Der Begriff „Guru-Yoga“ setzt sich aus zwei Sanskrit-Wörtern zusammen. Zuerst einmal müssen wir verstehen was sie bedeuten, um zu wissen, worum es hier geht.
Ein Guru ist ein vollkommen qualifizierter spiritueller Meister. Wörtlich bezieht es sich auf jemanden, der schwer ist, also eine große Masse an guten Eigenschaften besitzt. Der Begriff wird auf verschiedene Weise ins Tibetische übersetzt. Einmal mit dem Wort „Lama“ (bla-ma), was sich wiederum auf einen hoch qualifizierten Meister bezieht. Der Begriff wird jedoch in den verschiedenen tibetischen Kulturkreisen auf vielfältige Weise benutzt und hat oft auch weniger hochtragende Bedeutung. So benutzt man das Wort „Lama“ häufig einfach nur für einen Mönch. Beim Guru-Yoga ist das aber nicht der Fall. In anderen Kulturen bezeichnet man mit diesem Wort auch jemanden, der gerade ein Dreijahres-Retreat absolviert hat, also qualifiziert ist, ein Dorfpriester zu sein und Rituale abzuhalten. Darauf bezieht sich das Wort Lama hier mit Sicherheit nicht. Dann gibt es auch einige Westler, die sich selbst aus verschiedenen, vielleicht nicht gerade reinen, Gründen als „Lama“ bezeichnen, um damit anzugeben. Das ist auch nicht das, was hier damit gemeint ist.
Außerdem kann man den Begriff auch für einen reinkarnierten Lama benutzen. So eine Person wird auf Tibetisch „tulku“ (sprul-sku) genannt und trägt den Titel „Rinpoche.“ Das fällt auch nicht unbedingt in unsere Kategorie. Nur weil jemand ein reinkarnierter Lama ist, heißt das nicht, er ist auch ein qualifizierter Lehrer. Es könnte sich auch um ein Kind handeln. Und auch wenn er ein Erwachsener ist: wenn die Umstände und Bedingungen für seine Entwicklung, für seine Ausbildung und sein ganzes Umfeld nicht förderlich sind, reift auch in ihm immer noch vorhandenes negatives Karma, denn die große Mehrheit von diesen Tulkus ist mit Sicherheit nicht erleuchtet und sie hatten wahrscheinlich nicht einmal eine Wahrnehmung der Leerheit (nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit) und so verhalten sie sich womöglich ganz und gar nicht wie echte Lehrer. Nur weil jemand den Titel eines Tulku oder reinkarnieren Lamas trägt, bedeutet das nicht, er wäre ein großer Meister. Es weist lediglich darauf hin, dass die Person am Anfang dieser Linie so jemand war. Seine Heiligkeit der Dalai Lama betont immer sehr deutlich, dass sich die reinkarnierten Lamas nicht nur auf ihren Namen stützen sollten und auch ihre Anhänger sollten nicht nur diese großen Namen und Titel sehen. Vielmehr ist es notwendig, dass jeder reinkarnierte Lama selbst seine Qualifikationen in diesem Leben unter Beweis stellt.
Ein anderes Wort für Guru stammt aus einem etwas anderen Sanskritbegriff und wird manchmal als „spiritueller Freund“ (kalyana-mitra) übersetzt. Das bedeutet soviel, wie ein Freund, der uns hilft, konstruktiv oder tugendhaft zu werden. „Spirituell“ ist im Grunde hier nicht richtig übersetzt. Dieses Wort, welches hier mit „spirituell“ (kalyana) übersetzt wird, bedeutet tatsächlich konstruktiv. Also jemand, dem wir sehr nahe stehen und der uns wie einen guten Freund oder ein Familienmitglied behandelt. Es bezieht sich nicht auf jemanden, mit dem wir zusammen einen trinken oder ins Kino gehen, sondern eine Person, zu der wir eine wirkliche Herzensverbindung haben. Der ganze Zweck dieser Beziehung besteht darin uns zu helfen, mehr und mehr konstruktiv und positiv zu werden und in zunehmendem Maße gute Eigenschaften zu entwickeln. Das tibetische Wort dafür ist „Geshe“ (dge-bshes, dge-ba'i bshes-gnyen).” Erst viel später ist daraus ein Titel für jemanden geworden, der das Ausbildungssystem in der Gelug-Tradition absolviert hat. Die ursprüngliche Bedeutung ist „spiritueller Freund.“ Der entsprechende Begriff dafür in anderen tibetischen Traditionen ist „Khenpo“ (mkhan-po), was in einem anderen Zusammenhang der Name für den Abt eines Klosters ist. Wörtlich bedeutet das Wort „ein Gelehrter.“
Und nur weil jemand ein Geshe oder ein Khenpo ist, bedeutet also auch nicht, dass er spirituell fortgeschritten oder ein guter Lehrer ist. Es heißt nur, dass er eine sehr gute Ausbildung gehabt hatte und, ähnlich wie Universitätsprofessoren, viele Prüfungen absolviert hat. Gebildet zu sein ist eine Qualifikation eines großen Lehrers, aber einfach nur das reicht nicht aus. Er sollte auch den Charakter und all die guten Eigenschaften haben, die damit zusammenhängen.
Nun zu dem Wort „Yoga“ des zusammengesetzten Wortes Guru-Yoga. Es kommt aus der gleichen Wurzel wie das englische Wort „yoke“ (auf Deutsch: anspannen) und bedeutet wörtlich etwas oder jemanden zu verbinden, so wie man zwei Ochsen zusammen vor einem Pflug anspannt. Das tibetische Wort besteht aus zwei Silben (rnal-’byor) und bedeutet „sich zu verbinden mit dem, was authentisch ist“ oder, mit anderen Worten, mit dem, was echt ist. Und das, was wir versuchen, miteinander zu verbinden, sind unsere Qualitäten von Körper, Rede und Geist. d.h. unsere Art des Handelns, Kommunizierens, Denkens und Fühlens, mit Körper, Rede und Geist eines authentischen spirituellen Lehrers, mit dem, der qualifiziert ist, der echt ist. Damit wir dazu fähig sind, ist es notwendig, empfänglich dafür zu sein. Unsere eigenen grundlegenden Qualitäten von Körper, Rede und Geist müssen offen für diese Verbindung sein. Das heißt, auch wir müssen qualifiziert genug sein.
Wie das funktioniert, drückt sich in dem Wort (byin-rlabs) aus, was normalerweise mit „Segen“ übersetzt wird. Ich finde dieses Wort, das aus christlichen Quellen stammt, jedoch völlig unangebracht und übersetze es lieber mit „Inspiration.“ Durch dieses Verbinden wollen wir inspiriert werden. Das Wort bedeutet auch „erheben“ und „erhellen.“ Mit anderen Worten ist unsere Art des Handelns, Kommunizierens, Denkens und Fühlens vollkommen empfänglich und völlig offen dafür, durch die Inspiration des Beispiels und der Anweisung des spirituellen Lehrers geschult, erhellt und auf eine nützlichere Ebene erhoben zu werden. Darum geht es beim Guru-Yoga.
