Die Praxis der Bodhichitta-Meditation

Außergewöhnlicher Entschluss  

Der nächste Schritt nach dem Tonglen (Geben und Nehmen) ist das Entwickeln des außergewöhnlichen Entschlusses (tib. lhag-bsam), welcher ein noch größerer Wunsch ist, all die Leiden der anderen beseitigen zu können und ihnen das Glück der Befreiung und Erleuchtung zu schenken. Was außergewöhnlich daran ist, ist die Absicht, es zu tun, auch wenn wir es ganz allein tun müssen, und niemals aufzugeben. Natürlich beruht dieser außergewöhnliche Entschluss darauf, noch stärkeres Mitgefühl zu haben, denn wir können nicht darauf warten, dass andere Menschen dazu in der Lage sind; wir werden es selbst tun. 

Die Bodhichitta-Ausrichtung entwickeln, um Erleuchtung zum Nutzen aller zu erlangen  

Der nächste Schritt nach dem außergewöhnlichen Entschluss ist Bodhichitta selbst. Wir untersuchen uns selbst und versuchen herauszufinden: „Bin ich wirklich dazu in der Lage, das ganz allein zu tun? Kann ich wirklich alle zur Befreiung und Erleuchtung führen?“ Wir erkennen: „Nein, in meiner gegenwärtigen Situation bin ich nicht einmal mir selbst eine gute Hilfe und der einzige Weg, um wirklich anderen nützen zu können, besteht darin, selbst nicht nur Befreiung, sondern die vollständige Erleuchtung eines Buddhas zu erlangen.“ 

Mit Bodhichitta richten wir uns auf die Erleuchtung und hier geht es nicht um Erleuchtung im Allgemeinen oder um die Erleuchtung von Buddha Shakyamuni. Wir beziehen uns vielmehr auf unsere individuelle Erleuchtung, doch diese individuelle Erleuchtung findet momentan nicht statt; sie findet noch nicht statt. Momentan haben wir beispielsweise das Jahr 2009 und das Jahr 2010 findet momentan nicht statt; es ist etwas, das noch nicht stattfindet. Es gibt so etwas, wie das Jahr 2010, aber es findet momentan nicht statt. Es ist eine Art existierendes Phänomen, etwas, das noch nicht stattfindet. Wir können darüber nachdenken, uns darauf konzentrieren, an das Jahr 2010 denken und es gültig kennen. 

Wenn wir uns auf diese Erleuchtung richten, die noch nicht stattfindet, haben wir die Absicht, sie zu erlangen – also eine gegenwärtig stattfindende Erleuchtung zu erreichen – indem wir verstehen, welche Arbeit damit verbunden ist. Auf der Stufe, auf der wir uns Bodhichitta wünschen (tib. smon-sems), wollen wir es einfach erreichen, und auf der ausübenden Stufe (tib. ’jug-sems) geht es darum, all die Arbeit hineinzustecken, um es zu erlangen und die volle Absicht zu haben, allen anderen auf dem Pfad so viel wie möglich und so viel wir können zu nutzen. 

Als Voraussetzung verfügen bereits über Liebe, Mitgefühl und diesen außergewöhnlichen Entschluss. Außerdem haben wir auch ein realistisches Verständnis darüber, was Erleuchtung erfordert und zu was wir als ein erleuchtetes Wesen in der Lage sind. Die berühmte Zeile in einem Sutra lautet: „Buddha kann nicht das Leiden der anderen wie einen Dorn aus dem Fuß ziehen; alles was ein Buddha tun kann, ist, anderen den Weg zu zeigen und sie zu inspirieren, wie sie vorgehen sollen.“ Wir stellen uns nicht vor, ein allmächtiger Gott zu werden, der mit einem Fingerschnipsen – oder sogar ohne mit den Fingern zu schnipsen – alle Leiden anderer beseitigen kann. Aus einer buddhistischen Perspektive ist niemand dazu in der Lage. 

