Ursachen für Bodhichitta schaffen

Rückblick 

Eine korrekte Vorstellung von Bodhichitta und Erleuchtung haben

Wir haben gesehen, dass es ein relatives und ein tiefstes Bodhichitta gibt, und dass es auf die Erleuchtung, insbesondere auf unsere eigene, individuelle Erleuchtung ausgerichtet ist, die noch nicht stattgefunden hat, aber unserem Geisteskontinuum zugeschrieben werden kann; irgendwann wird sie stattfinden. Sie wird jedoch nicht zwangsläufig geschehen, denn wenn wir nicht die Ursachen dafür schaffen, wird sie nicht stattfinden. Relatives Bodhichitta ist also auf das gerichtet, was die noch nicht stattfindende Erleuchtung im Grunde mit sich bringt: den Aspekt der Erleuchtung des Dharmakaya des tiefen Gewahrseins (des allwissenden Geistes), sowie die Sambhogakaya- und Nirmanakaya-Aspekte. Tiefstes Bodhichitta ist darauf gerichtet, wie diese noch nicht stattfindende Erleuchtung existiert, also auf dessen Leerheitsaspekt, welcher der Aspekt des Körpers der essentiellen Natur dieser Erleuchtung ist. 

Was relatives Bodhichitta betrifft – die Weise, wie der Geist es als sein Objekt erfasst, so geschieht dies mit zwei Absichten. 

  • Eine Absicht ist, diesen Zustand zu erreichen, sie also zu einer gegenwärtig stattfindenden Erleuchtung und nicht zu einer noch nicht stattfindenden Erleuchtung zu machen. 
  • Die andere Absicht ist, allen durch dieses Erlangen so vollständig wie möglich von Nutzen zu sein. Doch diese Absicht kommt sogar noch früher, denn sie ist Teil der Motivation, anderen bestmöglich von Nutzen sein zu wollen und daher – weil wir erkennen, dass wir so vollständig wie möglich Erleuchtung erreichen müssen, um dies bestmöglich tun zu können – haben wir die Absicht, diese Erleuchtung zu erreichen und tatsächlich anderen zu helfen. 

Bodhichitta ist somit von Liebe und Mitgefühl begleitet, doch Bodhichitta keinesfalls dasselbe wie Liebe und Mitgefühl. Wir müssen also diese Geisteszustände, diese Geistesfaktoren, unterscheiden. Mitgefühl hat schließlich ein Ziel – großes Mitgefühl (nicht nur gewöhnliches Mitgefühl) ist auf alle gerichtet und insbesondere auf das Leiden aller. Es ist nicht auf die Erleuchtung gerichtet; es ist auf das Leiden von allen gerichtet und die Weise, wie der Geist dieses Objekt erfasst, ist mit dem Wunsch und der Absicht verbunden, sie mögen frei davon sein, ihr Leiden möge verschwinden, und auch mit der Absicht, dass ich etwas dagegen unternehmen werde und mir wünsche, etwas dagegen tun zu können. Das kommt also zuerst, noch vor Bodhichitta. Und zusammen mit Bodhichitta können wir Mitgefühl haben, denn wir sind in der Lage, mehrere Geisteszustände mit verschiedenen Objekten gleichzeitig zu haben, so wie wir zur gleichen Zeit hören und sehen können, wenn wir mit jemanden reden. In ähnlicher Weise können wir gleichzeitig Mitgefühl und Bodhichitta haben, doch dabei handelt es sich um unterschiedliche Objekte – sie richten sich auf unterschiedliche Dinge. Es ist also überaus wichtig, Mitgefühl von Bodhichitta zu unterscheiden. Mitgefühl ist der Wunsch, alle mögen frei von Leiden und den Ursachen des Leidens sein; Liebe ist der Wunsch, alle mögen glücklich sein und die Ursachen des Glücks besitzen. Dies alles sind verschiedene Geisteszustände. 

Um uns wirklich auf korrekte Weise auf die relative Wahrheit unserer zukünftigen Erleuchtung auszurichten, die noch nicht stattfindet – um uns also auf das zu richten, was sie ist – müssen wir eine ganz genaue Vorstellung davon haben, was Erleuchtung ist. Handelt es sich um eine falsche Vorstellung und meinen wir, wir könnten einfach einen Zauberstab schwingen oder unsere Hände bewegen und alle Probleme der Welt oder des Universums lösen – nun, dabei handelt es sich nicht um etwas, was möglich und was Erleuchtung ist. Dies erlangen zu wollen wäre reinste Fantasie. Wir müssen eine ausgesprochen präzise Vorstellung und ein Verständnis davon haben, was Erleuchtung tatsächlich ist und müssen wirklich vertraut mit all den Eigenschaften eines Buddhas sein. Das sollten wir bereits gelernt haben, wenn wir Zuflucht, eine sichere Ausrichtung in unserem Leben, nehmen. Wir lernen es lange vor Bodhichitta. 