[Siehe: „Segen“ oder Inspiration]
Wenn wir also davon sprechen uns zu verbinden, geht es mit Sicherheit nicht darum, ein Klon des Lehrers zu werden und wenn der Lehrer schlecht Englisch spricht, ihn zu imitieren und auch schlecht Englisch zu sprechen. Wenn er die Angewohnheit hat, viel Buttertee zu trinken, fangen wir nicht auch damit an. Es geht nicht um diese oberflächlichen Eigenschaften, sondern um die positiven, guten Eigenschaften, die Buddha-Qualitäten des Lehrers.
Darum geht es auch, wenn es heißt, den spirituellen Lehrer als einen Buddha zu sehen. Wir sollten das nicht wörtlich nehmen. In der buddhistischen Literatur wird nirgends davon gesprochen, es gehöre zu den Qualifikationen eines spirituellen Meisters, erleuchtet zu sein. Wenn der Lehrer wirklich ein Buddha wäre, würde er die Telefonnummern aller Menschen auf dieser Erde kennen und das ist ganz offensichtlich nicht der Fall. Er kann auch nicht durch Wände gehen und all diese Dinge. Das kann er natürlich nicht. Es bezieht sich darauf, die Buddhanatur, die Ebene der Verwirklichung dieser Buddhanatur-Qualitäten, die Möglichkeit dieser Buddhanatur-Qualitäten im Beispiel des spirituellen Lehrers zu sehen und sich darauf zu konzentrieren. Und diese Buddhanatur des spirituellen Lehrers wird dann durch eine dieser Buddhaformen (yidam, auf Tibetisch) repräsentiert.
Wenn wir den Lehrer als untrennbar von diesen Buddhaformen sehen, geht es darum, sich auf die Buddhanatur des spirituellen Lehrers zu fokussieren, die durch die Form und Qualitäten der Buddhaform repräsentiert werden kann. Es ist keineswegs einfach nur eine bequeme Methode, den spirituellen Lehrer als Buddhaform zu betrachten. Tatsächlich sehen wir die Buddhanatur, wir rücken die Buddhanatur in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit; sie ist da. In diesem Sinne ist der Lehrer ein Buddha, aber es bedeutet nicht, dass er sprichwörtlich ein Buddha ist. Das ist es, was ich meine. Die Sprache ist immer verwirrend, das ist das Problem. Es bedeutet nicht wortwörtlich, seine Buddhanatur wäre bereits da – sie ist natürlich nicht von Natur aus auffindbar, sie ist auch Leerheit. Es geht um den Buddha, um das Potenzial eines Buddha, um Ursache und Wirkung.
Was verbinden wir hier also? Tatsächlich verbinden wir unsere eigene Buddhanatur mit der Buddhanatur des spirituellen Meisters. Deshalb sagte Gampopa: Als ich die Einheit meines spirituellen Meisters und des Yidams in meinem eigenen Geist erkannte, habe ich Mahamudra verwirklicht. Wir verbinden also unsere eigene Buddhanatur mit der Buddhanatur unseres spirituellen Lehrers, um inspiriert zu werden, unsere eigene Buddhanatur zu erkennen und all ihre Potenziale zu realisieren. Das ist es, worum es beim Guru-Yoga geht. Dargestellt wird es durch Lichtströme, welche die drei Stellen (Stirn, Kehle und Herz) des spirituellen Lehrers mit unseren drei Stellen – die Körper, Rede und Geist repräsentieren – verbindet. Es ist, als gäbe es einen Kanal, durch den diese Aspekte der Buddhanatur unseres spirituellen Lehrers zu uns geleitet und wir auf diese Weise genährt werden, denn es ist einfacher, die Einheit dieser drei im spirituellen Lehrer zu sehen, als in uns selbst. Dabei verbinden wir aber nicht die Gewohnheit des Lehrers, Buttertee zu trinken, mit unserer Gewohnheit, Kaffee oder Kräutertee zu trinken. Darum geht es ganz gewiss nicht.
Würden wir nun versuchen, uns auf Buddha Shakyamuni selbst und all die Qualitäten des Buddha, wie sie in den Lehren aufgeführt werden, zu beziehen, die Fähigkeit, alle Sprachen zu sprechen, nur ein Wort zu sagen und alle würden es vollkommen in ihrer eigenen Sprache verstehen und es auf verschiedenen Ebenen verwirklichen usw., wäre das recht schwierig. Es ist wirklich sehr schwer für uns, sich diese tatsächlichen Buddha-Qualitäten vorzustellen, ganz zu schweigen davon, sich darauf zu beziehen und sie wirklich ernst zu nehmen. Die Guru-Yoga Praxis nur mit Shakyamuni Buddha selbst auszuführen, könnte sich für die meisten von uns als recht schwierig gestalten. Natürlich wäre es möglich, aber es wäre nicht gerade einfach, es wirklich ernsthaft und korrekt auszuführen, sodass es wirklich eine Bedeutung für uns hat und nicht einer Reise ins Disneyland und somit einem Vergnügungstrip gleicht. Um es wie Khandro Rinpoche auszudrücken: als wäre es nur ein samsarisches Vergnügen mit vielen Lichtern, wie eine Fahrt in einem Vergnügungspark.
Nur wenn man wirklich eine sehr hohe Ebene der Entwicklung erreicht hat, wie beispielsweise Seine Heiligkeit der Dalai Lama, kann man seine Inspiration direkt von dem Beispiel Buddha Shakyamunis bekommen. Seine Heiligkeit unterrichtet regelmäßig vor zehn-, zwanzigtausend Menschen. Es wird gleichzeitig in so viele verschiedene Sprachen übersetzt und manchmal unterrichtet er sogar vor über einhunderttausend Menschen in Indien. Seine Heiligkeit hat also einen Bezug zu dem Beispiel von Buddha Shakyamuni, der Millionen von Menschen, unzählig viele Wesen gleichzeitig unterrichtet. Seine Lehren werden manchmal über das Internet weltweit ausgestrahlt und sind zur gleichen Zeit überall zu sehen. Er hat also einen Bezug zu dieser Art von Beispiel, aber wir nicht. In unserer Erfahrung gibt es nichts auch nur annähernd Ähnliches.