Uns auf der Grundlage unserer Faktoren der Buddha-Natur auf unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung ausrichten  

In Bezug auf das Entwickeln von Bodhichitta gibt es für gewöhnlich zwei Phasen. Bei der einen richten wir uns auf alle Wesen mit der Absicht aus, ihnen zu helfen und ihre Leiden zu beseitigen, was unsere Liebe und unser Mitgefühl stärkt. Dann richten wir uns auf unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung mit der Absicht aus, sie zu erlangen und anderen von Nutzen zu sein. Die Frage ist: „Worauf fokussieren wir uns eigentlich?“ und „Wie fokussieren wir uns auf die noch nicht stattfindende Erleuchtung?“ Betrachten wir es nur ganz allgemein, sollten wir verstehen, dass es möglich für uns ist, Erleuchtung auf der Grundlage unserer Faktoren der Buddha-Natur zu erlangen und somit haben wir zwei Arten von Faktoren der Buddha-Natur. 

Dieses Wort „Buddha-Natur“ ist übrigens nicht der Fachausdruck dafür; es gibt mehrere Begriffe, die benutzt werden. Meistens spricht man jedoch von „Familieneingenschaft“ oder „Charakteristik“; es geht um die Charakteristik all jener, die zur Buddha-Familie gehören, also der Familie jener, die in der Lage sind, Buddhaschaft zu erlangen, was sich auf alle bezieht. In unseren westlichen Sprachen haben uns jedoch darauf geeinigt, dies als „Buddha-Natur“ zu bezeichnen. Wir sollten jedoch verstehen, dass wir hier nicht von einer einzelnen Natur sprechen, sondern von vielen verschiedenen Faktoren, die irgendwie mit unserem individuellen Geisteskontinuum verbunden sind. Gemäß den verschiedenen indischen Lehrsystemen gibt es dazu unterschiedliche Behauptungen, und diese beziehen sich insbesondere auf die Systeme des Mahayana, nicht auf die des Hinayana. Wir reden von Chittamatra und Madhyamaka, und innerhalb des Madhyamaka gibt es eine andere Behauptung des Svatantrika und Prasangika; die diversen tibetischen Traditionen haben ihre eigenen Erklärungen dazu, was diese verschiedenen indischen Lehrsysteme vertreten. Hier gibt es wirklich zahlreiche unterschiedliche Behauptungen. 

[Für ausführlichere Erklärungen, siehe: Buddha-Natur: Darstellung der Gelug

Die zwei Arten von Faktoren der Buddha-Natur und der Buddhakörper.  

Obgleich dies ein eher kompliziertes Thema ist, werden wir nur einen Blick auf die Prasangika-Behauptung werfen, wie sie in der Gelug-Tradition erklärt wird. In all den verschiedenen Behauptungen dieser Faktoren haben wir so genannte sich entwickelnde Faktoren (tib. rgyas-’gyur-gyi rigs), die sich weiterentwickeln und wachsen, sowie andauernde Faktoren (tib. rang-bzhin gnas-rigs), die immer gleich bleiben. Die sich entwickelnden Faktoren sind Faktoren, die sich entwickeln und zu den verschiedenen Körpern eines Buddhas heranwachsen, was wir als Körper, Rede und Geist eines Buddhas verstehen können, oder als Formkörper eines Buddhas und  als Dharmakaya des tiefen Gewahrseins eines Buddhas, was sich auf den allwissenden Geist eines Buddhas bezieht. 

