Der Guru-Yoga auf der Sutra-Ebene ist eine Art Meditationspraxis, die als Grundlage für die Praxis mit umfangreicheren Visualisierungen auf der Tantra-Ebene sehr wichtig ist. Aber sogar bei der Praxis auf der Sutra-Ebene können wir uns verschiedene Lichter vorstellen, die zu uns fließen. Das beschränkt sich nicht einzig und allein auf die Praxis der Tantra-Ebene. Allerdings sollten wir verstehen, dass es sich beim Guru-Yoga im Grunde um eine der vorbereitenden Übungen handelt und eine Ngöndro-Praxis (sngon-'gro) ist. Ngöndro heißt vorbereitende Übungen. Es gibt vorbereitende Übungen, die sowohl auf der Sutra-, als auch auf der Tantra-Ebene üblich sind, und es gibt jene, die ausschließlich im Tantra Anwendung finden.
Wir beginnen die Praxis, indem wir uns unsere spirituellen Lehrer vorstellen, oder uns Bilder von ihnen ansehen. Der entscheidende Punkt so einer Praxis ist nicht, unsere Fähigkeit des Visualisierens zu perfektionieren und wenn wir nicht sehr gut im Visualisieren sind, ist es völlig in Ordnung, ein Bild unseres spirituellen Lehrers vor uns zu haben; dafür muss man sich nicht schämen. Und wenn wir uns einmal die Zimmer der meisten Tibeter ansehen, finden wir sowohl bei tibetischen Mönchen, als auch bei Laien, insbesondere aber bei den Ordinierten, überall an den Wänden und auf den Tischen Bilder ihrer Lehrer. Das ist ziemlich hilfreich. Wir sollten diese Bilder aber mit Respekt behandeln und nicht beispielsweise im Bad aufhängen.
Ich muss zugeben, dass ich die Praxis, die ich hier beschreiben werde, aus verschiedenen Quellen zusammengestellt habe. In den verschiedenen Sutra-Texten, besonders in den Texten der unterschiedlichen tibetischen Traditionen, wird viel darüber diskutiert, welche von ihnen man der Kategorie des Lam-rim, der Lehren des Stufenpfades, zuschreiben kann. In allen wird die Beziehung zum spirituellen Lehrer vermittelt und zu allen gehören bestimmte Praktiken, um diese Lehren in gewissem Sinne auf den Punkt zu bringen. Sie entstammen in erster Linie der Kadam-Tradition. Viele Elemente kann man aber auch in anderen Traditionen finden.
Wir beginnen damit, die siebengliedrige Praxis für den spirituellen Lehrer auszuführen. Oft wird sie auch siebenfache Anrufung genannt und besteht aus Verbeugungen, Darbringen von Opfergaben usw. Das ist die Standard-Praxis, die wirklich jeder benutzt, um positive Kraft aufzubauen. Der klassische Ausdruck hierfür findet sich im Bodhicharyavatara („Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattva“) von Shantideva. Ich kann mir vorstellen, dass viele von Ihnen mit dem Text vertraut sind, aber ich will ihn kurz durchgehen. Er beginnt mit dem Darbringen von Verbeugungen, also dem Erweisen von Respekt mit Körper, Rede und Geist. Wir bringen also mit dem Körper Verbeugungen dar, rezitieren einige Verse, denken dabei an die guten Eigenschaften und erweisen ihnen Respekt. Natürlich beginnt die Praxis zuerst einmal mit der Zuflucht, der so genannten „sicheren Ausrichtung,“ und mit Bodhichitta – dies ist der Beginn einer jeden Praxis.
Wenn wir Verbeugungen machen, ist es sehr hilfreich, die drei Ebenen des Opferns in Betracht zu ziehen. Das Objekt, dem wir unsere Verbeugung darbringen, besteht auf der einen Seite aus den Buddhas und den spirituellen Meistern, die das Ziel erreicht (oder verkörpert) haben, das wir anstreben. Es ist sehr wichtig, dies nicht als etwas Äußerliches zu betrachten, das jemand anderes erreicht hat, denn dies könnte leicht dazu führen, einfach nur den Guru zu verehren: „Du bist so wunderbar und ich bin so klein und nutzlos. Sag mir einfach, was ich tun soll.“ Das wollen wir auf jeden Fall vermeiden und daher verbeugen wir uns auch gleichzeitig vor unserer eigenen zukünftigen Erleuchtung, unserer individuellen zukünftigen Erleuchtung, die sich an einem Punkt unseres geistigen Kontinuums befindet und noch nicht stattgefunden hat. Mit Bodhichitta richten wir uns auf diese zukünftige Erleuchtung mit der Absicht aus, sie zu erreichen und sind uns sicher, dass es möglich ist, dies zu tun. Außerdem haben wir die Motivation und das Ziel, dadurch allen anderen zu helfen. Die Motivation, dies zu erreichen, besteht darin, allen zu helfen und wenn wir das Ziel erreicht haben, wird es uns möglich sein, tatsächlich allen helfen zu können. Wir erweisen dieser Erleuchtung unseren Respekt, nicht nur der Erleuchtung des spirituellen Lehrers, denn sonst besteht die Beziehung zum Guru nur aus der Verehrung eines wunderbaren Wesens dort oben und darum geht es nicht in der Beziehung zum spirituellen Lehrer; das wäre nicht gesund. Außerdem erweisen wir mit den Verbeugungen Respekt gegenüber unserer eigenen Buddhanatur. Aufgrund seiner Buddhanatur hatte der Lehrer die Möglichkeit, seine hohe Ebene der Verwirklichung zu erreichen und auch wir haben, durch unsere eigene Buddhanatur, unser Potenzial und unsere Qualitäten, die Möglichkeit, Erleuchtung zu erlangen.
Meiner Meinung nach ist es also von großer Bedeutung, dass diese ganze Beziehung zum spirituellen Lehrer auf Respekt beruht. Und es geht nicht nur darum, Respekt gegenüber unserem Lehrer zu haben, sondern auch gegenüber unserem eigenen spirituellen Pfad und dem, was wir tun. Dann können wir ihm auf eine reife und erwachsene Weise folgen. Es ist sehr wichtig, dass sowohl Guru-Yoga, als auch die Beziehung zum Guru auf der reifen Ebene eines Erwachsenen stattfinden, und nicht auf der eines Kindes, mit einer kindischen Mentalität. Natürlich wollen wir auch nicht ins andere Extrem fallen und arrogant sein. Es geht um Reife.
