Unsere geistigen Hindernisse erkennen
Die Mahamudra-Belehrungen betonen, auch wie wichtig und notwendig ausführliche vorbereitende Praktiken sind. Solche Praktiken, wie zum Beispiel Hunderttausende von Niederwerfungen zu machen, dienen dazu, uns von den gröbsten Ebenen der Hindernisse zu befreien und positive Kraft aufzubauen, so dass unsere Mahamudra-Meditation wirkungsvoller dafür wird, uns zur Erleuchtung zu bringen. In diesem Zusammenhang sind mit Hindernissen nicht ökonomische, soziale oder äußerliche Hindernisse gemeint, sondern Schwierigkeiten in uns selbst. Positive Kraft, gewöhnlich als ‚positives Potential’ oder ‚Verdienst’ übersetzt, bezieht sich auf den förderlichen inneren Zustand, der aus konstruktiven oder ‚tugendhaften’ Handlungen von Körper, Rede, Geist und Herz resultiert.
Um zu verstehen, wie dieser Reinigungsprozess funktioniert, so dass wir ihn auf effektivste Weise durchführen können, ist es wesentlich zu wissen, was innere Hindernisse sind. Shantideva hat geschrieben: „Ist man mit dem Objekt, das widerlegt wird, nicht in Berührung gekommen, kann man kein Verständnis hinsichtlich seiner Widerlegung gewinnen.“ Wir können die geistigen und emotionalen Hindernisse für unseren spirituellen Fortschritt unmöglich beseitigen, solange wir nicht wissen, was sie sind.
Wir können diese Hindernisse auf vielen Ebenen verstehen. Es gibt Hindernisse, die die Befreiung verhindern und solche, die Allwissenheit verhindern. Mit ersteren sind störende Emotionen und Geisteshaltungen gemeint oder ,Leidenschaften’, wie zum Beispiel Hochmut und dickköpfige Verwirrung, wohingegen mit letzteren die Instinkte solch einer Verwirrung gemeint sind. Vorbereitende Praktiken helfen uns dabei, uns von den gröbsten Ebenen der Hindernisse, die Befreiung verhindern, zu reinigen. Zum Beispiel helfen Niederwerfungen uns, unseren Hochmut abzubauen. Im Kontext der Mahamudra können wir Hindernisse jedoch vielleicht am besten als geistige Hindernisse verstehen. Wir werden das Thema im Folgenden etwas näher betrachten, indem wir noch einmal den Mechanismus der Anspannung untersuchen.
Wenn wir ständig unter Spannung stehen, besteht eines der wichtigsten Hindernisse und Ursachen darin, dass wir im Inhalt dessen, was wir gerade erleben, stecken bleiben. Nehmen wir zum Beispiel an, wir füllen gerade die Formulare für unsere Steuererklärung aus – eine Aufgabe, die wir äußerst ungern erledigen. Weil es uns so schrecklich unangenehm ist, fixieren wir uns krankhaft auf jede Zeile des Formulars und bleiben darin stecken, wobei wir immer angespannter und nervöser werden. Wir fangen im Geiste an, uns zu beschweren, haben Selbstmitleid, zweifeln an unserer Fähigkeit, die Aufgabe zu erfüllen, machen uns Sorgen, ob wir sie je zu Ende bringen werden, wünschen uns, wir müssten es überhaupt nicht tun und phantasieren über erfreuliche Dinge, die wir stattdessen tun könnten. Wir lenken uns mit einer Zigarette ab, einer Kleinigkeit zu Essen oder einem Telefongespräch. Es ist, als sei das Formular ein Sumpf oder Treibsand, die uns hinunterziehen. Solch eine Geisteshaltung behindert uns ernsthaft dabei, es je zu Ende auszufüllen. Genauso setzen wir uns mit einem ähnlichen Mechanismus selbst außer Gefecht, nämlich wenn wir uns mit Anspannung und Sorge krankhaft auf den Inhalt einer zukünftigen Erfahrung oder Aufgabe fixieren, die wir voller Furcht erwarten.
Aber das Leben ist ein fortlaufender Prozess, der sich von einem Moment zum anderen fortsetzt, ohne je eine Pause zu machen. Jeder Moment des Lebens ist der nächste Moment der Erfahrung, und jede Erfahrung hat ihren eigenen Inhalt. Jeden Moment gibt es immer etwas anderes zu erleben. Das Leben geht immer weiter, auch wenn das leider oft bedeutet, dass wir Dinge tun müssen, die uns keinen Spaß machen. Die erste wahre Tatsache ist schließlich, dass das Leben schwierig ist.
Wenn wir angespannt sind, sind wir jedoch im Inhaltsaspekt eines bestimmten Moments unserer Erfahrung steckengeblieben. Es ist so, als hätten wir einen Zeitmoment eingefroren und könnten nicht weitermachen. Wir sind im Inhalt dessen, was wir tun, oder dessen, was wir vorhaben, gefangen statt die Aufgabe einfach zu erledigen und sie dann hinter uns zu haben. Diese Fixierung bildet ein schwerwiegendes geistiges Hindernis – ein Hindernis, das uns effektiv davon abhält, auch nur irgendetwas zu tun – erst recht nicht, uns von allem Leid zu befreien.
Rose, meine verstorbene Mutter, hatte einen sehr weisen und nützlichen Ratschlag. Sie pflegte zu sagen: „Tue die Dinge geradewegs, von vorne bis hinten, ohne Umwege! Was immer du zu tun hast, tue es und dann ist es erledigt.” Wenn wir also das Geschirr spülen oder den Mülleimer leeren müssen, sollten wir einfach nur die Aufgabe verrichten, geradewegs und von vorne bis hinten, und dann ist es erledigt. Wenn wir es in unserem Geist zu einer Tortur machen, erleben wir es auch als solche.
