Fragen zum Buddhismus im modernen Leben

Der mittlere Weg zwischen totaler Kontrolle und völliger Gleichgültigkeit

Soweit ich es verstehe, gibt es zwei Extreme: Zum einen ist da das Extrem totaler Kontrolle von allem und zum anderen das Extrem einfach nichts zu tun, auf dem Hintern zu sitzen und zu sagen: „Es spielt alles keine Rolle.“ Dieses zweite Extrem bedeutet also nichts zu tun und einfach alles zu akzeptieren, was auch immer passiert. Wie definiert man im Buddhismus den mittleren Pfad, die mittlere Position zwischen den zwei Extremen der totalen Kontrolle und der Haltung, in der man sich um nichts und niemanden schert.

Der mittlere Weg besteht darin, das zu tun, was wir tun können, aber nicht die Wirkung zu überschätzen, die dies haben wird. Hier ein Beispiel: Ich habe eine Website. Warum habe ich diese Website gestartet? Dafür gibt es einige Gründe. Einer ist, dass ich das unglaubliche Privileg und das Glück hatte, beim Dalai Lama und seinen Lehrern zu studieren – also bei mehreren großen Meistern der letzten Generation, die ihre gesamte Ausbildung in Tibet erhalten haben. Ich habe neunundzwanzig Jahre lang in Indien bei den Tibetern gelebt, und habe alles, was ich studiert habe, aufgeschrieben, da dies die authentische Tradition war. Dann reiste ich um die Welt, zuerst als Dolmetscher meines Lehrers, und nach seinem Tod wurde ich eingeladen, um in der ganzen Welt zu lehren. Ich übersetzte eine ungeheure Anzahl von Büchern und anderen Materialien. Am Ende hatte ich etwa 30.000 Seiten unveröffentlichtes Material – also eine ganze Menge. Und ich wollte nicht, dass alles in den Müll geworfen wird, wenn ich sterbe. Mir war es wichtig, die authentischen Lehren, die ich erhalten hatte, mit anderen zu teilen.

Im Westen fiel mir auf, dass das Niveau des Buddhismus, die Art und Weise, wie er im Westen praktiziert und gelehrt wurde, sehr stark verwässert war. Ich hätte mich also einfach zurücklehnen und sagen können: „Nun, dies sind degenerierte Zeiten. Es gibt nichts, was ich tun kann. Es ist unvermeidlich, dass die Lehren verfälscht werden.“ Oder ich hätte zum anderen Extrem übergehen und sagen können: „Ich werde der Retter des Buddhismus sein!“ Beides sind Extreme.

Stattdessen dachte ich mir: „Nun ja, ich habe das Material und ich kann ein paar Leute zusammenbringen, die mir helfen können, eine Webseite zu erstellen.“ Eigentlich bot mir sogar jemand an, die Webseite für mich zu machen. Ich versuche also, so gut es geht, dieses Material zugänglich zu machen. Falls Leute es lesen, ist das wunderbar und wenn es ihnen hilft, ist das super. Ich hoffe, damit einen Beitrag leisten zu können, auch wenn ich verstehe, dass ich damit nicht die Welt retten werde.

Einerseits betrachte ich es mit einer entspannten Haltung, andererseits arbeite ich aber auch ständig daran. So verbringe ich meine Zeit und gelegentlich unternehme ich Reisen, um zu unterrichten. Ich arbeite die ganze Zeit, jeden Tag, an der Website, und ich liebe diese Arbeit – ich genieße sie. Ich habe nicht das Gefühl, es wäre eine unangenehme Aufgabe. Und langsam wächst die Webseite. Sie ist seit November 2001 online und heutzutage wird sie von durchschnittlich 3.000 Menschen täglich gelesen. Für 2011 erwarten wir etwa eine Million Besucher. Es hat also sicherlich eine gewisse Wirkung, aber ich bausche es nicht auf und glaube, dass sie alles ändern wird, und der Buddhismus im Westen von nun an nicht mehr verwässert sein wird – natürlich nicht. Man freut sich also über das, was man tun kann, was man erreichen kann, und man bedauert und fühlt sich nicht schlecht wegen dem, was man nicht erreichen kann.