Der zweite Teil der siebengliedrigen Praxis ist das Darbringen von Opfergaben. Wir sollten dem Lehrer nicht einfach nur einen Kata oder Räucherstäbchen geben, denn er braucht diese Dinge eigentlich nicht. Gestern habe ich bereits darauf hingewiesen, dass wir bereit dazu sein sollten, alles zu geben, um Erleuchtung zum Nutzen aller anderen zu erlangen. Den Lehrer betrachten wir dabei sozusagen wie einen Kanal und das gleiche gilt auch für die Buddhas, die wir als einen Kanal dafür sehen, dieses Ziel erreichen zu können. Dabei ist von großer Bedeutung, wichtige Dinge zu geben, wie unsere Zeit und Energie, unsere Herzen, unseren Enthusiasmus. usw. und nicht einfach nur irgendeine alberne Schachtel Räucherstäbchen, die wir irgendwo gekauft haben.
Manchmal kann man lesen, dass man dem spirituellen Lehrer ein Mandala des Körpers, der Rede und des Geistes darbringen sollte. Das heißt aber nicht, sich sexuell missbrauchen zu lassen, gewiss nicht. Es bedeutet auch nicht, sich selbst als willenlos zu betrachten und sich wie ein Sklave benutzen zu lassen. Eher geht es darum, wie ich es in meiner Beziehung zu Serkong Rinpoche ausgedrückt habe: „Bitte mache aus einem Esel wie mir einen Menschen.“ Oder mit anderen Worten: „Hilf mir, meinen Umgang mit Menschen (das bezieht sich auf den Körper), meine Kommunikation und mein Verhalten anderen gegenüber so zu entwickeln, damit ich anderen besser von Nutzen sein kann. Hilf mir, mich zu entwickeln. Ich bringe dir dies als Arbeitsgrundlage dar. Bitte hilf mir, meinen Körper, meine Rede und meinen Geist so zu entwickeln, dass ich die Qualitäten eines Buddhas erreiche, denn darauf richte ich mich immer wieder erneut aus.“ Dies ist eine sehr bedeutsame Opfergabe, die man nicht auf die leichte Schulter nehmen sollte. Wenn wir etwas darbringen, geben wir es wirklich her. Wir geben es nicht nur halbherzig und nehmen es zurück, wenn der Lehrer es akzeptiert und beginnt, uns zu korrigieren usw.
Eine sehr nützliche Art des Gebens ist die Opfergabe des Samadhi, der Konzentration, die aus der Sakya-Tradition stammt und daraus besteht, verschiedene Aspekte unserer Praxis darzubringen. Dabei denken wir an die verschiedenen Aspekte unserer Praxis und bringen sie dar. Weder braucht der der Guru diese Dinge, noch der Buddha, aber sie funktionieren, wie bereits gesagt, wie ein Kanal; indem wir sie ihnen darbringen, können wir sie nutzen, um anderen zu helfen. Ich kann das an einem eigenen Beispiel verdeutlichen. Alles was ich gelesen und studiert habe, all das Wissen, das ich mir angeeignet habe, konnte ich meinem Lehrer darbringen und auf diese Weise als sein Übersetzer tätig sein. All mein Wissen kann ich durch ihn, indem ich für ihn übersetze, anderen geben. So bringe ich all meine Talente, all meine Arbeit und meine Energie dar und kann, durch ihn, anderen damit helfen. Und natürlich gibt es auch viele andere Möglichkeiten, als nur der Übersetzer oder Sekretär des Lehrers zu sein. Wir können auch versuchen, seine oder ihre Absichten oder Ideen umzusetzen, indem wir anderen dabei helfen etwas zu tun. Jede dieser Gaben nimmt eine symbolische Form der traditionellen Opfergabe an, aber das ist nur dafür da, sich ein Bild davon zu machen. Tatsächlich ist es so, dass wir diese verschiedenen Aspekte unserer Praxis darbringen. Wenn wir in einem Dharma-Zentrum tätig sind, können wir unsere Talente nutzen, anderen und dadurch unserem spirituellen Lehrer hilfreich zu sein. Das können wir darbringen. Oder wir arbeiten in einem Krankenhaus, kümmern uns um Behinderte oder führen buddhistische Tätigkeiten aus, denn natürlich liegen diese Dingen unserem Lehrer am Herzen.
Wie gesagt, ist das ein sehr weiter Bereich. Traditionell geben wir alles weiter, was wir gelesen und studiert haben. In der Meditationspraxis nimmt dies die Form der Wasseropfergaben an. Die Betonung liegt nicht auf dem Wasser. Der Lehrer braucht keine Schale mit Wasser. Was soll er damit tun? Vielleicht eine Katze füttern. Das Wasser ist nur ein Symbol, eine Repräsentation für all das, was wir gelesen und studiert haben. Alles Wissen, das wir durch unser Lesen und Studieren erworben haben, nimmt dann die Form von Blumen an, Blumen, die durch das Wasser wachsen. All die Disziplin, die wir nutzen, um das Wissen in die Meditationspraxis umzusetzen, tatsächlich anderen zu helfen und nicht negativ zu handeln; eine Disziplin, die Dinge zu tun, die wir, beruhend auf dem Wissen tun, das wir erworben haben, um anderen zu helfen, nimmt die Form des Rauches der Räucherstäbchen an.
Die Einsicht, die wir aus dieser disziplinierten Praxis gewonnen haben, nimmt die Form des Lichtes an, das Licht der Erkenntnis – Licht von Butterlampen, Kerzen usw., um allen den Weg zu erleuchten. Die feste Überzeugung, die wir in den Dharma haben, das es sich dabei um Wahrheit handelt und nichts uns erschüttern kann – diese feste Überzeugung bringen wir in Form von erfrischendem Duft dar, der für alle wohltuend ist. Wenn wir jemanden treffen, der frei von Zweifeln und fest überzeugt ist – kein Fanatiker – aber fest überzeugt, aus Erfahrung, Einsicht und Vernunftsgründen, dann ist das für alle sehr erfrischend, ein erfrischender Duft, wie er in Indien benutzt wurde. Wir reden hier nicht über etwas Westliches, sondern etwas aus dem alten Indien.
