Die Anweisungen des Fünften Dalai Lama zum Guru-Yoga

Ein Guru ist ein großer Lehrer, ein großer spiritueller Meister oder Mentor, jemand, der uns nicht nur das Wissen der Schriften vermitteln kann, sondern auch fähig ist, durch sein eigenes Vorbild zu lehren, indem er ein lebendiges Beispiel dafür ist, was Buddha gelehrt hat. Es ist jemand, der echte Liebe und echtes Mitgefühl hat und dadurch seine Schüler und alle anderen dazu befähigt, glücklich und nicht unglücklich zu sein und sich von ihrem Leid zu befreien und dessen einzige Motivation darin besteht, anderen zu helfen. Das ist außerordentlich wichtig. Er ist nicht daran interessiert, die Schüler auszubeuten, um Geld, Berühmtheit, Liebe und Aufmerksamkeit zu erlangen. Sein Verhalten ist vollkommen ethisch und er muss nicht unbedingt ein Mönch oder eine Nonne sein. Des weiteren besitzt er gute Konzentration, ein gutes Verständnis der Lehre, insbesondere der Leerheit; und aufgrund dieses guten Verständnisses der Leerheit hat er nur ein geringes Maß an störenden Emotionen. Ich glaube, es gibt kaum jemanden, der vollkommen frei davon ist.. Außerdem hat er in gewissem Maß die Fähigkeit zu lehren, Dinge mit Geduld und Enthusiasmus deutlich zu erklären und lässt sich nicht durch Schüler entmutigen, die etwas langsamer sind und denen er ständig alles wiederholen muss.

In allen Schriften wird gesagt, es wäre schwierig jemanden zu finden, der alle Qualifikationen aufweisen kann. Im Großen und Ganzen geht es darum, jemanden zu treffen, der möglichst viele dieser Qualifikationen besitzt. Seien wir realistisch: wir werden niemanden finden, der vollkommen perfekt ist. Und es ist überaus wichtig, dass der Lehrer ehrlich in Bezug auf seine eigenen guten Eigenschaften und Unzulänglichkeiten ist und weder vorgibt Qualitäten zu besitzen, die er nicht hat, noch seine Mängel zu verstecken. Auf diese Weise ist alles klar und offen. Das gleiche gilt für die Schüler. Es geht nicht darum, in persönliche und intime Details zu gehen, sondern um den Charakter.

Wir sehen das an Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama. Seine Heiligkeit erklärt vielleicht etwas sehr Schwieriges in unglaublichen Einzelheiten, aber wenn er dann zu einem Wort oder einem Absatz in einem Text kommt, den er nicht versteht, sagt er das ganz deutlich: „Ich verstehe nicht, was das bedeutet. Das ist mir nicht klar.“ Und dann fragt er die großen Meister, die während seinen Belehrungen neben ihm sitzen: „Was denkt ihr, was das bedeuten könnte?“ Manchmal kann tatsächlich jemand die Frage beantworten und dann fängt Seine Heiligkeit an, mit ihm zu debattieren und es zu untersuchen. Seine Heiligkeit ist immer offen, etwas zu lernen; er gibt immer zu, wenn er etwas nicht versteht. Und jeder ist sich darin einig, dass er der Gelehrteste und Fortgeschrittenste unter allen Tibetern ist. Das ist völlig klar.

Dies ist ein sehr gutes Beispiel und ich kann aus eigener Erfahrung und durch Bestätigung anderer sagen, dass dies den Glauben und die Überzeugung in Seine Heiligkeit noch verstärkt. Denn wenn er zugibt, zwei Passagen in diesem hoch komplizierten und schwierigen Text nicht zu verstehen, kann man sich sicher sein, dass er alles andere sehr wohl versteht. Wahrscheinlich ist niemand dazu in der Lage, diese zwei Passagen zu verstehen und vielleicht handelt es sich auch um einen Fehler im Text, was oft passiert, denn diese Texte wurden vor Jahrhunderten mit der Hand kopiert. Oder aber die tibetische Übersetzung ist nicht korrekt. Wir sollten nicht denken, die Texte wären alle vollkommen fehlerfrei. Wenn man sie sich anhand der Sanskrit-Texte ansieht, kann man immer wieder Fehler entdecken, die entstanden sind, weil der Übersetzer nicht gut genug war oder weil ein anderes Manuskript benutzt wurde, denn es gab keine Standard-Versionen dieser Texte auf Sanskrit. Serkong Rinpoche betonte immer: „Stellt alles in Frage, was keinen Sinn ergibt. Akzeptiert es nicht einfach, sondern untersucht es.“ Auch wenn es sich um eine Schrift handelt, ist es nicht so, dass die Worte alle heilig wären und wir nie tiefer nachforschen sollten; es gibt Fehler in ihnen.

So bedeutet beispielsweise „Yoga,“ sich mit dem zu verbinden, was authentisch ist. Dabei handelt es sich, genau genommen, um die Buddhanatur-Qualitäten, die Buddha-Qualitäten des Lehrers. Wir verbinden uns nicht mit seinen Fehlern oder Mängeln. Also auch wenn der Lehrer nicht sehr qualifiziert sein mag, jedoch mehr Qualifikationen als Mängel besitzt, können wir jede Menge Inspiration und Hilfe dadurch bekommen, indem wir uns mit diesen guten Eigenschaften verbinden. Sich zu verbinden bedeutet, dadurch inspiriert zu werden und Kraft zu bekommen, damit wir selbst diese Qualitäten verwirklichen können, beruhend auf unserer eigenen Buddhanatur  und der des Lehrers. Das ist die Essenz des Guru-Yoga.

Wenn wir es auf diese Weise betrachten, dass wir uns durch die guten Eigenschaften des Lehrers inspirieren lassen können, verstehen wir auch, wie es möglich ist, jeden als unseren Lehrer zu sehen. Man kann von allen lernen, selbst von einem Hund. Egal wie sehr man ihn anschreien mag, weil er alles schmutzig gemacht oder irgendetwas angestellt hat, und egal wie hart man ihn dafür bestraft, so wird der Hund uns doch immer treu bleiben und uns lieben. Auf diese Weise können wir den Hund als unseren Lehrer betrachten und Inspiration von ihm schöpfen. Sogar wenn wir durch jemanden gelernt haben, wie man sich nicht verhalten sollte, haben wir von ihm gelernt, nicht den gleichen Fehler zu machen. Tatsächlich macht es viel Sinn und ist ziemlich tiefgreifend, jeden als unseren Lehrer zu betrachten, anstatt auf den Mängeln oder Fehlern unserer Lehrer herumzureiten, denn das bringt uns nicht weiter. Ebenso sollten wir uns auch nicht auf die Fehler anderer konzentrieren, denn dies hat keinen Nutzen für uns. Es sei denn, man versucht jemandem zu helfen, diesen Fehler zu korrigieren oder zu überwinden, aber dann müssen wir das mit einer korrekten und altruistischen Motivation machen.

Ich wiederhole und betone das, weil viele von uns nicht den idealen Lehrer haben, einen, der uns wirklich inspirieren und tief berühren kann. Wir haben andere Lehrer, aber wir können trotzdem mit ihnen die Praxis des Guru-Yoga ausführen. Es müssen nicht immer nur die Gründer unserer Übertragungslinie sein, obwohl das natürlich sehr hilfreich und sie normalerweise für die Standardpraxis benutzt werden, sei es nun Tsongkhapa, Guru Rinpoche, Drigungpa Jigten Gönpo oder wer auch immer. Aber, auch wenn wir die Praxis mit einem Gründer der Übertragungslinie machen, sollten wir etwas über das Leben dieser Person wissen; ansonsten ist es nicht wirklich sinnvoll. Aber ich glaube, wir können auch mit unseren nicht so wahnsinnig inspirierenden Lehrern Guru-Yoga praktizieren und auf einer gewissen Ebene Inspiration erfahren, denn wir haben zweifelsohne irgendetwas von ihnen gelernt. Warum würden wir sonst zu ihm gehen, wenn wir nichts von ihm lernen würden? Nur weil er gerade in unserem Dharma-Zentrum ist und andere Leute auch hingehen ist nicht genug als Grund, wenn wir nichts von diesem Lehrer lernen. Ich glaube es war Sakya Pandita, der sagte: „Wir sollten nicht wie ein Hund anfangen zu bellen, wenn alle anderen Hunde bellen.“