Es gibt ein sehr wichtiges Konzept auf dem buddhistischen Pfad, welches „außergewöhnlicher Entschluss“ genannt wird. Ein Entschluss bedeutet, dass man etwas auf jeden Fall tun wird. Und „außergewöhnlich“ bezieht sich hier darauf, dass man den erleuchteten Zustand eines Buddha erreichen wird, damit man anderen so viel wie möglich helfen kann. Diese Einstellung bedeutet, dass ich Verantwortung übernehme. Selbst wenn es niemand sonst tut, ich werde es machen. Das heißt nicht, dass ich die einzige Person wäre, die es tun könnte, aber mir ist es einerlei, falls ich keine Hilfe dabei bekomme. Nichts wird mich aufhalten. Ich werde es machen. Das heißt, dass ich alle Schwierigkeiten, welche auftauchen werden, akzeptieren und nicht unrealistisch sein werde – ich verstehe, dass es nun einmal Herausforderungen geben wird. Aber wie ich sagte, unternimmt man halt, was man kann. Diese Ausdauer wird übrigens „Rüstungs-gleiche freudige Ausdauer“ genannt. Sie ist, als würde man eine Rüstung tragen und egal wie schwierig es wird, man braucht sich nicht zu sorgen, denn es wird einen nicht aufhalten.

Egoistischer Stolz aufgrund des Strebens nach Erleuchtung

In meiner Frage geht es mehr um die buddhistische Religion als um die Philosophie als solche. Meine Frage bezieht sich auf die Motivation, welche uns im Buddhismus antreibt, also das Streben nach Erleuchtung, um allen Wesen zu helfen, was etwas ziemlich Außergewöhnliches ist. Ich kann zwar sagen, dass ich dieses Ziel erreichen und alle Wesen retten werde, aber wie kann ich es vermeiden, egoistischen Stolz dabei zu entwickeln?

Nun, das ist der Unterschied zwischen Selbstvertrauen und Selbstsucht. Wenn ich in Bezug auf den außergewöhnlichen Entschluss sage, „Es ist einerlei wie schwierig es ist. Ich werde es tun“, dann darf das nicht aus einer Haltung des Egos kommen, mit der man meint: „Wie toll ich doch bin, dass ich das tun kann und tun werde.“ Man macht es einfach, weil es getan werden muss. Shantideva hat das sehr gut ausgedrückt. Er sagte, dass Leid keinen Eigentümer hat. Leiden sollte beseitigt werden, nicht weil es mein oder dein Leid ist, sondern einfach weil es leidvoll ist und wehtut. Wenn man einen Dorn im Fuß hat, dann hilft die Hand dem Fuß und beseitigt den Dorn. Die Hand sagt nicht: „Naja, eigentlich geht’s mir hier oben ganz gut. Der Dorn ist dein Problem.“ Auf diese Weise übt man Verantwortung und unternimmt selbst etwas – man macht es, weil es getan werden muss.

Da du sagst, dass du einen buddhistischen Hintergrund hast, ist es notwendig, es zu dekonstruieren: Da gibt es mich, den Ausführenden der Handlung; es gibt die Menschen, denen ich helfen will; und es gibt das, was ich tue, die Handlung selbst. All diese sind voneinander abhängig. Man isoliert sie nicht einfach und misst ihnen zu hohe Bedeutung bei, indem man denkt: „Ich bin derjenige, der es tut.“ Diese Handlung hängt davon ab, dass es andere Menschen gibt, die die Empfänger deiner Bemühungen sein werden. Und egal, was du tust, es erfordert die Hilfe und Kooperation anderer.

Man muss also ständig darüber meditieren und sich bewusst machen, wie man in Bezug auf das, was man tut, existiert, um es nicht zu einem Egotrip werden zu lassen. Woher weiß man, dass es ein Egotrip ist? Es ist ein Egotrip, wenn man sich unsicher fühlt und die Energie im Innern angespannt ist. Vielleicht macht man sich Sorgen darüber, was die Leute von einem denken werden. Man fragt sich, ob man gut genug ist und macht sich Sorgen, andere zu enttäuschen und so weiter. Stattdessen tut man es einfach und handelt so gut man kann.