Und dann die Konzentrationsfähigkeit, die wir durch diese feste Überzeugung erlangen. Ein großes Problem in dieser Hinsicht ist, Zweifel zu haben, sich nicht wirklich sicher zu sein und sich selbst in Frage zu stellen. Wenn wir eine feste Überzeugung haben, sind wir uns sicher, die Dinge richtig zu verstehen und können uns so perfekt konzentrieren. Das ist enorm wichtig, um anderen zu helfen. Wir bringen also diese Konzentration dar, und sie nimmt die Form der Nahrung an. Große Meditierende können nur auf der Basis ihrer Konzentration leben; für Tage bleiben sie in tiefer Konzentrationsmeditation und müssen nichts zu sich nehmen. Dies nimmt die Form der Nahrung an. Und schließlich geht es um all unsere klaren Erklärungen und Lobpreisungen des Dharma, unser Lesen der Texte und all diese verbalen Dinge, die wir mit dieser Konzentration und Überzeugung tun können, die Grundlage all dessen und insbesondere unsere Fähigkeit, den Dharma in klarer Form in Worte zu fassen. Dies nimmt die Form der wunderschönen Musik an.
Das ist also die Opfergabe der Konzentration. Es ist wirklich eine wunderschöne Praxis. Sie stammt, wie gesagt, aus der Sakya-Tradition. Chögyal Pagpa (Chos-rgyal ‘Phags-pa) war der Meister, der sie entwickelt und als Erster niedergeschrieben hat. Er war ein großer Sakya-Meister, der den Buddhismus zu den Mongolen, zu Kublai Khan, gebracht hat. Dann wurde sie in der Gelugpa-Tradition aufgenommen und wurde dann Teil des Mönlams, beim Mönlam-Festival in Lhasa. Sie wurde auch in die Kalachakra-Praxis der sechs Sitzungen integriert. Man kann sie an vielen Stellen finden. Sie ist sehr hilfreich, ausgesprochen tiefgreifend und überaus praktisch. Es geht nicht nur einfach darum, diese Opfergaben mit Räucherstäbchen usw. darzubringen, denn dann könnte man es für ziemlich trivial halten. Die Opfergaben haben eine tiefere Bedeutung und repräsentieren etwas.
Obwohl diese Gaben von Räucherstäbchen, Blumen usw. natürlich in dieser Form eine tiefere Bedeutung haben, fällt ihnen darüber hinaus auch im Tantra eine tiefere Bedeutung in dem Sinne zu, dass sie die verschiedenen Sinne erfreuen. Doch auf der gewöhnlichen Sutra-Ebene sind die Gaben, von ihrer Bedeutung her, Opfergaben der Konzentration. Im Tantra beziehen wir uns auf die freudvollen Aspekte, auf der Sutra-Ebene auf die Aspekte der Konzentration. Und auf der wörtlichen Ebene beziehen sich diese Opfergaben auf die Dinge, die man im alten Indien einem Gast anbieten würde, den man in sein Haus eingeladen hat. Das ist die wörtliche Ebene.
Das ist also das Darbringen von Opfergaben.
Der dritte Teil der siebengliedrigen Praxis besteht darin, Fehler einzugestehen. Wir gestehen unsere Mängel ein: wir sind faul, wir wollen nicht praktizieren usw. Aber wir bereuen es, wir wollen es nicht wieder tun und wir bekräftigen unsere Grundlagen – Zuflucht und Bodhichitta. Wir werden das, was wir von unserem Lehrer und auch selbst gelernt haben, anwenden, um diese Mängel zu beseitigen.
Hier möchte ich selbst etwas hinzufügen und wir sollten uns im Klaren darüber sein, dass es nicht aus traditionellen Quellen stammt, aber ich denke, es passt sehr gut hierher. Wenn wir unsere eigenen Fehler eingestehen, können wir auch die Fehler mit einbeziehen, die wir bei unvollkommenen Lehrern wahrgenommen haben. Anders ausgedrückt, gestehen wir ein, wenn wir von Lehrern, die Scharlatane sind, missbraucht oder betrogen wurden. Ganz einfach auf einer psychologischen Ebene ist es sehr wichtig zuzugeben: „Ja, das war wirklich furchtbar, was da passiert ist. Es war ein Fehler, diese Beziehung eingegangen zu sein. Es war nicht richtig, diesem Lehrer zu folgen. Ich bedauere es wirklich sehr, aber so ist es nun einmal passiert. Ja, ich wurde in die Irre geführt. Ich gebe mein Bestes, damit so etwas nicht wieder geschieht und werde in Zukunft viel kritischer und vorsichtiger sein. Und ich bekräftige meinen Lebensweg – ich werde deswegen nicht den Dharma aufgeben. Ich bekräftige meine sichere Ausrichtung der Zuflucht und meine Bodhichitta-Motivation. Was auch immer ich in Zukunft im Dharma lerne, werde ich anwenden, damit ich diese Fehler mit zukünftigen Lehrer nicht wiederhole, sondern nur gesunde Beziehungen mit echten Lehrern entwickeln kann.“ Ich denke, dass passt hier sehr gut und kann jenen beim Heilungsprozess helfen, die auf ihrem spirituellen Weg von Lehrern verletzt wurden, die sie in die Irre geführt oder missbraucht haben, denn es gibt viele Menschen, denen so etwas widerfahren ist. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, diese Verletzungen und Schmerzen nicht einfach nur ignorieren, sondern versuchen, sie zu heilen. Wir sollten es offen zugeben, besonders, wenn wir danach eine ordentliche Guru-Yoga-Praxis mit einem echten Lehrer ausführen möchten. Wir wollen nicht, dass diese schlechte Erfahrung der Vergangenheit einen Einfluss darauf hat, weil wir sie nicht eingestanden und uns damit auseinandergesetzt haben. Ich glaube, auf einer psychologischen Ebene ist es richtig, es hier einzufügen.
Und so wie wir es bedauern, wenn wir an unsere eigenen Mängel denken und uns nicht schuldig deswegen fühlen und wissen: „Ich bin deswegen kein schlechter Mensch, aber ich bedauere das, was passiert ist,“ bedeutet es auch nicht, wir wären ein schlechter Mensch, wenn wir von einem Scharlatan missbraucht oder hereingelegt wurden und es bereuen: „Ich bedauere das, was geschehen ist und es ist wirklich sehr traurig, das so etwas passieren musste. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich mich deswegen schuldig fühlen und bestrafen muss.“ Auch wenn wir verbittert deswegen sind, wäre das nicht angemessen. Es ist aus bestimmten karmischen Gründen geschehen, offenbar liegt die Schuld nicht allein bei uns oder dem Lehrer, aber wie es aussieht, haben wir eine karmische Verbindung zu dieser Person. Es ist also passiert und es ist äußerst traurig, dass es geschehen ist. Daher sollten wir einfach alle karmischen Reste bereinigen, die noch da sein mögen, damit es nicht wieder geschieht. Aber wir sollten nicht denken: „Ich bin ein schlechter Mensch,“ und uns dann schuldig deswegen fühlen – das wird ganz gewiss nicht weiterhelfen. Und auch den Lehrer zu verteufeln bringt uns nicht weiter. Dadurch werden wir verbittert und wütend und können keine Heilung bewirken. Der Lehrer ist kein Teufel.