Wir haben also begonnen, über die Praxis des Guru-Yoga, der Guru-Meditation, zu sprechen und ich habe erwähnt, dass es diesbezüglich eine Sutra- und eine Tantra-Ebene gibt. Auf der Tantra-Ebene werden im Grunde nur ein paar Dinge hinzugefügt. Sie ist keine Alternative für die Praxis Sutra-Ebene, sondern hat lediglich ein paar zusätzliche Elemente. Die Sutra-Ebene hilft uns im Wesentlichen das richtige Gefühl, die richtige Geisteshaltung zu entwickeln und auf der Tantra-Ebene werden einfach einige bildliche Details und andere Dinge hinzugefügt, die uns helfen, Inspiration zu schöpfen. Auf der Tantra-Ebene stellen wir uns außerdem auch vor, erneut die Initiation vom spirituellen Lehrer zu empfangen. Aber ohne die Grundlage eines korrekten Gefühls und einer korrekten Geisteshaltung, die durch die Sutra-Meditation aufgebaut werden, ist das Ganze einfach nur eine unterhaltsame Visualisierung, ohne viel Inhalt. Es fällt auf die Ebene einer unterhaltsamen Visualisierung herab, wenn keine Gefühle und keine Entwicklung einer rechten Geisteshaltung gegenüber dem Lehrer dahinter stecken. Da könnten wir auch gleich Micky Maus visualisieren!

Jetzt geht es weiter mit der Praxis auf der Sutra-Ebene. Wir haben mit der siebengliedrigen Praxis begonnen, um positive Kraft aufzubauen. also Verbeugungen, Opfergaben usw. Es ist nicht notwendig, das hier zu wiederholen. Danach erinnern wir uns daran, welchen Nutzen es hat, sich auf die guten Eigenschaften des Lehrers zu konzentrieren und welche Nachteile es mit sich bringt, sich auf die Fehler auszurichten und an ihnen hängenzubleiben. Der nächste Schritt stammt aus dem Lam-rim-Text des Fünften Dalai Lama. Laut ihm ist es notwendig, sich über die Unzulänglichkeiten des Lehrers bewusst zu werden und alle Unstimmigkeiten aus dem Weg zu räumen, die da sein mögen und bei denen es sich vielleicht nur um Projektionen unsererseits handelt. Vielleicht wird die Person manchmal wütend, ungeduldig oder weist jemanden zurecht und das sind dann keine richtigen Mängel. Mein Lehrer hat mich andauernd zurechtgewiesen; er hat es jedoch voller Mitgefühl getan, um mir zu helfen und daher war es wirklich angebracht. Aber es mag andere Aspekte des Lehrers geben, die wie grobe Fehler aussehen mögen. Vielleicht kann er uns eine bestimmte Sache nicht vermitteln, die wir gerne lernen würden. Aber manchmal denken wir auch: „Mein Lehrer hat kaum Zeit für mich. Mein Lehrer ist ständig unterwegs. Mein Lehrer ist mit anderen Schülern beschäftigt.“ usw. Es mag sich nicht um einen Mangel im endgültigen Sinne handeln, aber um etwas, das uns unzufrieden macht.

Der wesentliche Punkt ist, diese Gefühle der Unzufriedenheit und Kritik hochzubringen, damit wir uns damit auseinandersetzen und sie bereinigen können, damit sie uns nicht behindern. Denn wenn wir uns nicht damit befassen, können sie unsere Geisteshaltung gegenüber dem Lehrer beeinträchtigen. Der Fünfte Dalai Lama ist ein sehr guter Psychologe und hat ein gutes Verständnis von diesen Dingen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die guten Eigenschaften des Lehrers richten, heißt das nicht, die Mängel völlig zu ignorieren. Das wäre nicht gesund. Außerdem ist es sehr hilfreich, wenn der Lehrer aufrichtig in Bezug auf diese Dinge ist. Manchmal spricht er nicht unsere Sprache und das ist auch so eine Sache, die oft ziemlich irritierend für uns ist. Wie gesagt geht es also darum, die konventionellen Unstimmigkeiten aus dem Weg zu räumen. Wenn es da etwas gibt, ist es wichtig zu überprüfen, ob es wahr ist oder nicht. Gibt es andere Belege dafür? Wenn der Lehrer einem anderen Schüler viel Zeit widmet und uns nicht, könnte es auch an uns liegen, weil wir vielleicht nicht so empfänglich sind, wie der andere. Viele von uns denken, sie wären wie Milarepa, aber das ist nicht der Fall.

Ein anderes Beispiel wäre zu denken, der Lehrer würde etwas nicht richtig verstehen, dabei vereinfacht er es nur, damit wir es leichter verstehen können. Dann liegt der Fehler in unserer Projektion. Wir denken, der Lehrer sei dumm, weil er es auf so einer einfachen Ebene erklärt. Tatsächlich hat er jedoch ein sehr viel tieferes Verständnis, aber wir könnten es nicht begreifen, wenn er es uns auf dieser Ebene erklären würde. Daher vereinfacht er es für uns. Es handelt sich also um unsere Projektion. Recht gut wird dies durch folgendes Beispiel verdeutlicht: Wenn man einem tibetischen Lehrer zuhört, der nicht wirklich gut Englisch spricht und dann etwas auf Englisch erklärt, mag man einen völlig falschen Eindruck von ihm bekommen. Wenn man aber selbst Tibetisch beherrscht und sich mit ihm auf Tibetisch unterhalten, oder seine Belehrungen auf Tibetisch hören würde, bekäme man ein ganz anderes Bild von dieser Person und ihrer Ebene des Verständnisses, ihrer Ebene, sich ausdrücken zu können usw. Es handelt sich um unsere Projektion. Das ist sehr wichtig für jene von uns, die tibetische Lehrer haben, die in schlechtem Englisch unterrichten. Man bekommt einen Eindruck davon, wie sie in ihrer Muttersprache reden, wenn sie ihre eigenen Leute unterrichten.

Außerdem ist es wichtig, darüber zu meditieren, dass sogar die konventionellen, tatsächlich existierenden Mängel des Lehrers frei davon sind, als inhärente Makel zu existieren – beispielsweise zu denken, der Lehrer wäre von Natur aus schlecht – und zu erkennen, dass sie durch Ursachen und Wirkungen entstehen. Sie sind nicht Teil der Buddhanatur, sie können beseitigt werden und der Lehrer arbeitet an diesen Dingen. Es ist sehr wichtig, sich auch in dieser Hinsicht darüber bewusst zu sein, was konventionell korrekt ist; was ist die konventionelle Wahrheit und was ist die tiefste Wahrheit. Die Natur des Geistes ist rein von solchen Dingen.

Nachdem wir das getan haben, kann es hilfreich sein, den gleichen Vorgang auch mit unseren eigenen Mängeln als Schüler durchzugehen. Der Fünfte Dalai Lama erwähnt dies nicht, aber ich denke, es passt sehr gut hierher. Es gibt eine lange Liste von Qualifikationen eines geeigneten Schülers. Entsprechen wir dem und können wir die Vorzüge eines vollkommen qualifizierten spirituellen Lehrers bestmöglich nutzen? Sind wir nur der Hund des spirituellen Meisters, oder sind wir ein geeigneter Schüler? Natürlich wollen wir ein guter Schüler sein. Ein qualifizierter Schüler kann viel größeren Nutzen von dem spirituellen Meister ziehen, als der Hund. Beide mögen eine enge Beziehung zu ihm haben, tatsächlich mag er mehr Zuneigung gegenüber dem Hund haben, als gegenüber uns.