Zu welchen großen Beispielen haben wir einen Bezug, auch wenn wir vielleicht nicht auf der Ebene sind, es uns aber zumindest vorstellen können? Für die meisten von uns ist sogar das Beispiel Seiner Heiligkeit des Dalai Lama jenseits jeder Vorstellungskraft. Wie kann man so einem Zeitplan folgen, wie Seine Heiligkeit, und so viele Menschen unterrichten, der Gelehrteste unter allen Tibetern sein, das größte Mitgefühl haben, ein fotografisches Gedächtnis, nicht nur in Bezug auf Texte, sondern auch auf Menschen haben, und mit allen weltlichen und politischen Aspekten zurechtkommen? Ein großes Land wie China betrachtet ihn als den schlimmsten Feind und den schlechtesten Menschen der Welt, und es betrübt ihn nicht einmal, sondern er ist einfach immer glücklich. Wir können es nicht ertragen, wenn eine Person schlecht über uns redet, aber wie ist es, wenn 1,2 Milliarden Menschen es tun und weltweit propagieren, was für ein schlechter Mensch wir sind? Versuchen wir einmal damit klar zu kommen und nicht niedergeschlagen zu sein.
Wie Seine Heiligkeit sagt, ist Er ein bisschen traurig, weil Er in Seinem Leben nie deprimiert war, keinen Bezug zu dieser Erfahrung hat und nicht weiß, wie es sich anfühlen muss, depressiv zu sein. Das ist für uns unvorstellbar. Um also Inspiration zu bekommen, ist es notwendig, dass wir uns auf weit weniger entwickelte spirituelle Meister beziehen. Deshalb können für uns die Beispiele der sogenannten gewöhnlichen spirituellen Meister viel inspirierender sein, weil wir uns vorstellen können, wie es ist, so zu sein und diese guten Eigenschaften zu haben, obwohl sie viel mehr davon haben, als wir. Und so mag ein spiritueller Meister, der geeignet ist, uns auf dem Pfad weiterzuhelfen, vielleicht nicht das beste aller Beispiele sein, zumindest nicht auf unserer gegenwärtigen Ebene. Wir müssen uns immer weiter entwickeln, um ernsthafte Inspiration zu bekommen und nicht einfach überwältigt zu werden und zu denken: „Da komme ich nie hin.“
In vielen Texten der großen Meister wird auch gesagt, dass wir, realistisch gesehen, nicht so leicht einen spirituellen Meister finden werden, der all die Qualifikationen hat. Jene, auf die wir treffen, werden sowohl positive als auch negative Eigenschaften oder Fehler haben. Aber es ist wichtig jemanden zu finden, der mehr positive Eigenschaften als negative hat. Und was sind die wichtigsten unter den positiven Eigenschaften? Den ernsthaften Wunsch zu haben, dem Schüler helfen zu wollen; nicht die Absicht zu haben, den Schüler wegen Geld, Macht, Sex oder was auch immer auszubeuten; und ein ethischer Mensch zu sein. Der Lehrer sollte Mitgefühl haben, ethisch sein und natürlich mehr Wissen besitzen als der Schüler, um ihm etwas beibringen zu können. Er sollte sich nicht zu sehr unter dem Einfluss störender Emotionen und Geisteshaltungen befinden. Diese Dinge sind die wichtigsten. Er sollte uns ernsthaft helfen wollen.
Wir müssen sehr vorsichtig sein, denn es gibt viele Scharlatane, die sich als spirituelle Lehrer ausgeben, sowohl asiatische, als auch westliche. Und viele von ihnen können wirklich sehr charismatisch und unterhaltsam sein und viele Anhänger haben. Vielleicht werden sie uns sogar von anderen Meistern empfohlen, die sie nicht so genau geprüft haben und die vielleicht nicht die Zeit haben, sich genau anzuschauen, wie sich diese Personen im Westen benehmen. Daher ist es wichtig, wirklich sehr sorgfältig zu diskriminieren und keinem charismatischen Scharlatan zu folgen, nur weil er viele Anhänger hat. Schließlich war auch Hitler sehr charismatisch, aber das bedeutet nicht, dass wir so einer Person folgen sollten.
Genauso verhält es sich mit der Bildung: Nur weil der Lehrer sehr gebildet ist, heißt das nicht, er hat auch einen guten Charakter. Wir sollten also auch vorsichtig sein, eine Beziehung zu so einem Lehrer einzugehen. Aber zumindest ist diese Person gelehrt; der Scharlatan meist nicht, obwohl auch er manchmal einen gewissen Grad an Bildung haben mag. Von einer Person, die gebildet ist, können wir zumindest korrekte Informationen bekommen. Es mag vielleicht nicht sehr inspirierend sein, was für ein Mensch diese Person ist, aber wir können die Tatsache wertschätzen, dass sie eine Quelle korrekter Informationen ist. Und das ist es, was wir brauchen. Es gibt also viele Ebenen von spirituellen Lehrern und darüber müssen wir uns im Klaren sein. Sie befinden sich nicht alle auf der gleichen Ebene der Entwicklung.
Noch eine wirklich absolut notwendige Qualifikation eines spirituellen Lehrers, egal auf welcher Ebene, ist die, aufrichtig und nicht überheblich zu sein. Er gibt nicht nur vor, gute Eigenschaften zu besitzen, die er nicht hat und versucht seine eventuellen Fehler nicht zu verstecken. Er muss nicht vor allen sein privates Sexualleben enthüllen. Das ist nicht der Punkt. Es geht darum, es zu verheimlichen oder nicht zugeben zu wollen, wenn man etwas nicht gelernt oder eine bestimmte Art der Meditation nicht gemacht und somit bestimmte Mängel in der Ausbildung und in der persönlichen Entwicklung hat. Es ist sehr wichtig, dass er uns keine Komödie vorspielt, sondern aufrichtig ist.
Gleichermaßen sollten auch wir ehrlich zugeben, auf welcher Ebene wir stehen und vor dem Lehrer nicht vorgeben, Qualitäten zu besitzen, die wir nicht haben. Wir sollten unsere eigenen Mängel in unserer Praxis und Verwirklichung nicht verstecken, damit die Beziehung aufrichtig ist und der Realität, nicht der Fantasie, entspricht. Auch wenn wir nicht so viel persönlichen Austausch mit dem Lehrer haben – im tibetischen Kontext ist der Lehrer nicht jemand, zu dem wir ständig hinlaufen, ihm all unsere Probleme offenbaren und ihm alles über uns erzählen. Das wäre eher ein therapeutischer Lehrer. Ein spiritueller Lehrer ist kein Therapeut. Ein spiritueller Lehrer vermittelt uns die Methoden und dann liegt es an uns, damit zu arbeiten. Wir können Fragen stellen. Bei einem Therapeuten ist es der Klient, der das Reden übernimmt – er redet über sich selbst. Bei einem spirituellen Lehrer ist er es, der am meisten redet und über die Belehrungen spricht. Das ist etwas ganz anderes. Viele Menschen im Westen verwechseln diese zwei Rollen eines spirituellen Lehrers und eines Therapeuten. Es ist sehr wichtig, dies nicht durcheinanderzubringen. Wenn wir einen Therapeut brauchen, sollten wir zu einem Therapeuten gehen und nicht zu einem spirituellen Lehrer. Außerdem lehrt der spirituelle Meister durch sein eigenes Beispiel, der Therapeut nicht.