Der Dharmakaya hat zwei Aspekte: Dharmakaya des tiefen Gewahrseins (tib. ye-shes chos-sku) und Dharmakaya der essentiellen Natur (tib. ngo-bo-nyid sku). Oft bezeichnen wir sie mit den Sanskrit-Begriffen Jnana-Dharmakaya und Svabhavakaya, während der andauernde Faktor sich auf das bezieht, was für den Svabhavakaya, den Körper der essentiellen Natur, verantwortlich ist. Es gibt zahlreiche verschiedene Behauptungen dazu, was Svabhavakaya bedeutet; der Begriff ist also nicht so einfach zu übersetzen. Hier, in der Gelug-Prasangika-Behauptung, bezieht sich Svabhavakaya auf die Leerheit des Geistes eines Buddhas, und die Leerheit unseres individuellen Geistes oder Geisteskontinuums ist verantwortlich für die Tatsache, dass es die Leerheit des Geistes eines Buddhas oder den Svabhavakaya gibt. Die Leerheit unseres gewöhnlichen Geistes und die Leerheit unseres Geistes, wenn er erleuchtet ist, sind genau dasselbe. Leerheit ist ein statisches Phänomen; es ändert sich nicht. Sprechen wir über die Leerheit, ist die Rede von einer völligen Abwesenheit unmöglicher Existenzweisen. Es handelt sich also um eine Tatsache, die unveränderlich ist und gleich bleibt, ob unser Geist nun in seinem gewöhnlichen oder in seinem erleuchteten Aspekt ist. Ob er voller geistiger Schleier – emotionaler oder kognitiver – oder ob er frei davon ist, die Leerheit des Geistes bleibt dieselbe. 

Somit ist die Leerheit des Geistes ein andauernder Faktor der Buddha-Natur. Sprechen wir von der allgemeinsten Behauptung der sich entwickelnden Faktoren der Buddha-Natur, würden wir sie als die zwei erleuchtungsbildenden Netzwerke sehen, die normalerweise als die zwei „Ansammlungen“ bezeichnet werden. Reden wir hier über das Netzwerk positiver Kraft oder positiven Potenzials (tib. bsod-nams-kyi tshogs), so meinen wir das, was für gewöhnlich mit „Ansammlung von Verdienst“ übersetzt wird, und das Netzwerk tiefen Gewahrseins (tib. ye-shes-kyi tshogs) wird meist mit „Ansammlung von Weisheit“ übersetzt. 

Was dieses Netzwerk positiver Kraft betrifft, so gibt es verschiedene Arten. Wird diese positive Kraft nicht der Befreiung oder Erleuchtung gewidmet, handelt es sich lediglich um ein samsarabildendes Netzwerk. Mit anderen Worten wird es nur als Ursache dafür dienen, angenehme Situationen in Samsara zu erleben, welche das Leiden der Veränderung (tib. ’gyur-ba’i sdug-bsngal) ist. Wird es mit Entsagung der Befreiung gewidmet, werden es befreiungsbildende Netzwerke sein, und werden sie mit der vollen Geisteshaltung des Bodhichitta gewidmet, werden sie erleuchtungsbildende Netzwerke werden. Die Widmung ist also von großer Bedeutung. 

Das Netzwerk tiefen Gewahrseins wird genau genommen entwickelt, wenn wir nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit haben; es wird dadurch aufgebaut. Die Meditation über Leerheit (oder verschiedene Arten von tiefem Gewahrsein) davor ähneln dem jedoch und können wahrscheinlich miteinbezogen werden, doch die technische Definition ist, dass es durch diese nichtkonzeptuelle Wahrnehmung entwickelt wird. Hier können wir eine recht präzise oder eine allgemeinere Erklärung anführen. Das Netzwerk positiver Kraft wird neben dieser nichtkonzeptuellen Vertiefung in Leerheit durch jede andere konstruktive Praxis geschaffen. 

Wie dem auch sei, dies ist nicht die Zeit, um in eine detaillierte Diskussion über die Buddha-Natur oder diese Netzwerke zu gehen. Hier ist Folgendes relevant: Wenn wir über die Ursachen dafür sprechen, die Körper eines Buddhas herbeizuführen, die nicht statisch sind – „nicht statisch“ heißt hier, dass sie sich von einem Augenblick zum nächsten ändern und verschiedene Dinge tun – so ist das zuweilen etwas verwirrend, denn alle Körper eines Buddhas sind von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet ewig, was mit „beständig“ übersetzt wird. Die Formkörper eines Buddhas sind ewig, aber dennoch mögen sie in jedem Augenblick verschiedene Dinge tun und in unterschiedlichen Formen erscheinen. 