Theorien über das Glücklichsein: Buddhismus im Vergleich zur modernen Psychologie

Ich habe eine eher theoretische Frage zu den Aspekten unserer Existenz, d.h. zum Unglücklichsein und seinen Ursachen. Die buddhistische Erklärung der Ursachen unglücklicher Zustände scheint den Beschreibungen verschiedener Schulen der modernen westlichen Psychologie zu gleichen; man denke etwa an Seligmans Positive Psychologie, Erich Fromms Psychoanalyse oder Vikor Frankls Existenzanalyse. Was ist der Unterschied zwischen dem buddhistischen Blickwinkel und dem der modernen Psychologie in Bezug auf das Glücklichsein und dessen Ursachen?
Video: Dr. Chönyi Taylor — „Westliche und buddhistische Psychologie“ 
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Wir unterscheiden hier zwischen buddhistischer Wissenschaft und Philosophie im Gegensatz zur buddhistischen Religion. Diese existieren jedoch nicht getrennt voneinander, und wenn wir die buddhistische Psychologie umfassender betrachten wollen, müssen wir das Konzept der vergangenen und zukünftigen Leben miteinbeziehen. Im Buddhismus heißt es, dass Glücklichsein und Unglücklichsein das Ergebnis früheren Verhaltens sind.

Zuerst gibt es das Kontaktbewusstsein, d.h. das Bewusstsein, etwas als angenehm, unangenehm oder neutral zu empfinden, wenn wir damit in Kontakt kommen. Warum erleben wir etwas als angenehm oder unangenehm? Manchmal kann der Kontakt mit ein und derselben Sache (z.B. einem Freund) als angenehm oder als unangenehm erlebt werden. Zum einen wird die Art und Weise, wie wir diesen Kontakt erleben, durch etwas beeinflusst, was bei unserer vorangegangenen Begegnung geschah: Wir hatten uns amüsiert oder wir hatten einen Streit. Zum anderen wird die Begegnung, wenn wir unseren Freund treffen, auch durch unseren Geisteszustand oder unsere Situation beeinflusst: Wir sind einsam und wollen Gesellschaft, oder wir sind beschäftigt oder übermüdet. Aber auf einer tieferen Ebene ist die Qualität unseres Kontaktbewusstseins bei der Begegnung mit unserem Freund das Ergebnis der positiven oder negativen Potenziale, die wir in früheren Leben durch unser Verhalten aufgebaut haben. Die positiven Potentiale aus unserem früheren konstruktiven Verhalten führen dazu, dass wir den Kontakt mit unserem Freund als angenehm empfinden und uns glücklich fühlen. Wenn wir andererseits diesen Kontakt als unangenehm empfinden und uns unglücklich fühlen, ist dies das Ergebnis negativer Potentiale aus unserem früheren destruktiven Verhalten. Destruktives Verhalten bedeutet, dass wir unter dem Einfluss von störenden Emotionen wie Wut, Anhaftung, Gier oder Unwissenheit handeln, sprechen oder denken.

Angenommen wir kommen mit unserem Freund in Kontakt und erleben das als unangenehm und fühlen uns unglücklich. Es könnte sein, dass wir bei unserem letzten Treffen einen Streit hatten oder schlecht gelaunt sind, obwohl wir uns gut unterhalten haben. Aber das ist nur der Umstand für das Zustandekommen des zwanghaften Aspektes. Wenn wir unglücklich sind, haben wir Lust, etwas zu tun, z.B. jemanden anzuschreien: „Geh weg!“ Wir sind unglücklich, und genau wie beim Durst ist es eigentlich dieses schlechte Gefühl, das wir von uns wegdrücken möchten: „Ich mag diese Unzufriedenheit nicht. Nimm sie von mir weg!“ Jetzt entsteht also, ausgehend von einer früheren Tendenz des Schreiens, der Drang, eine andere Person zwanghaft anzuschreien, und wir denken, unsere Traurigkeit würde verschwinden, wenn sie geht. Das führt zu dem Zwang, in das Schreien hineingezogen zu werden. Wir denken, wir müssen schreien, und dann schreien wir tatsächlich jemanden an. Und dann, weil das Schreien ein unangenehmes Gefühl ist und noch mehr Unglück schafft, werden durch unser zwanghaftes Schreien weitere Ursachen aufgebaut, nicht nur diese Gewohnheit des Schreiens zu wiederholen, sondern auch in der Zukunft den Kontakt mit weiteren Dingen als unangenehm zu erleben und wieder unglücklich zu sein. Durch den Buddhismus bekommen wir also diese gründliche Analyse.

