment kein manifestiertes Mitgefühl haben. Wir befreien uns also nicht von Mitgefühl, wenn wir uns auf die Leerheit richten, aber lösen uns von mangelndem Gewahrsein und Unwissenheit. Je mehr wir bei diesem Verständnis bleiben, desto schwächer wird das Hervorbringen von Erscheinungen und der Glaube an sie. Letzten Endes verschwinden sie dann ganz und das zeigt, dass mangelndes Gewahrsein nicht Teil der Wesensnatur des Geistes ist. Das ist die Erklärung vom Sutra-Standpunkt.

Vom Standpunkt des Anuttarayoga-Tantra kann man auch sagen, dass der Geist des klaren Lichts, den wir zum Zeitpunkt des Todes erleben, nicht diese unmögliche Erscheinung hervorbringt und somit nicht dieses mangelnde Gewahrsein hat, was zeigt, dass es nicht ein essenzieller Teil des Geistes ist. Für die meisten von uns ist es jedoch nicht so leicht, sich darüber bewusst zu sein, was zum Zeitpunkt des Todes mit den verschiedenen Arten des Gewahrseins vor sich geht. Das zeigt jedoch auch, dass dieser Unsinn nicht Teil der Wesensnatur des Geistes ist, während Mitgefühl ein Teil davon sein kann. Das sind Dinge, über die wir nachdenken sollten.

Weil mangelndes Gewahrsein kein Teil der Wesensnatur des Geistes ist, können wir uns von ihm lösen. Wir sind in der Lage, die dritte edle Wahrheit mit der vierten edlen Wahrheit und dem Verständnis der Leerheit zu erreichen. Hier ist unsere Zuflucht. Das ist die sichere Ausrichtung, die Richtung, die wir einschlagen wollen. Es geht nicht nur darum, nie wieder hungrig zu sein. Sind wir frei von dieser falschen Erscheinung, werden Dinge, wie: „oh, mein weltliches Glück, mein wunderbarer Fernseher, meine tolle Musik und all dieses Zeug“, sowie das Klammern daran und der Glaube, dass diese Dinge uns letztendliches Glück bescheren können, gar nicht erscheinen. Wir werden diese Dinge nicht haben wollen – sie sind unmöglich.

Es ist wie in meinem Lieblingsbeispiel, der Suche nach dem Traumprinzen oder der Traumprinzessin auf dem weißen Pferd. Wir denken, der perfekte Partner wird irgendwann kommen und wir werden bis an unser Lebensende glücklich miteinander sein. Aber das ist ein Märchen und es wird nie passieren. Niemand existiert auf diese Weise – als ein Prinz oder eine Prinzessin auf dem weißen Pferd. Dasselbe gilt, wenn wir denken: „Oh, alles wird so wunderbar sein“ und dann an diesen Dingen hängen.

Diese Art des Greifens und Klammerns wird zum Zeitpunkt des Todes nicht stattfinden, wenn wir wirklich mit der Meditation der Leerheit vertraut sind. Der Geist wird Dinge nicht als „die wunderbarste Sache der Welt“ erscheinen lassen und wir werden erst recht nicht daran glauben. In dem Fall werden wir kein „werfendes Karma“ aktivieren, welches zu einer weiteren Wiedergeburt führt, und werden somit Befreiung erlangen.

Wenn wir so denken, beginnen wir ein wenig Überzeugung zu entwickeln, dass Befreiung möglich ist.

Fortgeschrittene Ebene

Es gibt zwei Arten von Schleiern, von denen wir frei werden müssen, um Befreiung und/oder Erleuchtung zu erlangen: die emotionalen und die kognitiven Schleier.

Ein Schleier ist keine Verschleierung von geistiger Aktivität, sondern vielmehr etwas, das auf der Grundlage einer geistigen Aktivität stattfindet und verschleiert, wie Dinge tatsächlich existieren. Geistige Aktivität findet statt, auch wenn wir verwirrt sind; es handelt sich um die gleiche geistige Aktivität. Sie verschleiert die geistige Aktivität nicht. Ein Schleier existiert auf der Grundlage des geistigen Kontinuums. Er verschleiert, wie Dinge existieren. Er verschleiert sowohl die Erscheinung von Dingen und das Verständnis in Bezug darauf.

Die emotionalen Schleier verschleiern unser Verständnis und daher haben wir all die störenden Emotionen. Von dieser Art des Schleiers müssen wir frei werden, um Befreiung zu erlangen. Die kognitiven Schleier verschleiern die Erscheinung von allem. Sie lassen alles erscheinen, als würden die Dinge getrennt existieren, wie in Schubladen, die mit den Worten aus dem Wörterbuch übereinstimmen – „gut“, „schlecht“, „dies“ oder „das“ – während tatsächlich alles miteinander verbunden ist. Dinge existieren nicht in Schubladen, so, wie es die Worte und Kategorien vielleicht nahelegen. Aber dennoch lässt unser Geist Dinge auf diese Weise erscheinen – als „Freund“, „Feind“ und diese Art von Schubladen. Dieses trügerische Hervorbringen von Erscheinungen ist ein kognitiver Schleier und er hält uns davon ab, die Verbundenheit von allem zu erkennen.

Auf der mittleren Ebene streben wir an, zu der Überzeugung zu gelangen, davon frei werden zu können, nicht weiter an den Unsinn zu glauben, den der Geist produziert, sowie Befreiung von unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt erlangen zu können. Auf der fortgeschrittenen Ebene, auf der wir zum Bodhichitta kommen, müssen wir überzeugt davon sein, dass es möglich ist, sich von den kognitiven Schleiern zu lösen und somit ein allwissender Buddha zu werden. Glauben wir wirklich, dass unsere geistige Aktivität dazu in der Lage ist, alles in den so genannten zehn Richtungen und drei Zeiten (was immer das auch heißen mag) nicht nur zu kennen sondern auch zu verstehen?