Überzeugt von unserer eigenen, persönlichen Erleuchtung werden  

Damit wir das Erlangen der Erleuchtung anstreben können, müssen wir überzeugt davon sein, dass es möglich ist, sie zu erlangen – es ist möglich für mich, sie zu erreichen. Das erfordert, wie gesagt, diese zwei Dinge – es erfordert mehrere andere Dinge, doch um sich auf sie auszurichten, muss ich ein korrektes Bild haben. Dieses korrekte Bild würde aufzeigen: Wie ist es möglich, dass ich mit diesem Zustand der Buddhaschaft in der Lage sein werde, allen bestmöglich von Nutzen sein zu können? Es gilt also, wirklich diese grundlegenden Dinge, wie störende Emotionen, zu verstehen. Es geht sogar noch um grundsätzlichere Dinge: es gibt kein Hervorbringen von Erscheinungen wahrer Existenz, wie wir heute morgen besprochen haben, was bedeutet, dass wir vollkommen gewahr über all die Ursachen sein können, sowie darüber, wie alles und jeder, das Karma von allen seit anfangsloser Zeit, miteinander verbunden sind. Es geht darum zu erkennen, was mit einer bestimmten Person oder mit jeder Person los ist und was die Gründe dafür sind, warum sie auf diese oder jene Weise handeln. Wir reden davon, die Konsequenzen von allem zu kennen, was wir ihnen lehren, damit wir genau wissen, was wir ihnen am besten beibringen sollten. Welchen Einfluss wird es auf sie haben, nicht nur in allen zukünftigen Leben, sondern auch: welchen Einfluss wird das, was wir ihnen gelehrt haben, auf alle anderen haben, denen sie begegnen? Es geht um die Fähigkeit, sich mit anderen in Beziehung zu setzen, mit allen auf eine Weise zu kommunizieren, die sie verstehen können, und nicht begrenzt darauf zu sein, immer nur einer Person helfen zu können. Wir müssen also verstehen, dass dies wirklich der Weg ist, auf dem wir in der Lage sein werden, allen helfen zu können. Und trotz allem ist alles, was wir tun können, ihnen den Weg zu weisen. Verstehen müssen sie es selbst. Es gilt zu der Überzeugung zu gelangen, dass es möglich ist so zu werden. 

Buddha-Natur 

Um dies zu erreichen anzustreben, ist es wie gesagt notwendig, überzeugt davon zu sein, dass wir es erreichen können. Das bedeutet, ein Verständnis davon zu haben, dass wir die Buddha-Natur besitzen – wir verfügen über die Grundlagen, die uns erlauben, dies zu erreichen und es zu ermöglichen. Und das bezieht sich auf die Natur unseres Geistes, die Natur der geistigen Aktivität – dessen relative Natur und dessen tiefste Natur. Die relative Natur ist, dass sie Erscheinungen hervorbringt; sie ist die Aktivität des Hervorbringens von Erscheinungen, des Kennens und Wahrnehmens. Sie ist etwas, was das Hervorbringen von Erscheinungen von allem und das vollständige Kennen ohne Beschränkungen ermöglicht. Die Grundlagen sind also da: die Aktivität und die grundsätzlichen Eigenschaften der Fähigkeit des Verstehens, des Ausrichtens auf viele Dinge, des Gewahrseins der Individualität von Dingen, des Aufnehmens von Informationen, des Wissens über den Umgang mit anderen, der Warmherzigkeit, des Verständnisses. All diese grundsätzlichen Eigenschaften sind Qualitäten dieser geistigen Aktivität und so geht es nur darum, sich von den Hindernissen zu befreien, welche eine vollständige Funktionsfähigkeit vermeiden. Die tiefste Natur dieser geistigen Aktivität ist, dass sie nicht auf unmögliche Weise existiert, als wäre sie in Plastik gehüllt, würde stets gleich bleiben und könne nicht beeinflusst oder entwickelt werden. Es ist möglich, sie zu entwickeln. Wir müssen also wirklich die Buddha-Natur verstehen und uns bewusst darüber sein, dass sie es ist, die uns ermöglicht Erleuchtung zu erlangen. Und sie hat keinen Anfang und wird kein Ende haben. 