Zuallererst sollte der Schüler dem Dharma gegenüber empfänglich sein. Der große Sakya-Meister Sönam Tsemo (bSod-nams rtse-mo) sagte in seinem Buch „Das Tor zum Eintritt in den Dharma“ (Chos-la ’jug-pa’i sgo), dass wir unsere eigenen Mängel erkennen müssen und den starken Wunsch hegen sollten, sie zu überwinden. Der ist ein sehr wichtiger Punkt. Darum geht es bei der Entsagung, nicht wahr? Viele von uns sind nicht bereit dazu, ehrlich gegenüber sich selbst zu sein und die eigenen Fehler einzugestehen. Und auch wenn wir es tun, wollen wir verhandeln und sie nicht einfach aufgeben, sondern nur gute Eigenschaften bekommen. Wir müssen also einen starken Wunsch hegen, frei von ihnen zu werden und auch bereit dazu sein.

Zuerst gilt es, die Fehler zu erkennen und dann als nächstes den Wunsch zu haben, sie loszuwerden. Drittens geht es darum, Wissen über den Dharma zu entwickeln, damit wir darauf vertrauen können, dass uns der Dharma eine Methode anbieten kann, diese Probleme überwinden zu können. Wir sollten nicht einfach nur blind daran glauben, weil wir nie etwas über den Dharma erfahren haben. Dabei muss es sich gar nicht um tiefgreifendes Wissen handeln, sondern uns zumindest eine Vorstellung davon vermitteln, um was es beim Dharma geht. Warum sollte man sonst weiter in die Tiefe gehen wollen.

Der große indische Meister Aryadeva wies folgendermaßen auf die grundlegenden Qualitäten in Bezug auf den Charakter des Schülers hin: Zuerst geht es darum, ehrlich und unvoreingenommen zu sein. „Ehrlich“ bezieht sich, wie bereits erwähnt, darauf, ehrlich gegenüber sich selbst, gegenüber den eigenen Fehlern und gegenüber den eigenen guten Eigenschaften zu sein. Und „unvoreingenommen“ bedeutet, keine vorgefassten Meinungen zu haben, die vielleicht ganz und gar nicht hilfreich sind und nichts mit der Realität zu tun haben. Es geht darum, keine Partei zu ergreifen und keine sektiererische Einstellung gegenüber den Lehren Buddhas zu haben. Mit anderen Worten sollten wir aufgeschlossen und ohne vorgefasste Meinungen bereit dafür sein, zu lernen. Wir sollten aufrichtig gegenüber dem Lehrer sein und ihm nicht etwas vorspielen, als würden wir versuchen, uns selbst gut zu verkaufen. Man sieht beispielsweise den Lehrer kommen und nimmt sofort eine formelle Meditationshaltung ein. Auf diese Weise spielen wir ihm nur eine Komödie vor.

Wenn wir zum Beispiel etwas Neues lernen, was einen Sinn ergibt, jedoch laut unserer alten Geisteshaltung oder unserem alten Glaubenssystem Unsinn war, ist es wichtig, bereit dazu zu sein, diesen alten Glauben fallenzulassen. Das bedeutet es, unvoreingenommen zu sein und es ist nicht einfach. Wie sehr sind wir dazu bereit uns zu ändern? Wenn wir dem Dharma folgen, müssen wir wirklich großen Mut beweisen, denn es ist notwendig, tatsächlich bereit dazu zu sein, sich zu ändern, zu wachsen, sich zu entwickeln und das heißt, die alten und nutzlosen Gewohnheiten, Denkweisen und Verhaltensweisen aufzugeben. Das ist die Bedeutung davon, unvoreingenommen und offen zu sein. Ohne das können wir keine wirklich guten Schüler sein. Wir müssen aufrichtig sein, daran arbeiten und bereit sein, einige Dinge loszulassen und andere nicht. Es ist wichtig, feinfühlig damit umzugehen, aber letztendlich können wir uns davon befreien.

Shantideva hat das sehr schön formuliert. Laut ihm, werden uns alle anderen Feinde vielleicht helfen, glücklicher zu werden, wenn wir sie gut behandeln und uns nach ihnen richten, aber was unsere störenden Emotionen betrifft, werden sie uns lediglich noch mehr Leid und Schmerz zufügen. Es ist wichtig, sanft gegenüber sich selbst zu sein. Wenn wir versuchen, zu schnell vorwärtszukommen und beispielsweise gleich alles aufgeben, ist es oft so, dass es zu viel für uns wird und wir wieder zurückfallen, weil alles in uns rebelliert. Dann ist uns alles zu viel. Also: Schritt für Schritt. Wenn Menschen erst seit drei Monaten beim Dharma sind und sich dann ordinieren lassen, ein Mönch oder eine Nonne werden wollen, ist das sehr gefährlich. Meist bleiben sie dann nicht dabei. Wir schauen also auf unsere eigenen Mängel.

In der Liste von Aryadeva geht es dann, nach der Aufrichtigkeit und der Unvoreingenommenheit, damit weiter, einen gesunden Menschenverstand zu haben, um zwischen dem unterscheiden zu können, was Sinn und was keinen Sinn ergibt, und nicht einfach etwas blind zu glauben. Als Beispiel wird angeführt, im Winter, wenn es kalt ist, warme Kleidung zu tragen und nicht im Sommer. Wir nutzen unseren gesunden Menschenverstand. Der Schüler muss einen gesunden Menschenverstand haben, denn wenn wir jegliches Denken aufgeben und meinen, der Lama wüsste schon alles, öffnen wir uns für Missbrauch. Die dritte Eigenschaft ist reges Interesse, ernsthaftes Interesse am Dharma zu haben und gewissenhaft zu sein, nicht nur ein Dharma-Tourist, ein Dilettant. Es ist sehr wichtig, in dieser Hinsicht ernsthaft zu sein.

Zusammenfassend kann man sagen, dass es sehr wichtig ist, gegenüber dem Dharma, gegenüber uns selbst und gegenüber dem Lehrer eine gewisse Reife und Ebene der emotionalen Stabilität zu haben. Wenn wir schwerwiegende psychologische Probleme haben, sind wir nicht bereit für die Dharma-Medizin. Dann muss man mit anderen Dingen beginnen, die in diesem Bereich helfen können; sei es professionelle psychiatrische Fürsorge, Medikamente oder etwas anderes. Wenn jemand große innere Probleme hat und versucht, den Dharma zu praktizieren, ist es sehr wahrscheinlich, dass dies noch größere Störungen hervorrufen wird. Man kann nicht jemanden zum Unterricht bringen, der Schizophrenie hat und erwarten, er würde auf wundersame Weise geheilt werden.

Ein Kadampa-Geshe, ich habe vergessen, welcher es war, sagte einmal: Wenn ein Schüler kommt, der einen guten Charakter hat und wirklich sehr ernsthaft ist, sollte man ihn als Schüler akzeptieren, auch wenn er nicht sehr intelligent ist. Und wenn er nicht lernt, liegt das am Lehrer, weil er vielleicht nicht geschickt genug ist. Wenn jedoch jemand kommt, der sehr intelligent, aber unglaublich arrogant und engstirnig ist, sollte man ihn nicht unterweisen, denn er ist kein guter Schüler, da er nicht empfänglich ist. Das kann sehr hilfreich sein, besonders, wenn wir nicht der Intelligenteste sind. Es liegt am Lehrer, genügend Geschick zu beweisen, jemanden zu belehren, bei dem es etwas länger dauert, bis er es versteht. Wenn der Schüler einen ernsthaften und guten Charakter besitzt und bereit ist, etwas zu lernen, liegt es nur am Geschick des Lehrers. Und wenn der Lehrer damit nicht umgehen kann, sollte man zu einem anderen Lehrer gehen. Wenn der Lehrer damit nicht klarkommt, ungeduldig ist und uns anschreit, weil wir so langsam sind, dann ist er nicht der richtige Lehrer für uns. Bei Faulheit ist das etwas anderes – dann braucht man jemanden, der strikt ist.

Wir gehen also diese Aspekte unserer Mängel durch. Der Vorgang ist der gleiche – wir heben sie nicht zu sehr hervor, betrachten sie aber auf korrekte und aufrichtige Weise. Und es ist wichtig, sie nicht als inhärente Makel zu sehen, sondern als etwas, das überwunden werden kann. Die Natur des Geistes, die Buddhanatur, ist rein. Die Fehler werden nicht von allein weggehen, sondern wir müssen daran arbeiten; alles hat eine Ursache und eine Wirkung. Dieser zweite Punkt ist übrigens sehr wichtig, wenn wir durch unsere Mängel ein niedriges Selbstwertgefühl haben.