Wie ich gestern Abend schon aus meiner eigenen Erfahrung erzählt habe, hatte ich neun Jahre eine wirklich sehr enge Beziehung zu Serkong Rinpoche und auch sehr engen Kontakt zu meinen anderen spirituellen Lehrern. Alle waren Tibeter und ich muss sagen, sie haben mich nie nach meiner persönlichen Erfahrung mit den Lehren gefragt und ich habe auch nie mit ihnen darüber geredet und ihnen erzählt, dieses oder jenes wäre passiert. Ich war immer inspiriert zu versuchen, die Lehren anzuwenden und es selbst herauszufinden. Sie waren offen dafür, wenn ich Fragen in Bezug auf die Lehren hatte, aber meine Beziehung mit ihnen war ganz und gar nicht wie die im Westen. Und ich muss sagen, es hat mir sehr gut gepasst.
Was den Umgang westlicher Lehrer mit westlichen Schülern betrifft, ist bei vielen von ihnen auch ein wenig dieser Aspekt eines Therapeuten mit dabei. Einige von ihnen halten eine große Distanz zu ihren Schülern, aber wenn sie reguläre Schüler haben, wollen sie sie für gewöhnlich persönlich kennenlernen und ihnen bei ihren verschiedenen Problemen helfen, die sie vielleicht haben. Aber ich denke, dass westliche Schüler es viel einfacher finden, über ihre eigenen Erfahrungen und persönlichen Dinge mit einem westlichen Lehrer zu reden. Sehr oft haben tibetische Lehrer nicht wirklich einen Bezug dazu, was die westlichen Schüler ihnen sagen. Nicht alle, aber viele von ihnen. Unsere Erfahrungen sind einfach zu fremd für sie; all die Sachen, die wir vorher in unserem Leben, in unserem Kulturkreis, gelernt haben, sind einfach viel zu fremdartig für sie. Da gibt es also einiges, was sich im Westen ändern wird, wenn wir diese Beziehung zwischen westlichen Lehrern und westlichen Schülern entwickeln. Aber es gibt auch Probleme.
Die meisten traditionellen Asiaten reden nicht über ihre Emotionen oder ihre Gefühle. Darüber redet man einfach nicht in einer Beziehung. Sie sind ganz anders aufgewachsen. Niemand fragt ein kleines Kind: „Was willst du gerne essen?“ und: „Was willst du heute gern anziehen?“ Das wird einfach nicht gefragt, wohingegen wir im Westen immer dazu ermutigt werden, unsere Gefühle und unsere persönlichen Vorlieben auszudrücken. Es funktioniert viel besser, von Westler zu Westler über Emotionen und Gefühle zu reden.
Besonders bei Serkong Rinpoche war es so, dass er mich immer korrigiert und auf Dinge hingewiesen hat, nicht in Bezug auf meine Gefühle, die ich ihm gegenüber ausgedrückt hätte, sondern in Bezug auf mein tatsächliches Verhalten. Wie bereits erwähnt, versäumte er es nie, mich darauf hinzuweisen, wenn ich mich wie ein Idiot aufführte. Auf diese Weise hilft uns ein traditioneller asiatischer Lehrer, die Lehren umzusetzen, während wir mit einem westlichen Lehrer viel leichter darüber reden können, wie das Umsetzen der Lehren unsere Gefühle und Emotionen beeinflusst. So sehe ich das aus meiner eigenen Erfahrung als Schüler großer Meister und auch als Lehrer in Bezug auf meine eigenen Schüler. Es gibt natürlich auch traditionelle asiatische Lehrer, die im Westen aufgewachsen sind. Das ist etwas anderes.
Beim Guru-Yoga gibt es sowohl eine Sutra-, als auch eine Tantra-Ebene. Die Sutra-Ebene ist natürlich die Grundlage und Basis für die Praxis auf der Tantra-Ebene. Es wäre unvollständig, nur die Praxis der Tantra-Ebene für sich auszuführen. Auf der Sutra-Ebene (wir werden sie etwas später ausführlicher behandeln) geht es im Wesentlichen darum, die guten Eigenschaften des Lehrers zu erkennen, sich darauf auszurichten und die Güte des Lehrers zu schätzen.
Und während wir uns auf die guten Eigenschaften konzentrieren, leugnen wir nicht die Mängel des Lehrers. Es ist wichtig, diese Dinge nicht zu leugnen, sondern vielmehr zu erkennen, dass unsere spirituellen Lehrer, realistisch gesehen, natürlich Fehler haben – es sind keine erleuchteten Wesen. Wir sollten aber auch verstehen, dass es uns in keiner Weise nutzen wird, uns auf diese Fehler zu fokussieren und darüber zu klagen. Das wird uns mit Sicherheit nicht inspirieren, sondern vielmehr betrüben. Und wenn wir die Fehler erkannt haben, richten wir uns auf die positiven Eigenschaften aus, denn sie sind die Quelle von Inspiration, sie haben einen Bezug zur Buddhanatur. Dies hat der Fünfte Dalai Lama sehr deutlich betont – die negativen Eigenschaften und Unzulänglichkeiten des Lehrers nicht zu leugnen. „Negativ“ ist nicht das richtige Wort hier, obwohl ich es gerade benutzt habe. Ich glaube „Unzulänglichkeiten“ trifft es besser. Die Lehrer haben nicht all die Qualifikationen, nach denen wir suchen. Beispielsweise haben sie nicht genug Zeit für uns, weil sie überall in der Welt unterwegs sind und so viele Schüler haben. Das ist eine Unzulänglichkeit, nicht wahr? Und es kann passieren, dass wir uns sehr darüber ärgern.
Wichtig ist hier, durch die positiven Eigenschaften inspiriert zu werden. Diese Inspiration zu fühlen, hängt in vielfacher Hinsicht von der karmischen Beziehung ab, die wir mit dem Lehrer haben. Der Lehrer mag außerordentliche Qualifikationen haben, jedoch verspüren wir kein Bezug zu ihm. Es bewegt uns nicht, wenn wir mit ihm zusammen sind. Er berührt unsere Herzen und Gefühle nicht. Ein anderer Lehrer hingegen mag vielleicht nicht so hohe Qualitäten haben, jedoch inspiriert und berührt er uns, weil die karmische Beziehung so stark ist. Natürlich ist es wichtig darauf zu achten, es sich nicht einfach nur auszumalen und Eigenschaften auf den Lehrer zu projizieren, die er nicht hat.
Das ist die Bedeutung eines „Wurzelgurus.“ Ein Wurzelguru ist jemand, der uns in hohem Maße inspiriert und diese Inspiration verleiht uns die Kraft, auf unserem spirituellen Pfad wachsen zu können. Er ist die Wurzel, durch die die Pflanze all ihre Nährstoffe bekommt. Das ist also sehr wichtig. Das ist der wesentliche Punkt. Es geht um diese Inspiration, dieses Gefühl, vom Lehrer erhoben, genährt und inspiriert zu werden.