Das ist auch nicht gerade leicht. Die anderen Dinge, über die wir geredet haben, waren nicht so schwierig, aber hierbei handelt es sich zweifellos um eine harte Nuss. Denken wir wirklich, dass Erleuchtung möglich ist? Es ergibt keinen Sinn Erleuchtung anzustreben, wenn wir es nicht für möglich halten. Glauben wir nicht daran, dass es so etwas gibt, ist alles nur ein Spiel. Was tun wir hier? Wünschen wir uns, ein Osterhase zu werden oder die Zahnfee? Was wollen wir erreichen? Denken wir wirklich, wir könnten Buddhas werden? Oder ist unser Glaube wie der Glaube an die Zahnfee? Ich denke, es ist ziemlich hilfreich, absurde Beispiele heranzuziehen, denn sie können uns wachrütteln und zum Nachdenken anregen: „Bin ich einfach nur naiv und lasse mich von irgendwelcher buddhistischen Propaganda täuschen oder halte ich dieses Ziel, welches ich mit Bodhichitta anstrebe, für realistisch?

Wir sollten die Bodhichitta-Ausrichtung nicht trivialisieren. All diese Worte, die wir wiederholen, sind im Grunde ziemlich absurd: „Möge ich ein Buddha werden und alle fühlenden Wesen befreien.“ Haben wir denn wirklich diese Einstellung, jede Mücke im Universum befreien zu wollen? Da sind wir ganz sicher noch nicht und ich meine, wir sollten bescheiden sein, was unsere Ziele angeht. Einfach nur Erleuchtung erlangen zu wollen, um allen Wesen nützlich zu sein, setzt voraus, konzeptuell zu verstehen, was Erleuchtung ist, und überzeugt davon zu sein, dass es so etwas gibt und wir es erreichen können. Ich kann es mir jedoch schwer vorstellen, dass wir tatsächlich diese Ebene erreichen wollen, auf der wir den aufrichtigen Wunsch danach haben könnten.

Sehen wir uns also die Allwissenheit an, was auch nichts Leichtes ist. Ist die geistige Aktivität in der Lage dazu, alles zu verstehen? Wie würden wir diese Analyse angehen? Wir würden es analysieren, indem wir uns damit befassen, wodurch sie verschleiert wird und was sie daran hindert, Dinge zu verstehen. Es sind diese kognitiven Schleier, die sie daran hindern.

Was sind kognitive Schleier? Gemäß dem System des Gelug-Prasangika handelt es sich um das trügerische Hervorbringen von Erscheinungen des Geistes, der geistigen Aktivität. In dieser Kategorie der Schleier gibt es auch noch andere Dinge, wie die Unfähigkeit, zwei Wahrheiten gleichzeitig erscheinen zu lassen. Aber lassen wir das im Moment einmal beiseite und wenden uns in unserer Darlegung an diesem Wochenende nur diesem falschen Hervorbringen von Erscheinungen zu.

Was tut unser Geist, wenn er diese trügerischen Erscheinungen hervorbringt? Wie ich bereits kurz angesprochen hatte, lässt unser Geist Dinge erscheinen, als würden sie dort draußen und von sich aus in Kategorien oder Schubladen existieren.

Das Beispiel, welches ich immer benutze, weil es leicht zu verstehen ist, bezieht sich auf die Farben Rot und Orange. Es gibt die Worte „Rot“ und „Orange“, und sie beziehen sich auf etwas. Wir haben uns auf eine Konvention geeinigt, diesen willkürlichen und bedeutungslosen Lauten „Rot“ und „Orange“ eine Bedeutung zuzuschreiben. Es handelt sich dabei um völlig bedeutungslose Laute, und ein paar Höhlenmenschen oder andere haben entschieden: „Lasst uns diese bedeutungslosen Laute zusammenfügen und ihnen eine Bedeutung zuweisen. Wir einigen uns darauf und stecken dies in die rote Schublade und jenes in die orangene. Natürlich werden manche widersprechen, aber sei es drum. Wir haben also diese Konventionen und sie sind nützlich, um zu kommunizieren. Betrachten wir jedoch das Lichtspektrum selbst, sehen wir keine Begrenzungen oder Linien zwischen den Farben Rot und Orange; nicht die geringsten. Licht existiert nicht abgegrenzt als diese oder jene Farbe.

Dasselbe gilt für Emotionen – und dieses Beispiel betrifft uns noch etwas mehr. Liebe, Eifersucht – worum geht es denn dabei? Existieren sie in Schubladen? „Jetzt werde ich Liebe empfinden und diese Liebe wird genau dieselbe sein, die du empfindest“, oder: „Die Liebe, die ich für meinen Hund empfinde, ist dieselbe, die ich auch für meinen Freund/meine Freundin habe oder für mein Heimatland.“ Was ist Liebe? Sie existiert nicht in einer Schublade. Wir haben ein Wort und da gibt es dieses breite Spektrum von Emotionen, die jeder fühlt. Emotionen existieren nicht in Schubladen und sie existieren nicht von sich aus – was die Worte allerdings andeuten. Das ist die trügerische Erscheinung. Es liegt nicht nur an den Konventionen oder dem geistigen Bezeichnen.

Die geistige Bezeichnung „Liebe“ erzeugt keine Liebe. Es spielt keine Rolle, ob wir eine Emotion als „Liebe“ oder etwas anderes – oder auch gar nicht – bezeichnen. Wir haben Emotionen und wir können mit Worten und Konzepten kommunizieren. Diese Worte und Konzepte beziehen sich auf etwas, aber das, worauf sie sich beziehen, existiert nicht in Schubladen. Das ist etwas, das wir in der Madhyamaka-Analyse nicht finden können: Es gibt keine Dinge, die für sich in Schubladen, in diesen Kategorien, existieren.