Der vierte Teil dieser sieben besteht darin, sich an den eigenen positiven Eigenschaften und Errungenschaften und denen der anderen zu erfreuen. Wir erfreuen uns daran und denken, wie wunderbar es ist, dass unser Lehrer und die buddhistischen Lehrer im Allgemeinen, all ihre guten Eigenschaften entwickelt und ihre Ebene erreicht haben. Und dann erfreuen wir uns auch an unserer eigenen Buddhanatur. Es ist sehr wichtig, sich bewusst darüber zu sein, dass auch wir die Möglichkeit haben, das gleiche zu erreichen, und wir erfreuen uns daran, welche positiven Dinge wir bereits vollbracht haben, die dazu führten, dass wir uns auf dieser Stufe befinden, auf der wir sind. Denn auch wenn wir völlig unerfahrene Praktizierende und nicht sehr fortgeschritten sind, ist das immer noch weit besser, als jemand zu sein, der einfach nur eine negative Einstellung gegenüber spirituellen Praktiken im Allgemeinen hat. Offensichtlich gibt es eine positive karmische Hinterlassenschaft, die zu dem führt, wo wir jetzt sind. Daher sollten wir ausgesprochen glücklich darüber sein, sowie gegenüber uns selbst und gegenüber unserem spirituellen Meister ein positives Gefühl haben. Auch das ist von großer Wichtigkeit, wenn wir missbraucht wurden oder schlechte Erfahrungen mit Lehrern gesammelt haben: unsere eigenen guten Eigenschaften zu bekräftigen. Wir können sehen, dass diese siebengliedrige Praxis keineswegs etwas Triviales ist. Es handelt sich hier um eine sehr tiefgründige und außerordentlich hilfreiche Praxis, durch die man nicht einfach hindurch eilen, sie ignorieren, oder als etwas für Anfänger abtun sollte. Es steckt jede Menge Weisheit in ihr.
Als nächstes geht es darum, den Lehrer um Unterweisungen zu bitten. Das ist äußerst wichtig: „Mein Lehrer, bitte unterweise mich. Ich möchte wirklich etwas lernen. Ich bin offen und bereit. Bitte gib mir auf allen Ebenen Unterweisungen. Arbeite an meinem Charakter und lass mich nicht einfach nur Texte auswendig lernen.“ Der alte Serkong Rinpoche ging sehr gern in den Zirkus und sah dort am liebsten die abgerichteten Tiere. Danach sagte er immer: „Wenn ein Bär lernen kann, Fahrrad zu fahren, sollten wir Menschen zu so viel mehr in der Lage sein.“ Es gibt also eine Hoffnung für uns. Wir sollten uns nicht nur bis zu der Ebene entwickeln, auf der auch ein Bär oder Delphin trainiert werden kann – einfach nur ein paar Tricks zu machen und dann einen Fisch als Belohnung zu bekommen. Wir bitten also unseren Lehrer, uns tiefgreifende und wesentliche Dinge zu lehren, nicht nur wie ein Bär Fahrrad fahren zu können. Und wenn wir dann unserem Lehrer eine gute Vorführung dargebracht haben, streichelt er uns über den Kopf und wir wedeln mit dem Schwanz! Das ist nicht der Punkt. Geshe Ngawang Dhargyey hat dieses Beispiel immer benutzt und mir hat es sehr gut gefallen.
Der nächste Teil ist: „Belehre mich, bis hin zur Erleuchtung. Bitte gehe nicht weg.“ Das ist von maßgeblicher Bedeutung. Wir kommen nicht zu dem Punkt, an dem wir sagen: „Jetzt habe ich genug gehabt,“ und dann drehen wir uns um und gehen. „Ich möchte nicht weiter gehen und mehr über die Leerheit hören. Ich habe genug. Mein Kopf ist schon ganz voll davon. Das ist zu viel!“ Stattdessen sagen wir: „Bitte geh nicht weg, denn mir ist es ernst. Ich möchte den ganzen Weg, bis hin zur Erleuchtung, gehen. Bis ich Erleuchtung erlangt habe, werde nie sagen, ich hätte genug. Bitte zeige mir daher den ganzen Weg. Ich bin ernsthaft, nicht nur, wie Geshe Ngawang Dhargyey immer zu sagen pflegte, ein Dharmatourist, der nur kurz vorbeikommt, um sich etwas anzusehen und dann wieder nach Hause geht.“
Das siebente Glied ist die Widmung: „Möge alle positive Kraft, die aus meiner Praxis entstanden ist, nicht nur dazu beitragen, Samsara zu verbessern und einfach nur positives, gewöhnliches Karma zu entwickeln, sondern als Ursache dafür wirken, zum Wohle aller Wesen Erleuchtung zu erlangen.“ Wenn wir es nicht widmen, trägt es einfach nur automatisch dazu bei, Samsara zu verbessern. Es ist also notwendig, die positive Kraft ganz bewusst im Erleuchtungs-Ordner unseres inneren Computers zu speichern, denn gemäß der Standard-Einstellung des inneren Computers würde es sonst im Samsara-Ordner landen, um es einmal an einem Beispiel zu verdeutlichen. Dies ist die Standard-Einstellung und wenn wir nicht die richtige Taste drücken, um es dort zu speichern, wo wir es haben wollen, landet es automatisch im Samsara-Ordner.
Das ist die siebengliedrige Praxis und sie ist sehr tiefgreifend. Sie ist keineswegs etwas Triviales und ist nicht nur zu Beginn dieser Guru-Praxis auf der Sutra-Ebene sehr hilfreich. Wenn wir anfangen wollen, eine tägliche Praxis auszuführen, sollten wir mit dieser siebengliedrigen Praxis beginnen. Sie ist von grundlegender Bedeutung.