Auf der Sutra-Ebene zu arbeiten, ist sehr hilfreich. Wenn wir ehrlich sind, ist es doch oft so: Wir stehen morgens auf und fühlen uns nicht im Mindesten inspiriert, irgend etwas zu tun. Wir beginnen mit unserer Praxis und empfinden keine Inspiration. Wir sitzen einfach da, machen Guru-Yoga und stellen uns drei Lichter vor, die zu uns kommen – aber es berührt uns nicht besonders und ist nicht wirklich hilfreich. Und dabei rezitieren wir etwas auf Tibetisch: „bla, bla, bla.“ Dieser Schritt der Sutra-Ebene hilft uns, diese Qualitäten und Dinge in Erinnerung zu rufen, damit wir etwas empfinden und wenn wir dann eine Praxis auf der Tantra-Ebene mit Visualisierungen usw. ausführen, berührt es tatsächlich unser Herz. Wir können einen Nutzen daraus ziehen. Ansonsten ist es, wie bereits mit den Worten von Khandro Rinpoche ausgedrückt, nur spirituelle Unterhaltung – wir sitzen da und unterhalten uns selbst mit einer hübschen Visualisierung. Wie schön! Oder es berührt uns nicht im Geringsten.
Das führt uns zu etwas ganz anderem, was meiner Meinung nach beim Thema Guru-Yoga von großer Bedeutung ist. Es handelt sich um die Tatsache, dass viele von uns Schwierigkeiten mit Gefühlen haben. Entweder sind unsere Gefühle blockiert oder wir fühlen überhaupt gar nichts und daher wird unser Herz durch niemanden berührt. Auf der anderen Seite sind wir übermäßig emotional und hingebungsvoll und diese Gefühle überwältigen uns dermaßen, dass wir kein Unterscheidungsvermögen mehr haben. Wir werden einfach davongetragen. Und oft beruhen solche Gefühle auf Projektionen der Fantasie, statt auf die eigentliche Situation. Um solche Probleme zu vermeiden, ist es notwendig, sich erst einmal ausgiebig mit den vorbereitenden Übungen zu befassen (Reinigen, positive Kraft aufbauen usw.), um diese Hindernisse der Überempfindlichkeit oder Gefühlslosigkeit überwinden zu können, damit wir dann Guru-Yoga auf eine gesunde Art und Weise praktizieren können. Das ist nicht einfach.
Oft sind wir etwas verwirrt, denn im Lam-rim (dem Stufenpfad der Tradition), befindet sich die Beziehung zum spirituellen Lehrer in vielen Versionen am Anfang des Textes und wird „Wurzel des Pfades“ genannt. Aber wir müssen verstehen, dass die Wurzel des Pfades nicht das Gleiche ist, wie der Same des Pfades. Mit dem Samen fängt es an, von dort beginnt es zu wachsen. Von der Wurzel, wie beim Wurzelguru, kommt der Nährstoff, wenn die Pflanze erst einmal bis zu einer bestimmten Größe gewachsen ist. Der Grund, warum die Beziehung zum Guru am Anfang dieser Texte erwähnt wird, ist der, dass sie auf mündlichen Unterweisungen beruhen, die Mönchen gegeben wurden, die dem spirituellen Pfad sehr verbunden waren, bereits Gelübde abgelegt haben und die den Stufenpfad als Vorbereitung zum Empfangen der tantrischen Initiation durchgingen. Deshalb befindet sich diese Praxis am Anfang. Laut Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama sollte man es gewiss nicht auf diese Weise den westlichen Studenten lehren, besonders nicht jenen, die gerade in ein Dharmazentrum kommen, um sich zu informieren. Sie wissen nichts über den Buddhismus und dann beginnt man zweifellos nicht damit, den Guru als Buddha zu sehen, sondern belässt es am Ende. Auch der Fünfte Dalai Lama betont deutlich, dass die Beziehung zum spirituellen Lehrer im Mahayana auf der Grundlage beschrieben wird, bereits die Zufluchts- und Bodhichitta-Gelübde genommen zu haben. Es ist keineswegs für Anfänger gedacht.
Wie ich bereits vorher schon begonnen habe zu erklären, gibt es viele verschiedene spirituelle Ebenen von spirituellen Lehrern. Einige von ihnen sind einfach nur dafür qualifiziert genug, uns zu Beginn unseres spirituellen Pfades mit Informationen zu versorgen, wenn wir noch nichts über den Buddhismus wissen und einfach nur Informationen brauchen. Dann gibt es andere, die uns etwas mehr dazu erklären können, wie wir dies in unser Leben integrieren und was ihre Erfahrungen sind. Oft sind das ältere Schüler, die ihre Erfahrungen mit uns teilen. Es gibt jene, die uns die Technik der Meditation beibringen können, wie wir einen Altar einrichten usw., und uns wie ein Kampfsporttrainer trainieren. Ein spiritueller Lehrer ist jedoch jemand, an den wir uns wenden, wenn wir bereit sind, uns dem Pfad zu verpflichten und wirklich verstehen, was wir da tun.
Und wenn wir uns die Definitionen ansehen, ist der eigentliche spirituelle Lehrer dann jener, bei dem wir Gelübde ablegen. Es gibt Laien- und Mönchsgelübde, Bodhisattva-Gelübde und tantrische Gelübde. Mit ihnen bauen wir die Beziehung zum spirituellen Lehrer auf. Es ist nicht so, dass wir sagen müssen: „Oh, du bist mein Lehrer,“ worauf sie dann erwidern: „Du bist mein Schüler.“ So geht das nicht. Und die Ebenen des spirituellen Lehrers entsprechen unseren eigenen Ebenen als Schüler in unserer Entwicklung. Es ist nicht notwendig es auszusprechen, dass sie unsere Lehrer und wir ihre Schüler sind. Und wir müssen natürlich bereit dazu sein, Gelübde abzulegen. Viele Menschen legen sie zu früh ab, ohne wirklich reif genug dafür zu sein und die Stabilität zu haben, sie auch einhalten zu können und zu wissen, was sie da tun.
Wir können natürlich von all diesen Lehrern auf den verschiedenen Ebenen inspiriert werden, auch von jenen, die uns lediglich gute Informationen, oder besser gesagt, korrekte Informationen geben können. Das ist eine gute Eigenschaft und wir können inspiriert werden, da die Person eine Menge gelernt haben muss. Da gibt es eine Ebene, auf der jeder unser Lehrer sein kann, auf der wir versuchen können, die positiven Eigenschaften in jeden zu sehen, von ihnen zu lernen und inspiriert zu werden.