Die Frage ist, wie wir mit dieser Sichtweise umgehen, dass es „so etwas nicht in Schubladen“ gibt oder unser Geist diese Schubladen nicht erscheinen lässt. Das ist ein wichtiger Punkt: Wie gehen wir mit „so etwas nicht“ um? Um das zu demonstrieren, nutze ich ein ganz einfaches Beispiel, in dem es jedoch nicht so sehr um „so etwas nicht“ geht, sondern darum, dass es „nichts“ von etwas gibt. Was geschieht, wenn wir unsere Schüssel verloren haben? Wir suchen überall, aber können sie nicht finden. Sie sind nirgends, aber wir wollen es nicht glauben und so suchen wir immer weiter. Schließlich kommen wir zu der Erkenntnis: „Die Schlüssel sind nicht da.“ Richten wir uns darauf, dass die Schlüssel nicht da sind, was erscheint dann in unserem Geist? Nichts. Es erscheint nichts. Wir betrachten vielleicht die Wand – die Wand erscheint – aber darauf richtet sich unser Geist gerade nicht, sondern vielmehr auf das Nichts – auf „sie sind nicht da“. Wir verstehen aber, dass es nicht einfach um ein Nichts geht, sondern um die Abwesenheit der Schlüssel.

In ähnlicher Weise konzentrieren wir uns auf „so etwas, wie Dinge in Schubladen, gibt es nicht.“ In dem Moment, in dem wir uns darauf fokussieren, erscheint nichts. Der Geist bringt also keine Erscheinungen dieser Schubladen hervor, oder Dinge, die wie in Plastik gehüllt zu sein scheinen.

Kommen wir dann wieder zurück zu unserem Wunsch, zu der Überzeugung zu gelangen, dass Allwissenheit möglich ist, stellt sich eine weitere Frage. Um es ganz einfach auszudrücken: Würde unser Geist Dinge nicht mit festen Linien abgrenzen und in Schubladen stecken, was würde dann erscheinen? Wir verstehen, dass es so etwas nicht gibt, aber wenn wir mit unserem Fokus dabei bleiben könnten... Darum geht es bei dem anderen kognitiven Schleier, denn wir haben Schwierigkeiten, zusammen mit dem „so etwas gibt es nicht“ alles zu sehen. Könnten wir uns jedoch von diesem Schleier lösen – und der Geist des klaren Lichts ist in der Lage dies zu tun, weshalb wir Tantra benötigen – und uns auf etwas richten, ohne es mit Linien abzugrenzen, was würde dann erscheinen? Alles.

Würde denn wirklich alles erscheinen? Nun beginnen wir zu denken: „Ich kann Dinge nur durch diese zwei Löcher in meinem Kopf sehen. Auch wenn ich Dinge ohne Abgrenzungen sehe, weiß ich doch nicht, was sich hinter mir befindet. Würde ich denn auch wissen, was noch nicht stattgefunden hat und was nicht mehr stattfindet, und somit die Zukunft und die Vergangenheit kennen? Das ist eine interessante Frage. Das hat etwas damit zu tun, warum wir, nachdem wir Befreiung und Erleuchtung erlangt haben, keine solch begrenzten Körper mehr haben. Im Moment verfügen wir über eine begrenzte Hardware. Wir können nur durch diese zwei Löcher in unserem Kopf sehen. Wir müssen auch schlafen, was ganz offensichtlich nicht so wünschenswert ist, wenn wir immer allwissend sein wollen. Wir reden also von einer anderen Art des Körpers. Er würde aus reiner Energie bestehen, wir würden Buddha-Körper haben.

Hätten wir Körper aus reiner Energie, die nicht durch die Mängel eines samsarischen Körpers begrenzt sind, und würde unser Geist nicht alles mit Linien abgrenzen, wären wir in der Lage zu sehen, wie alles, was erscheint, miteinander verbunden ist. Und das wäre nicht begrenzt darauf, was momentan und auf räumliche Weise existiert, sondern würde sich auch auf alles im Sinne von Ursache und Wirkung beziehen, was dann Vergangenheit und Zukunft miteinbezieht.

Die Thematik, über welches Wissen ein Buddha verfügt, wenn er die Vergangenheit und die Zukunft kennt, ist recht schwierig – im Moment schreibe ich gerade etwas darüber. Ihr könnt mir aber glauben, dass das buddhistische Verständnis hierzu wirklich komplex ist. Es hat etwas mit karmischen Tendenzen und diesen Dingen zu tun.

Was noch nicht stattgefunden hat – wie beispielsweise das Jahr 2008 – ist die Zukunft. Hat ein Buddha Kenntnis über das Jahr 2008? Ein Buddha kennt das Jahr 2008 – obwohl es momentan nicht stattfindet. Etwas kann also existieren, obwohl es momentan nicht stattfindet. Gibt es so etwas wie das Jahr 2008? Ja. Existiert es? Ja. Können wir Pläne für dieses Jahr machen? Ja. Findet es momentan statt? Nein. Findet das Jahr 2006 momentan statt? Nein. Können wir es kennen? Ja, ich erinnere mich; ich weiß, was sich im Jahr 2006 ereignet hat – aber es findet momentan nicht statt.

Um zu beginnen, die buddhistischen Lehren darüber zu verstehen, wie ein Buddha die Vergangenheit und die Zukunft kennt, ist es notwendig, sich gedanklich auf Dinge zu beziehen, die momentan stattfinden und jene, die momentan nicht stattfinden. Nur weil etwas momentan nicht stattfindet, muss dies nicht heißen, dass wir es nicht kennen können: Ich weiß, dass es ein Morgen geben wird und dass es ein Gestern gab.

Mir geht es darum, dass wir uns nicht auf etwas Unmögliches ausrichten, wenn wir unsere zukünftige Erleuchtung anstreben – die noch nicht stattfindet, die gegenwärtig nicht stattfindet, die aber stattfinden könnte. Wir richten uns nicht auf etwas aus, das es nicht gibt, aber müssen verstehen, dass es momentan nicht stattfindet. Wie können wir es dann kennen? Wir kennen es auf der Basis der Ursachen für die Erleuchtung, die Ursachen, die momentan existieren, nämlich die Faktoren der Buddha-Natur.