Im Erlangen dieser Formkörper haben wir eine so genannte herbeiführende Ursache (tib. nyer-len-gyi rgyu) und eine gleichzeitig wirkende Bedingung (tib. lhan-cig byed-pa’i rkyen). Eine herbeiführende Ursache ist wie der Same einer Pflanze. Sie ist das, woraus das Resultat herbeigeführt wird, doch wenn das Resultat erreicht wurde, existiert die Ursache nicht mehr. Die Pflanze oder der Keimling wird durch den Samen herbeigeführt, doch wenn der Keimling da ist, gibt es den Samen nicht mehr. Die gleichzeitig wirkenden Bedingungen für den Keimling wären das Wasser, die Erde usw. Die herbeiführende Ursache für die Formkörper eines Buddha ist das Netzwerk positiver Kraft und die gleichzeitig wirkende Bedingung, die es begleiten muss, wäre das Netzwerk tiefen Gewahrseins. Ich beziehe mich hier auf eine erleuchtungsbildende Variante jedes dieser Netzwerke. 

Für den Dharmakaya des tiefen Gewahrseins eines Buddhas – mit anderen Worten, den allwissenden Geist eines Buddhas – der, obgleich er ewig ist, sich in jedem Augenblick über verschiedene Dinge bewusst ist, während er jedem Wesen im Laufe einer Zeit nützt, ist die herbeiführende Ursache das erleuchtungsbildende Netzwerk tiefen Gewahrseins und die gleichzeitig wirkende Bedingung ist das erleuchtungsbildende Netzwerk positiver Kraft. Diese zwei Netzwerke sind in der Regel Dinge, die wir alle seit anfangsloser Zeit haben. Sie sind Teil eines jeden Geisteskontinuums, weil es eine grundlegende Ebene eines tiefen Gewahrseins gibt, wenn wir von den fünf Arten des tiefen Gewahrseins (spiegelgleiches, gleichsetzendes usw.) sprechen. Für ein Netzwerk positiver Kraft gibt es keinen Anfang, weil wir alle endlos einige konstruktive und einige destruktive Arten von Handlungen ausgeführt haben. Es gibt manche Aspekte der Buddha-Natur, die zum ersten Mal erlangt werden können. In jedem individuellen Geisteskontinuum wird es beispielsweise ein erstes Mal geben, wenn Bodhichitta erzeugt und bis zur Erleuchtung nicht mehr aufgegeben wird, und das wird, wenn es angewendet wird, die samsarabildenden Netzwerke in erleuchtungsbildende Netzwerke umwandeln oder diesen Vorgang in Gang setzen, denn wir können die positive Kraft all unserer Handlungen der Vergangenheit, sowie jene der Gegenwart und Zukunft widmen. 

Wenn wir Bodhichitta zum ersten Mal entwickeln ohne es danach jemals wieder aufzugeben – Bodhichitta ist auch ein Faktor der Buddha-Natur – transformiert es, wenn es mit Widmung ausgeführt wird, die samsarabildenden Netzwerke in erleuchtungsbildende Netzwerke. Natürlich wird jede weitere Meditation, die wir mit Bodhichitta ausführen, wenn wir wirklich ein Bodhisattva werden und über müheloses Bodhichitta (tib. rtsol-med byang-sems) verfügen, weitere erleuchtungsbildende positive Kraft aufbauen. Worauf konzentrieren wir uns nun mit der Bodhichitta-Meditation? Im Allgemeinen sagen wir ja, dass wir uns auf eine noch nicht stattfindende Erleuchtung ausrichten, die jedoch auf der Basis dieser Faktoren der Buddha-Natur stattfinden kann. 