Die Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins schaffen 

Es ist notwendig zu erkennen, dass dieses vollständige Funktionieren der geistigen Aktivität noch nicht stattfindet, jedoch stattfinden kann. Es ist nicht so, dass sie bereits stattfindet, sondern sie ist momentan von Schleiern bedeckt. Sie findet noch nicht statt, aber kann stattfinden; die Grundlage ist da und das gilt es ebenfalls zu verstehen. Außerdem müssen wir erkennen, dass dieses vollständige Funktionieren nicht nur auf der Basis der vorhandenen Arbeitsgrundlage stattfinden wird. Damit sie vollständig funktionieren kann, müssen wir viel Bemühung hineinstecken und hier gilt es zwei Dinge zu tun. 

  • Wir müssen uns reinigen und frei von den Hindernissen, den Schleiern, werden, die das vollständige Funktionieren verhindern. 
  • Und es ist notwendig das aufzubauen, was für gewöhnlich mit „Verdienst“ übersetzt wird. Die eigentliche Bedeutung ist jedoch „positive Kraft“, positive Energie. Manchmal nennt man es „Ansammlung von Verdienst“, wobei „Ansammlung“ hier kein sehr gutes Wort ist. Es geht nicht darum etwas anzusammeln, wie Briefmarken oder Punkte. Wir reden vielmehr von einem Netzwerk, einem großen Maß an positiver Kraft, das aufgebaut wird. Und wir müssen nicht nur das Netzwerk positiver Kraft oder der Verdienste vernetzen und stärken, sondern auch das Netzwerk unseres tiefen Gewahrseins. Tiefes Gewahrsein wird zuweilen auch mit „Weisheit“ übersetzt, bezieht sich aber eigentlich auf ein Netzwerk von immer mehr Erfahrungen und Momenten des Ausrichtens auf die Leerheit, besonders nichtkonzeptuellen, aber wir können konzeptuell beginnen. 

In den Gelug- und Sakya-Traditionen wird erklärt, dass dieses Aufbauen positiver Kraft die grundlegenden relativen Qualitäten der Buddha-Natur entwickeln wird – es gibt Potenziale in abgeschwächter Form, wie Warmherzigkeit, Verständnis und so weiter. Im Kagyü und Nyingma wird hingegen erklärt, dass die Funktionsweise darin besteht, im Reinigungsprozess zu helfen, frei von den Hindernissen, den Schleiern, zu werden. Doch es kommt genau auf dasselbe heraus. Im Kagyü und Nyingma wird nicht behauptet, der Zustand vollkommener Befreiung wäre bereits aktiv. Dort wird gesagt, dass er noch nicht aktiv ist, doch wenn man sich von den Hindernissen befreit, wird er vollständig funktionieren. Die Gelugpa und Sakya sprechen ebenfalls davon, von den Hindernissen frei zu werden, daran zu arbeiten und auch die positiven Eigenschaften zu entwickeln. Doch jeder tut letztendlich genau dasselbe und so ist es nur eine Sache der unterschiedlichen Interpretation, wie es funktioniert. Wir sollten also nicht meinen, es wäre widersprüchlich, denn das ist es nicht. Auch wenn wir lesen: „Wir sind bereits Buddhas“, heißt das nicht, der Geist würde bereits wie ein Buddha funktionieren und wäre nur im Innern verborgen. Das hat nichts mit dem Buddhismus zu tun, sondern bezieht sich auf eine der Hindu-Schulen, genauer gesagt auf die des Samkhya. 

Wir sollten auch verstehen, warum wir diese zwei Netzwerke aufbauen müssen und wie es funktioniert. Je mehr Erfahrung wir damit haben, uns tief und nichtkonzeptuell auf Leerheit zu fokussieren, desto vernetzter ist es. Das wird dann stärker und stärker, bis wir irgendwann für immer, ohne Unterbrechung, fokussiert bleiben. Und wenn wir das tun können, sollten wir uns bewusst darüber sein, dass dies heißt, zur gleichen Zeit weder störende Emotionen, noch Unwissenheit gegenüber der Realität oder einen Geist zu haben, der Erscheinungen unmöglicher Existenzweisen hervorbringt. Dann verstehen wir, warum es so notwendig ist, immer mehr Erfahrung in dieser Richtung anzusammeln. 

All das hängt natürlich davon ab, diese Begrenztheiten zu erkennen – das mangelnde Gewahrsein, die störenden Emotionen, das Hervorbringen von Erscheinungen von Dingen als wahrhaft existierend, mit begrenzenden Linien usw. – und das diese Dinge beseitigt werden können. Sie gehören nicht zur Natur der geistigen Aktivität. Das haben wir ebenso verstanden. Auf der Grundlage dessen werden wir die Wichtigkeit und den Zweck erkennen, immer mehr von diesem Netzwerk tiefen Gewahrseins aufzubauen. Und wir müssen verstehen, warum wir ein Netzwerk positiver Kraft aufbauen müssen und wie es funktioniert. Dafür ist es notwendig konstruktive Dinge zu tun – tatsächlich anderen zu helfen, diese konstruktiven Geisteszustände zu entwickeln, Großzügigkeit, Disziplin und so weiter – was uns viel positive Energie verleiht. 