Das führt dann zur Besprechung der Buddha-Natur, was zur Natur des Geistes führt. Aus diesem Grund ist dieses Thema von Bedeutung. Hier geht es darum, ob der Geist eine natürliche Reinheit und die Fähigkeit hat, etwas zu verstehen. Wir reden über die Wesensnatur des Geistes, rein von diesen Makeln zu sein – nicht nur von den flüchtigen Makeln, sondern auch von den Makeln unmöglicher Existenzweisen. Das kennt man als Natur-Körper, Svabhavakaya, bei dem es sich um einen Körper handelt, über den man verfügt, wenn man Buddhaschaft erlangt hat. Das steht in direktem Zusammenhang mit der dritten edlen Wahrheit.

Der Geist hat die Fähigkeit, Erscheinungen von Dingen hervorzubringen und sie ohne begrenzende Linien zu verstehen. Das bedeutet, er könnte alles umfassen, auch die Vergangenheit und die Zukunft – wenn wir Vergangenheit und Zukunft in Verbindung und Beziehung zu Ursache und Wirkung von allem sehen. Diese Fähigkeit ist Teil der Buddha-Natur, Teil der Wesensnatur des Geistes. Geistige Aktivität ist von Natur aus dazu fähig. Wir sollten jedoch den Geist nicht als ein Ding sehen – die geistige Aktivität ist dazu in der Lage. Das ist ein weiterer Aspekt der Buddha-Natur. Worum geht es hier? Es geht um die vierte edle Wahrheit, Dharmakaya – den allwissenden Geist eines Buddhas, sowie um das Hervorbringen von Erscheinungen, Rupakaya – den Formkörper eines Buddhas.

Über all diese Dinge, die sehr tiefgründig und ziemlich komplex sind, gilt es nachzudenken. Haben wir jedoch ein etwas solideres Verständnis darüber, können wir Bodhichitta aufrichtig entwickeln. „Ich weiß, worauf ich mich fokussiere und dass das, worauf ich mich fokussiere, existiert und erreichbar ist. Und ich will allen anderen helfen, diesen Zustand zu erreichen, weil ich überzeugt davon bin, dass es auch für alle anderen möglich ist.“ Können wir diese Überzeugung haben, ist es möglich, Bodhichitta aufrichtig zu entwickeln; ohne sie ist alles nur wie ein Spiel.

Wie gesagt ist es möglich, zu Beginn mit diesen Bodhichitta-Lehren auf einer Wohlfühl-Ebene des Dharma zu arbeiten, also: „alle zu lieben“, „alle waren so gütig mir gegenüber“ und „mögen sie glücklich und frei von Leiden sein“. Damit will ich diese Dinge nicht herabsetzen; all das ist wirklich sehr hilfreich – aber bei dieser Ebene der Liebe und des Mitgefühls handelt es sich nicht um die tiefe Ebene von Liebe und Mitgefühl, um die es im Buddhismus geht.

Die fortgeschrittene Ebene ist eine ausgesprochen tiefe Ebene. „Es ist furchtbar, dass du diese Höhen und Tiefen in Samsara durchgehst und dass du es immer weiter fortsetzt. Mögest du frei von diesem Mechanismus sein, der dein Auf und Ab, die unkontrollierbare sich wiederholende Existenz, weiter fortsetzt.“ Das ist es, was wir uns wirklich wünschen, wovon andere frei sein mögen. Und das Glücklichsein, das wir ihnen wünschen, ist nicht nur dieses Glücksgefühl, welches man bekommt, wenn man einen vollen Magen hat. Das wird nicht andauern. Natürlich braucht man einen vollen Magen, aber das ist etwas Vergängliches. Es ist nicht so, dass wir anderen keine vorübergehende Hilfe zukommen lassen wollen; selbstverständlich helfen wir anderen. Ihnen jedoch vorübergehend Hilfe zu leisten, ist nicht unser tiefstes Ziel. Vielmehr streben wir danach, dass sie die Art des Glücklichseins haben mögen, welches frei von all diesem Müll ist und bei dem es sich um ein bleibendes und wahres Glück handelt.

Und unser Ziel ist, dass alle dieses Glück haben mögen. Uns geht es nicht um die samsarische Situation, in der sich die anderen gerade befinden – , dass sich aus karmischen Gründen dieses geistige Kontinuum in dem Körper einer Kakerlake manifestiert hat, jenes im Körper meiner Mutter und ein anderes im Körper von Adolf Hitler. Unsere Denkweise ist viel größer und weiter. Uns geht es um die Buddha-Natur in allen. Auf diese Weise sehen wir im Tantra alle als Buddhas: auf der Basis ihrer Buddha-Natur.

Beziehen wir uns gedanklich auf Bodhichitta, muss es darauf hinauslaufen, dass alle bereits einmal unsere Mutter gewesen sind. Darüber werden wir im Laufe des Wochenendes noch reden. Es ist keine einfache Sache und bedeutet nicht nur: „alle waren bereits meine Mutter und sie alle waren voller Güte“, sondern wir könnten auch darüber meditieren, dass alle schon einmal unsere Mörder gewesen sind. Mit der gleichen Logik, mit der wir sagen, dass alle irgendwann schon einmal unsere Mutter gewesen sind, könnte man auch davon ausgehen, dass uns alle irgendwann schon einmal getötet haben. Das ist ein ernüchternder Gedanke und wir werden die Vor- und Nachteile dieser beiden untersuchen. Wenden wir uns aber der anderen Methode des Entwickelns von Bodhichitta zu, mit der wir die Ebenbürtigkeit aller sehen, tun wir das nicht beruhend auf der Denkweise, dass alle unsere Mütter oder Mörder gewesen sind, sondern denken, dass alle glücklich und niemand unglücklich sein möchte. Es geht also weniger um das „Ich“.

Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt immer, dass die Methode des Gleichsetzens und Austauschens von uns und anderen – also zu denken, dass alle gleichermaßen glücklich und nicht unglücklich sein wollen – weniger riskant ist, als zu erkennen, dass alle bereits unsere Mütter gewesen sind, denn wenn uns bewusst wird, wie gütig sie als Mutter gegenüber uns waren, wird dem „Ich“ dadurch etwas mehr Betonung verliehen. Bei dieser Art der Meditation muss man also etwas vorsichtig sein. Aber das mindert nicht den Nutzen dieser Meditation; es gilt einfach nur darauf zu achten und sie mit anderen Meditationen zu ergänzen.

Das ist ein wenig Hintergrundinformation in Bezug auf unsere Diskussion über Bodhichitta. Es handelt sich nicht wirklich um eine Einleitung, denn eine Einleitung sollte einfach sein und der eigentlichen Darstellung, die schwieriger ist, vorausgehen. Was ich erklärt habe, war jedoch nicht gerade einfach. Ich habe aber das starke Gefühl, dass es wichtig ist, diese Lehren nicht zu bagatellisieren. Sie sind überaus kostbar und ausgesprochen tiefgründig. Warum sind sie kostbar und tiefgründig? Weil das, worauf sie basieren, ausgesprochen tiefgründig ist. Wir können sie nutzen, sie auf eine Dharma-light-Weise anwenden und dadurch von ihnen profitieren, aber die eigentliche Absicht hinter diesen Lehren besteht darin, uns zu helfen, Erleuchtung zu erlangen.

Im gesamten ersten Kapitel von Shantidevas „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ (Bodhicharyavatara) geht es darum, wie unfassbar besonders es ist, tatsächlich Bodhichitta zu entwickeln. Damit bezieht er sich übrigens auf das „mühelose“ Bodhichitta. „Mühevoll“ bedeutet, die siebenteilige Ursache-Wirkung-Meditation durchgehen zu müssen, um sich selbst dahingehend zu entwickeln. Das ist mühevoll, denn wir müssen uns bemühen, um diesen Geisteszustand zu erreichen. Wir werden jedoch nur Bodhisattvas, wenn wir in der Lage sind, über Bodhichitta auf mühelose Weise zu verfügen. Mit anderen Worten entwickeln wir es nicht, sondern verfügen einfach darüber. An diesem Punkt haben wir tatsächlich Bodhichitta und sind Bodhisattvas. Shantideva spricht anerkennend darüber, wie unglaublich außergewöhnlich das ist.

Bodhichitta ist keine triviale Ebene, auf der man nur irgendwelche bedeutungslosen Worte rezitiert: „Möge ich zum Wohle aller fühlenden Wesen Erleuchtung erlangen“ und „jetzt habe ich Bodhichitta und bin ein Bodhisattva.“ Es geht darum, all die Punkte zu verstehen, über die ich heute Abend gesprochen habe. Beruht unser Bodhichitta auf einem Verständnis all dieser Dinge, sind wir überzeugt davon, und beziehen wir uns aufrichtig auf alle Wesen, ist es außerordentlich. Das ist wirklich erstaunlich. Aus diesem Grund wird es von Shantideva so sehr geschätzt. Ansonsten wäre das erste Kapitel recht merkwürdig, wenn wir denken: „Was ist schon dabei? Ich kann die Verse ebenfalls rezitieren, genau wie alle anderen auch.“

Bodhichitta bedeutet aber nicht nur, Verse zu rezitieren und zu denken: „Ich wäre gern ein freundlicher und hilfsbereiter Mensch.“ Es ist viel tiefer als das, sehr viel tiefer. Ja, ein Zwischenschritt besteht darin, ein freundlicher, gütiger Mensch zu sein. Ja, ich würde gern rücksichtsvoller, hilfreicher und weniger neurotisch sein. Das ist ja klar. Aber dies sind nur Zwischenschritte. Bodhichitta ist das Echte und das Echte, um es umgangssprachlich auszudrücken, ist einfach grandios.

Kommen wir hiermit zu einem Ende für heute. Vielleicht habt ihr ja ein paar Fragen dazu.

Fragen 

Wäre es für mich vielleicht einfacher, überzeugt von Dingen wie Befreiung oder auch nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit zu sein, wenn ich jemanden kennen würde, der dies erreicht hat, insbesondere jemanden, der noch am Leben ist? Auf der anderen Seite ist mir bewusst, dass man vor anderen Menschen nicht über die eigenen Errungenschaften redet – was es schwierig macht, eine Bestätigung dafür zu bekommen. Es ist ja möglich, von Scharlatanen hereingelegt zu werden. Könnten Sie etwas darüber sagen, vielleicht auch in Bezug auf ihre eigene Erfahrung?

Das ist eine sehr gut und ernsthafte Frage. Es geht darum, ob es hilfreich wäre, ein lebendiges Beispiel von jemandem zu haben, der diese Dinge, wie nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit und Bodhichitta, bereits erreicht hat, um überzeugt davon zu sein. Natürlich ist es traditionell so, dass man es nicht herumerzählt, wenn man es besitzt. Wie würden wir also jemanden erkennen, der beispielsweise über Bodhichitta verfügt, wenn wir es selbst nicht haben? Wie würden wir wissen, dass es existiert? Nun, da gibt es logische Darstellungen, was eine Möglichkeit ist, es zu erkennen. Aber es wäre durchaus hilfreich zu wissen, wenn ein anderer diese Dinge erreicht hat.

Dieses Thema des Vertrauens in einen Lehrer ist recht heikel, denn es heißt, sich vorsichtig dieser Sache der Beziehung zu einem spirituellen Lehrer zu nähern und ihn als einen Buddha zu sehen. Das ist gefährliches Terrain, denn hier kann ganz leicht eine Menge missverstanden werden.

Die Unterweisung, den Guru als Buddha zu sehen, sollte man nie wörtlich nehmen. Wäre es wirklich so, würde der Lehrer die Telefonnummer von jedem Wesen im Universum kennen. Wären die Lehrer wirklich Buddhas, würden sie allwissend sein und alle Telefonnummern kennen, was ein interessanter Punkt ist.