In der Meditation geht es weiter, indem wir uns daran erinnern, welchen Nutzen es hat, sich auf die guten Eigenschaften des spirituellen Lehrers zu besinnen und welche Nachteile es mit sich bringt, sich auf sein Fehler zu fokussieren – die Vor- und Nachteile. Es ist nicht so, dass wir in die Hölle kommen würden, darum geht es nicht. Die Vor- und Nachteile sind nicht so schwerwiegend. Es geht um die Nachteile, auf den Fehlern zu verweilen, sich auf sie zu fixieren. In allen Sutras und Tantras wird dies mit großem Nachdruck betont, dass wir Inspiration erfahren, wenn wir uns auf die positiven Eigenschaften konzentrieren. Es ist erhebend. Auf diese Weise haben wir ein Vorbild, das wir anstreben können. Wenn wir uns auf seine Mängel fixieren, an ihnen hängenbleiben und immer wieder darauf herumreiten, was bringt uns das? Wir sind genervt, bedrückt und beklagen uns die ganze Zeit. Wir fallen in einen sehr negativen und niedrigen Geisteszustand. Warum sollten wir das tun? Es hilft uns nicht im Mindesten. Wir sind einfach nur niedergeschlagen. Wir sollen diese Fehler nicht leugnen, aber auch nicht mit Verbitterung und Wut daran hängenbleiben. Es hat keinen Sinn und hilft uns nicht weiter.
Wir richten uns also auf die positiven Eigenschaften aus, die tatsächlich vorhanden sind, und nicht nur auf jene, die wir gerne hätten und projizieren. Das kann uns dann wirklich inspirieren, denn wir finden sie in dem Lehrer bestätigt. Wenn wir uns vorstellen, er hätte Eigenschaften, die er nicht hat und wir finden es heraus, wird uns das sehr entmutigen. Daher ist es sehr wichtig, dass der Lehrer ehrlich in Bezug auf seine guten Eigenschaften ist und nicht vorgibt, Eigenschaften zu haben, die er nicht hat. Außerdem sollte er auch nicht die Fehler verstecken und so tun, als hätte er keine. Es ist also wichtig, sehr ehrlich und offen zu sein. Das gleiche gilt, wie gesagt, auch in Bezug auf die Lehren. Wenn es sich um die Worte Buddhas handelt, sagen wir es und wenn es etwas ist, was der Lehrer selbst hinzugefügt hat, ist es wichtig, das zu sagen. Es ist nichts falsch daran, solange man ehrlich ist und sagt, wo es herkommt. Und besonders, wenn wir all unsere Zeit damit zubringen, mit anderen Schülern darüber zu reden und uns zu beklagen, wie furchtbar der Lehrer ist. Wozu führt das? Das Einzige, was wir damit erreichen ist, dass alle betrübt und wütend werden.
Fragen
Was ist, wenn wir mehrere Wurzelgurus haben und einen, der uns besonders inspiriert? Und ist der Wurzelguru nicht derjenige, der uns initiiert, uns tantrische Initiationen, Übertragungen und Belehrungen gibt?
Wir können zweifellos viele Lehrer haben. Und möglicherweise können wir auch mehr als einen Wurzelguru haben. Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagte, wir sollten die verschiedenen spirituellen Meister, die wir haben, nicht als widersprüchlich betrachten. Eine Möglichkeit wäre, sie wie den elfköpfigen Avalokiteshvara zu sehen: all die verschiedenen Gesichter der Lehrer, die wir haben, fügen sich in einer Figur zusammen. Das ist eine schöne Art, es so zu sehen. Wenn wir eine Frage haben, können wir natürlich nicht jedem unserer Lehrer die gleiche Frage stellen, denn sie werden uns zweifellos unterschiedliche Antworten geben. Das könnte verwirrend sein und es wäre nicht wirklich weise, dies zu tun. Besonders, wenn wir wissen wollen, was das Beste für uns ist, sollten wir nicht mehr als einen Lehrer fragen, denn sie würden uns definitiv verschiedene Ratschläge erteilen.
Obwohl der Wurzelguru im Idealfall derjenige ist, von dem wir tantrische Initiationen usw. bekommen, muss das nicht unbedingt so sein. Der Wurzelguru ist auch nicht immer unser erster Lehrer und nicht derjenige, von dem wir die meisten Unterweisungen bekommen haben. Es ist derjenige, der uns am meisten berührt und inspiriert und das können auch mehrere sein. Wir müssen sie nicht unbedingt auf einer Skala einstufen – diesem gebe ich eine 73 auf der Skala und jener bekommt nur 71 Punkte, deswegen ist der mit 73 Punkten mein Wurzelguru. Ein interessantes Zeichen ist, wenn Gurus uns häufig im Traum erscheinen. Das ist ein gutes Zeichen und zeigt an, zu wem wir eine wirklich tiefe Verbindung spüren.
In der Gelug-Tradition gibt es die so genannte Guru-Puja (Lama Chöpa), die eine wunderbare Praxis ist. Die meisten Menschen machen diese Praxis jeden Tag, besonders wenn sie Belehrungen dazu bekommen und damit eine Verpflichtung haben, sie jeden Tag zu machen. Und dann muss man sie nicht so in die Länge ziehen, dass sie zwei Stunden dauert – wenn man sie schnell macht, braucht man nur etwa fünf Minuten dafür. Die eigentliche Visualisierung besteht darin, sich den Baum mit den versammelten Gurus vorzustellen. In dieser Visualisierung haben wir natürlich alle Liniengurus, aber viele von uns kennen nicht all die Lebensläufe dieser verschiedenen Meister der Übertragungslinie und so hilft es nicht viel, eine Liste mit Namen zu rezitieren. In dieser Praxis werden die Namen im Grunde nicht rezitiert, aber du kannst es hinzufügen. Teil der Visualisierung ist es, sich eine Gruppe von Figuren vorzustellen – und da gibt es hunderte von Figuren in dieser Visualisieren, denn sie ist unglaublich komplex – aber eine dieser Gruppen besteht aus all unseren spirituellen Lehrern, den persönlichen, spirituellen Lehrern. Und das finde ich wirklich sehr hilfreich. Was man nun tut (was zumindest ich tue) ist, sie anzuordnen. Man stellt sich also die verschiedenen Lehrer, die man während diesem Leben gehabt hat, in einer Gruppe vor und denkt an sie. Nicht nur an jene, die zu unseren verschiedenen Übertragungslinien oder Gruppen gehören, sondern an alle, die uns etwas auf unserem spirituellen Weg beigebracht haben. Und es ist gut, die Lehrer mit einzubeziehen, die uns etwas gelehrt haben, was sich auf dem spirituellen Weg als äußerst nützlich erwiesen hat. Beispielsweise jene, die uns die verschiedenen Sprachen gelehrt haben, sodass wir in der Lage sind, den Dharma lesen zu können. Wenn wir beispielsweise Deutsche sind, bezieht es sich auf die Lehrer, die uns Englisch beigebracht haben. Es geht hier nicht um jeden einzelnen Lehrer, aber jene, die wichtig und gewissermaßen Repräsentanten sind.