Die Faktoren der Buddha-Natur als Zuschreibungsphänomene  

Hier ist es notwendig zu verstehen, was Zuschreibungsphänomene sind. Reden wir von nicht statischen Phänomenen (Dinge, die sich von einem Augenblick zum nächsten ändern können), geht es um Formen physischer Phänomene, wie Anblicke, Geräusche, Gerüche usw. Wir haben Weisen, sich Dinge gewahr zu sein, also visuelles Bewusstsein, Hörbewusstsein, all die Geistesfaktoren, die Emotionen, Konzentration usw. Diese können sich von einem Augenblick zum nächsten ändern. Dann haben wir bestimmte Phänomene, die sich von einem Augenblick zum nächsten ändern können, sich jedoch in keiner dieser zwei Kategorien befinden, wie zum Beispiel Bewegung. Wir haben eine Aufeinanderfolge von Momenten: unsere Hand befindet sich hier, und dann, im nächsten Moment ist sie in einer etwas anderen Position, und dann wieder in einer anderen Position. Die Bewegung ist ein Zuschreibungsphänomen auf dieser Grundlage. Ein Zuschreibungsphänomen ist ein Phänomen, dass getrennt von einer Grundlage weder existieren noch erkannt werden kann. Die Bewegung der Hand kann nicht unabhängig von einer Hand existieren oder gesehen werden, die sich aufeinanderfolgend an unterschiedlichen Orten befindet. Für die Existenz einer Bewegung als ein Zuschreibungsphänomen ist es nicht erforderlich, dass jemand aktiv ein Phänomen zuschreibt. Bewegung existiert konventionell. Sie kann nichtkonzeptuell gesehen werden. 

In jedem Augenblick haben wir fünf Aggregat-Faktoren, die stattfinden. In diesem Augenblick gibt es den visuellen Anblick eines Tisches, es gibt visuelles Bewusstsein; wir unterscheiden den Tisch (die farbige Form des Tisches) vom Boden, wir nehmen ihn mit einem gewissen Grad an Glücklichsein wahr (einer sehr niedrigen Ebene des Glücklichseins) und es gibt andere Geistesfaktoren der Aufmerksamkeit, des Interesses usw. All das ändert sich jeden Augenblick. Ein individuelles Geisteskontinuum ist ein Zuschreibungsphänomen dieser Reihenfolge sich ändernder Momente der fünf Aggregate, der gegenwärtig stattfindenden fünf Aggregate. Dieses individuelle Kontinuum kann nicht unabhängig von dieser individuellen Reihenfolge der fünf sich im Laufe der Zeit ändernden Aggregate existieren oder erkannt werden; Bewegung ist beispielsweise ein Zuschreibungsphänomen von etwas, das sich im Laufe der Zeit an verschiedenen Positionen im Raum befindet. Auf der Basis eines jeden Augenblicks dieses gegenwärtig stattfindenden Geisteskontinuums existiert ein gegenwärtig stattfindendes bloßes „Ich“ oder konventionelles „Ich“ als ein Zuschreibungsphänomen und auf der Grundlage dieses gegenwärtig stattfindenden bloßen „Ichs“ existiert als ein weiteres Zuschreibungsphänomen die gegenwärtig stattfindende karmische Kraft oder das karmische Potenzial. 

Wenn wir eine konstruktive Handlung ausführen, gibt es eine karmische Kraft oder einen Verdienst; hier reden wir über die konstruktive Art. Das ist übrigens Gelug-Prasangika. Ein Aspekt der karmischen Kraft ist der karmische Impuls der Handlung selbst während der Zeit der körperlichen, verbalen oder geistigen Handlung. Nachdem die Handlung dann vollendet ist, wird die karmische Kraft zu einem Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage des bloßen „Ichs“, das ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage des geistigen Kontinuums ist. Es ist ebenfalls konstruktiv und als ein Zuschreibungsphänomen all der karmischen Kraft, die sich auf diese Weise ansammelt, gibt es ein Netzwerk karmischer Kraft, ein Netzwerk positiver Kraft. 

