Der Unterschied zwischen einem gesunden und einem übertriebenem Ego
Zunächst ein paar Fragen. In der Pause gab es die Frage nach dem Unterschied zwischen dem Selbst und dem „Ich“. Da die Frage von einem Psychologen gestellt wurde und hier die Fachausdrücke etwas anders sind, geht es in der Frage, glaube ich, darum, was der Unterschied ist, zwischen dem – laut der buddhistischen Terminologie – unmöglichen oder falschen „Ich“, das widerlegt werden muss, und dem konventionellen „Ich“, was man in der Psychologie als „gesundes Ego“ und „übertriebenes Ego“ bezeichnen würde. Denn aus buddhistischer Sichtweise sind die Worte „Ich“ und „Selbst“ dasselbe. Wie ich das sehe, geht es in der Frage also um diese zwei begrifflichen Bezugssysteme.
Wenn wir in der Psychologie vom Ego reden, sprechen wir von einem bewussten Geisteszustand, mit dem wir uns gedanklich auf das „Ich“ beziehen. Ich werde dies nicht aus der Sichtweise einer bestimmten Schule erklären, sondern nur ganz allgemein. Beziehen wir uns gedanklich auf das „Ich“, im Sinne des konventionellen „Ichs“, so ist im Buddhismus die Rede vom Objekt des Geistes. In Bezug auf ein konventionelles „Ich“ wäre das ein gesundes Ego. Beziehen wir uns jedoch gedanklich auf das „Ich“ im Sinne eines unmöglichen „Ichs“, das falsche „Ich“, handelt es sich um ein übertriebenes Ego. Dabei geht es um etwas, das nicht existiert, unmöglich ist und nicht existieren kann.
Ein Beispiel wäre: „Ich existiere nicht nur als eine solide Entität, sondern bin auch der Mittelpunkt der Welt. Ich bin der oder die Wichtigste und es sollte immer nach meinem Kopf gehen.“ Die buddhistische und die psychologische Analyse stehen nicht im Widerspruch zueinander, aber die buddhistische Analyse geht vielleicht etwas tiefer darauf ein, was das unmögliche und das konventionelle „Ich“ wirklich ist.
Lernen, mit Problemen zu leben
Viele Therapien sind folgendermaßen aufgebaut: „Man hat bestimmte Probleme und die Therapie wird einem helfen, mit ihnen besser leben zu können.“ Im Buddhismus geht es hingegen darum, die Ursachen der Probleme loszuwerden und sie vollkommen zu beseitigen, und nicht nur zu lernen, damit zu leben. Zu lernen, mit unseren Problemen zu leben, ist natürlich ein erster und wichtiger Schritt. Im Buddhismus sprechen wir von der anfänglichen Ebene, auf der wir, wenn eine störende Emotion auftritt, sie nicht ausleben, sondern uns vielmehr in Selbstbeherrschung üben. In gewissem Sinne lernen wir, damit zu leben, aber wie Shantideva sagt, sind Dinge wie Wut der wahre Feind und nicht etwas, mit dem man Frieden schließen kann. Sie liegen im Hinterhalt und kommen zurück, um uns erneut anzugreifen und für Probleme zu sorgen. Es geht also nicht einfach darum, mit den Problemen Frieden zu schließen und zu lernen, in einer Ecke des Geistes mit ihnen zu leben, sondern sie vollkommen zu beseitigen.
Wir schließen mit problematischen Situationen Frieden, wenn wir keine andere Wahl haben, als bestimmte Dinge zu akzeptieren. Vielleicht müssen wir akzeptieren, dass wir in einer Gruppe von Minderheiten geboren wurden, dass sich unsere Eltern bereits getrennt haben, bevor wir zur Welt kamen, dass wir in einem Ghetto aufgewachsen sind oder was auch immer. Wir müssen diese Realität annehmen und gewissermaßen Frieden damit schließen, anstatt unser gesamtes Leben damit zu verbringen, uns zu beschweren und zu denken, jeder würde uns etwas schulden, weil wir es im Leben wirklich schlecht erwischt haben. Auf dieser Grundlage, damit Frieden geschlossen und die Realität akzeptiert zu haben, versuchen wir dann jedoch etwas zu verbessern und aus der Schattenseite dieser Situation herauszukommen. Wir wenden Methoden des Geistestrainings, Lojong, an, um negative Umstände zu positiven zu wandeln.