All dies ist auf die Verwirrung in Bezug auf uns selbst und unsere Existenz zurückzuführen. Wir sollten uns darauf konzentrieren, dass diese Projektionen und Phantasien hinsichtlich unserer Meinung wie wir existieren – dass wir immer glücklich sein und stets unseren Willen durchsetzen sollten – nichts Realem entspricht. Hier geht es um eine recht spezifische Behauptung, die in der westlichen Psychologie im Allgemeinen nicht zu finden ist: die Behauptung der Leerheit. Wir reagieren auf etwas, das in Wirklichkeit nicht real ist, und die Leerheit bezieht sich auf eine Abwesenheit; etwas ist vollkommen abwesend und war nie da. Das, was völlig abwesend ist, ist ein tatsächlich existierendes Objekt, das unserer Projektion des Unmöglichen entspricht, also eine entsprechende Abbildung unserer unmöglichen Projektion in der Realität. Zum Beispiel ein „Ich“, welches das Zentrum des Universums darstellt und immer seinen Willen durchsetzen sollte. Man mag so denken und fühlen, aber es gibt nichts in der Realität, was dem entspricht. Ein anderes Beispiel, das ich oft benutze, ist, das Bild des perfekten Partners, wie der Prinz oder die Prinzessin auf dem weißen Pferd, der uns in jeder Hinsicht erfüllen wird. Das ist ein Märchen. Niemand existiert auf diese Weise. Und wenn wir uns auf die völlige Abwesenheit dieses Objekts konzentrieren, wenn wir erkennen, dass es so etwas nicht gibt und überzeugt davon sind, hören all die Zwänge und störenden Emotionen (die auf diesem falschen Glauben beruhen) auf.

Können Menschen vollkommen rational werden?

Meine Frage ist eher philosophisch. Am Anfang deiner Rede hast du gesagt, dass eine der Ursachen unseres Leidens Irrationalität sei. Hältst du es für möglich, dass ein Mensch vollkommen rational werden kann?

Einer der Gründe des Leidens ist die Irrationalität. Glaube ich, dass Menschen vollkommen rational sein könnten? Nun, zuerst einmal bedeutet rational zu sein nicht, keine Gefühle zu haben, sondern vielmehr, dass unsere Denkweise und unser Verständnis gültig sind. Beispielsweise ist es irrational zu denken, ich wäre die einzige Person auf der Welt mit diesem Problem. Das ist irrational und ergibt keinen Sinn. Wenn wir es jedoch vernünftig betrachten, verstehen wir, dass viele Menschen das gleiche Problem haben. Das erlaubt uns dann Mitgefühl, Liebe und Sympathie für andere zu empfinden. 

Viele Gedanken sind natürlich irrational, weil wir uns nicht darin üben, Dinge zu analysieren: Wie denken wir? Ist das eine korrekte oder eine fehlerhafte Denkweise? Mit Übung ist es meiner Meinung nach möglich, unser Denken zu korrigieren. Darum geht es in der Meditation. Wir analysieren unsere Gefühle. Wir sind z.B. aufgebracht, blicken dann auf den Tag zurück und stellen fest, dass wir aus einem bestimmten Grund verärgert waren. Dann fragen wir uns, warum uns das aufgeregt hat und stellen daraufhin fest, dass dieser Grund irrational ist. Wenn wir also analysieren oder dekonstruieren, dann sehen wir die Situation in einem anderen Licht, welches um einiges vernünftiger ist, und sind dann auch nicht mehr so genervt. Wir üben uns in der Meditation, nicht irrational zu sein, damit wir es auch im Alltag nicht sein werden.

In der tibetisch-buddhistischen Schulung basiert das Ausbildungssystem auf Logik und Debatte. Der Sinn der Debatte besteht darin, Ungereimtheiten in unserem Denkprozess und im Denken anderer Menschen zu entdecken. Wir legen unser Verständnis von etwas dar und eine andere Person testet und prüft uns, um zu sehen, wie konsequent wir in Bezug darauf sind. Selbst würden wir unser Verständnis nie so kritisch hinterfragen, wie andere Menschen es tun. Und das Ergebnis der Ausbildung im Debattieren ist, dass wir bei allem, worüber wir nachdenken, eine kritische Analyse durchführen. Nach einer Weile muss es keine verbale Analyse mehr sein, denn dann funktioniert unser Geist auf diese Weise. Wir haben eine Sicherheit in unserem Verständnis und es gibt keine Unstimmigkeiten, was uns darauf vorbereitet, in der Meditation viel effizienter zu sein. Wenn wir zum Beispiel versuchen, über die Vergänglichkeit zu meditieren, und sie nicht wirklich verstehen oder unser Verständnis diesbezüglich verwirrt ist, wird das nur zu noch mehr Verwirrung führen.