Wir können dann das gleiche mit unseren guten Eigenschaften machen, obwohl das wiederum nicht in dem Text des Fünften Dalai Lamas erwähnt wird. Aber es wird indirekt darauf hingewiesen und meiner Meinung nach ist es sehr hilfreich. Und meines Wissens wäre es, psychologisch gesehen, am besten, mit den guten Eigenschaften zu beginnen. Wir fangen mit den guten Eigenschaften an und schauen, um welche es sich dabei handelt. Sind sie konventionell korrekt? Wir schauen sie uns an, ohne sie zu sehr auszuschmücken und sie hochzuspielen. Und wir sehen sie nicht als inhärente Wunder – sie entstanden durch Ursache und Wirkung, entweder in diesem oder in vergangenen Leben.

Das gleiche machen wir dann mit den guten Eigenschaften des Lehrers. Welche sind korrekt? Und auch hier handelt es sich nicht um inhärente Wunder. Selbst Buddha Shakyamuni musste erst die Ursachen dafür schaffen. Es wird ganz deutlich in den Texten beschrieben, dass er nicht schon von Geburt an so war und um Erleuchtung zu erlangen, musste er daran arbeiten, so wie wir auch. Viele von uns, hier im Westen, leiden unter niedrigem Selbstwertgefühl, welches in vielfacher Hinsicht unser kulturelles Erbe ist. Wenn wir also mit unseren Fehlern beginnen, würden wir uns noch schlechter in Bezug auf uns selbst fühlen. Wir beginnen also mit den Unzulänglichkeiten des Lehrers, denn auch der Lehrer hat Fehler. Wenn wir uns auf unsere eigenen Fehler richten, nachdem wir uns auf die guten Eigenschaften des Lehrers konzentriert haben, denken wir vielleicht: „Der Lehrer ist so toll und ich bin gar nichts, im Vergleich.“ Stattdessen beginnen wir mit unseren starken Seiten und das wird uns helfen, kein schlechtes Gefühl gegenüber uns selbst zu haben. Wir haben all diese guten Eigenschaften und unser Lehrer hat sogar noch mehr. Ich denke, aus psychologischer Sichtweise ergibt diese Anordnung einen Sinn und deswegen empfehle ich es so zu tun. Wie gesagt, ergänzen wir den tibetischen Text ein wenig, in dem nur davon die Rede ist, sich die Unzulänglichkeiten des Lehrers anzusehen. Traditionell sind die älteren Texte im Buddhismus ziemlich kurz gehalten. Aber man wird immer ermutigt, alle Dharma-Lehren zusammenzufassen. Athisha hat diesen Punkt sehr deutlich betont. Und wenn man versucht, diese kurzen Texte zu ergänzen, fügt man ein paar Dinge von anderen Aspekten dieser Lehren hinzu. Das mache ich hier, zumindest versuche ich es. Laut Atisha ist es wichtig zu erkennen, dass alle Lehren harmonisch zusammenpassen.

Nachdem wir also die Mängel des Lehrers und unsere eigenen Mängel durchgegangen sind, sowie unsere guten Eigenschaften und die des Lehrers, fokussieren wir uns auf die guten Eigenschaften des Lehrers. Wenn wir über die korrekte Geisteshaltung gegenüber dem Lehrer sprechen, geht es in den Schriften dabei um zwei Aspekte. Der eine ist der Glaube (mos-pa, feste Überzeugung) an die guten Eigenschaften und der zweite ist die Wertschätzung (gus-pa) der Güte des Lehrers. Es ist wichtig zu verstehen, was das Wort „Glaube“ bedeutet. Im Deutschen haben wir hier ein Problem, denn das Wort Glaube steht sowohl für Glaube im Sinne von Überzeugung [engl.: belief], als auch für religiöse Gläubigkeit [engl.: faith]. Uns geht es hier nicht um religiöse Gläubigkeit. Ich werde ihnen den Unterschied erklären.

Hier ist die Rede von dem Glauben an das, was wahr (dad-pa), was eine Tatsache ist. Die religiöse Gläubigkeit wird, zumindest im Englischen, mit blindem Glauben gleichgesetzt. Es geht also nicht darum, an den Weihnachtsmann zu glauben, denn dabei handelt es sich nicht um eine Tatsache. Auch geht es nicht darum zu glauben, dass es morgen regnen wird. Bei dieser Art des Glaubens wissen wir es nicht, sondern ahnen es nur; bestenfalls ist es eine fundierte Vermutung. Hier geht es um den Glauben an eine Tatsache, wie beispielsweise, dass die Erde rund ist. Sowohl im Tibetischen, als auch im Sanskrit hat das Wort diese Bedeutung. Die anderen Bedeutungen, die unser westliches Wort „Glaube“ hat, gibt es hier nicht. Wir  glauben etwas, was man überprüfen kann und was eine Tatsache ist und nicht an einen Gott, den man nicht wirklich überprüfen und festlegen kann – wir müssen das Wagnis der Gläubigkeit eingehen. Es geht um etwas, das man feststellen kann. Gott kann nicht ausfindig gemacht werden. Es ist reiner Glaube.

In den Schriften werden drei Arten von Glaube erwähnt. Hier ist ausdrücklich die Rede davon, an die guten Eigenschaften des Lehrers zu glauben, die er tatsächlich besitzt und nicht einfach nur zu glauben, er hätte Qualitäten, die er in Wirklichkeit nicht hat. Das wäre reine Fantasie.

Die erste Art des Glaubens habe ich als „Glauben mit klarem Verstand” (dang-ba’i dad-pa) übersetzt. Im Tibetischen steht dafür einfach nur das Wort „klar.“ Es weist auf eine Art des Glaubens an eine Tatsache hin, die unseren Geist von störenden Geisteshaltungen diesbezüglich reinigt. Das haben wir durch den vorangegangenen Schritt bereits verwirklicht. Wir sind nicht naiv in Bezug auf diese Qualitäten, wir haben kein niedriges Selbstwertgefühl: „Oh, der Lehrer ist so großartig, ich bin so klein, in bin so dumm.“ Wir haben unseren Geist von diesen störenden Emotionen gereinigt, beispielsweise wütend zu sein, weil der Lehrer diese Mängel hat usw. Wir haben unseren Geist von diesen Dingen befreit und glauben an das, was Tatsache ist – mit klarem, ruhigen Herzen und Geist. Das ist sehr wichtig. Dies können wir erreichen, indem wir die Fehler durchgehen und schauen, was tatsächlich der Wahrheit entspricht und was nicht. Wir sind nicht naiv, eifersüchtig oder arrogant gegenüber dem Lehrer, indem wir denken: „Ich bin so viel besser als der Lehrer.“ Von all diesen Dingen müssen wir uns befreien – Eifersucht, Arroganz usw.

Wenn wir uns über diese Qualitäten, die der Lehrer besitzt, ohne zu übertreiben vollkommen im Klaren sind, untermauern wir unseren Glauben mit dem so genannten „überzeugten Glauben“ (yid-ches-kyi dad-pa), was soviel bedeutet wie an eine Tatsache aus Vernunftsgründen zu glauben. Ein überzeugter Glaube ist ein Glaube auf der Grundlage der Vernunft. Wir denken an den Weg, den der spirituelle Lehrer gegangen ist, um diese Eigenschaften zu entwickeln: das ganze Studium, die Retreats, die Beziehung zu seinen Lehrern usw. Und wir betrachten auch seine Taten, die positive Wirkung auf andere Schüler und auf uns selbst; all die Dinge, durch die diese guten Eigenschaften zum Ausdruck kommen. Wenn wir mit dem Lehrer zusammen sind, vermehren sich unsere störenden Emotionen nicht, sondern nehmen ab. In diesem Sinne haben wir einen überzeugten Glauben auf der Grundlage von Ursache und Wirkung – die Ursachen, die zu diesen Qualitäten beigetragen haben und die Auswirkungen, die diese Qualitäten auf das Verhalten des Lehrers und auf andere Menschen haben. Das ist eine Tatsache. Der Lehrer hat sich auch auf seine Lehrer gestützt, auf die Beziehung zu seinen eigenen Lehrern – das ist von großer Bedeutung. Und diese Beziehung ist frei von Fantasie und frei von störenden Emotionen. Wir verfangen uns nicht darin, denn sonst handelt es sich im Grunde einfach nur um blinde Verehrung unserer eigenen Projektion. Das wäre nicht gerade hilfreich, denn irgendwann würde das für uns zu einer großen Enttäuschung führen.