Gilt die gleiche Logik, die Sie gerade verwendet haben, auch für Krankheiten.
Ja natürlich. Haben wir eine schwere Krankheit, macht es keinen Sinn deswegen zu lamentieren und sich selbst zu bemitleiden. Das wird gewiss nicht helfen. Vielmehr versuchen wir, widrige Umstände in positive zu verwandeln. Zunächst ist es jedoch notwendig, sich einzugestehen, dass die Krankheit leidvoll und nicht wirklich schön ist. Wir leugnen nicht die unangenehmen Seiten einer ernsthaften Krankheit. Es hilft nichts, so zu tun, als wäre sie nicht furchtbar; es ist schrecklich, wenn wir Krebs, Multiple Sklerose oder eine Lähmung haben. Aber wir müssen die Realität akzeptieren.
Mann könnte sagen, das grundlegendste Prinzip im Buddhismus ist: „akzeptiere die Realität“ – verstehe die Realität und akzeptiere sie. Projiziere nicht zahllose unmögliche Fantasien. Wandle widrige Umstände in positive. Es gibt viele Wege, dies zu tun. Ein Freund von mir hatte beispielsweise einen Gehirntumor, der ihm entfernt wurde. Danach wandte er sich ernsthaft dem Buddhismus zu, denn mehr als je zuvor wurde ihm die kostbare menschliche Wiedergeburt bewusst, die er besaß, und die Zeit, die ihm noch blieb. Daraus wollte er nun das Beste machen und sie nicht mehr einfach vergeuden. Es half ihm also, viel stärker auf dem buddhistischen Pfad zu werden.
Habt ihr jemals die folgende Definition gehört: „Das Leben ist eine sexuell übertragbare Krankheit, die in 100 Prozent der Fälle tödlich endet“? Das ist sehr zutreffend. Wir mögen jetzt ein kostbares menschliches Leben haben, aber es wird enden und die Sterblichkeitsrate liegt bei 100 Prozent. Es ist einfach nur eine Frage des Wann, deren Antwort wir nie kennen. Haben wir eine wirklich schwere Krankheit, werden wir die Realität, mit der wir alle konfrontiert sind, viel ernster nehmen. Wir sollten uns auch daran erinnern, dass eine völlig gesunde Person viel früher sterben kann als wir, obwohl wir vielleicht eine chronische Krankheit haben. Man kann beispielsweise jederzeit von einem Auto überfahren werden.
Ein anderer Freund von mir mit Multipler Sklerose bekam schwere Lähmungserscheinungen und war schließlich auf einen Rollstuhl angewiesen. Er hatte bereits davor Buddhismus studiert und, ähnlich wie der andere Freund mit dem Gehirntumor, nahm er es nun viel ernster. Er machte eine Ausbildung zum Psychologen und begann andere zu beraten, die gelähmt waren oder ähnlich schwere chronische Krankheiten hatten. Weil er selbst an solch einer Krankheit litt, war er in einer viel besseren Lage, um Ratschläge zu erteilen, ohne das andere ihm etwas verübeln konnten. Wenn jemand, der völlig gesund ist, anderen Anweisungen gibt oder ein Sehender zu einem Blinden sagt: „Du bist zwar blind, aber mach dir nichts draus“, dann hat das nicht die gleiche Wirkung, als wenn es von jemandem kommt, der ähnliche Probleme hat. Ob es nun darum geht, blind zu sein, Krebs zu haben oder HIV-positiv zu sein, ist es möglich, diese widrigen Umstände in positive zu verwandeln, wodurch wir dann in der Lage sein werden, uns nicht nur spirituell weiterzuentwickeln, sondern auch anderen besser helfen zu können. Und damit wir nicht in Selbstmitleid fallen, ist die Grundlage dafür, wie bereits gesagt, sich einzugestehen: „Ja, es ist furchtbar“. Das ist die erste edle Wahrheit, das wahre Leiden.