Um dann tatsächlich eine starke Inspiration zu spüren, die uns auf den Pfad bringt und uns stärkt, ist es notwendig, die Ebene der Reife erreicht zu haben, auf der wir völlig ehrlich gegenüber uns selbst und gegenüber dem Lehrer sind, nicht nur Fantasien nachhängen. Unsere Herzen und unser Geist ist offen, aber wir haben unterscheidendes Gewahrsein. Wir sind nicht einfach blinde Sklaven, die alles tun, was man ihnen sagt und abhängig vom Lehrer geworden sind. Ein echter Lehrer würde das nie zulassen. Er würde die Anzeichen dafür gleich zu Beginn sehen und es unterbinden. Wir sollten also offen dafür sein, geführt zu werden, aber die Füße auf dem Boden behalten. Es geht um Ehrlichkeit. Wir haben großen Respekt gegenüber den buddhistischen Lehren. Wir gestehen unsere eigenen Mängel ein und haben den großen Wunsch, uns von ihnen zu befreien. Wir sehen die Lehren als Möglichkeit, dies tun zu können. Und wir sehen den Lehrer als jemanden wie einen Arzt, der uns tatsächlich helfen und führen kann. Er ist jedoch kein allmächtiger Gott, der einfach ein Wunder vollbringen und uns so von Wut oder Anhaftung befreien kann. Wir müssen bereit dafür sein und die Ursachen dafür schaffen, auch auf der Basis, uns mit Gelübden dem spirituellen Pfad zu verpflichten.
Um die Inspiration vom Lehrer auf dieser Grundlage zu spüren, ist es notwendig zu erkennen, dass es sich hier um eine Art von Energie handelt. Es ist ein Energie-Austausch. Wie gesagt, hängt es natürlich von der karmischen Beziehung ab, um diese Energie spüren zu können. Und ich denke, wir sollten uns auch darüber bewusst sein, dass dieser Energie-Austausch und die Verstärkung der Energie in beide Richtungen geht. Obwohl wir normalerweise denken mögen, die Inspiration käme lediglich vom Lehrer zu uns, bekommt auch der Lehrer jede Menge Inspiration und Energie von empfänglichen Schülern, und kann somit so weit wie möglich versuchen, die Lehren zu verkörpern und eine möglichst reine Motivation beizubehalten usw. Die ganze Beziehung kann, wenn sie richtig funktioniert, für beide erhebend sein. Daher sollte es eine tatsächliche Beziehung zu einer lebendigen Person sein, damit sie besonders viel Energie hat. Und wenn wir so eine Beziehung einmal mit jemandem gehabt haben, wird die Energie weiter bestehen bleiben, auch wenn der Lehrer gestorben ist, da sie auf eine persönliche Erfahrung mit dem Lehrer gründet. Der Lehrer muss nicht immer anwesend sein.
Natürlich haben die meisten von uns das Problem, keine wirklich persönliche Beziehung zu einem spirituellen Meister zu haben. Oder die Lehrer, die wir treffen, sind nicht wirklich inspirierend oder scheinen nicht so qualifiziert zu sein. Was können wir da tun? Wir könnten ziemlich betrübt deswegen sein, uns selbst bemitleiden und diesen sehnsüchtigen Wunsch hegen. Oft handelt es sich hier jedoch um reine Wunschvorstellungen, die nicht viel mit der Realität zu tun haben – als würde jemand aus dem Himmel fallen, uns unter seine Flügel nehmen, zur Erleuchtung führen und all seine Zeit mit uns verbringen. Das ist eine unrealistische Erwartung. Auch wenn wir diese Beziehung noch nicht haben, sollten wir zumindest keine übertriebene Erwartungshaltung davon haben, wie es sein könnte, als würde es aus einem Milarepa-Comicbuch stammen.
Und um solch eine Beziehung einzugehen oder sie auch nur zu finden, ist es notwendig, jede Menge Mut und Bereitschaft zu besitzen, sich zu ändern und zu wachsen. Es geht nicht darum, uns einfach neue, positive Gewohnheiten anzueignen, aber dann nicht bereit dafür zu sein, die negativen aufzugeben. Das muss uns auch klar sein. Wir haben oft diese Einstellung, Schnäppchen hinterherzujagen und daher sollten wir nicht versuchen, es billig zu bekommen. Schauen wir uns die Beispiele der großen tibetischen Meister an, welche Strapazen sie auf sich genommen haben, um nach Indien – oder wie Atisha, von Indien nach Sumatra – zu gelangen, um einen spirituellen Meister zu treffen. In den Meisten Fällen werden solche Gelegenheiten nicht einfach aus dem Himmel fallen.
Daher sind die vorbereitenden Übungen so wichtig, ob es sich um die Niederwerfungen, Vajrasattva oder was auch immer handelt. Es kann sehr viele Formen annehmen. In gewissem Sinne geht es darum, unseren Geist und unser Herz weicher zu machen, damit wir offen und empfänglich sein können. Zum Beispiel die Niederwerfungen: Wir können natürlich aus lauter Verzweiflung völlig fanatisch an die Sache herangehen. Das wäre ein Extrem. Das andere Extrem wäre, wenn wir gegen unsere unglaubliche Arroganz angehen müssten: „Ich werde das nicht tun. Es wird meinen Knien schaden. Warum sollte ich das machen?“ Wenn wir diese vorbereitenden Übungen machen, gibt es viele Dinge, an denen wir auf einer sehr tiefen, emotionalen Ebene arbeiten müssen. Daher wird immer gesagt, dass jede Menge Müll, emotionaler Müll hochkommen wird, wenn man sich auf die vorbereitenden Übungen einlässt. All das wird hochkommen, sodass wir damit arbeiten und es sehen können und uns hoffentlich durch den Prozess etwas mehr öffnen und etwas empfänglicher gegenüber dem spirituellen Lehrer und den Lehren sein können. Dadurch werden wir ermutigt und entwickeln eine Bereitschaft dafür, zu wachsen und uns zu ändern. Diese vorbereitenden Übungen zu machen dient der Charakterbildung, aber, wie gesagt, ist es auch wichtig, das Extrem zu vermeiden, fanatisch zu sein und nur den Regeln zu folgen und am Ende ein Wunder zu erwarten: „Ich werde all das tun und erwarte am Ende meine Belohnung.“ So wird das nicht funktionieren.
Wie schon gesagt, haben wir es hier mit Energie zu tun und damit, offen gegenüber dieser Energie zu sein. Wenn wir noch keinen spirituellen Lehrer gefunden haben, könnten wir uns Inspiration holen, indem wir an das Beispiel von Shakyamuni Buddha denken (obwohl es nicht einfach ist, sich auf Shakyamuni Buddha zu beziehen), oder an die Gründer der jeweiligen Traditionen, wie Tsongkhapa, Guru Rinpoche oder wen auch immer. Das spielt keine große Rolle. Sie alle haben ganz wunderbare und großartige Qualitäten. Und wir können diese Guru-Yogas oder andere tantrische Praktiken machen, in denen wir einen dieser Meister der Übertragungslinie, oder Vajradhara, visualisieren und einen Vers, den Namen des Gurus oder etwas in der Art rezitieren. Das macht keinen großen Unterschied. Der entscheidende Punkt ist, jemanden zu wählen, der die Buddha-Qualitäten repräsentiert, zu dem wir eine Art Verbindung haben und der uns berührt.