Die dritte Art des Glaubens an eine Tatsache ist „der strebende Glaube an eine Tatsache“ (mngon-’dod-kyi dad-pa), der Glaube mit einem Wunsch oder Streben. Wir haben darüber nachgedacht, wie der Lehrer diese Qualitäten erlangt hat und nun richten wir uns, mit Glauben auf die Tatsache, dass es sich bei diesen Qualitäten um etwas handelt, was erreichbar ist und was wir schließlich auch selbst erreichen können. Das ist das angestrebte Ziel und mit überzeugtem Glauben, dass wir es selbst erreichen können, werden wir daran arbeiten, diese Qualitäten selbst zu entwickeln, um allen von Nutzen sein zu können, so wie auch unser Lehrer allen von Nutzen ist. Es ist also nicht nur ein Glaube, dass der Lehrer diese Qualitäten besitzt, sondern ein Glaube, dass wir diese Qualitäten erreichen können und ein Glaube daran, dass wir sie erreichen können, wenn wir daran arbeiten. Wir glauben daran, dass wir es umsetzen werden. Wir machen uns nicht nur etwas vor.

Wir beschließen das Ganze, indem wir uns auf diese feste Überzeugung und den Glauben an den Lehrer richten und ihn tief in uns einsinken lassen. Wir vertrauen dem Lehrer auf der Grundlage dessen, dass die Situation der Realität entspricht. und konzentrieren uns auf all diese Gefühle, die wir hier hervorgerufen haben. Wir lassen sie uns durchdringen und tief in uns einsinken. Dadurch bekommen wir ein starkes Gefühl der Überzeugung und Kraft. Wir wissen, was wir tun und es hat eine solide Grundlage: Überzeugung und Vertrauen. Das Wort, welches hier benutzt wird (mos-pa), bedeutet soviel wie eine Art Glaube an eine Tatsache, eine Entschlossenheit, die unverrückbar ist. Egal was andere auch sagen mögen, wir haben es wirklich gut überprüft. Nur wenn wir etwas nicht gut untersucht haben, kann es geschehen, dass wir beginnen, an dem Lehrer zu zweifeln, wenn uns jemand etwas über ihn erzählt. Wenn wir es aber wirklich gut untersucht haben, kennen wir die Mängel des Lehrers und unsere Überzeugung und unser Vertrauen in den Lehrer sind unverrückbar.

Ich habe am Freitagabend versucht, dies ein wenig am Beispiel meiner eigenen Erfahrung mit dem alten und den jungen Serkong Rinpoche zu erklären. Wir sollten nicht naiv in Bezug auf seine jetzigen Qualitäten als Zwanzigjähriger sein und natürlich auch nicht Bezug auf jene, als er vier oder acht Jahre alt war. Wir sind überzeugt und haben Vertrauen in die Entwicklung, in die Samen, die da sind; wir wissen, dass es funktioniert und fühlen uns geführt, beschützt und natürlich unglaublich inspiriert, nicht nur in diesem Leben. Wir sehen es als langwierigen Prozess, bis hin zur Erleuchtung. Dieser Weg hat offensichtlich nicht erst in diesem Leben begonnen und wird weitergehen, weil wir die feste Absicht haben, dass er weitergehen wird und wir schaffen die Ursachen dafür, dass die Beziehung zum Lehrer weiter bestehen wird.

In der siebengliedrigen Praxis heißt es: „Bitte führe mich bis hin zur Erleuchtung,“ und das bedeutet, über viele Leben hinweg, nicht wahr? Es ist eine Beziehung, die weitergehen wird. In jedem Leben wird diese Beziehung natürliche eine etwas andere Form annehmen, aber wir sind überzeugt, dass der Lehrer uns bis hin zur Erleuchtung führen wird und das gibt uns ein hohes Maß an Stärke und Stabilität. Und es ist interessant, wenn man über das Wort „Hingabe“ nachdenkt. Einer meiner Schüler, ein sehr enger Schüler, wies mich auf etwas hin. Auf meiner Webseite rede ich manchmal darüber, wie wichtig es ist, dass die intellektuellen und emotionalen oder hingebungsvollen Aspekte in der Praxis in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Ich dachte immer, bei mir selbst wäre die hingebungsvolle Seite eher schwach. Ich mag keine Rituale und ich mag es auch nicht, den Lama wie eine alte tibetische Frau anzubeten, oder all diesen strikten Regel zu folgen, wie beispielsweise in der Gegenwart des Lehrers nicht auszuatmen usw. Das gefällt mir überhaupt nicht. Deshalb meine ich, nicht besonders viel Hingabe zu haben. Vielleicht muss ich da etwas ausgleichen. Dieser enge Schüler wies mich jedoch darauf hin, wie viel Hingabe ich gegenüber meinen Lehrern habe. Oder auch was meine Webseite betrifft, mit der ich versuche, den Dharma so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen. Was bedeutet denn eigentlich Hingabe? Meinen wir damit blinde Verehrung und das Imitieren der Gesten anderer Menschen? Besonders wenn man aus einer anderen Kultur stammt, sieht das manchmal wirklich albern aus. Oder meinen wir damit dieses starke Vertrauen in das, was man tut, oder den Glauben an den eigenen Lehrer? Und so habe ich versucht, eine andere Sichtweise diesbezüglich zu entwickeln, was Hingabe wirklich bedeutet. Die Grundlage dafür ist Guru-Yoga.

Es gibt zwei Aspekte. Was unsere Geisteshaltung betrifft, haben wir Vertrauen in einen Lehrer – wir glauben an die Tatsachen, die guten Eigenschaften des Lehrers und schätzen seine Güte. Wir wenden uns dieser Güte des Lehrers zu und entwickeln eine Wertschätzung dafür. Ich denke, hier können wir einen Schritt hinzufügen, wie wir es auch bei den Qualitäten des Lehrers getan haben. Wir können uns unserer Gefühle bewusst werden, die wir vielleicht haben, weil er nicht wirklich gütig uns gegenüber war. Wir untersuchen auch die so genannte „schädliche Form der Regression.“ In diesem Fall denken wir: „Mami und Papi haben mich nicht wirklich lieb,“ oder: „niemand liebt mich.“ All diese Dinge könnten hier hochkommen. Wir projizieren eine Regression, wir gehen zurück in die Vergangenheit und wir tun es nicht auf eine positive, sondern auf eine schädliche, selbstzerstörerische Weise. Wir versuchen das hochzubringen, um diese konventionellen Unstimmigkeiten und Übertreibungen im Verhalten unseres Lehrers bereinigen können. Wir denken: „Er liebt mich nicht wirklich,“ und: „Wenn er mich wirklich lieben würde, würde er seine ganze Zeit nur mit mir verbringen.“ Wie kindisch wir sein können! Und dann sind wir eifersüchtig auf das neue Baby, den neuen Bruder oder die neue Schwester. Das ist schädliche Regression und viele von uns haben Probleme damit. Wir sind uns dessen nicht so bewusst, aber diese kindischen Gefühle kommen hoch und wir müssen sie bereinigen.

Wir fokussieren uns also auf die korrekten Fakten der Güte des Lehrers – was er für uns getan hat, wie er uns behandelt hat – und wir richten uns auch darauf, wie er sich verhalten hat. Auf dieser tiefsten Ebene, sind wir frei davon zu denken, er wäre von Natur aus rücksichtslos oder grausam, oder er würde nicht genug Zeit mit uns verbringen usw. Mein Guru war nicht sehr freundlich zu mir. Er hat mich ausgeschimpft und mich ständig einen Idioten genannt, was den Tatsachen entsprach. Ich hätte also denken können: „Nun, er hat mich nicht geliebt. Er mochte mich nicht. Er war grausam.“ Es stimmt, dass er mich ausgeschimpft hat, allerdings war er damit sehr gütig mir gegenüber. Es weist nicht darauf hin, dass er von Natur aus ein grausamer Mensch war, der umher ging und jeden anschrie. Mit anderen hat er das beispielsweise nicht getan. Da hätte ich dann denken können: „Warum schreit er ständig nur mich an und nicht die anderen?“ Aber darum geht es nicht.