Übungen
Lasst uns nun mit unseren Übungen weitermachen. Wir haben mit Familienmitgliedern gearbeitet und uns auf unsere Mutter und unseren Vater fokussiert. Wenn wir nicht gerade zu diesen wirklich glücklichen Menschen gehören, die wunderbare Eltern und eine richtig gute Beziehung mit beiden haben, war die Übung mit einem oder beiden eventuell nicht so einfach. Vielleicht haben wir gemerkt, dass wir uns dagegen gesträubt haben, ihre guten Eigenschaften zu finden; es war schwierig, sie auszumachen. Es ist jedoch fast unmöglich, dass jemand nur schlechte Eigenschaften hat. Womöglich haben sie uns gegenüber in erster Linie schlechte Eigenschaften gezeigt, aber was ist mit jenen Qualitäten, die sie anderen gegenüber gezeigt haben? Vielleicht ist das ein ganz anderer Bereich, ein ganz anderer Aspekt dieser Person. Das bedeutet, wir haben die Grundlage für die Bezeichnung unserer Mutter oder unseres Vaters lediglich auf die Aspekte ihrer Interaktion mit uns beschränkt, und die Mehrheit davon war negativ. Es gilt also, die Grundlage für die Bezeichnung unserer Mutter oder unseres Vaters auszuweiten und uns gedanklich auf ihr gesamtes Leben zu beziehen: ihre Interaktionen mit allen anderen, ihre Beziehungen zu ihren eigenen Eltern und so weiter. Auf diese Weise bekommen wir eine etwas objektivere Perspektive in Bezug auf den einen oder anderen Elternteil, oder auf irgendjemanden in dieser Übung.
Diese Übung ist natürlich nicht einfach; keine der buddhistischen Übungen sind einfach. Wenn jedoch geistige Blockaden und Schwierigkeiten auftauchen, sind sie im Grunde wirklich gut. Wie Tsongkhapa stets betonte, muss man das zu widerlegende Objekt erkennen, um es widerlegen zu können. Es ist also notwendig zu erkennen, woran wir arbeiten müssen, bevor wir mit der Arbeit beginnen können. Verdeutlicht wird das in der Aussage: Wenn man das Ziel nicht sehen kann, wird man nicht in der Lage sein, es mit einem Pfeil zu treffen.
Wir haben mit unserer Mutter und unserem Vater gearbeitet und können leicht verstehen, wie wir dies auf die verschiedenen anderen Mitglieder unserer Familie ausweiten können. Auch wenn wir keine enge Beziehung oder viel Austausch mit ihnen hatten, so spielt das keine große Rolle, denn in gewissem Sinne stammen wir aus dieser Familie. Wir können uns trotzdem die guten Eigenschaften dieser Personen ansehen. Wenn wir denken, unsere Familie ist einfach nur ein Haufen von Chaoten, was sind wir dann? Das heißt doch nur, sie haben noch mehr davon hervorgebracht. Ich glaube es ist wirklich wichtig, ein positiveres Gefühl gegenüber jenen zu haben, die uns in die Welt gesetzt haben, und zwar nicht nur gegenüber unseren Eltern, sondern gegenüber der ganzen Familie.
Fokus auf unser Heimatland
Lasst uns also weitermachen und uns unserem Heimatland zuwenden. Danach würde ich auch gern noch auf die ursprüngliche Religion eingehen, in die wir hineingeboren wurden. Ich weiß, dass es in einem Land wie Mexiko etwas schwierig ist, den Einfluss des mexikanischen Charakters von dem des Katholizismus zu trennen. Hier geht es nicht um Identität, sondern um Einfluss; die Einflüsse der mexikanischen Kultur und die des Katholizismus sind wahrscheinlich schwer voneinander zu trennen. Lasst uns aber darüber nachdenken, ob es neben dem Katholizismus noch andere Eigenschaften der mexikanischen Kultur und Mentalität gibt, die positiv und ein Teil von uns sind.
- Um damit zu beginnen, beruhigen wir unseren Geist.
- Dann entwickeln wir eine fürsorgliche Geisteshaltung: „Ich bin ein Mensch, ich habe Gefühle, ich möchte glücklich und nicht unglücklich sein.“ Wir müssen nicht in alle Details gehen.