Wenn wir uns für einen dieser Linienhalter oder Meister der Überlieferungslinie entscheiden, ist es sehr wichtig, nicht nur eine vage Vorstellung von ihnen zu haben, sondern tatsächlich die Biografie und die Qualitäten dieser Personen zu kennen, damit wir versuchen können, eine Beziehung zu ihr aufzubauen. Ansonsten wird das ganze sehr wenig Energie haben und es geht ja darum, unsere Energie aufzubauen. Mit einem echten Menschen, zu dem wir vielleicht nicht unbedingt immer ganz persönlichen Kontakt haben, den wir aber gut kennen, ist es natürlich etwas anderes und wir können die Energie viel stärker spüren.
Auch wenn wir nur wenig Kontakt zu diesem Meister hatten, sollten wir auch hier versuchen, so viel wie möglich über die Person in Erfahrung zu bringen, über ihre Ausbildung, ihr Training, was sie in ihrem Leben erreicht hat usw. Dadurch werden wir viel mehr Inspiration erfahren. Diese Meister sind nicht einfach schon so, als reife Erwachsene, auf die Welt gekommen. Sie haben sich entwickelt. Wie haben sie ihre Qualitäten entwickelt? Das ist sehr wichtig. Wenn sie Retreats gemacht haben – wie lange waren sie im Retreat? Es geht um biografische Einzelheiten der Person. Sonst ist es oft so, dass wir lediglich unsere Vorstellung von ihnen auf sie projizieren.
Wir müssen die Ursachen schaffen, nicht nur, indem wir unseren Geist und unser Herz durch die vorbereitenden Übungen empfänglich machen, sondern auch, indem wir aufrichtige Wunschgebete rezitieren, um auf voll qualifizierte spirituelle Lehrer zu treffen und in all unseren Leben von ihnen geleitet zu werden. Dies wird immer wieder betont und meiner Meinung nach ist es etwas, das wir ernst nehmen sollten. Es ist wichtig, nicht zu einem Gott oder zu Buddha Shakyamuni zu beten, uns diese Bitte zu gewähren. Im Buddhismus wird nicht auf diese Weise gebetet. Vielmehr geht es darum, einen starken Wunsch für etwas zu erzeugen, beruhend auf der Gewissheit, dass er realistisch ist, sich erfüllen kann und es sich nicht um etwas Unmögliches handelt. Außerdem sind wir davon überzeugt, dass wir es selbst erfahren können, wenn wir die Ursachen dafür schaffen und eine dieser Ursachen besteht darin, unsere Energie in diese Richtung zu lenken, was durch das Wunschgebet ermöglicht wird und insbesondere dadurch, die positive Kraft, die wir dadurch aufbauen, zu widmen. Dies tun wir bis hin zur Erleuchtung und das Gebet umfasst auch zukünftige Leben, nicht nur das jetzige. Diese Dinge sind sehr wichtig. Niemand wird vom Himmel herunterfallen und sagen: „Hier bin ich. Ich habe nach dir gesucht. Bitte komm mit, ich werde dich zur Erleuchtung führen.“ So wird das nicht passieren. Oder wenn es geschieht, dann wirklich sehr selten und nur aufgrund von vielen Ursachen, die in vergangenen Leben geschaffen wurden. Es ist, als würde man hoffen, ohne einen Tippschein im Lotto zu gewinnen. Man muss tatsächlich etwa dafür tun.
Wir schauen uns einmal an, was die Ursachen sind, welche Handlungen wir momentan ausführen könnten. Beim spirituellen Lehrer geht es hauptsächlich darum, sich auf die guten und nicht nur auf die negativen Eigenschaften und Fehler zu konzentrieren; und auf jene, die auf Tatsachen gründen und nicht einfach nur Projektionen der Fantasie sind. Außerdem schätzen wir die Güte des spirituellen Lehrers und die Bereitschaft, tatsächlich jemandem zu helfen, positive Dinge zu tun, Respekt zu erweisen usw. Auch wenn wir keinen spirituellen Lehrer haben, können wir uns gegenüber anderen Menschen in unserem Leben so verhalten, ob es sich dabei nun um unsere Eltern, Verwandten, Freunde, Schullehrer oder Menschen handelt, die gute Eigenschaften besitzen und uns gegenüber gütig waren und uns geholfen haben. Wir konzentrieren uns auf ihre guten Eigenschaften und nörgeln nicht immer nur herum, sondern haben wirkliche Wertschätzung für all ihre Güte gegenüber uns. Wir versuchen ihnen zu helfen und sie bei diesen positiven Dingen zu unterstützen. Wir zeigen ihnen gegenüber Respekt und verbinden dies mit folgenden Wunschgebeten: „Möge ich fähig sein, einen voll qualifizierten spirituellen Lehrer zu haben“ und: „Möge es als Ursache dafür wirken, eine gesunde Beziehung zu einem spirituellen Lehrer haben zu können.“ Wir befinden uns bereits in der Geisteshaltung, die wir entwickeln möchten. Ich habe das nicht aus irgendeinem Text, aber vom Standpunkt der Logik macht es absolut Sinn.
Wie Sie wissen, ist der Buddhismus ein sehr aktiver Pfad. Er ist nicht passiv – wir warten nicht einfach auf jemanden, der uns errettet. Wenn wir wollen, dass etwas geschieht, müssen wir herausfinden, was die Ursachen dafür sind und dann die Ursachen schaffen. Wenn wir also noch nicht den richtigen spirituellen Lehrer für uns gefunden haben, ist es notwendig zu versuchen, aktiv diese Ursachen, sowohl kurzfristig als auch langfristig, zu schaffen, anstatt nur herumzusitzen und uns selbst zu bemitleiden, zu lamentieren und neidisch auf andere zu sein, die vielleicht schon so einen Lehrer gefunden haben. Kurzfristig können wir versuchen, Geld zu verdienen oder alles Notwendige zu tun, um zu Lehrern reisen zu können, falls es sie nicht in unserer Nähe gibt. Das wären kurzfristige Ursachen und Wirkungen. In meinem Fall war es so, dass ich erst all meine Prüfungen für die Doktorarbeit bestehen, meine Studien beenden und all die Sprachen lernen musste, bevor ich nach Indien gehen konnte. Und um bei Serkong Rinpoche zu lernen, war es notwendig meine Sprachkenntnisse zu perfektionieren und mehr positive Kraft aufzubauen, und er half mir dabei, indem er mich für andere übersetzen lies, denn er selbst unterrichtete mich nicht. Das sind die kurzfristigen Ursachen und bei den langfristigen geht es um die vielen zukünftigen Leben.