Dann konzentrieren wir uns darauf, in welcher Weise der Lehrer gütig zu uns war. Hier ist es sehr wichtig, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass Menschen manchmal auf andere Weise Güte zeigen, als wir es normalerweise erwarten und wie wir es in der Regel gern hätten. Das betrifft nicht nur unseren spirituellen Lehrer, sondern auch Mitglieder unserer Familie, besonders unsere Eltern, aber auch Freunde. Menschen zeigen Güte auf vielfältige Weise. Einer meiner Freunde, ein Psychologe, hat eine Analogie dafür benutzt. Menschen benutzen verschiedene Währungen. Wir müssen bereit sein, ausländische Währungen zu akzeptieren und sie als Geld anzuerkennen. Wenn man uns also Schweizer Franken, Euros, US-Dollar, Pfund oder Polnische Zloty aushändigt, akzeptieren wir es, obwohl wir es nicht wirklich für Geld halten mögen.

Und so lieben es die Asiaten – besonders asiatische Vaterfiguren – uns ihre Liebe manchmal auf ganz andere Weise zu zeigen, als wir es erwarten würden. Zum Beispiel sind sie sehr strikt mit uns. Wenn sie uns nicht lieben würden, wäre es ihnen egal; dann würden sie gar nichts tun. Doch sie kümmern sich um unser Wohlergehen. Der Vater arbeitet beispielsweise, um genug Geld zu verdienen, damit er uns unterstützen kann. Das mag nicht sehr liebevoll aussehen, aber das ist nicht die Art und Weise, wie diese Person uns ihre Liebe zeigt. Wir müssen also verstehen, in welcher Währung sie uns bezahlen und es nicht einfach nur akzeptieren, sondern auch wertschätzen. Diese Emotion wollen wir hier entwickeln. Natürlich wäre es ideal, wenn wir das tun können, solange die Person noch am Leben ist und wir Umgang mit ihr haben. Manchmal können wir es erst später tun, nachdem sie bereits gestorben ist. Aber es ist von großer Wichtigkeit diese Phase durchzugehen und ihre Güte zu schätzen.

Außerdem versuchen wir auch wieder, diese Güte nicht überzubewerten und als inhärente Gewogenheit zu sehen und zu denken, wie toll er doch ist. Wenn wir es hilfreich finden, können wir unsere Aufmerksamkeit auch auf uns selbst richten und uns als frei davon betrachten, angeborene Makel zu besitzen, die aus ihrer eigenen Kraft heraus dazu führen würden, dass wir inhärent unwürdig seien, Güte und Liebe erfahren zu dürfen. Das führt dann oft zu niedrigem Selbstwertgefühl. Vielleicht denken wir: „Ich bin von Natur aus so ein schlechter Mensch und ich habe es nicht verdient, geliebt zu werden und Güte zu erfahren.“ Das ist eine schwierige Einstellung und behindert zweifellos eine gute und gesunde Beziehung mit einem spirituellen Lehrer.

Hier ist es notwendig, unser Verständnis der Leerheit anzuwenden. Es gibt nichts Inhärentes in uns, was dazu führen könnte. Oder wir entwickeln das andere Extrem und denken: „Ich bin so wertvoll und so wunderbar und deswegen sollten mich alle lieben und mich immer loben,“ oder:  „Ich bin so etwas Besonderes und deshalb sollte ich im Zentrum aller Aufmerksamkeit stehen. Ich kann mich in jeder Vorlesung in den Vordergrund rücken, ständig Fragen stellen und andere nicht zu Wort kommen lassen. Meine Fragen sind am wichtigsten.“ Viele Menschen leiden auch unter diesem Zwang, sich selbst immer in den Vordergrund zu rücken: „Der Lehrer kommt und er sollte zuerst einmal mich sehen, besonders wie ich Verbeugungen mache!“

Auf diese Weise fokussieren wir uns auf die Realität der Güte, die wir vom Lehrer bekommen haben. Und indem wir durch diesen Prozess, den ich gerade beschrieben habe, hindurchgehen, sind wir uns im Klaren darüber – ähnlich wie beim Glauben mit klarem Verstand – nicht stolz deswegen zu sein, nicht eifersüchtig zu sein, wenn der Lehrer anderen gegenüber freundlich war, nicht daran zu hängen, es nicht überzubewerten, nicht naiv zu sein oder wütend, weil wir nicht genug bekommen haben. Wir sind uns im Klaren und haben ein klares Verständnis davon. Es beruht auf Beweisen, auf Dingen, die wir gesehen haben und die andere Menschen gesehen haben. Daraus entsteht dann eine von Herzen kommende Wertschätzung demgegenüber und wir entwickeln liebevollen Respekt. Das ist etwas sehr Beständiges. Eine Art liebevoller Respekt, nicht auf diese übermäßig emotionale Art und Weise, die an sich recht unbeständig und ziemlich störend ist, wenn wir es objektiv betrachten, besonders wenn unser Lehrer nicht mehr da ist. Und ähnlich, wie wir es mit dem Glauben an die guten Eigenschaften des Lehrers getan haben, lassen wir auch dieses Gefühl der von Herzen kommenden Wertschätzung und des liebevollen Respekts, tief in uns einsinken.

Der nächste Schritt besteht nun darin, mit dieser festen Überzeugung in die guten Eigenschaften, dem Vertrauen, der Wertschätzung und des liebevollen Respekts gegenüber unserem Lehrer, um Inspiration zu bitten. Wir bitten nicht um einen Mercedes-Benz oder so etwas, sondern ganz spezifisch um Inspiration. Die tibetische Übersetzung lautet normalerweise: „Bitte verleihe mir deinen Segen,“ aber das hört sich viel zu christlich an und deutet nicht darauf hin, worum es im Buddhismus geht. Inspiriere mich! Hilf mir, gib mir Inspiration – aber nicht nur Inspiration, sondern inspiriere mich, an mir zu arbeiten! Inspiriere mich, Bodhichitta zu entwickeln! Inspiriere mich, einen klaren Geist zu haben, damit ich die Lehren verstehen kann! Inspiriere mich durch dein Vorbild, damit ich mich selbst ernst nehmen kann, wenn du mich ernst nimmst!

Wir können wirklich nur dann Inspiration empfinden und uns vom Lehrer inspirieren lassen, wenn wir diese Haltung im Geist und im Herz schon haben – das Vertrauen, die Überzeugung, Wertschätzung, liebevollen Respekt usw. Auf dieser Grundlage werden wir tatsächlich etwas empfinden, wenn wir Respekt haben. Ansonsten ist es einfach nur eine Visualisierung von Lichtern. Sie ist unterhaltsam, aber sie berührt uns nicht sehr tief. Wenn wir um diese Inspiration bitten, stellen wir uns die Inspiration vor. Auf der Sutra-Ebene stellen wir uns vor, wie sie in unser Herz fließt. Sie tritt in uns in der Form von weißem oder gelben Licht ein – weißes Licht, um Mängel, wie schwache Energie oder Dumpfheit, zu verringern, und gelb, um die guten Eigenschaften zu stimulieren. Es ist jedoch wichtig, etwas dabei zu empfinden und nicht einfach nur Lichter zu visualisieren – das wäre sehr oberflächlich. Einfach nur die Lichter ohne jedes Gefühl zu visualisieren ist ziemlich trivial; dadurch bekommen wir nicht sehr viel. Aber die Praxis mit dieser bildlichen Analogie der Lichter zu machen hilft uns, es stärker zu fühlen. Ansonsten ist es einfach zu wage. Im Buddhismus, insbesondere im tibetischen Buddhismus, kommt diese Vorstellungskraft in großem Maße zum Einsatz, denn sie ist ein sehr wichtiges Werkzeug.