Diese positive Energie ist notwendig; sie ist wie der Kraftstoff, der uns gewissermaßen antreibt. Wir müssen auch Folgendes verstehen: Wenn wir eine bestimmte Ebene dieser positiven Kraft aufgebaut haben, ist es wie ein organisches System – plötzlich wird sich das vollständige System neu ordnen und auf einer ganz anderen Ebene wirken, wenn es eine bestimmte Erhöhung der Energie gibt. Man kann es vergleichen mit Eis: Wenn wir ihm genügend Energie zufügen, wird es sich plötzlich ganz neu ordnen und zu flüssigem Wasser werden. Fügen wir ihm dann noch mehr Energie zu, wird es sich neu anordnen und plötzlich zu Dampf werden. In ähnlicher Weise wird die geistige Aktivität, je mehr positiver Kraft wir ihr zufügen, diese verschiedenen Stufen eines Aryas, Arhats und schließlich eines Buddhas durchlaufen, auf der sie in der höchsten Form aktiv sein wird. Wir müssen also die Notwendigkeit dafür verstehen, dies zu tun, und wie es funktioniert. So erlangen wir Erleuchtung, durch die Kombination des Aufbauens und Vernetzens dieser zwei Netzwerke – das Netzwerk positiver Kraft und das Netzwerk tiefen Gewahrseins, der Leerheit. 

Es ist, als wollten wir beispielsweise einen Stern erreichen, der tausend Lichtjahre entfernt ist und wir wissen, warum wir diesen Stern erreichen wollen – wir denken nicht nur: ach, es wäre so schön, dorthin zu gehen. Vielmehr verstehen wir die Notwendigkeit diesen Stern zu erreichen, denn wenn wir ihn erreichen, werden wir all die Fähigkeiten erlangen, allen bestmöglich helfen zu können. 

  • Zunächst müssen wir den korrekten Stern anstreben; kommen wir nur ein wenig vom Weg ab, werden wir ihn verpassen. 
  • Wir müssen überzeugt davon sein, dass wir eine Rakete haben, die uns bis dorthin bringen kann und wir sie nutzen können, um etwas davon zu haben, was sich auf diesem Stern befindet. 
  • Es wird zehntausend Jahre dauern, um dorthin zu gelangen und wir sind überzeugt davon, dass es von einem Leben zum nächsten eine Kontinuität gibt, sodass wir dorthin gelangen werden. Es ist nicht so, dass ich nach fünfzig Jahren sterben werde und die Reise damit beendet ist. 
  • Wir haben genug Kraftstoff – das ist die positive Kraft, das Netzwerk positiver Kraft – der uns dorthin bringen wird. Die Rakete ist der Geist, die geistige Aktivität. Und wir haben genug Kraftstoff und werden immer mehr Kraftstoff ansammeln, den Solarwind oder etwas in der Art nutzen, um dorthin zu gelangen. Doch wir wissen, dass wir immer mehr Kraftstoff hinzufügen können – wir sind uns bewusst, was der Kraftstoff ist und dass er uns dorthin bringen wird. 
  • Wir kennen den Weg genau, um dorthin zu gelangen und dann werden wir auch dort ankommen. Wir können zuversichtlich mit unserer Rakete starten, die uns irgendwann dort ankommen lässt. 

Genauso verhält es sich mit Bodhichitta. Ohne all das werden wir aufgeben und kein Vertrauen haben, dorthin gelangen zu können; wir werden nicht wirklich mit vollem Herzen dabei sein können. Wir werden vielleicht sogar den Stern verpassen, weil wir uns nicht korrekt auf ihn ausgerichtet haben. Mittendrin werden wir dann sagen: „Warum mache ich mir überhaupt die Mühe, dorthin zu gelangen?“ und dann geben wir auf. 