Hier reden wir insbesondere von dem erleuchtungsbildenden Netzwerk und es gibt zwei Facetten dieses Netzwerkes – „Facette“ (tib. cha) bezieht sich auf „face“ (engl. für Gesicht) oder Aspekt. Ein Aspekt ist dessen Fähigkeit, sein Resultat hervorzubringen, welches momentan noch nicht stattfindet; das Resultat tritt noch nicht auf. Das Netzwerk hat die Fähigkeit, ein Resultat hervorzubringen, aber das Resultat findet noch nicht statt, hat jedoch die Fähigkeit, gegenwärtig stattzufinden. Es ist wichtig, dies zu verstehen. Sind wir uns nicht bewusst darüber, dass es eine Fähigkeit dieses Netzwerkes gibt, ein Resultat hervorzubringen, würden wir nicht das Gefühl haben, Erleuchtung erlangen zu können. Wir müssen überzeugt davon sein, dass wir es können. Wie sind wir nun dazu in der Lage? Wir sind es auf der Basis dieses Netzwerkes. Ein Aspekt dieses Netzwerkes ist die Fähigkeit, ein Resultat hervorzubringen, doch das Resultat findet noch nicht statt. 

Die andere Facette, die hier relevant ist, besteht in dessem zeitweiligen Nicht-Hervorbringen dieses Resultates (tib. re-zhig-gis ma-skye-pa’i cha), und auf der Grundlage des zeitweiligen Nicht-Hervorbringen eines Resultates gibt es ein Noch-nicht-Stattfinden des Resultates als ein Zuschreibungsphänomen. Das ist dann das Noch-nicht-Stattfinden (tib. ma-’ong-pa) unserer Erleuchtung.

Sich auf eine Repräsentation unserer Erleuchtung ausrichten, die noch nicht stattgefunden hat  

Darauf richten wir uns mit Bodhichitta aus: auf das Noch-nicht-Stattfinden unserer Erleuchtung, die auf der Grundlage der Fähigkeit dieser Netzwerke, sie hervorzubringen, stattfinden kann. Worauf fokussieren wir uns in der Meditation? Wir müssen dies irgendwie darstellen und worauf wir uns richten, ist das Resultat, die Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat. Das sind hier zwei verschiedene Dinge: da gibt es das Noch-nicht-Stattfinden der Erleuchtung und die Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat. Das Noch-nicht-Stattfinden ist ein Negierungs-Phänomen, aber wir stellen es mit einem Bestätigungs-Phänomen dar, einer Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat, und das ist eine Art der Form, auf die wir uns richten können. Es ist eine so genannte völlig konzeptuelle Form (tib. kun-brtags-pa’i gzugs) – eine andere Übersetzung dafür ist „völlig imaginäre Form“ – doch dies bedeutet nicht, dass sie nur konzeptuell erkannt werden kann; es ist lediglich eine Übersetzung dieses Begriffes. Es ist eine Form, die nur durch den Geist erkannt werden kann, wie eine Traumform (tib. rmi-lam-gyi gzugs). Weil wir keine erleuchteten Wesen sind, können wir nur eine konzeptuelle Wahrnehmung dieser Art der geistigen Form haben und sie repräsentiert die Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat. Das kann entweder ein visualisiertes Bild eines Buddhas, ein visualisiertes Bild einer Buddha-Gestalt wie Chenrezig oder das eines großen spirituellen Meisters sein (der zur Übertragungslinie gehört oder gegenwärtig präsent ist). Es gibt viele Varianten. 

Dies repräsentiert unsere Erleuchtung, die noch nicht stattfindet, beruhend auf unserem Verständnis des Noch-nicht-Stattfindens dieser Erleuchtung; wir machen uns nichts vor und denken, sie würde momentan stattfinden, aber dieses Noch-nicht-Stattfinden der Erleuchtung ist ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage des zeitweiligen Nicht-Hervorbringens der Erleuchtung dieser Netzwerke, und das Netzwerk hat die Fähigkeit, das Resultat, die Erleuchtung, hervorzubringen. Dieses Netzwerk ist ein Zuschreibungsphänomen all der individuellen karmischen Potenziale oder Kräfte. Diese individuellen Momente karmischer Kraft sind Zuschreibungsphänomene des bloßen „Ichs“, das bloße „Ich“ ist ein Zuschreibungsphänomen des geistigen Kontinuums, und das geistige Kontinuum ist ein Zuschreibungsphänomen all der Momente unserer Erfahrung, bestehend aus fünf Aggregat-Faktoren, die sich ständig ändern. 