Wir schaffen auch nicht nur die Ursachen, die solche Dinge bewirken werden, sondern arbeiten auch daran, die Ursachen zu beseitigen, die so etwas verhindern würden – sowohl kurzfristig als auch langfristig. Immer zu lamentieren; andere zu kritisieren; immer auf die negativen Seiten zu schauen; faul zu sein; nicht bereit zu sein, dafür zu arbeiten; einfach nur zu erwarten, dass uns alles zugereicht wird – das wären Hindernisse, die solch eine Beziehung verhindern würden. Ein großes Hindernis besteht darin, einfach immer nur zu nehmen, wenn andere uns helfen und freundlich uns gegenüber sind und nie irgendetwas zurückzugeben, oder zu versuchen, aus Dank auch ihnen zu helfen. Wir haben oft keine Wertschätzung dafür, welche Schwierigkeiten unsere Eltern durchgegangen sind, um uns die Umstände eines komfortablen Hauses, einer Ausbildung usw. zu schaffen, auch wenn sie vielleicht keine perfekten Eltern waren – die meisten Eltern sind nicht perfekt. All diese Dinge hängen miteinander zusammen, sowohl in der Bodhichitta-Praxis, als auch in allen anderen Praktiken: wir denken an die Güte, die wir von unseren Müttern und anderen erfahren haben, schätzen sie usw. Das hilft uns, das Ganze beim spirituellen Meister anwenden zu können. Wir projizieren aber nicht auf den spirituellen Meister, er wäre unsere Mutter oder unser Vater, denn das kann auch zu Problemen führen. Aber es gibt zahlreiche Ursachen, die wir schaffen müssen.
Wir haben Wertschätzung. Es ist nicht so, als würden wir ihnen etwas schulden und zurückzahlen müssen. „Güte zurückgeben", oder zurückzahlen (Engl.: „Repaying the kindness") habe ich für viele Jahre so übersetzt, aber nachdem ich darauf hingewiesen wurde, habe ich die Worte etwas näher untersucht. Zweifellos ist die Bedeutung nicht die, etwas zurückzuzahlen. Vielmehr bezieht es sich darauf, Wertschätzung zu haben. Wir müssen uns nicht verpflichtet fühlen, etwas zurückzugeben. In den Texten wird immer gesagt, dass man es automatisch wertschätzt, wenn man an die Güte denkt, die man erfahren hat. Man muss nichts tun, um dieses Gefühl weiter zu entwickeln. Es kommt automatisch. Natürlich ist da die Rede von Wertschätzung, nicht davon, sich schuldig zu fühlen, etwas zurückzahlen zu müssen und verpflichtet dazu zu sein, weil man sonst eine schlechte Tochter oder ein schlechter Sohn wäre. Diese Geisteshaltungen sind auch für den Lehrer wichtig.
Dies sind also einige der Möglichkeiten, sich dieser Energie gegenüber zu öffnen, um die es beim Guru-Yoga geht, und diese Energie spüren und empfänglich für sie sein zu können, damit sie uns tatsächlich, wie eine Wurzel, mit Kraft und Inspiration versorgt. Wir sind auch keine Vampire, die den Lehrer einfach nur aussaugen. So ist es nicht. Alles basiert auf vollkommenen Respekt gegenüber dem Lehrer – gegenüber all der harten Arbeit, die der Lehrer in diesem und in vergangenen Leben investiert hat, um so zu werden. Und es basiert auf der Wertschätzung unserer eigenen Buddha-Qualitäten und einem realistischen Verständnis dessen, was es braucht, sie zu entwickeln. Und, indem wir die Kraft nicht aus dem Lehrer heraussaugen, als würden wir etwas an einer Zapfsäule abzapfen, sondern indem wir auf ganz natürliche Weise die Güte wertschätzen, wird uns diese Kraft und Energie für den spirituellen Pfad ganz selbstverständlich zuteil. Das ist die Essenz des Guru-Yoga. Die Visualisierungen, das Rezitieren von Mantren und all diese Dinge sind nur dazu da, uns bewusst darüber zu sein. Ohne ein Gefühl ist es einfach nur eine unterhaltsame Visualisierung.
Wie viele verschiedene Texte und Varianten des Guru-Yoga gibt es?
Ich kann mit Sicherheit keine Zahl nennen, aber ich würde sagen, es sind bestimmt Dutzende, wenn nicht Hunderte. Es ist so, dass es Guru-Yoga-Texte gibt, die für all die verschiedenen Meister der Übertragungslinie geschrieben wurden, nicht nur für ihre Gründer. In der Karma-Kagyü-Linie sind das beispielsweise Milarepa, Gampopa, Marpa, der zweite Karmapa – es gibt einfach so viele. Und wenn die Praxis eines Meisters schon zu vertraut, langweilig und abgedroschen ist, wird einfach eine neue Version geschrieben, die in gewisser Weise ein bisschen erhabener und nicht so zugänglich ist. Auf diese Weise ist sie dann etwas spezieller und hat ein wenig mehr Kraft.
Wenn wir nun ein Blick auf die Geschichte der gesammelten Werke der großen Meister werfen, können wir so viele verschiedene Guru-Yogas finden, die von zahlreichen Meistern verfasst wurden. Die Frage ist natürlich, wie viele tatsächlich innerhalb unserer eigenen Linie zur Zeit praktiziert werden. Es gibt Standard-Texte, die praktiziert werden und es gibt besondere, für spezielle Fälle, wie in der Nyingma-Tradition, wo es diese Offenbarer von Schatztexten gibt, die Tertöns (gter-ston), und jeder von ihnen einen anderen Text für den Guru-Yoga hat. In der Gelug-Tradition hingegen gibt es eher einen Standard-Text mit Tsongkhapa. Es ist also schwer, eine Zahl zu nennen. Im Grunde folgen alle der gleichen Struktur. Dann gibt es beispielsweise Guru-Yogas, die mit dem Kalachakra und der Praxis der sechs Sitzungen kombiniert werden und es gibt auch viele verschiedene Varianten von Guru-Yogas im Zusammenhang mit verschiedenen Gottheiten – wie zum Beispiel Seine Heiligkeit der Dalai Lama und Avalokiteshvara. Es sind also sehr viele.
Auch in all den Tantra-Sadhanas, die Standard-Praktiken sind, in denen man sich selbst als eine dieser Buddhaformen erzeugt, gibt es einen Guru-Yoga, der Teil dieser Praxis ist und nur zu diesem Text gehört. Außerdem gibt es die Praxis, in der das Namensmantra des eigenen spirituellen Lehrers einhunderttausend Mal oder mehr rezitiert wird und in dessen Zusammenhang man auch einen Guru-Yoga mit den gewöhnlichen Visualisierungen und Gebeten macht. Das gibt es also auch. Jeder Guru hat einen Namensmantra, der mit einigen Sanskrit-Worten beginnt, mit einigen Sanskrit-Worten endet und dessen persönlicher Name sich als Sanskrit-Übersetzung in der Mitte befindet. Das ist der sogenannte „Namensmantra“ (mtshan-sngags) eines Gurus.