Die Wichtigkeit des Widmens 

Das Widmen dieser positiven Kraft ist absolut essentiell; es ist wichtig, sie auf korrekte Weise zu widmen. Widmen wir sie nicht der Befreiung oder Erleuchtung, wird jede positive Kraft, die wir aufbauen, einfach automatisch nur wirken, um Samsara, unsere samsarische Existenz zu verbessern – das ist Teil des ganzen karmischen Prozesses. Es ist, als würden wir einen Text schreiben und dieser Text würde automatisch im Ordner „Verbessern von Samsara“ landen, wenn wir nicht einen bestimmten Knopf drücken, um ihn im „Befreiungsordner“ oder „Erleuchtungsordner“ zu speichern. Wir müssen also diese positive Kraft, die sich immer weiter aufbaut, widmen und nicht nur im Befreiungsordner, sondern im Erleuchtungsordner speichern. Und die Kraft wird stärker und stärker sein, je nachdem wo wir sie speichern. 

Genauso verhält es sich mit der Rakete: wir haben den Kraftstoff, doch wenn die Kraft nicht stark genug ist, was wird dann passieren? Wir werden hochgehen, aber einfach im Orbit bleiben; wir werden uns immer im Kreis bewegen – das ist Samsara. Wir müssen mehr Kraft aufbauen und sie der Befreiung widmen, damit wir aus dem Orbit ausbrechen können und Befreiung aus Samsara erlangen. Doch nur aus dem Orbit auszubrechen und uns auf die Befreiung zuzubewegen, ist nicht genug. Wir müssen sie erlangen, damit wir uns in Lichtgeschwindigkeit bewegen – das ist Bodhichitta, damit wir tatsächlich diesen Stern erreichen können, der eintausend Lichtjahre entfernt ist. 

Eine Analogie kann manchmal hilfreich sein, doch es ist wichtig, den Punkt der Analogie zu verstehen – nämlich, dass unser Aufbauen der positiven Kraft gut ausgerichtet werden muss. Das müssen wir tun, denn ansonsten wird es nicht funktionieren. 

Stufen von Bodhichitta 

Mit relativem Bodhichitta gibt es zwei Stufen. Eine wird die „Stufe des Wunsches“ von Bodhichitta genannt, auf der wir uns einfach wünschen, diese Erleuchtung zu erlangen, um allen bestmöglich von Nutzen sein zu können, was natürlich auf dem Verständnis beruht, was Erleuchtung ist und wie wir in der Lage sein werden, allen zu helfen – was es tatsächlich bedeutet und dass es möglich ist, sie zu erlangen. Wir wünschen uns nicht einfach etwas, das unmöglich ist. 

Diese erste Stufe des relativen Bodhichitta besteht selbst aus zwei Stufen. Die erste besteht darin, sich einfach zu wünschen, diese Erleuchtung zu erlangen, also anzustreben, sie zu erlangen. Und die zweite Stufe ist die Stufe, auf der wir vollkommen entschlossen sind, dass wir uns niemals von diesem Ziel abwenden werden. Um vollends entschlossen zu sein, dass ich mich nie von diesem Ziel abwenden werde, muss ich offensichtlich vollkommen überzeugt davon sein, dass es möglich ist, es zu erlangen, nicht wahr? Aus diesem Grund betone ich: Es ist wirklich wichtig zu verstehen, wie es möglich ist, es zu erlangen; dass es möglich ist, es zu erlangen; dass es für mich möglich ist, es zu erlangen; und zu wissen, wie ich es tue, wie es funktioniert, damit ich dann wirklich völlig entschlossen sein kann, dass ich mich niemals von diesem Ziel abwenden werde. Das sind die zwei Teile der Stufe des Wunsches. 

Die zweite Stufe ist die so genannte „ausübende Stufe“ von Bodhichitta, und im Grunde gilt es hier genau zu wissen, wie man diese Erleuchtung erlangt. Es baut darauf auf, dass wir uns völlig verpflichten – „Ja! Das ist es, was ich tun werde!“ und wir werden uns tatsächlich in all dieser Aktivität üben, die uns zur Erleuchtung bringen wird. Zusammenfassend kann man sagen, dass wir diese zwei Netzwerke aufbauen, stärken, und sie auf korrekte Weise der Erleuchtung widmen. 