Eine Sache, auf die man bei der Ausbildung und dem Debattieren achten muss, ist, kein so genanntes „Debattier-Monster“ zu werden. Ein Debattier-Monster ist jemand, der nie weiß, wann er aufhören sollte zu debattieren. Bei allem, was jemand sagt, würde das Debattier-Monster sofort aufspringen, angreifen und beginnen zu debattieren. Dieses Verhalten führt dann dazu, dass man sehr schnell Freunde verliert. Ich gebe zu, dass ich anfangs, als ich direkt von der Universität kam, wo ich sehr gut war, und dann nach Indien ging, absichtlich nicht mit der Ausbildung des Debattierens begann, weil ich wusste, dass ich ein Debattier-Monster werden würde. Man muss also vorsichtig sein.

Von Debattier-Monstern und wie man sie zähmt

Was kann ich tun, falls ich bereits ein Debattier-Monster geworden bin?

Wenn man schon ein Debattier-Monster ist, muss man lernen runterzukommen und sich in Geduld und Toleranz gegenüber anderen üben. Ist jemand uns und unseren Korrekturen gegenüber empfänglich, ist alles in Ordnung. Wenn nicht, sind alle Worte nur unnötiges Geschwätz. Wir müssen eben auch lernen diplomatisch zu sein, und wissen wann es angebracht ist, etwas zu sagen und wann nicht. Auch ist es wichtig wie man etwas sagt, ohne beleidigend und rechthaberisch zu sein, und zu meinen: „Ich habe Recht; ich bin so wunderbar und du bist dumm.“ Schließlich versucht man jemandem zu helfen und nicht diese Person herunterzuputzen und ihre Dummheit breitzutreten. Es ist auch nicht notwendig, dass wir alles sagen, was wir denken. Das ist eine enorm wichtige Erkenntnis. Solang wir wissen, dass das, was die andere Person sagt, irrational ist, dann reicht das schon aus. Man muss nicht auch noch darauf hinweisen.

Nehmen wir einmal an, wir haben ein dreijähriges Kind und es ist Schlafenszeit. Das Kind will nicht ins Bett und fängt an zu schreien: „Ich hasse dich!“ Das ist irrational, denn wir wissen, dass das Kind uns nicht wirklich hasst. Es ist einfach erschöpft und launisch. Wir sind also tolerant und müssen das Kind nicht korrigieren, indem wir ihm sagen: „Eigentlich hasst du mich nicht.“ Wir müssen auch keine Diskussion darüber anfangen, denn das wäre lächerlich. Vielmehr sind wir geduldig und gehen einfach so mit dem Kind um, wie es eben in diesem Moment angemessen ist.

In einem anderen Beispiel sind wir vielleicht mit unserem Partner oder Freund zusammen, der sehr aufgebracht ist und sagt: „Ich hasse dich und will dich nie wiedersehen.“ Das ist interessant, denn was projizieren wir dann in diesem Fall? Wir könnten meinen: „Du hast mich nie geliebt. Du wirst mich nie wiederlieben. Das hast du die ganze Zeit gedacht.“ Wir werden sehr wütend und aufgebracht. Stattdessen denken wir: „Okay, er ist verärgert. Er hat diese Sache gesagt, aber mir ist klar, dass er im Moment sehr wütend ist und irrationale Dinge sagt.“ In diesem Augenblick mit ihm zu debattieren und zu sagen: „Was meinst du damit, dass du mich nie wiedersehen willst?“, wäre einfach lächerlich. Wir sind uns bewusst darüber, dass er irrational und verärgert ist, und so sind wir geduldig und beschließen, mit dem Gespräch bis morgen zu warten.

Der richtige Job für den spirituellen Pfad

Ich habe eine Frage zu Arbeit und Jobs. Welche Art von Arbeit kann mir helfen, mit diesem spirituellen Weg verbunden zu bleiben? Vielleicht arbeite ich in einer großen juristischen Firma, aber meine Freunde sagen: „Dieser Konzern ist zu groß. Er wird dich aufsaugen und deine eigene Einstellung und Überzeugung zerstören. Du wirst dich ablenken lassen und vergessen, deinen spirituellen Weg zu gehen.“ Es scheint, dass die meisten Buddhisten entweder in Teilzeit arbeiten oder freiberuflich tätig sind und nur arbeiten, wenn sie es wollen. Ist es also irgendwie möglich, einen Job oder eine Arbeit mit einem spirituellen Weg zu verbinden?