Verstehen wir all diese verschiedenen Ebenen von Zuschreibungsphänomenen, können wir, während wir hier sitzen – entweder während der Meditation oder zu einer anderen Zeit – und erleben, wie sich die fünf Aggregate in jedem Augenblick ändern, durch all diese Ebenen der Zuschreibungsphänomene blicken und beruhend darauf gibt es das Noch-nicht-Stattfinden unserer Erleuchtung. Wir können es durch dieses Visualisieren und Fokussieren auf diese Figur repräsentieren, mit der vollen Absicht, eine gegenwärtig stattfindende Erleuchtung zu erlangen. Es ist nicht so, dass wir selbst diese Visualisierung werden wollen – ganz bestimmt nicht, aber uns geht es darum, eine gegenwärtig stattfindende Erleuchtung zu haben. Die Visualisierung repräsentiert nur, was wir erlangen können. Da wir die Fähigkeit dieser Netzwerke kennen, dieses Resultat hervorzubringen – auch wenn sie vorübergehend dieses Resultat nicht hervorbringen werden – haben wir die Absicht, das Resultat zu erlangen, indem wir all die Ursachen schaffen, welche das Erlangen dieses Resultates bewirken werden. All das wird von Liebe und Mitgefühl begleitet.

Das ist eine sehr technische Beschreibung dessen, was wir tatsächlich in der Bodhichitta-Meditation tun. Können wir jedoch technisch verstehen, was vor sich geht, wird es viel leichter, diesen Geisteszustand in der Meditation zu erzeugen und zu wissen, was wir tun. Ansonsten passiert es häufig, dass viele Leute meinen, sie würden Bodhichitta-Meditation ausführen, in der Tat jedoch nur über Liebe und Mitgefühl meditieren, was zwar auch ausgesprochen nützlich, jedoch keine Bodhichitta-Meditation ist. 

Lasst uns versuchen, diese Meditation über Bodhichitta auszuführen. Denkt daran, dass wir uns zunächst auf alle Wesen richten und versuchen, dieses Gefühl von Liebe und Mitgefühl hervorzurufen und uns dann auf unsere individuelle Erleuchtung konzentrieren, die noch nicht stattfindet. Wie Tsongkhapa ausdrücklich betont, sollten wir bei jeder Meditationspraxis wissen, worauf wir uns in dieser Meditation ausrichten (was also in unserem Geist erscheint) und wie unser Geist dieses Objekt erfasst. Hier tun wir es mit der Absicht, es zu erlangen, um allen damit von Nutzen zu sein. 

[Meditation] 

Ich denke, wir können jetzt beginnen, eine Wertschätzung für die absolute Notwendigkeit von Bodhichitta für jede Art der Tantra-Praxis zu haben. In der Tantra-Praxis visualisieren wir uns selbst in der Form einer Buddha-Gestalt mit dem Wissen, dass wir die Fähigkeit haben, sie mit diesen Netzwerken zu erlangen. Wir verstehen, dass sie noch nicht stattfindet, wir machen uns also nichts vor, doch wir stellen uns vor, sie würde momentan stattfinden, und dann visualisieren wir uns selbst, wie wir anderen tatsächlich helfen – mit Lichtern, die ausströmen und das Leiden aller beseitigen – mit der Bodhichitta-Motivation, dass wir früher oder später in der Lage sein werden, dies zu tun. Indem wir jetzt etwas praktizieren, was dem ähnelt, was wir als Resultat erlangen wollen, wird die Übung effizienter und schneller. 