- Im nächsten Schritt denken wir an etwas, das unser Land repräsentiert.
In der Übung mit den Eltern haben wir uns ein Bild der Personen vorgestellt, das sie repräsentiert. Das ist viel schwieriger, wenn wir an unser Heimatland denken, ob es sich nun um die Menschen hier in Mexiko oder Kuba, in Deutschland oder den Vereinigten Staaten handelt. Sich eine Flagge oder Karte vorzustellen, ist ja etwas albern. Aber auch wenn es sich nur um den Namen des Landes handelt, sollten wir so gut wie möglich versuchen, unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten.
- Wir können an die Mängel und negativen Eigenschaften denken und erkennen, dass sie aus Ursachen und Umständen hervorgegangen sind und es nichts nützt, daran hängenzubleiben oder deswegen zu klagen. Wir belassen es dabei,
- und wenden uns den guten Eigenschaften des Landes zu. Welche guten Eigenschaften haben wir durch unsere Herkunft entwickelt? Wir richten uns auf diese Fakten mit der festen Überzeugung, dass es wirklich gute Eigenschaften sind, und wir tatsächlich durch sie beeinflusst wurden.
- Und dann versuchen wir den Nutzen zu erkennen, den wir aus unserer Herkunft gezogen haben und werden uns bewusst darüber, was wir daraus gelernt haben.
- Haben wir das erkannt, versuchen wir ein Gefühl der tiefen Wertschätzung und des Respekts für unsere Herkunft zu entwickeln. Das bedeutet nicht, wie fanatische Patrioten mit unseren Flaggen herumzuwedeln, sondern realistisch und nicht übertrieben zu sein.
- Dann versuchen wir die Inspiration hervorzubringen, diese Eigenschaften weiterzuentwickeln.
Fokus auf unsere ursprüngliche Religion
Im Anschluss denken wir an unsere Religion, in die wir hineingeboren wurden.
- Wir denken an die Religion unserer Familie.
Sie muss nicht unbedingt der herrschenden Religion des Landes entsprechen. Es kann jedoch auch sein, dass wir in der Schule eine religiöse Ausbildung bekommen haben, die nicht der unserer Familie entsprach; solche Fälle kann es natürlich auch geben. Wenn man in keine bestimmte Religion hineingeboren wurde, kann man an Glaubensvorstellungen denken, die einem eingeträufelt wurden, als man noch jünger war.
Dies versuchen wir uns in unserem Geist vorzustellen, damit wir darüber nachdenken können. Wir können es einfach nur mit einem geistigen Wort tun, es muss nicht so spezifisch sein. Es ist nicht notwendig, ein Kreuz oder ähnliches zu visualisieren, außer wenn es hilfreich ist.
- Wir denken an die Mängel und negativen Eigenschaften, wenn es welche gibt, und sind uns bewusst, dass sie auf Ursachen und Umstände zurückzuführen sind. Wir entscheiden uns, dass es nichts nützt, uns damit weiter zu beschäftigen und eine große Sache daraus zu machen, aber wir leugnen sie auch nicht. Dann belassen wir es dabei.
- Als nächstes denken wir an die guten Eigenschaften der Religion und die Qualitäten, die wir durch den Einfluss dieser Religion übernommen haben. Auch wenn wir uns von dieser Religion abgewandt haben, ist es fast unmöglich, dass sie uns nicht auch positiv beeinflusst hat.
- Wir sind fest davon überzeugt, dass diese guten Eigenschaften tatsächlich vorhanden sind und sie wirklich einen guten Einfluss auf uns hatten.
- Nun erkennen wir den Nutzen, den wir aus diesem religiösen Hintergrund gezogen haben und werden uns bewusst, was wir durch ihn gelernt und bekommen haben.
- Wir fühlen tiefe Wertschätzung und Respekt für diese Religion.
- Und wir versuchen die Inspiration hervorzubringen, diese Eigenschaften weiterzuentwickeln.
Alles miteinander integrieren
- Jetzt stellen wir uns unsere Mutter und unseren Vater vor uns vor, sowie etwas, was unsere nationale und religiöse Herkunft repräsentiert. Wir denken an die guten Eigenschaften, die wir von unseren Müttern übernommen haben. Gelbes Licht strahlt zu uns aus und füllt uns mit Inspiration, diese weiterzuentwickeln. Gelbes Licht kommt von ihrem Herz in unser Herz.