Die Bodhisattva-Gelübde 

An diesem Punkt nehmen wir mit dem ausübenden Bodhichitta die Bodhisattva-Gelübde. Die Bodhisattva-Gelübde sind im Wesentlichen Richtlinien dafür, was wir vermeiden müssen, wenn wir Erleuchtung erlangen und allen anderen nützen wollen. Und der Pfad zum Erlangen der Erleuchtung ist dazu da, um anderen so bestmöglich zu helfen, auch wenn wir momentan begrenzt sind. Das sind die Richtlinien, die Bodhisattva-Gelübde, in Bezug darauf, was es zu vermeiden gilt. Wir geben unserem Verhalten diese Form; indem wir Gelübde nehmen, erhält unser geistiges Kontinuum, unser Verhalten, eine Form: „Das ist der Rahmen, in dem ich daran arbeiten werde, Erleuchtung zu erlangen. Ich werde mich sozusagen nicht jenseits davon, jenseits dieser Grenzen, bewegen; sie werden mein Verhalten auf meinem Weg zur Erleuchtung formen.“ Das sind die Bodhisattva-Gelübde. Und wenn wir sie nehmen, werden sie ein Teil unseres Geisteskontinuums, von jetzt bis wir Erleuchtung erlangen, also für alle zukünftigen Leben. Natürlich werden wir sie im nächsten Leben wieder nehmen müssen, um uns erneut zu verpflichten, aber der Instinkt, die Gewohnheit, wird ganz stark sein und wir werden dorthin gezogen werden. In gewisser Weise müssen wir sie auffrischen. 

Haben wir in einem früheren Leben ein Bodhisattva-Gelübde genommen, haben wir es mit anderen Worten als Baby noch immer, aber vielleicht übertreten wir es. Das schwächt das Gelübde, doch wir haben nicht diese wirklich negative Geisteshaltung, mit der wir meinen, es wäre sinnlos, ihm zu folgen und wir könnten es einfach vergessen. Wir denken nicht: „Ich bin froh, dass ich es übertreten habe und habe nicht die Absicht, es jemals wieder einzuhalten.“ Nur mit dieser völlig negativen Geisteshaltung würden wir die Gelübde fallenlassen. Andernfalls ist es einfach nur so, dass ein Kleinkind diesbezüglich unwissend ist und das schwächt die Kraft des Bodhisattva-Gelübdes. Im Grunde ist das Bodhisattva-Gelübde Teil des Geisteskontinuums. Wenn das Kind dann alt genug ist, um zu wissen was es tut, kann es die Bodhisattva-Gelübde erneut nehmen und sie erneut reinigen und stärken. Und das ist es, was wir tun. Wir tun es sogar in diesem Leben, weil wir sie unausweichlich schwächen werden. 

Der Punkt ist, sie nicht völlig zu verlieren, indem wir denken: „Ich bin froh darüber, sie gebrochen zu haben und habe nicht die Absicht, damit aufzuhören, sie zu brechen; ich bereue es keineswegs (ich bin hingegen froh darüber) und habe kein Schamgefühl; mir ist es egal, wie sich das auf mich auswirkt, wie es sich auf meine Lehrer auswirkt usw. – dann hätten wir sie verloren. Wir hätten sie aufgegeben. Das ist damit gemeint, wenn es heißt, dass wir die Bodhisattva-Gelübde von nun an bis zur Erleuchtung haben werden. Es ist nicht wie bei den Mönchs- oder Nonnengelübden, die man verliert, wenn man stirbt. Auch tantrische Gelübde nehmen wir bis hin zur Erleuchtung; es ist die gleiche Wirkungsweise wie bei den Bodhisattva-Gelübden. 

Auf Bodhichitta hinarbeiten 

Im gegenwärtigen Augenblick könnten wir diesen Wunsch und diese ausübende Ebene von Bodhichitta haben, aber wir müssen darauf hinarbeiten, wirklich dieses Ziel anzustreben. Wir müssen uns durch die Stufen durcharbeiten, um es überhaupt zu besitzen, doch dann, im Laufe des Tages in unserem normalen, alltäglichen Leben, kommt es nicht einfach automatisch. Wir müssen die gleichen Schritte durchgehen, um darauf hinzuarbeiten, es tatsächlich zu fühlen. Anders ausgedrückt müssen wir die gleichen Überlegungen und Schritte durchgehen, um es tatsächlich zu empfinden. Dafür gibt es zwei grundsätzliche Methoden. 

  • Die eine heißt siebenteiliger Vorgang der Meditation über Ursache und Wirkung, mit dem wir erkennen, dass alle in früheren Leben bereits unsere Mutter gewesen sind und wir uns an die Güte der Mütter, die mütterliche Liebe usw. erinnern. 
  • Die andere nennt man Gleichsetzen und Austauschen unserer Geisteshaltungen uns selbst und anderen gegenüber. 

Indem wir also entweder die eine oder andere dieser Abfolgen durchgehen, wobei es auch die Möglichkeit gibt, sie miteinander zu kombinieren, arbeiten wir uns durch diese Stufen hindurch und sind uns bewusst: „Ja, ich strebe die Erleuchtung an, um allen damit gleichermaßen von Nutzen zu sein, einschließlich allen Kakerlaken im Universum.“ Es ist keine kleine Sache, das wirklich gegenüber jedem Insekt im Universum zu fühlen, nicht nur gegenüber den Menschen und jenen, die wir mögen, und es ernst zu nehmen. 