In meinem Fall habe ich viele verschiedene asiatische Sprachen gelernt und es geht um den wichtigsten Lehrer jeder dieser asiatischen Sprachen, die ich gelernt habe und in denen ich Dharmatexte lese. Und auch die wichtigsten Lehrer meiner regulären Schulbildung, nicht gerade die der dritten Klasse – obwohl man sie auch mit hinzufügen könnte, wenn man es sehr ausführlichen machen möchte, wie jene, die mir beigebracht haben zu lesen. Oder die Lehrer, die mich während meiner Zeit an der Universität wirklich inspiriert haben, sei es in Philosophie, Psychologie, Asiatischer Geschichte oder was auch immer. Wir können das Namesmantra des Lehrers benutzen, wenn wir es kennen – ich kann Sanskrit und kann ihre Namen wieder zurück ins Sanskrit übersetzen, aber es geht auch ohne das. Man kann einfach ihre Namen aussprechen, nur um sich an sie zu erinnern. Und ob man sie visualisieren kann oder nicht, hängt allein von unserem Geschick ab. Wir rezitieren ihre Namen, aber tun es nicht einfach nur mechanisch, sondern nehmen uns einen Moment Zeit darüber nachzudenken, welche der guten Eigenschaften dieses Lehrers am herausragendsten ist und was wir von ihm gelernt haben. In welcher Weise hat dies zu meinem gegenwärtigen Verständnis des Dharmas beigetragen?
Hier handelt es sich um eine sehr mächtige und ausgesprochen hilfreiche Praxis. Dies ist ein wirklich guter und wichtiger Aspekt des Guru-Yogas und man kann diese Praxis dort einfügen. Es gibt die grundlegende Visualisierung, die dies beinhaltet, aber dann gibt es eine bestimmte Stelle, an der man die verschiedenen Namensmantras der Lehrer durchgeht und da würde man diese Praxis einfügen. Es ist etwas, das man in allen Guru-Yoga-Praktiken einfügen kann. Es gibt so viele Linien und fast alle haben eine Art Guru-Baum, oder Zufluchtsbaum. Dort kann man es einfügen. In diesem Zusammenhang sagte einer meiner Lehrer, Geshe Ngawang Dhargyey: „Sie uns an! Wenn uns jemand fragt, wie viel Geld wir auf unserem Konto haben, können wir ihnen sofort eine Zahl nennen. Aber wenn man uns fragt, wie viele spirituelle Lehrer wir hatten, können wir das nicht beantworten.“ Wir wissen es nicht. Das zeigt uns, wo unsere Interessen und Prioritäten liegen. Wir haben den Baum mit den Gurus, ähnlich wie den Zufluchtsbaum, und wir können es dort einfügen, wenn wir keine Guru Puja, oder Lama Chöpa machen. In jeder Tradition gibt es so etwas.
Ist es besser, sich mehrere Linienbäume vorzustellen, wenn wir Lehrer haben, die unterschiedlichen Linien angehören, oder sollen wir sie alle zusammentun?
Ich tue sie alle zusammen. Ich stelle sie mir in Gruppen vor, Gruppierungen der verschiedenen Traditionen, so wie es verschiedene Äste an einem Baum gibt. Ich nehme an, es wäre nicht gerade hilfreich, wenn sie zu sehr getrennt voneinander sind. Das gleiche gilt für die westlichen Lehrer meiner regulären Ausbildung, oder meine Sprachlehrer – ich stelle sie mir in einer getrennten Gruppierung vor. Aber das ist nur meine Art, wie ich es persönlich mache. Ich glaube, wir sollten kreativ sein. Ich mache es so, dass sich in jeder Gruppierung eine zentrale Figur befindet, die sozusagen diese Linie oder Gruppe repräsentiert. Beispielsweise befindet sich der Lehrer, bei dem ich Tibetisch gelernt habe, in der Mitte und um ihn herum sind die anderen Lehrer, die mich in anderen asiatischen Sprachen unterrichtet haben. Das ist aber lediglich mein eigener Stil. Wie gesagt, glaube ich, dass hier Kreativität gefragt ist. Es gibt hier Raum dafür. Und auch, wenn wir sie nicht alle auf einmal visualisieren können, was in der Tat sehr schwierig ist, können wir zumindest ihre Namen aussprechen und einen Moment an sie denken und uns daran erinnern, wie sie aussehen. Dadurch wird es lebendiger. Die ganze Energie des Guru-Yoga kommt aus der Lebendigkeit der Praxis. Daher ist es so wichtig, einen lebendigen Lehrer gehabt zu haben und nicht einfach nur aus Büchern zu lernen. Aus Büchern kann man nicht so viel Energie schöpfen; man bekommt etwas, aber nicht so viel, wie von einer echten Person. Es ist ein Unterschied, eine Person in einem Video zu sehen, oder mit ihr im selben Raum zu sein.
Worin besteht der Unterschied, in der siebengliedrigen Praxis einzugestehen, von einem Lehrer missbraucht worden zu sein und hier über die Fehler des Lehrers zu reden?
In dem Abschnitt, in dem es darum geht, die Fehler der Vergangenheit zuzugeben, ist die Rede von einem missbräuchlichen Lehrer. Wir praktizieren den Guru-Yoga vielleicht nicht mit diesem missbräuchlichen Lehrer, aber mit den schlechten Erfahrungen, die wir gemacht haben. Obwohl wir vielleicht denken mögen: „Ich wurde von diesem Lehrer missbraucht. Was ist der Sinn, darauf herumzubohren? Der Lehrer hatte auch gute Eigenschaften und ich habe auch etwas von ihm gelernt, also kann ich einfach das wertschätzen.“ Das ist möglich, allerdings denken wir normalerweise: „Ich hatte diese schlechte Erfahrung. Und ich will nicht, dass es sich auf die Beziehung überträgt, die ich jetzt mit einem qualifizierteren Lehrer habe.“ Was wir jetzt tun, ist, daran zu denken, welche Vorteile es hat, sich auf die guten Eigenschaften auszurichten und welche Nachteile, sich nur auf die negativen Eigenschaften zu konzentrieren. Das ist also eine andere Sache.