Ohne all die Bodhichitta-Grundlagen, die diesem Visualisierungsvorgang zugrunde liegen, ohne Entsagung (mit der wir uns von unseren gewöhnlichen samsarischen Aspekten abwenden, weil sie voller Leiden sind, und ohne dem Verständnis der Leerheit, die verantwortlich für diese ganze Transformation ist, also ohne diese drei Hauptaspekte des Pfades (Tsongkhapa bezeichnet sie als Entsagung, Bodhichitta und Leerheit), ist die ganze Praxis des Tantra nichts anderes als Verrücktheit. Tantra-Praxis ist keineswegs eine Praxis auf der Anfängerebene. Es ist überaus wichtig, sie nicht für geringfügig zu halten oder sie zu früh auf einer Ebene zu praktizieren, auf der wir nur verwirrt werden und es mehr Schaden als Nutzen geben wird. 

Was geschieht mit dem individuellen Geisteskontinuum, nachdem wir Erleuchtung erlangen? Sie sagten, es gäbe kein universales Geisteskontinuum. Beginnt dann also das individuelle Kontinuum des Geistes nach der Erleuchtung mit etwas anderem oder bleibt es individuell? 

Es bleibt individuell, aber natürlich mit einer anderen Qualität: es ist nicht mehr unerleuchtet und somit nicht mehr begrenzt. In der Nyingma-Terminologie haben wir zwei verschiedene Namen dafür. Es gibt das Wort „Sem“ (sems), was ich mit „begrenzter Geist“ übersetze, und das sich auf einen Geist bezieht, der nicht allwissend ist. Was normalerweise als fühlendes Wesen übersetzt wird, ist „Semchen“ (tib. sems-can), jemand mit einem begrenzten Geist. Buddha hat keinen begrenzten Geist; ein Buddha ist kein begrenztes Wesen. Aus diesem Grund mag ich den Begriff „begrenztes Wesen“ nicht, weil er verwirrend ist. Ein Buddha hat keinen begrenzten Geist oder begrenzten Körper und somit ist ein Buddha kein begrenztes Wesen. In vielen Sprachen klingt die Übersetzung „begrenztes Wesen“, als würden wir über einen Behinderten reden, was nicht die Bedeutung ist; obwohl man gewissermaßen behindert ist, wenn man nicht alles wissen und allen helfen kann. In der Nyingma-Terminologie haben wir den Begriff „Rigpa“ (rig-pa), der „reines Gewahrsein“ bedeutet und sich auf die Art des Geistes eines Buddhas bezieht; er ist unbegrenzt und die Basis, die auch unserem begrenzten Geist zugrunde liegt. 

In bestimmten Arten der Hindu-Philosophie gibt es die Vorstellung, dass alle Flüsse, alle Ströme, in den Ozean fließen und mit der Befreiung alle Geisteskontinua eins werden, doch das ist keineswegs die buddhistische Sicht. Ein Geisteskontinuum von Maitreya Buddha ist nicht das gleiche Geisteskontinuum oder die gleiche Erleuchtung wie die von Shakyamuni Buddha. Die Ebene des Erlangens ist die gleiche: sie sind beide gleichermaßen allwissend und kennen alles. Bestimmte Wesen haben jedoch das Karma, von Shakyamuni Buddha Hilfe zu bekommen und andere Wesen haben das Karma, von Maitreya Buddha gesegnet zu werden. Somit sind sie individuell im Sinne ihrer Erfahrung, anderen zu helfen. Sie behalten diese Individualität. In vielen unserer buddhistischen Übungen gestehen wir ein, dass wir nicht das Karma haben, um Buddha Shakyamuni zu treffen und direkt bei ihm lernen zu können. Daher gibt es die Maitreya-Gebete, die von allen tibetischen Mönchen und Nonnen täglich rezitiert werden, um diese karmische Verbindung aufzubauen, tatsächlich in der Gegenwart von Maitreya Buddha studieren zu können. 

Widmung 

Lasst uns mit der Widmung enden. Wir denken: „Möge alles Verständnis und alle positive Kraft, die aus dieser Diskussion entstanden sind, sich immer weiter vertiefen und als Ursache dafür wirken, zum Wohle aller Wesen Erleuchtung zu erlangen.“ 

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