Mühevolles und müheloses Bodhichitta 

Wenn wir jede dieser Stufen der Reihenfolge nach durcharbeiten, entwickeln wir, beruhend auf all dem Verständnis, das wir bereits besprochen haben, tatsächlich dieses Ziel auf ernsthafte Weise; wir fühlen es wirklich. Das ist Meditation: wir machen uns vertraut damit, machen es zu einer Gewohnheit, bauen es immer wieder erneut auf. Und das ist dann das so genannte mühevolle Bodhichitta. Es heißt nicht, dass es nicht ernsthaft empfunden oder nicht real ist, sondern dass man es in Stufen durcharbeiten muss. Solange wir keine beachtlichen Instinkte aus früheren Leben haben, was wirklich ziemlich selten ist, werden wir diesen Vorgang durchgehen müssen. Wir reden hier von Instinkten, mit denen man ganz natürlich über vollkommenes Bodhichitta verfügt, ohne die Stufen durchgehen zu müssen. Das trifft jedoch auf fast niemanden zu und daher sollten wir uns nichts vormachen und meinen, es würde uns betreffen. 

Wir müssen all diese Stufen und Meditationen durchgehen, um es zu einer Gewohnheit zu machen. Das nennt man mühevolles Bodhichitta. Es geht darum, es ernsthaft zu entwickeln, und nicht um eine geringfügige Version von Bodhichitta. Wie gesagt, wollen wir jeder Kakerlake im Universum helfen, Erleuchtung zu erlangen und das ist ziemlich tiefgreifend und äußerst schwierig. Und irgendwann, wenn wir genug meditiert, uns ausreichend vertraut gemacht und uns durchgearbeitet haben, um wirklich ernsthaft Bodhichitta zu fühlen, werden wir schließlich die mühelose Stufe erreichen. Das mühelose Bodhichitta ist vorhanden, wenn wir nicht diese Stufen, eine nach der anderen, durchgehen müssen, sondern einfach darüber verfügen, ohne die Stufen durcharbeiten zu müssen. Wir verfügen vollständig darüber, indem wir uns einfach nur daran erinnern. Das ist die mühelose Ebene. Und wenn wir uns nicht einmal an Bodhichitta erinnern müssen, sondern ständig über dieses mühelose Bodhichitta verfügen, werden wir ein Bodhisattva. Das ist ein Bodhisattva und daher solltet ihr es bitte nicht für geringfügig halten, ein Bodhisattva zu werden.

Beziehen wir uns gedanklich auf die fünf Pfade – das sind genau genommen die Pfade des Geistes, die uns an unser Ziel bringen werden – so wird der erste von ihnen normalerweise mit „Pfad des Ansammelns“ übersetzt. Ich nenne ihn einen „Pfadgeist des Aufbauens“, denn man baut immer mehr grundlegende Ursachen auf. Doch nur an diesem Punkt, wenn wir jederzeit über müheloses Bodhichitta verfügen, betreten wir tatsächlich den Pfad und haben wirklich den ersten Pfad des Geistes, die erste Ebene des Pfadgeistes, den Pfad des Aufbauens. Das ist der Punkt, an dem viele Diskussionen beginnen. Wir sind schließlich oben angekommen; alles davor ist wie eine Vorbereitung. Wenn wir zum Base Camp des Mount Everest hinaufklettern, sind wir schließlich oben angekommen. Das ist übrigens der Mahayana-Pfad des Aufbauens oder Ansammelns. 

Und wenn wir sagen, dass wir jederzeit darüber verfügen oder dass ein Bodhisattva jederzeit über müheloses Bodhichitta verfügt, heißt das nicht, man wäre sich jederzeit darüber bewusst. Ein Bodhisattva verfügt auch darüber, wenn er gerade schläft. Das bedeutet, dass wir das Ziel auch haben, wenn wir gerade schlafen; wir verlieren dieses Ziel, Erleuchtung zu erlangen und allen zu nützen, niemals aus den Augen. Daher heißt es in Shantidevas „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“: Wenn wir es einmal entwickelt haben – und hier reden wir nicht über die frühen Stufen, sondern darüber, wenn wir tatsächlich ein Bodhisattva sind – wird dadurch ständig positive Kraft aufgebaut, denn wir verlieren nie unser Ziel, und weil es mühelos ist, ist es einfach da. Natürlich ändert sich jeder Augenblick, doch es gibt eine Kontinuität. Es ist nicht statisch, aber ob wir wach sind, schlafen oder was immer wir gerade tun: die Bodhichitta-Ausrichtung ist immer da. Das ist ein Bodhisattva und daher ist es, wie gesagt, überaus wichtig, es nicht für geringfügig zu halten und zu meinen, jemand sei ein Bodhisattva oder wir seien Bodhisattvas. Es ist wirklich etwas sehr Bemerkenswertes und Außergewöhnliches. Alles was wir dann tun, ist nützlich, denn wir tun alles mit dieser Ausrichtung. 