- Dann fügen wir die guten Eigenschaften hinzu, die von unserem Vater kamen. Licht strahlt auch von seinem Herz aus, sodass jetzt Lichter von beiden Herzen ausstrahlen und damit die Qualitäten von beiden zu uns kommen.
- Dann nehmen wir die nationale Prägung mit hinzu, den positiven Einfluss, den wir dadurch bekommen haben.
- Um all das zu integrieren, brauchen wir vielleicht eine Art Stichwort oder Kernphrase, die all die positiven Dingen von jedem repräsentiert, und wiederholen sie, um sie alle frisch zu halten.
- Schließlich fügen wir die guten Eigenschaften und den Einfluss mit hinzu, den wir durch unsere ursprüngliche Religion übernommen haben und verbinden somit alle vier miteinander.
- Das integrierte Ganze all dieser positiven Eigenschaften stellen wir uns nun als gelbes Licht vor, das von uns wie von einer Sonne zum Nutzen aller ausstrahlt.
- Wir versuchen es einwirken zu lassen und denken: Möge alle positive Kraft und alles Verständnis, die daraus entstanden sind, als Ursache dienen, diese positiven Eigenschaften wirklich nutzen zu können und Erleuchtung zum Wohle aller zu erlangen.
- Langsam kehren wir aus diesem meditativen Zustand zurück.
Leerheit ist maßgeblich für diese Übungen
Eine weitere Sache, die man hier hinzufügen muss, ist unser Verständnis der Leerheit und des geistigen Bezeichnens. Es ist notwendig, über dieses Verständnis als ein Gefäß dieses gesamten Vorgangs zu verfügen. Eine Möglichkeit dafür ist, am Anfang, bevor man mit diesem Vorgang beginnt, darüber nachzudenken, und unser Verständnis darüber am Ende zu bekräftigen. Wir beginnen also damit zu verstehen, dass es so etwas, wie ein solides „Ich“, nicht gibt. Ich existiere, aber auf Seiten des „Ichs“ gibt es nichts Auffindbares, was die Kraft hat zu begründen, dass ich existiere. Das Einzige, wodurch meine Existenz begründet wird, ist, dass es das Konzept „Ich“ und das Wort „Ich“ gibt, und „Ich“ ist lediglich das, worauf sich dieses Konzept und Wort auf der Basis all der sich ständig ändernden Dinge bezieht, die ich im Leben erfahre. Diese verschiedenen Aspekte, die ich erlebe, entstehen durch zahlreiche Ursachen und Bedingungen, und sie haben viele Bestandteile. Somit ist nichts solide an der Grundlage und auch nicht an dem Zuschreibungsphänomen „Ich“, das untrennbar mit dieser Grundlage verbunden ist.
Die Meditation, die wir gelernt haben, schafft eine positive Basis für unsere konzeptuelle Bezeichnung des „Ichs“ und auch ein positives Gefühl eines integrierten Ganzen, was wir als ein gesundes Ego bezeichnen würden, wie wir es bereits in Bezug auf ein konventionelles „Ich“ besprochen haben. Das „Ich“ wird in diesem Sinne bezeichnet. Befassen wir uns mit diesem Vorgang in Form einer Tantra-Praxis und einer Buddha-Gestalt, würden wir dieses Gefühl eines „Ichs“, welches all dem zugeschrieben ist, als „Stolz der Gottheit“ bezeichnen, als ein Gefühl, dies tatsächlich zu sein.