Es ist auch wichtig, dass wir über diesen Lehrer, mit dem wir schlechte Erfahrungen gesammelt haben, nicht nur sagen, es wäre alles schlecht gewesen, wir waren so dumm und es wäre einfach nur Zeitverschwendung, sich auf diesen Lehrer eingelassen zu haben, denn zweifellos gab es auch positive Dinge, die wir daraus gelernt haben, auch wenn es lediglich Informationen über den Dharma waren, die wir bekommen haben. In den Lehren wird sehr deutlich betont, eine Distanz zu einem Lehrer zu wahren, wenn wir die Beziehung mit ihm übereilt und unbedacht eingegangen sind. Wir sollten es nicht nur negativ sehen, sondern auch Wertschätzung demgegenüber haben: „Ich habe ein paar positive Dinge gelernt, aber kann leider nicht bleiben und so weitermachen, trotzdem vielen Dank.“
Warum spielt die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer im tibetischen Buddhismus eine so zentrale Rolle, viel mehr als beispielsweise in irgendeiner Tradition im Westen? Besonders in Tibet war es schwierig, denn es gab kein öffentliches Schulsystem. Wenn man Wissen erwerben wollte, musste man direkten Kontakt zu einen Lehrer haben und von so einem direkten Kontakt kann man viel mehr Energie bekommen. Aber warum ist es in der heutigen Welt immer noch so wichtig, in der wir so guten Zugang zu Informationen haben? Warum wird es immer noch so betont?
Nun, zunächst findet man diese Betonung auf die Lehrer-Schüler-Beziehung nicht nur in Tibet, sondern auch in Indien und China, in Form von echten zwischenmenschlichen Beziehungen usw. Und ich glaube, es ist heutzutage im Westen sogar noch relevanter, als es vielleicht vor einiger Zeit war. Wenn man sich das Phänomen Internet, Computer, Chat-Räume, Mobiltelefone und all diese Dinge ansieht, merkt man, dass sich die Menschen immer weiter voneinander entfernen. Wir mögen denken, es würde sie näher bringen, tatsächlich ist aber genau das Gegenteil der Fall. In einem Chat-Raum kann man einen falschen Namen angeben, man kann irgendeine Identität annehmen. Man kann den Computer einfach ausmachen, wenn man nicht weiter kommunizieren möchte. Man kann einfach nicht ans Telefon gehen, wenn man nicht antworten will. Meiner Meinung nach entfremden sich die Menschen oft immer mehr voneinander und versinken mit ihren kleinen Maschinen in ihre eigene Welt und sind völlig abhängig von ihnen. Besonders im Mahayana, wo wir tatsächlich anderen von Nutzen sein wollen, ist es von enormer Wichtigkeit, zwischenmenschlichen Kontakt, echten, emotionalen Kontakt untereinander zu haben. Mir dem spirituellen Lehrer handelt es sich um eine lebendige Beziehung, in der es einen wirklichen Austausch auf einer realen Ebene gibt, auch wenn wir nicht so wahnsinnig viel Kontakt mit ihm haben mögen. Man kann nicht davonlaufen. Man muss mit dem Lehrer und mit der Situation umgehen. Ich finde es also für die Entwicklung unseres eigenen Charakters und für die Entwicklung unserer eigenen Fähigkeit, mit Menschen umzugehen und ihnen zu helfen, sehr wichtig, denn das ist es, was wir als anstreben, als Buddhas tun zu können.
[Siehe auch: Die Rolle spiritueller Lehrer im digitalen Zeitalter]
Wäre es dennoch richtig zu sagen, das Ziel bestehe darin, die Abhängigkeit auf einen äußeren Lehrer zu überwinden und sich völlig von einem inneren Lehrer oder Meister leiten zu lassen?
Ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, was das bedeuten könnte. Durch die Beziehung, nicht anstatt einer Beziehung, zu einem äußeren Lehrer können wir lernen, auf den inneren Lehrer zu vertrauen. Der innere Lehrer ist nicht irgendeine Kreatur in uns oder jemand, der uns durch Telepathie Nachrichten zukommen lässt. Der innere Lehrer ist unsere Buddhanatur, unser Potenzial des Geistes des Klaren Lichts. Der äußere Lehrer und die Beziehung mit dem äußeren Lehrer helfen uns dabei. Durch den äußeren Lehrer haben wir auch die Möglichkeit, jede Menge positiver Kraft zu entwickeln, nicht nur weil wir von ihm etwas lernen, sondern weil wir ihm helfen, anderen zu helfen. Und ein lebendiges Vorbild ist so wichtig, weil wir sonst einfach nur eine imaginäre Vorstellung davon haben, was wir anstreben und sie könnte schlicht und ergreifend falsch sein.
Wir mögen nicht die Möglichkeit haben, hunderttausenden Menschen zu helfen, aber wenn diese großen Veranstaltungen stattfinden und Seine Heiligkeit der Dalai Lama oder andere große Lehrer kommen, um vor so vielen Menschen Belehrungen zu geben, können wir als freiwillige Helfer daran teilhaben, auch wenn es nur auf einer sehr banalen Ebene ist, und können so ein hohes Maß an positiver Kraft ansammeln. Diese Möglichkeit würden wir nie haben, wenn wir einfach nur allein in unserem Zimmer vor dem Computer sitzen.
Inwieweit kann uns das helfen, mehr unterscheidendes Gewahrsein oder die gewöhnlichen, weltlichen Kräfte zu erlangen, oder um was handelt es sich eigentlich bei diesem inneren Guru?
Denken Sie daran: die wesentliche Funktion des spirituellen Lehrers ist nicht, uns einfach nur Informationen zu vermitteln – das können wir auch aus dem Internet oder einem Buch bekommen – sondern uns zu inspirieren. Natürlich hat er auch viele andere Funktionen: die mündlichen Übertragungen der Linie weiterzugeben, unsere Fragen zu beantworten, uns zu korrigieren usw. Aber die tiefgreifendste Sache ist die Inspiration, die Kraft auf dem Pfad. Dies muss letztendlich von uns selbst kommen, von unserem Geist des Klaren Lichts. Der innere Guru ist der Geist des Klaren Lichts, die subtilste Ebene des Geistes, wo sich alle Buddhanatur-Qualitäten und Potenziale befinden. Hier bekommen wir unsere Kraft, unsere Inspiration, diese Qualitäten mit den verschiedenen Mitteln und Methoden zu realisieren, so wie wir auch die guten Eigenschaften, die wir in dem Lehrer sehen, durch bestimmte Methoden verwirklichen.