Das gelbe Licht ist dazu da, unsere guten Eigenschaften zu verstärken und das weiße Licht, um uns erst einmal von Dingen, wie schwacher Energie, zu reinigen. Wir bitten um Inspiration, um uns beispielsweise von dieser niedrigen Energie zu befreien und hohe Energie zu entwickeln. Durch das weiße Licht beseitigen wir niedrige Energie und durch das gelbe Licht bauen wir höhere, stärkere und beständige Energie auf. Das weiße Licht beruhigt unsere innere Nervosität; das gelbe Licht versorgt uns mit positiver Energie.

Wenn wir die Praxis auf der Tantra-Ebene ausführen, können wir hier die Visualisierungen und Praktiken der Tantra-Ebene einfügen. Dies ist eine Standard-Praxis, die auch mit Buddhafiguren und Yidams ausgeführt wird. Wir stellen uns vor, wie weißes Licht aus dem Kronenchakra oder der Stirn des Lehrers austritt und in unsere Stirn oder unser Kronenchakra fließt und uns inspiriert, all die guten Eigenschaften des Körpers, das Verhalten und die Handlungsweise des Lehrers, zu entwickeln. Das rote Licht fließt aus seiner Kehle in unsere Kehle, um die guten Eigenschaften der Rede zu entwickeln. Blaues Licht fließt aus seinem Herzen in unser Herz, um die guten Eigenschaften des Geistes zu entwickeln. Und dann stellen wir uns vor, wie alle drei Lichter gleichzeitig zu uns fließen und harmonisch integriert werden.

Diese Art der Visualisierung können wir in allen Klassen der Tantra-Praxis ausführen. Und wenn wir Anuttarayoga-Tantra, die höchste Tantraklasse, praktizieren, können wir uns an diesem Punkt auch vorstellen, wie wir die vier Initiationen empfangen, die Teil einer jeden Anuttarayoga-Initiation des spirituellen Lehrers sind. Dies kann man auf vielfache Weise in ausführlicher oder nicht so ausführlicher Form tun. Wir müssen hier nicht in alle Einzelheiten gehen, aber dieser Teil kann sehr ausführlich praktiziert werden. Wir können uns auch vorstellen, dass sich ein Ebenbild des Lehrers in uns auflöst und unsere Eigenschaften eins mit dem Lehrer werden. Mit anderen Worten können wir es auf diese Weise ergänzen.

In dieser Praxis benutzen wir das Wort „Initiation,“ aber ich übersetze es lieber als „Ermächtigung,“ denn es ist nicht so, dass wir etwas beginnen, sondern ermächtigt werden. Was ist denn eigentlich eine Ermächtigung? Der ganze Sinn solch einer Praxis besteht doch darin, die Potenziale der Buddhanatur zu aktivieren, zu stärken oder zu ermächtigen, damit sie vollkommen realisiert und verwirklicht werden können. Darum geht es bei der Initiationen: die Potenziale der Buddhanatur zum Wachsen anzuregen und sie zu aktivieren und zu stärken. Weil sie die Potenziale der Buddhanatur anregen und stärken, nehmen wir die Ermächtigungen immer wieder, indem wir Guru-Yoga ausführen und tatsächlich Ermächtigungen empfangen. Es ist nicht so, dass man es nur einmal am Anfang macht und es dann vergisst  und nicht mehr brauchtr.

All dies tun wir, wie gesagt, im Tantra. Aber um zur Sutra-Praxis zurückzukehren: in der Beschreibung des Sutra finden wir, dass wir uns am Ende dieses Vorgangs vorstellen, wie sich der Guru über unserem Kopf befindet. Vorher haben wir uns den Guru vor uns visualisiert, nicht in Lebensgröße, sondern kleiner, denn auf diese Weise können wir uns besser konzentrieren. Nun befindet er sich also, in sehr kleiner Form, über unserem Kopf. Er schaut in die gleiche Richtung wie wir und bleibt dort für den Rest des Tages als Zeuge unseres Verhaltens und Denkens – was wir sagen, was wir denken, wie wir uns verhalten – und ist weiterhin eine Quelle der Inspiration für uns und hilft uns, Disziplin zu wahren. Denn ein sehr wichtiger Aspekt der ethischen Selbstdisziplin besteht darin, sich zu fragen: „Würde ich so handeln, wenn mein Lehrer hier wäre?“ Wir würden uns schämen, wenn wir in der Gegenwart unseres Lehrers auf bestimmte Weise handeln, reden und denken würden. Auf diese Weise ist es sehr hilfreich, aufrecht zu bleiben, um es einmal so zu sagen. Vor unserem Lehrer würden wir uns nicht wie ein Idiot aufführen, denn wir empfinden solch liebevollen Respekt gegenüber ihm. Daher ist dieses Gefühl so wichtig.

Das ist es, was ich versucht habe, anhand von Serkong Rinpoche zu beschreiben. Dieses Gefühl ist schwierig in Worte zu fassen. Es handelt sich nicht wirklich um Angst, aber um eine gewisse Ehrfurcht. „Ich bin so ehrfurchtsvoll und so beeindruckt von seinen Qualitäten, ich empfinde so einen Respekt, so eine Liebe und Wertschätzung gegenüber ihm; wie könnte ich mich da in seiner Anwesenheit wie ein Idiot benehmen?“ Und wenn ich mich unbewusst wie ein Idiot aufführe, denke ich: „Danke, dass du mich darauf hinweist.“ Und obwohl es für beide Inkarnationen zutrifft, war es besonders beim alten Serkong Rinpoche so.

Bei der gegenwärtigen Inkarnation ziehe ich die Tatsache in Betracht, dass er ein Kind und mittlerweile ein junger Mann ist. Und in vielfacher Hinsicht nehme ich gegenüber ihm eine Vaterrolle an, denn ich kümmere mich um ihn und sorge mich um sein Wohlergehen. Er weiß das und kann es wertschätzen. In der Beziehung gibt es also eine ganz andere Dynamik, weil wir so verschieden im Alter und unserer Erfahrung sind. Und weil ich auch mit ihm als Kind Umgang hatte, ist da auch ein gewisses Element der Zuneigung, das im Umgang mit Kindern angemessen ist. Es ist nicht übertrieben, aber angemessen, in Anbetracht der Kultur, aus der er stammt und dass er Tibeter ist. Und ich weise ihn zurecht, wenn es notwendig ist, aber auf sehr feinfühlige Weise. Ich ermutige ihn immer, sich wie ein Erwachsener zu benehmen und seine Fähigkeiten zu nutzen, um zu diskriminieren, was korrekt und was nicht korrekt ist. Junge Rinpoches stützen sich oft zu sehr auf ihre Begleiter und es ist nicht einfach für sie, diesen Übergang zu schaffen, bei dem sie die Führung übernehmen und sozusagen der Herr des Hauses werden. Er ist in diesem Alter und ich versuche ihm dabei zu helfen. Serkong Rinpoche war in allen vier Traditionen sehr gebildet und meine Hoffnungen sind, dass er diese Tradition weiterführt. Er ist sehr begierig, die Traditionen seines Vorgängers fortzuführen. Aber zuerst muss er seine Gelug-Ausbildung beenden, was er mit großem Enthusiasmus macht. Er liebt sein Studium, ohne Übertreibung.

Wie dem auch sei, ich habe enorme Ehrfurcht und großen Respekt vor dem jungen Serkong Rinpoche, denn er besitzt bereits außerordentliche Qualitäten und Fähigkeiten. Wenn ich da nur einmal an seine Disziplin denke: Beispielsweise war er etwas übergewichtig, wie sein Vorgänger, der erhebliches Übergewicht hatte. Das lag nicht nur an mangelnder Bewegung, sondern auch an seiner schlechten Ernährung. Ich und ein anderer westlicher Freund wiesen ihn darauf hin, dass er etwas dagegen unternehmen sollte. Er gab zu, dass wir Recht hatten und änderte nicht nur seine Essgewohnheiten, sondern begann mit einem sehr strikten täglichen Trainingsprogramm und nahm in kurzer Zeit 17 Kilogramm ab. Das ist wirklich erstaunlich.