Zum Schluss ist es wichtig sich daran zu erinnern, dass das „Ich“ nicht identisch mit irgendeiner dieser Aggregat-Komponenten ist. Es ist auch nichts, was völlig getrennt davon existiert. Es ist nichts, was diese Dinge besitzt oder sich in ihnen befindet, als würde es in einem Haus leben. Auch ist es nicht wie der Chef, der nun über all diese Komponenten verfügt und sie benutzen kann. Das „Ich“ ist auch nicht identisch mit der Gesamtheit dieser Grundlage, als wäre die Gesamtheit all dessen eine Sache, die durch dieses integrierte Licht nach außen ausstrahlt, denn ganz offensichtlich ändern sich all die Teile in jedem Augenblick unterschiedlich schnell, wie wir es auch bei den Aggregaten gesehen haben. Jede dieser Komponenten ist durch Ursachen und Umstände entstanden: die Eltern sind auf bestimmte Art und Weise aufgewachsen, das Land hat sich in gewisser Weise entwickelt und so weiter; an all dem ist nichts Solides. Dennoch – das ist unser großes „dennoch“ – sind wir auf der Grundlage all dessen in der Lage, anderen zu helfen und Erleuchtung zu erlangen. Das ist wichtig, denn sonst könnten wir unmögliche Existenzweisen projizieren und meinen: „ich bin dieses große Licht“ und uns damit, oder mit diesem oder jenem Aspekt identifizieren und unser Ego künstlich aufblasen.
Die letzten Schritte
Gehen wir noch die anderen Schritte kurz durch.
Nachdem wir all diese Kategorien des positiven Einflusses auf uns durch unsere Familie, unseren kulturellen und religiösen Hintergrund, sowie durch das, was wir durch unsere Lehrer und Freunde gelernt haben, durchgegangen sind, könnte es hilfreich sein, eine Liste mit Personen und Dingen jeder dieser Kategorien zu erstellen. Man kann sie aufschreiben und daneben in Stichworten die positiven Dinge notieren, die wir durch sie bekommen haben. Wann immer wir wollen, oder falls wir es als tägliche Übung betrachten, könnten wir jeden morgen die Liste, die wir erstellt haben, durchlesen. Das ist viel effektiver, als immer wieder zu versuchen, sich an alles zu erinnern – obwohl es idealerweise besser wäre, sich nicht auf die Liste stützen zu müssen, aber es ist natürlich viel einfacher. Eine Liste durchzugehen ist eine Anlehnung an die gewöhnliche tibetisch-buddhistische Praxis des Lesens eines Sadhana, der im Grunde ein Text ist, in dem es darum geht, was wir versuchen zu visualisieren und zu meditieren. Es stammt aus dieser Tradition.
In jeder dieser Gruppen würden wir uns die Menschen oder Repräsentationen der Gruppe um uns herum vorstellen und während wir die positiven Eigenschaften vorlesen oder rezitieren, die wir von jedem von ihnen übernommen haben, visualisieren wir mit fester Überzeugung, Wertschätzung und Respekt, wie von jedem von ihnen gelbes Licht ausgeht und zu uns strahlt. Zunächst können wir uns jeder Sache einzeln widmen, oder, wenn das nicht notwendig ist, überspringen wir einfach diese Phase und kommen zur nächsten, in der wir zuerst eine Sache visualisieren und dann eine nach der anderen hinzufügen, sodass es aufeinanderfolgend statt einzeln geschieht.
Am Ende jeder Gruppe haben wir eine völlige Integration aller einzelnen Teile, wie unsere gesamte Familie oder all unsere Freunde, und auch wenn wir beispielsweise die Qualität eines Freundes nicht vollständig besitzen, könnte es eine Eigenschaft geben, die wir wirklich bewundern und gern entwickeln wollen. Nachdem wir dann alle Gruppen durchgegangen sind, versuchen wir nacheinander ein Gefühl für jede der gesamten Gruppen zu entwickeln. Zunächst wenden wir uns also der Familie und ihrem Einfluss zu, dann dem gesamten nationalen und religiösen Hintergrund, und schließlich unseren Freunden und dem, was wir gelernt haben und so weiter. Am Ende versuchen wir dann, alles auf kumulierende Weise zusammenzufügen. Stichworte für jedes dieser Dinge zu haben, macht es etwas einfacher, denn für die meisten von uns, wird es sich um eine umfangreiche Liste handeln.
Wir strahlen das Licht der gesamten integrierten Sache aus und helfen damit anderen. Denkt daran, dass wir stets damit beginnen, uns zu beruhigen und eine fürsorgliche Geisteshaltung mit dem Verständnis der Leerheit zu entwickeln. Zum Schluss bekräftigen wir dieses Verständnis der Leerheit und wie wir das „Ich“ all dem zuschreiben.