Was wir tun wollen, ist, uns auf die guten Eigenschaften des Lehrers zu richten, ohne seine Mängel zu leugnen. Wir fokussieren uns einfach auf die positiven Eigenschaften des Lehrers und betrachten sie als Buddha-Qualitäten. Dies hilft uns bei unserem Bodhichitta-Training, aber wie funktioniert das? All die guten Eigenschaften, auf die wir uns mit Bodhichitta richten, sind die Qualitäten eines Buddhas, zu dem wir uns selbst entwickeln werden. Dasselbe gilt für Bodhichitta: „Ich erkenne, dass ich kein Buddha bin. Ich leugne meine Mängel nicht, aber richte mich auf diese positiven Dinge.“ Sind wir in der Lage, unsere Beziehung zu einem Lehrer so zu sehen – und natürlich werden wir einen Lehrer wählen, der mehr Qualitäten hat als wir – können wir die Inspiration bekommen, den Zustand eines Buddhas zu erreichen. Das ist einer der Nutzen, den Lehrer als einen Buddha zu sehen. Das passt sehr gut zur Bodhichitta-Meditation – sich auf etwas Positives zu konzentrieren.

Muss der Lehrer nun über echtes Bodhichitta und echte nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit verfügen, damit dies möglich ist? Wie du gesagt hast, wird er dies nicht behaupten. Und auch wenn er über diese Dinge verfügt, wird er es nicht sagen. Seine Heiligkeit der Dalai Lama behauptet, nicht darüber zu verfügen, obwohl er sagt, dass er ein paar kleine Einblicke hatte. Manchmal gibt er es zu, aber wenn er es nicht hat, wer dann?

Wir haben großes Glück, Seine Heiligkeit als Beispiel zu haben, ob er nun zugibt, über Bodhichitta und nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit zu verfügen oder nicht. Das ist meine eigene Erfahrung – wenn ich so werden könnte, wäre ich überaus glücklich. Das wäre genug. Man kann den unglaublichen Einsatz sehen, den er zeigt und den unglaublichen Gleichmut. Könntet ihr euch vorstellen, von ganz China als größter Feind und von allen dort als Teufel betrachtet zu werden, ohne euch davon entmutigen zu lassen? Das ist wirklich beachtlich. Oder könntet ihr euch vorstellen, die Verantwortung zu übernehmen, ein Anführer von sechs Millionen Menschen zu sein und sie in ihren Hoffnungen zu unterstützen, und dies mit sechzehn Jahren oder wie alt er damals war? Das ist bemerkenswert. Wenn ich mir die Qualitäten ansehe, die er hat, würde ich sagen, dass sie gut genug für mich wären. Ich hatte das große Glück, sehr engen Kontakt mit den verstorbenen Lehrern Seiner Heiligkeit zu haben, die ebenso außergewöhnlich waren.

Mir ist es nicht wirklich wichtig, zu ermessen, wie viel Bodhichitta jemand hat und zu wissen, ob das Verständnis wirklich nichtkonzeptuell ist oder nicht. Eine viel relevantere Frage ist meiner Meinung nach, ob es, logisch betrachtet, möglich ist, diese Dinge zu erreichen. Gut, logisch gesehen ist es möglich und hier gibt es Menschen, die zweifellos weit in diese Richtung gegangen sind. Alles andere kümmert mich nicht. Es geht darum, den Dharma selbst als unsere Zuflucht, unsere sichere Richtung zu sehen, wobei hier „Zuflucht“ wahrscheinlich das richtige Wort ist. Wir sollten uns nicht auf Menschen verlassen, denn sie könnten uns enttäuschen.

Es gibt manche Menschen, die nach einer Weile herausfinden, dass der Lehrer in einen Skandal oder eine Art von Missbrauch verwickelt war. Das ist vielen Menschen passiert, was sie dann vollkommen entmutigt und schlussfolgern lässt, dass der Dharma völliger Müll ist, denn wie könnte er sonst so etwas hervorbringen? Der Fehler liegt aber nicht im Dharma. Es ist wirklich wichtig zu untersuchen, wo der Fehler liegt. Es waren Menschen, keine Buddhas. Betrachte ich ihre guten Eigenschaften als Buddha-Qualitäten, kann ich sehen, dass sie einige Methoden unterrichtet haben, die hilfreich waren – aber Menschen machen Fehler.

Seine Heiligkeit der Dalai Lama gibt hierzu ein sehr gutes Beispiel. Er bezieht sich auf einen seiner Lehrer (Reting Rinpoche), den er in jungen Jahren hatte und der in alle möglichen Skandale verwickelt war und in Ungnade gefallen ist. Seine Heiligkeit sagt dazu: „Wenn ich an die Zeit zurückdenke, in der er auf dem Thron saß und Belehrungen gab, denke ich an ihn als ein Buddha. Was aber sein weltliches Verhalten betrifft, so ist er es nicht.“ Er macht also zwischen diesen beiden einen Unterschied und sagt, dass er kein Problem damit hat. Ich denke, das ist ein wirklich gutes Beispiel. Es ist natürlich keine einfache Sache, aber ich glaube, wir müssen zwischen unserer Beziehung mit dem Lehrer als Lehrer und unserer Beziehung zu dieser Person als gewöhnlichen Menschen unterscheiden.

Die Frage ist, wie wir von irgendetwas überzeugt sein können? Darum geht es doch eigentlich, oder nicht? Wie überwinden wir unentschlossene Schwanken und Zweifel? Ist es so und nicht so? Die Wahrheit könnte sich direkt vor unseren Augen befinden und wir könnten trotz allem nicht in der Lage sein, sie zu akzeptieren. Was braucht es, um überzeugt zu sein? Das ist eine recht spannende Frage. Wie viel Ego steckt dahinter? Das ist ebenfalls sehr interessant. „Ich möchte, dass jemand mir beweist, dass es so ist.“ Ich höre ziemlich häufig, dass jemand sagt: „Ich werde es nicht praktizieren, bis ich verstehe, was ich da tue.“ Wir können nicht einfach den Mund halten und es tun.