Nun, es hat ja niemand gesagt, dass es einfach wäre! Es fängt schon damit an, dass wir es nicht notwendigerweise in der Hand haben, welche Arbeit wir leisten. In vielen Ländern gibt es heutzutage zahlreiche Arbeitslose. Da ist man ja schon froh, wenn man überhaupt irgendeine Arbeit bekommt. Idealerweise versuchen wir natürlich eine Arbeit zu finden, die wir mögen, die uns nicht aufregt und anderen in irgendeiner Weise von Nutzen ist. Während wir arbeiten, versuchen wir die verschiedenen guten Eigenschaften zu entwickeln, um die es im Buddhismus geht: Geduld, Verständnis und Mitgefühl für andere. In einer idealen Welt versuchen wir eine Arbeit zu finden, in der wir unsere Talente und Fähigkeiten einsetzen können, aber aufgrund von ökonomischen und sozialen Gründen, sind wir dazu möglicherweise nicht in der Lage. Egal welche Art von Arbeit wir finden, wenn wir denn eine finden: wir sollten die Situation nutzen und mit ihr arbeiten! Auch wenn andere bei der Arbeit versuchen, eine sehr stressige Atmosphäre zu erzeugen, bedeutet dies nur, dass es für uns eine größere Herausforderung ist, diesem Stress standzuhalten. Es wäre gut, wenn wir versuchen würden, uns genug Zeit zu nehmen, um wenigstens einer Art der täglichen buddhistischen oder spirituellen Praxis nachzugehen, was immer unsere Praxis auch sein mag.

Falls wir eine spirituelle Praxis haben – sprechen wir hier mal über eine buddhistische Praxis – dann ist es wichtig, dass sie eine Bedeutung für uns hat und wir nicht einfach nur ein Ritual wiederholen, das für uns bedeutungslos geworden ist, weil es dann kaum noch eine Wirkung hat. Es ist äußerst hilfreich, den Tag mit dem Bekräftigen einer Absicht zu beginnen, wie etwa: „Heute werde ich versuchen, mich nicht aufzuregen. Ich werde versuchen, geduldig zu sein. Ich werde versuchen, verständnisvoll zu sein.“ Es ist ebenfalls hilfreich, am Ende des Tages zu überprüfen, wie der Tag lief. Falls wir uns aufgeregt haben oder gestresst waren, können wir überlegen, was wir unternehmen können, um damit besser umzugehen. Wenn wir Methoden brauchen, um uns zu beruhigen, dann können wir auf buddhistische Methoden zurückgreifen und uns beispielsweise auf den Atem konzentrieren. Selbst wenn wir dies nur für fünf Minuten am Tag machen, ist das etwas wert. Wir sollten versuchen, eine Balance im Leben zu finden und uns soweit kennenlernen, dass wir wissen, wo wir unausgewogen sind und was wir dagegen tun können.

Hier ein Beispiel: Ein guter Freund von mir, der auch Buddhismus praktiziert, war durch seine Arbeit sehr gestresst. Was ihm jedoch wirklich geholfen hat, war Klavier zu spielen. Er hatte bereits als junger Mann Klavier gespielt, aber dann aufgehört. Jetzt begann er wieder für 15 Minuten am Morgen oder Abend zu spielen, und das gab ihm Gleichgewicht und etwas kreatives für seinen Tag – eine Aktivität für seine rechte Hirnhälfte, statt für die linke. Was wir also tun, um eine Balance zu schaffen, muss nicht unbedingt eine buddhistische Aktivität sein. Einfach Klavier zu spielen war beispielsweise für ihn außerordentlich hilfreich.

Ich habe entdeckt, dass es für meine spirituelle Praxis viel hilfreicher ist, zu versuchen, mit den Situationen zu arbeiten, die mir bei der Arbeit begegnen, statt einfach in der Komfortzone zu bleiben und zu versuchen, eine allgemeinere Praxis zu machen.

Das ist wahr. Nur durch Herausforderungen wachsen wir.

Wir sollten nicht nur zu Hause sitzen und Dinge rezitieren, sondern etwas tun, um den Menschen tatsächlich zu helfen.

Richtig. Den Menschen zu helfen ist sicherlich viel besser. Sich die Hände schmutzig zu machen und etwas für andere zu tun, ist zweifellos nützlicher, als einfach nur zu dazusitzen und Mantras zu rezitieren.

Warum gibt es überhaupt Leiden?

Eine Person wird mit dem Wunsch geboren, glücklich zu sein, und sie hat nicht den Wunsch zu leiden, aber dennoch wird sie mit dem Leiden konfrontiert, ohne vielleicht das Gegenmittel zu haben. Viele Menschen leiden und sie können nichts dagegen tun, sodass sie ihr Leiden nur vermehren. Das entbehrt doch jeder Logik. Warum geschieht das alles? Warum leiden wir und warum gibt es dieses Leiden überhaupt?