Es ist ziemlich komplex, wie eine Art Sadhana-Praxis, also etwas, das wir mit der Zeit und Praxis Stück für Stück aufbauen müssen. Am besten ist es, sich im Allgemeinen auf die ganze Sache zu richten, sich jedoch auf einen Aspekt zu fokussieren, und beim nächsten Mal auf einen anderen Aspekt. Auf diese Weise bauen wir es allmählich auf.
Ein Schritt auf dem Weg zur Tantra-Praxis
Dies könnte einige Zeit in Anspruch nehmen. Jene, die vertraut sind mit der Tantra-Praxis, werden den Bezug zu einem Tantra-Sadhana bemerken. Wir beginnen mit der Leerheit und stellen uns dann vor, wir wären eine Buddha-Gestalt, oft umgeben von anderen Buddha-Gestalten und einem Mandala, mit vielen Armen, Beinen, Gesichtern, verschiedene Objekte in den Händen haltend, die für die verschiedenen positiven Eigenschaften stehen. Wir haben das Gefühl, das integrierte Ganze dieser gesamten Sache zu sein. Es handelt sich also um genau die gleiche Struktur, aber vielleicht ist sie etwas zugänglicher. Wie in einem Sadhana stellen wir uns vor, wie Licht mit all diesen Qualitäten zum Nutzen aller von uns ausgeht. Wir senden Licht aus, machen damit Opfergaben an die Buddhas und zeigen somit Respekt gegenüber den Quellen all dieser Qualitäten. Am Ende der Praxis widmen wir uns wieder der Leerheit und erscheinen in einer einfacheren Form, genauso, wie wir auch diese Praxis beenden.
Diese Praxis-Form kann also eine hilfreiche Methode sein, die für uns vielleicht etwas zugänglicher ist und bestimmten Prinzipien folgt, die wir in einem Aspekt des Tantra finden. Wir sollten jedoch nicht denken, Tantra wäre nur dies. Es ähnelt jedoch dem Tantra, ist zugänglicher und erfordert keine Rituale oder Ähnliches. Vielleicht kann es für uns ein Schritt auf dem Weg sein, um dann mit Tantra-Methoden zu arbeiten – aber es ist kein Ersatz, sondern lediglich ein Zwischenschritt. Die meisten von uns mit einer westlichen Herkunft haben eine ganz andere Denkweise und eine andere Art, an sich selbst zu arbeiten, als es im traditionellen Buddhismus der Fall ist. Was wir brauchen, ist eine Brücke zwischen diesen zwei Denkweisen und den Herangehensweisen der Arbeit an uns selbst, um uns selbst zu helfen. Vielleicht kann diese Methode, die wir an diesem Wochenende vorgestellt haben, als eine Brücke zwischen westlicher Psychologie und Tantra dienen.
Um es noch einmal zu verdeutlichen: In einer täglichen Praxis würden wir einfach jeden Tag den Geist beruhigen, eine fürsorgliche Geisteshaltung entwickeln, uns der Leerheit zuwenden, die Liste durchgehen, die beschriebene Praxis ausführen und sie mit Leerheit und der Widmung beschließen.
Was wir hier gemacht haben, war ein Erforschen zum Erschaffen unserer eigenen persönlichen Liste. Für eine vollständigere Arbeit an uns selbst in dieser Weise würde ich das von mir entwickelte Programm „Ausgewogene Sensibilität entwickeln“ empfehlen. Diese Ausführung war lediglich eine Beigabe oder Ergänzung dazu. In dem Programm „Ausgewogene Sensibilität entwickeln“ gibt es zwanzig Übungen, von der jede so umfangreich ist wie diese, was den Umgang mit den verschiedenen Aspekten betrifft, die uns helfen werden uns auf dem spirituellen Weg zu entwickeln, um anderen gegenüber hilfreicher sein zu können.
Lasst uns hier mit einer abschließenden Widmung enden. Wir denken: möge alles Verständnis und alle positive Kraft, die daraus entstanden sind, immer tiefer gehen und als Ursache dienen, Erleuchtung nicht nur für uns, sondern zum Wohle aller Wesen zu erlangen.
Vielen Dank.