Was uns oft davon abhält, überzeugt zu sein, sind störende Emotionen oder emotionale Blockaden. Dazu kommt natürlich noch, dass wir Dinge nicht verstehen, was der eigentlich Grund dafür ist, keine Überzeugung zu haben. Dies kann uns auch daran hindern, von irgendetwas überzeugt zu sein oder Überzeugung zu haben. Wir wurden so oft enttäuscht, dass wir „aus diesem Grund“ nichts und niemandem mehr vertrauen wollen, und so kann uns nichts überzeugen, was jemand sagt – um einmal ein häufiges Beispiel zu nennen. Wie dem auch sei, ich denke, zu einer Überzeugung zu gelangen ist ein ziemlich langwieriger und langsamer Prozess. Es geht nicht einfach so: „Halleluja, jetzt glaube ich es.“

Seine Heiligkeit sagt stets, dass Überzeugung eher auf Vernunft anstatt auf Mitgefühl beruhen sollten, denn Mitgefühl ist unbeständig, wenn es auf Emotionen basiert. Auf der Grundlage der Vernunft ist die Überzeugung beständig. „Ich habe Mitgefühl gegenüber allen, weil, genau wie ich glücklich und nicht unglücklich sein will, auch alle anderen glücklich und nicht unglücklich sein wollen. Wir sind also alle gleich.“ Das ist viel beständig als zu meinen: „Oh du Armes!“

Dann gibt es da die Sache mit den Emotionen, mit denen wir denken, Mitgefühl wäre nicht echt, wenn es uns nicht wirklich emotional bewegt. Müssen wir emotional bewegt werden, um Liebe und Mitgefühl zu empfinden? Das ist eine interessante Frage. Was heißt es, emotional bewegt zu werden? Ich denke, es hat etwas mit den Energien des Körpers zu tun, die sich auf angeregtere Weise bewegen. Es ist wie der Unterschied, sich in jemanden leidenschaftlich zu verlieben, den wir noch nicht sehr lange kennen oder eine beständigere Art der Liebe für jemanden zu empfinden, mit dem wir seit 30 Jahren zusammen sind, was dann nicht mehr aufregend, aber sehr beständig ist, weil wir die Person richtig verstehen.

Die Eigenschaft emotionaler Leidenschaft ist nicht unbedingt eine hilfreiche Sache. Und was noch wichtiger ist: es macht die Emotion nicht echter. Das ist unser Greifen nach unmöglicher Existenz. Wir denken, etwas wäre echter, wenn wir es stark empfinden und nicht so echt, wenn unser Herz nicht davon bewegt wird und uns zum Weinen bringt. Kommen wir zurück zur Leerheit. Was ist ein Beleg dafür, dass ich tatsächlich Mitgefühl habe? Wird es durch die Tatsache begründet, dass ich weine, wenn ich jemanden leiden sehe, und dass mein Herz davon berührt wird und ich aufgewühlt bin? Ist das ein Beweis dafür, wirklich Mitgefühl zu haben? Wodurch wird es bewiesen? Das ist eine spannende Frage und eine, über die es sich lohnt nachzudenken. Ich werde keine Antwort darauf geben, aber denkt einmal darüber nach.

Sie haben über die Vergangenheit und die Zukunft gesprochen, sowie über die Kategorien oder Schubladen Rot und Orange. Etwas, worüber ich häufig nachdenke, wenn ich zum Thema Leerheit komme, ist der Tod. Ich denke über die Tatsache nach, dass sich das, was in den Schubladen ist, weiter fortsetzt. So gehen die Menschen, die ich kenne oder mag, beispielsweise dort, wo ich gegangen bin, oder wenn ich sterbe, werden sie weiterhin hier sein; es setzt sich also fort. Aber für mich ist es leer und alles, was ich in meinem Geist sehen kann, ist leer. Sie sagen zum Beispiel, dass das Jahr 2008 existiert und die Zukunft ist, aber existiert es auch für mich, wenn ich dann nicht mehr lebe? Ich erlebe nur etwas Leeres in meinem Geist und weiß nicht, wie ich es erfassen soll.

Nun, um es einmal zusammenzufassen – was, ehrlich gesagt, nicht so klar für mich war – aber anscheinend ging es darum, dass Leerheit auf ein Nichts hindeutet. Das Jahr 2008 mag für andere Menschen stattfinden, aber wenn wir selbst zu dem Zeitpunkt nicht leben, findet es nicht für uns statt.

Nun, das ist eine ziemlich komplexe Frage, wenn man es in Bezug auf das Jahr 2008 betrachtet. Ich weiß nicht, ob das der Schwerpunkt dieser Frage war. Zeit ist relativ. Würde man in einem Raumschiff mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs sein und einen Kalender dabeihaben, würde man sehen, dass das Jahr 2008 nicht zur gleichen Zeit stattfindet, wie für jene auf der Erde. Das hat also etwas mit der Relativität der Zeit zu tun. Aber dann schien es in der Frage auch darum zu gehen, dass etwas existiert, weil man es erlebt und dessen Existenz dadurch bewiesen wird. Und wenn man es nicht erlebt, existiert es nicht. Wie würde man dann wissen, dass es existiert?

Eigentlich denke ich, dass es existiert, aber ich werde nicht da sein und somit nicht wissen, welche Beziehung ich dazu habe. Es ist so, als würde es für den anderen existieren, aber für mich nicht.

Es existiert für dich und nicht für den anderen? Nein, das ist eine falsche Vorstellung. Es tut mir leid, aber hier geht es um die Zeit. Es ist nicht so, dass es ein festes Raum-Zeit-Diagramm gibt, mit einem beweglichen Punkt, dem „Jetzt“, als würde das „Jetzt“ objektiv „dort draußen“ existieren. Und es ist nicht so, dass man sich, wenn man stirbt, plötzlich außerhalb des Diagramms im Bardo befindet und dann später wieder zurückkommt.