Das Leiden existiert aufgrund unserer Verwirrung hinsichtlich der Realität. Unsere geistige Aktivität bringt eine Erscheinung hervor, und sie ist sehr verwirrend. Es scheint zum Beispiel so, als ob eine Stimme in unserem Kopf die ganze Zeit sprechen würde. Und so fühlt es sich an, als säße ein kleines „Ich“ in unserem Kopf und würde zu uns sprechen. Das ist der Autor im Inneren, der beunruhigt sagt: „Oh, was denken die Leute von mir? Was soll ich jetzt tun? Nun muss ich dieses oder jenes tun.“ Es scheint also, als säße ein solides kleines „Ich“ in unserem Kopf, aber das ist einfach absurd, wenn man einmal darüber nachdenkt. Es gibt kein kleines Ich, das hinter einer Schalttafel sitzt, mit Informationen, die auf dem Bildschirm und über die Lautsprecher hereinkommen, und das dann die Knöpfe drückt und den Körper dazu bringt, Dinge zu tun, oder den Mund, Dinge zu sagen. Das ist Fantasie und in der Neurowissenschaft würde man dem zustimmen. Aber es scheint so zu sein; wir glauben, dass es das eigentliche „Ich“ gibt, das solide ist, sich in uns befindet und um das wir uns sorgen. Wir werden durch diese Art von Hardware, die wir haben und durch diesen Körper begrenzt.

Ohne Gegenmittel setzt sich das Leiden auf unbestimmte Zeit fort

Aber fünfundneunzig Prozent der Menschen leben mit diesem Leiden und wissen nicht, wie sie damit zurechtkommen sollen. Und was passiert dann – wird das bis in die Unendlichkeit weitergehen?

Ja, es wird weitergehen, wenn wir nichts dagegen unternehmen. Aber es muss nicht so sein. Es ist wichtig aufzuwachen und zu erkennen, dass dies nichts Wirklichem entspricht. Denn wir glauben an eine Fantasie und handeln dementsprechend – als gäbe es ein kleines „Ich“, das sich verteidigen und angreifen muss. Manchmal ist es natürlich auch notwendig, sich zu verteidigen und durchzusetzen, aber darum geht es hier nicht. Wenn jemand etwas auf uns wirft, ist es natürlich wichtig die Hand zu erheben, und das tun wir automatisch.

Aber wir können erkennen, dass wir uns wegen nichts unsicher fühlen müssen und es nichts, zu verteidigen gibt. Es ist nicht notwendig, uns und anderen zu beweisen, dass wir der Liebe würdig sind. Diese Sorge ist absurd. Sie basiert auf dem Glauben, dass es ein kleines „Ich“ in uns gibt, das sich beweisen muss. Und wenn wir davon frei sind, agieren wir einfach; wir handeln mitfühlend, geduldig und liebevoll – ohne uns Sorgen zu machen. Wir sind in der Lage zu denken: „Wenn meine Handlungen helfen, gut. Wenn sie nicht helfen – nun, was kann ich tun? Ich bin nicht Gott.“ Aber wenn wir nicht erkennen, dass all das, was wir projizieren, nur Müll ist, dann wird dieses Leiden ewig weitergehen. Deshalb haben wir Mitleid mit denen, die es nicht verstehen. Wenn sie destruktiv handeln, dann ist unsere Haltung eher von Mitgefühl geprägt, als dass wir uns über sie ärgern und sie bestrafen wollen: Sie handeln so, weil sie es nicht besser wissen, eben wie unartige Kinder.

Wird es in der Zukunft einen westlichen Buddhismus geben?

Der Buddhismus hat sich entwickelt, indem er sich an verschiedene Kulturen, wie etwa in Tibet, China, Thailand usw. angepasst hat. Glaubst du, dass es in der Zukunft einen Buddhismus geben wird, der sich der westlichen Kultur angepasst hat, sodass man in der Lage sein wird, ihn nicht als die kulturelle Tradition einer bestimmten Nation, sondern als eine natürliche Tradition westlicher Kultur, zu praktizieren?