Ein Bodhisattva verfügt nicht nur über müheloses Bodhichitta, jeder Schritt auf dem Weg des Entwickelns von Bodhichitta ist ebenfalls mühelos, wie beispielsweise herzerwärmende Liebe, mit der man sich um das Wohl aller kümmert und sich furchtbar fühlen würde, wenn ihnen etwas Schlechtes widerfährt. Nehmen wir einmal an, da gibt es eine Mücke, die um unseren Kopf herum summt – es macht uns so glücklich und erwärmt unser Herz: „Oh, wie schön, dieses Wesen war in einem früheren Leben so gütig zu mir und jetzt kommt es wieder zurück.“ Das Geisteskontinuum hat nun diese Form einer Mücke und wir sagen uns: „Oh, wie furchtbar, welches Leid meine Mutter jetzt als eine Mücke hat.“ Es erwärmt einfach unser Herz, wir schätzen sie und freuen uns, diese Mücke zu treffen. Wir wollen nicht, dass ihr irgendetwas Schlechtes widerfährt. Wir müssen nicht darauf hinarbeiten, uns zu überlegen: „Nun, in einem früheren Leben war sie meine Mutter“, und dann über das Geisteskontinuum usw. nachzudenken. Es kommt einfach ganz natürlich, mühelos und spontan. Darum geht es hier und daher sollten wir es nicht bagatellisieren. Es ist sehr fortgeschritten. Das ist es, was ein Bodhisattva empfindet.

Bodhisattvas, Befreiung und Erleuchtung 

Manchmal hören wir: „Was ist eigentlich ein Bodhisattva?“ Ein Bodhisattva ist jemand, der nicht ins Nirvana eingehen wird, bis er nicht allen anderen helfen konnte. Was bedeutet das? Es bedeutet, durch zahlreiche positive Arten von Aktivitäten positive Kraft aufzubauen. Wenn wir dies anstreben und es der Befreiung widmen, dauert es nicht allzu lang – man kann es in mehreren Leben erreichen, wenn man auf einer gewissen Stufe ist. Erleuchtung zu erlangen, also all diese positive Kraft nicht in den Befreiungsordner sondern in den Erleuchtungsordner zu speichern, erfordert allerdings eine ziemlich lange Zeit, da ein hohes Maß an positiver Kraft dafür nötig ist. Das ist es, was ein Bodhisattva tut. Ein Bodhisattva nutzt all diese positive Kraft nicht für die Befreiung, die man in viel kürzerer Zeit erlangen kann. Weil er allen bestmöglich von Nutzen sein will, speichert der Bodhisattva all diese positive Energie in den Erleuchtungsordner, was eine wirklich lange Zeit dauert, bis er voll ist, um anderen damit zu nutzen. Das bedeutet, dass ein Bodhisattva auf das Erlangen seines eigenen Nirvana, also seiner Befreiung, dafür verzichtet. Die Befreiung wird ebenfalls auf dem Weg kommen, auf dem wir all die positive Kraft in den Erleuchtungsordner speichern, aber es wird viel länger dauern. Und die Bodhisattva-Haltung ist: „Es ist mir egal, wie lange es dauert, ich werde niemals aufgeben“, was natürlich auf der vollen Überzeugung beruht, dass dieses Geisteskontinuum endlos weitergehen wird, denn ansonsten würde die ganze Sache keinen Sinn ergeben.

Als ein Bodhisattva streben wir also nicht nur das Erlangen der Befreiung an, sondern werden Befreiung als eine Stufe auf dem Pfad zur Erleuchtung erlangen. Wollen wir beispielsweise in den dritten Stock eines Gebäudes, kommen wir natürlich auf dem Weg zum dritten Stock auch in den zweiten. Doch es war nicht unser Ziel, nur in den zweiten Stock zu gelangen. Unser Ziel war der dritte Stock. Der zweite Stock liegt auf dem Weg und um in den dritten Stock zu gelangen, werden wir viel mehr Energie benötigen, als nur für den zweiten Stock. Wir streben an, all die Gewohnheiten der störenden Emotionen loszuwerden und wenn wir das tun, können wir uns natürlich zunächst von den störenden Emotionen befreien. Und das werden wir tun.

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