Wenn von Vergangenheit und Zukunft die Rede ist, müssen wir uns auf unser eigenes geistiges Kontinuum beziehen, sowie darauf, was nicht länger und was noch nicht stattfindet. Die Worte „Vergangenheit“ und „Zukunft“ werden nicht benutzt. Es geht um Karma, also um das Nicht-länger-Stattfinden der verschiedenen karmischen Ursachen und dem Noch-nicht-Stattfinden der Resultate. Das geschieht, auch wenn man sich selbst im Bardo befindet. Das Nicht-mehr-Stattfinden und das Noch-nicht-Stattfinden sind den karmischen Samen, den Tendenzen, zugeschrieben. Es sind Aspekte dieser Tendenzen.

Die Tatsache, dass es eine karmische Tendenz oder einen karmischen Samen gibt, ist ein Hinweis für ein Vorübergehen, ein Nicht-mehr-Stattfinden, der Ursache. Das Wort bedeutet wörtlich „Samen“, aber da es sich nicht um ein physisches Ding handelt, denke ich, dass „Tendenz“ ein besseres Wort dafür ist.  Es weist also auf die Vergangenheit hin. Eine karmische Tendenz muss von irgendwoher gekommen sein und so wird das Nicht-mehr-Stattfinden der Ursache durch die Präsenz der Tendenz angezeigt. Und der Faktor, Aspekt oder Teil dieser Tendenz, der auf der Grundlage seiner Fähigkeit, sein Resultat hervorzubringen, wenn alle Bedingungen vollständig sind, das Resultat noch nicht hervorbringt, ist die Zukunft, das Noch-nicht-Stattfinden. Es findet noch nicht statt, weil die Tendenz ihr Resultat noch nicht hervorbringt, aber sie ist dazu in der Lage, ein Resultat hervorzubringen.

Natürlich können wir es bereinigen, sodass die Bedingungen niemals vollständig sein werden. Auf diese Weise befreien wir uns von Karma – indem wir nie die Bedingungen schaffen. Sind die Bedingungen nicht vollständig, kann eine Tendenz nie reifen. Wir benötigen Unwissenheit, mangelndes Gewahrsein, als eine Bedingung zum Reifen. Auf diese Weisen reinigen wir es. Es ist somit das Verständnis der Leerheit, das Karma bereinigt, und nicht nur das Rezitieren eines Mantras.

Es geht also um all diese Dinge, die Teil des geistigen Kontinuums sind – Bardo, Tod, Tendenzen, karmische Kräfte und so weiter.

Kategorien, wie der Tisch, scheinen räumliche Kategorien zu sein. Gibt es so etwas wie eine zeitweilige Kategorie?

Ja, natürlich. „Der Tisch“ als eine Kategorie scheint eine räumliche Sache zu sein. Gibt es zeitweilige Kategorien? Natürlich – zum Beispiel ein Kontinuum, wie ein Jahr.

Wann findet ein Jahr statt? Findet es heute oder in diesem Moment statt? Wir erleben ein Jahr nicht in einem Augenblick. Es ist eine Kategorie. Wir denken Dinge, wie: „das waren gute Jahre“, „das waren schlechte Jahre“ oder „das waren die mittleren Jahre.“ Das sind Kategorien. Wir haben also Kategorien von Zeitintervallen. „Morgen“ ist eine Kategorie und sie kann auf vielfache unterschiedliche Weise angewandt werden; es gibt viele Beispiele.

Wie ist es, wenn wir über die Vergangenheit oder die Zukunft reden?

„Die Vergangenheit“ und „die Zukunft“ sind natürlich Kategorien. Was ist eine Kategorie? Alles, was vor dem gegenwärtigen Zeitpunkt geschehen ist, kann als „die Vergangenheit“ betrachtet werden. Ich kann diese Kategorie „Vergangenheit“ benutzen, um mich auf die Zeit zu beziehen, in der ich vier Jahre alt war und darüber sprechen möchte, was davor geschehen ist, und ich kann sie benutzen, um darüber zu reden, was vor der jetzigen Zeit, in der ich in meinen Sechzigern bin, war.

Wenn Sie oder andere Dharma-Lehrer darüber reden, wie mangelndes Gewahrsein oder Unwissenheit funktioniert – wie wir Dinge in Schubladen stecken oder Kategorien zuordnen – scheint es mir immer, als würde es lediglich um das mangelnde Gewahrseins der menschlichen Wahrnehmung gehen. Ich habe Zweifel, dass dies auch auf die Weise zutrifft, wie eine Mücke oder Ameise Dinge wahrnimmt.

Das ist eine wirklich gute Frage, die ein Hinweis darauf ist, dass ich im Gebrauch meiner Wortwahl bezüglich Kategorien etwas präziser sein muss. Denkt eine Stechmücke oder eine Kuh in Kategorien?

Ja, das tun sie durchaus. Kategorien müssen nicht mit Worten in Verbindung gebracht werden, obwohl wir eine Kategorie mit einem Wort verbinden könnten. Für eine Mücke gibt es zweifellos die Kategorie „Fressen“. Sie kann zwischen Nahrung und anderen Dingen, wie Steinen oder dergleichen, unterscheiden. Für einen Hund gibt es eine Kategorie „mein Herrchen“, die auf einen Geruch, eine Form oder Ähnliches basiert. Für sie gibt es also Kategorien.

Hier müssen wir uns ein wenig der Erkenntnistheorie zuwenden, die ziemlich kompliziert ist. Was repräsentiert eine Kategorie, wenn wir in Kategorien denken? Sie könnte durch ein geistiges Bild repräsentiert werden, durch einen Geruch, ein Wort, eine Art von Gefühl, oder durch viele andere Dinge.

Gut, lasst uns für heute Abend mit einer Widmung enden. Wir denken: „Möge alles Verständnis und alle positive Kraft, die daraus entstanden sind, immer tiefer gehen und als Ursache dienen, Erleuchtung zum Wohle aller zu erlangen.

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