Im generellen ja, aber einen Buddhismus außerhalb von kulturellen Kontexten gibt es nicht. Auch der Buddha selbst war schließlich Inder und unterrichtete in einem indischen Kontext. Unabhängig von dem Land und der Kultur, in die der Buddhismus sich ausgedehnt hat, gibt es eine Reihe grundlegender indischer Aspekte, die für die buddhistische Art des Denkens fundamental sind. Hier spreche ich von Wiedergeburt unter dem Einfluss von Karma und dem Ziel, Befreiung von der Wiedergeburt zu erlangen, indem wir uns Wissen aneignen und verstehen, wie wir der Unwissenheit entgegenwirken können, sowie über die Möglichkeit, ein erleuchtetes Wesen zu werden und den Glauben an viele weitere Lebensformen, neben denen der Menschen und Tiere. All diese Dinge gehören zum allgemeinen kulturellen Bestandteil des Buddhismus, unabhängig wohin seine Lehre getragen wurde. Erst dann gibt es spezifische Aspekte, die sich von Kultur zu Kultur unterscheiden.

Ich unterscheide zwischen dem so genannten „Dharma-Light“ (Dharma bezieht sich hier auf die buddhistischen Lehren) und dem, was ich als „echten“ Dharma bezeichne. Dharma-Light ist eine kalorienarme und entkoffeinierte Version, in der es kein Konzept der Wiedergeburt gibt. Dharma-Light bezieht sich nur auf dieses Leben, was in Ordnung ist, aber es reduziert den Buddhismus auf eine bloße Form der Psychologie. Diese Form ist zweifellos hilfreich und hat ihre Besonderheiten, aber sie ist nicht das Wahre; sie ist nicht der authentische Dharma. Wenn also der westliche Buddhismus nur eine Dharma-Light-Version des Buddhismus werden würde, wäre das, meiner Meinung nach, ein großer Verlust. Das ist es, was ich zum Teil mit meiner Website versuche: diese wahre Seite zumindest zu zeigen.

Es gibt westliche Entwicklungen, die den traditionellen asiatischen Darstellungen hinzugefügt werden können und die für unser Verständnis sehr hilfreich wären. Hier im Westen denken wir in einer historischen Art und Weise und deshalb möchten wir die Entwicklung von Vorstellungen im Laufe der Zeit verstehen. Wir sind sehr gut darin, Systeme zu vergleichen – so lernen wir. Wir wollen zum Beispiel wissen, wie die Leerheit in dieser Schule im Vergleich zu jener Schule gesehen wird und wie sie sich entwickelt hat. Wir verstehen die Dinge, indem wir ihre Unterschiede erkennen. Ich denke, dies wird ein integraler Bestandteil des westlichen Buddhismus sein: unsere wissenschaftliche Art des Verstehens vom Buddhismus einzubringen und mit ihm zu verschmelzen, und nicht nur gutgläubig zu akzeptieren, dass etwas nun einmal so ist, weil es in den Schriften so geschrieben steht.

Seine Heiligkeit der Dalai Lama versucht immer wieder Wissenschaft und Buddhismus, und besonders die Hirnforschung, zusammenzubringen. Im Buddhismus wird das Gehirns nicht behandelt und da die westliche Hirnforschung nicht im Geringsten im Widerspruch zu den buddhistischen Lehren steht, kann sie die Lehren sehr gut ergänzen. Es gibt auch Darlegungen in Bezug auf die Teilchenphysik, die Quantenphysik, die Kosmologie und so weiter. Der Dalai Lama und auch der Buddha sagte, dass wir nur das akzeptieren sollten, was als wahr verifiziert werden kann. Und wenn es nicht wahr ist, sollten wir es einfach vergessen! Dies geschieht jedoch nicht mit dieser chauvinistischen Haltung, mit der wir meinen, nichts Neues mehr lernen zu können, weil ja alles bereits in den buddhistischen Schriften geschrieben steht und der Buddha es vor langer Zeit schon verkündet hat. Stattdessen sollten wir all das, was in den Lehren des Buddha nicht so präzise ist, mit den Erkenntnissen der Wissenschaft abgleichen.

Was die oberflächlichen westlichen Veränderungen im Buddhismus betrifft, warum nicht? Die Tibeter haben sicherlich nicht die gleiche Art von Musik oder Blumenopfer, wie sie die Inder hatten, und daher ist es nicht notwendig, den Tibetern alles gleichzutun. Diese Dinge sind trivial und einfach nur ausschmückend. Egal welche westlichen Elemente wir einbringen, wie Musik usw., es ist wirklich wichtig, es sehr respektvoll und würdevoll zu tun und nicht einfach auf banale und gewöhnliche Weise.

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