Ich glaube, wir sollten es nicht so wörtlich nehmen und denken, wir würden Nachrichten von unserem Geist des Klaren Lichts empfangen, wie wir beispielsweise Nachrichten auf unserm Mobiltelefon bekommen – da kommt gerade eine Nachricht an, die lautet: „Tue jetzt dies und dann das.“ Es handelt sich um unsere Quelle der Stärke; um unsere Quelle der Inspiration. Wir entwickeln uns, nicht nur aufgrund der Inspiration, die wir vom Lehrer bekommen, sondern in Zusammenarbeit mit unseren eigenen Buddhanatur-Qualitäten. Wie bereits gesagt, sehen wir die Buddhanatur in den Lehrern und das hilft uns, die Buddhanatur in uns selbst zu aktivieren. Auf diese Weise, auf der Grundlage dieser Qualitäten des Geistes des Klaren Lichts, entwickeln wir dieses unterscheidende Gewahrsein, diese Warmherzigkeit, diese Fähigkeit, anderen zu helfen usw.
Ich habe einen westlichen Lehrer kennengelernt, der mir erzählte, er stehe immer durch die innere Stimme, die innere Kommunikation, in Kontakt zu seinem Guru. Es war nicht notwendig, den Lehrer zu treffen; er war bereits gestorben. Er hatte das Gefühl, dass er nicht mehr zu Lehrern gehen musste. Was läuft da ab?
In einigen seltenen Fällen gibt es so etwas wie Telepathie, auch mit einem Lehrer, der schon gestorben ist. Zweifellos wird das in den Texten beschrieben. Beispielsweise hatte Kedrub Je eine Vision von Tsongkhapa. Ich habe selbst die Erfahrung gesammelt und es ist so, dass man sich dem Lehrer oft näher fühlt, nachdem er gestorben ist, denn man kann nicht mehr sagen, er wäre irgendwo verreist und deswegen weit weg. Wir müssen den Lehrer und die Werte des Lehrers verinnerlichen.
Und wenn ich mich in einer verworrenen Situation befinde und nicht mehr weiter weiß, frage ich mich oft, wie Serkong Rinpoche mit dieser Situation umgehen würde. Was würde er tun? Was würde Seine Heiligkeit der Dalai Lama tun? Dies sind meine beiden wichtigsten Lehrer. Was würden sie in so einer Situation tun? Und da ich in zahlreichen Situationen mit ihnen die Möglichkeit hatte, Eindrücke zu sammeln, habe ich eine Vorstellung davon, wie sie reagieren würden. Kommunizieren sie mit mir in diesen Momenten? Ich glaube nicht. Nicht direkt und bewusst von ihrer Seite aus. In den meisten Fällen haben sich große spirituelle Lehrer aus Tibet wieder reinkarniert. Wer kommuniziert also mit wem? Ich weiß es nicht. Und was die Telepathie angeht, nun, da gibt es verschiedene Formen. Gewiss spürt man etwas, wenn man eine sehr tiefe Beziehung zu jemandem hat. Man kann die Energie einer Person sehr leicht spüren, auch wenn sie nicht da ist. Wir kennen das alle: Man denkt gerade an jemanden und zwei Sekunden später bekommt man einen Anruf von dieser Person. Das ist sicherlich schon vielen von uns passiert.
Es gibt also diese Art von Verbindungen. Aber dann gibt es auch jene, die in die Kategorie der Scharlatane fallen. Meist handelt es sich dabei um westliche Lehrer, die andere damit beeindrucken wollen, indem sie sagen: „Ich stehe ständig in tiefem Kontakt zu meinem Lehrer und er spricht zu mir,“ aber sie spielen nur eine Komödie vor. Es ist ziemlich schwer zu sagen, was andere tun. Man muss sich auch andere Aspekte ihres Verhaltens ansehen. Generell ist es jedoch am besten, Kontakt mit dem Lehrer zu haben, wenn er noch am Leben ist und man die Möglichkeit dazu hat, besonders auch deswegen, um Erklärungen und Belehrungen zu bekommen. Natürlich gab es Menschen, die Visionen hatten, wie in dem berühmten Fall, als jemand in einer Vision Unterweisungen von Maitreya bekam. Doch sie ist sehr selten. Man hat viel davon gehört, aber die meisten von uns werden wohl eher nicht solche Erfahrungen machen. Allerdings können wir uns alle fragen, wie unsere Lehrer mit dieser Situation umgehen würden – ich denke, das ist etwas, womit wir alle arbeiten können. Das ist die Bedeutung davon, den Lehrer im Herzen zu tragen. Man verinnerlicht seine Werte.
Manchmal denken wir: „Oh, ich habe gerade an dich gedacht,“ oder „Ich habe das Gefühl, du hast gerade an mich gedacht.“ Manchmal ist es tatsächlich so, manchmal auch nicht, wenn wir bei der Person nachfragen, ob sie zu der Zeit gerade an uns gedacht hat. Diese Art der Erfahrung ist also nicht zuverlässig. Aber es gibt sie – viele der großen Texte, die wir haben, stammen aus Visionen. Seine Heiligkeit der Dalai Lama hat von diesen reinen Visionen gesprochen. Er sagte, so wie es diese reinen Visionen und Überlieferungen von Lehren in der Vergangenheit gegeben hat, gibt es keinen Grund zu behaupten, es würde sie nicht auch zukünftig geben. Es wird sie also auch in der Zukunft weiterhin geben, aber er sagt, es sei sehr wichtig, diese Lehren zu überprüfen, um sicherzustellen, dass es sich nicht um Unsinn handelt. Man muss also schauen, ob sie mit allen anderen Lehren des Buddha im Einklang stehen und ob sie, wenn sie von qualifizierten Meistern in die Praxis umgesetzt werden, dann zu den gewünschten Resultaten führen. Und es ist besonders dann sehr wichtig zu überprüfen, wenn die Lehren von einer Art Geist, einem Orakel, durch Channeling oder etwas Ähnlichem empfangen wurden. So, wie es sehr nützliche und hoch entwickelte Geister geben mag, die durch Orakel sprechen und Ratschläge geben können, gibt es auch sehr schädliche Geister, Dämonen und andere Wesen in dieser Kategorie, die Menschen in gleicher Weise durch Ratschläge in die Irre führen können. Diese Dinge gilt es, laut Seiner Heiligkeit, immer zu überprüfen.