Einmal wies ihn sein Lehrer an, ein Meditationsretreat eines bestimmten tantrischen Deities zu machen, in dem man einen langen Mantra einhunderttausend Mal rezitieren musste. Er hat diesen Retreat in nur drei Tagen gemacht und vom Aufwachen bis zum Schlafengehen praktiziert. Ein anderes Mal fragte ich ihn, was er gern tun würde. Seine Antwort war, er würde gern eine Debatte führen, die eine ganze Nacht andauert. Das war seine Idee und für mich war es das Größte ihm dabei zu helfen, es auf die Beine zu stellen.

Er schläft nicht gerade viel. Normalerweise lernt man morgens Dinge auswendig, denn für den Geist ist das die berste Zeit für so etwas und auch dafür, Dinge zu rezitieren, die man auswendig gelernt hat. Er steht für gewöhnlich zwischen fünf und sechs Uhr auf. Wenn es eine Puja gibt, muss er etwa um halb fünf Uhr aufstehen, denn die Pujas im Kloster beginnen alle um fünf Uhr. Aber im Allgemeinen steht er um halb sechs oder um sechs Uhr auf. Nachdem er Abends vom Debattieren zurückkommt, was meistens erst um elf oder zwölf Uhr in der Nacht der Fall ist, macht er all seine Praktiken, seine Verpflichtungen und Meditationen und geht nicht vor ein oder zwei Uhr schlafen. Er schläft normalerweise nicht mehr als vier oder fünf Stunden. Für Teenager ist das ziemlich gut, wenn man mal betrachtet, wie viel Stunden Teenager für gewöhnlich schlafen. Und er mag nicht nur das Debattieren, sondern auch diese unglaublich langen Pujas, die von fünf Uhr morgens bis zehn Uhr abends gehen und drei bis vier Tage dauern. Ich habe ihn gefragt, was er davon hält, ob er sie mag. Er liebt sie, er findet sie großartig. Das erfüllt mich mit großer Hoffnung für die Zukunft.

Ich sollte hier auch anfügen, dass er nicht immer so ernsthaft ist. Montags haben sie kein Unterricht im Debattieren und keine Vorlesungen und deshalb bringt er Montags ein oder zwei Stunden mit Computerspielen zu. Er hat jetzt einen Computer. Er ist immer noch ein Teenager, ein junger Mann, aber er hat es unter Kontrolle. Er spielt nicht länger als zwei Stunden und nur Montags. Auf diese Weise hat er etwas Abwechslung.

Was den Computer betrifft, hat er gelernt, ihn zu benutzen. Was macht er damit? Er nutzt ihn, um Studienmaterial und Hilfsmittel für seine Klassenkameraden vorzubereiten, Tabellen und solche Dinge. Ich finde es wunderbar, dass er sich diese neue Technologie angeeignet hat und sie für edukative Zwecke nutzt, um anderen, seinen Klassenkameraden, zu helfen. Er hilft den Schülern in der Klasse, die etwas hinterher hängen. Sie kommen zu ihm und er unterrichtet sie und hilft ihnen. Das ist beeindruckend. All diese Qualitäten sind da. Deswegen sage ich, dass ich fest überzeugt bin. Es ist ganz klar: all diese Eindrücke werden fortgesetzt, all diese Gewohnheiten aus seinem vorangegangenen Leben, zusammen mit einem großartigen Sinn für Humor. Er ist ganz praktisch und bodenständig.

Beenden wir aber nun die Meditation, die Guru-Yoga-Meditation. Der Guru befindet sich also über unserem Kopf und er ist während des gesamten Tages unser Zeuge. Bevor wir dann schlafen gehen, gibt es zwei verschiedene Dinge, die wir tun können: Entweder wir stellen uns vor, wie die winzige Form des Guru in unser Herz kommt und dort verschmilzt, während wir schlafen. Dies wäre eine Praxis im Tantra-Stil, aber auch in den Sutra-Texten wird es so beschrieben, wahrscheinlich mit Hinblick auf den Tantra. Oder der Guru wird nun lebensgroß und wir stellen uns vor, wir würden mit unserem Kopf auf seinem Schoß einschlafen. Das ist für all jene, die etwas mehr Trost und Zuneigung brauchen.

Das erinnert mich daran, dass der alte Serkong Rinpoche sehr tierlieb war und einige Katzen und Hunde hatte. Am liebsten saßen sie in seinem Schoß, unter dem oberen Teil seiner Robe, während er unterrichtete. Und mitten in einer Unterweisung steckte plötzlich jemand den Kopf heraus. Er bekam es gar nicht mit, weil das Tier dort anscheinend geschlafen hatte. Zuerst schaute ein Kopf hervor und dann kam ein Tier heraus. Manchmal machten wir Witze darüber uns stellten uns vor, dass vielleicht das nächste Mal auch eine Giraffe oder ein Elefant dort herauskommen würde. Man wusste nie, was sich unter seinem Gewand in seinem Schoß so alles befand.

Der junge Rinpoche ist auch sehr tierlieb. Er hat zwei Hunde. Und etwas ist an diesen Hunden wirklich außergewöhnlich – ich habe so etwas noch nie gesehen. Dort wo er lebt, in Südindien, gibt es Affen und ein Affe kam immer, um mit den Hunden zu spielen. Die Hunde bellten den Affen nicht an, sondern spielten mit dem Affen so, als würden sie mit einem anderen Hund spielen. Und der Affe hatte überhaupt keine Angst, was wirklich außergewöhnlich war. Ich habe so etwas noch nie gesehen. Da fragt man sich, wer diese Hunde sind!

Während ich Geschichten über die Beziehung zum Lehrer über zwei Lebzeiten erzähle, merke ich gerade, dass ich kaum etwas über Ling Rinpoche, dem Senior Tutor, gesagt habe. Ich hatte nicht so eine enge Beziehung zu ihm, wie zu Serkong Rinpoche, aber ich habe oft für ihn übersetzt und bei ihm gelernt. Ich stehe auch seiner Reinkarnation nicht so nahe, wie der von Serkong Rinpoche. Als ich vorletztes Mal in Indien war, besucht ich ihn. Ich war also dort und wir haben miteinander geredet. Ich hatte ihn seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Er bat einen Assistenten Tee zu bringen und als er wiederkam, brachte er auch etwas englisches Gebäck, ein paar englische Kekse, mit, die meine absoluten Lieblingskekse sind. Woher in aller Welt er sie hatte und warum er sie für mich herausholte? Ich habe keine Ahnung! Er schaute mich einfach mit diesem Blick an: „Hahaha. Und du glaubst nicht an Karma, an diese Art der Verbindung?“ Er sah mich an, während ich über diese Packung englischer Kekse staunte. Er hat auch etwas ziemlich Besonderes an sich und viele seiner Charakterzüge sind ähnlich wie bei seinem Vorgänger.

Machen wir also weiter mit der Meditation. Wir beenden die Meditation natürlich damit, die positive Kraft der Praxis zu widmen und ich denke, damit sind wir hier auch zu einem Ende gekommen. Es wäre schön, noch ein paar Fragen beantworten zu können, aber ich muss leider zum Flughafen. Selbstverständlich gibt es viele Arten der Widmung. Die folgende passt jedoch sehr schön, nach der Meditation über den spirituellen Lehrer.

"Möge sich das positive Erbe der guten Qualitäten und der Güte meines Lehrers unauflöslich mit meinen Netzwerken guter Qualitäten, positiver Potenziale und tiefen Gewahrseins verbinden. Möge es reifen und mein Verhalten beeinflussen, damit ich dieses Erbe an andere weitergeben und ihnen helfen kann, emotionales Wohlergehen, glücklichere Wiedergeburten, Befreiung und schließlich Erleuchtung zum Wohle aller Wesen zu erlangen.“ Auf diese oder eine ähnliche Weise können wir die Widmung machen. „Möge es sich mit mir verbinden, damit ich es weitergeben kann.“ Es geht nicht nur darum, wie der Guru zu werden, sondern das Erbe an andere weiterzugeben. Und wir bitten natürlich immer darum, dass wir und alle anderen in all unseren Leben von vollkommen qualifizierten Gurus geleitet werden. Mögen die Gurus ein langes Leben, Gesundheit usw. haben.

[Für eine Zusammenfassung dieses Guru-Yogas auf der Sutra-Ebene, siehe: Meditation über den Guru auf der Sutra-Ebene]

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