Uns im Inhalt der Erfahrungen unseres täglichen Lebens zu verfangen und darin stecken zu bleiben, so dass wir uns angespannt fühlen und uns beschweren, ganz zu schweigen davon, dass wir anfangen, uns darüber zu ärgern, ist ein ernsthaftes geistiges Hindernis. Es ist ein Hindernis, das uns davon abhält, den fortlaufenden Prozess der Natur unseres Geistes zu sehen. Wir müssen die Hindernisse beseitigen, da es unbedingt erforderlich ist, diesen Prozess zu sehen, um unsere Verwirrung über die Wirklichkeit zu überwinden, die unsere Probleme und unsere Unfähigkeit hervorruft, anderen wirksam zu helfen. Vorbereitende Praktiken wie das Wiederholen von hunderttausend oder mehr Niederwerfungen sind darauf angelegt, diese Hindernisse zu schwächen und auf diese Weise zu beginnen, sie zu beseitigen.
Niederwerfungen
Niederwerfungen zu machen ist keine Strafe oder Buße, keine garstige Sache, die wir tun und schnell hinter uns bringen müssen, damit wir dann zu den guten Teilen kommen. Buddha ist nicht wie ein übermächtiger Vater, der darauf besteht, dass wir erst unsere Hausaufgaben machen müssen, bevor wir spielen dürfen. Niederwerfungen helfen uns eher, die geistige Blockade aufzulösen, die darin besteht, dass wir uns im Inhalt unserer Erfahrung verfangen. Wir machen einfach Niederwerfungen, ‚geradewegs und von vorne bis hinten’, wie Rose Berzin sagen würde. Das heißt nicht, dass wir sie mechanisch tun, sondern einfach ganz direkt. Wir machen sie einfach.
Natürlich begleiten wir unsere Niederwerfungen mit einer angemessenen Motivation, Visualisation und Rezitation, entweder von einer der Zufluchtformeln oder eines kurzen Textes, der zur Reinigung beiträgt, wie zum Beispiel „Das Bekennen der Übertretungen (der Gelübde)“. Tun wir dies, bleibt wenig Raum für Klagen, Selbstmitleid oder die Sorge, ob wir jemals mit den Hunderttausend fertig werden. Doch schon allein die Niederwerfungen selbst können uns mit dem Lebensansatz vertraut machen, Dinge direkt zu tun, geradewegs von vorne bis hinten, ohne uns zu verspannen. Dies hilft uns, uns zu einem gewissen Maße von unseren geistigen Hindernissen zu reinigen und mehr positive Kraft aufzubauen, um in der Lage zu sein, die Natur des Geistes tatsächlich direkt zu sehen.
Vajrasattva-Praxis
Eine weitere wichtige vorbereitende Übung ist die Rezitation – hunderttausend Mal oder mehr – des Hundert-Silben-Mantras von Vajrasattva zur Reinigung der negativen Kraft, die wir aufgrund zuvor begangener destruktiver oder ‚nicht tugendhafter’ Handlungen aufgebaut haben. Wir begleiten unsere Rezitation mit einem offenen Bekennen dieser negativen Handlungen und dem Eingeständnis, dass es ein Fehler war, sie jemals zu begehen. Wir fühlen Bedauern, nicht Schuld, geben unser Versprechen zu versuchen, sie nicht wieder zu begehen, bestätigen unsere sichere Richtung der Zuflucht und unsere Verpflichtung, Erleuchtung zu erlangen, um in der Lage zu sein, allen zu helfen und stellen uns mithilfe einer komplexen Visualisation bildlich vor, wie unsere Reinigung stattfindet, während wir das Mantra wiederholen.
Der Geisteszustand, in dem wir diese vorbereitende Übung ausführen, ist derselbe wie der, mit dem wir Niederwerfungen machen und dabei „Das Bekennen der Übertretungen (der Gelübde)“ rezitieren. Auf diese Weise reinigt uns die Vajrasattva-Praxis von negativer Kraft, die als karmisches Hindernis in Form einer unglücklichen Erfahrung oder unangenehmen Situation reifen würde, die jeweils unsere Befreiung oder vollständige Fähigkeit, anderen zu helfen, verhindern würden. Zusätzlich zu ihrem gewöhnlichen Nutzen dient diese Praktik jedoch auch als eine ausgezeichnete Vorbereitung speziell für die Mahamudra-Meditation.
Eine der Arten, wie wir aufgebaute negative Kraft erleben, sind Schuldgefühle. Nehmen wir an, wir hätten unserem Chef törichterweise in einem vorübergehenden Anfall von Ärger grobe Worte an den Kopf geworfen, was dazu geführt hat, dass wir unseren Job verloren haben, und was uns eventuell zukünftige Probleme dabei bereiten wird, eine neue Arbeit zu finden. Fixieren wir uns auf den Inhalt dieser Erfahrung, dann verfestigen wir das Ereignis in unserem Geist. Wir frieren es zeitlich ein und gehen das Ganze immer wieder durch, wobei wir uns völlig mit dem identifizieren, was wir in jenem Moment getan haben, und verurteilen uns als dummen, wertlosen und schlechten Menschen. Solch ein klassisches Schuldgefühl ist gewöhnlich von einem Gefühl von Stress und Angst begleitet sowie beträchtlicher Sorge darüber, was wir nun tun sollen. Solange wir unseren Würgegriff, mit dem wir am Inhalt der Erfahrung festhalten, nicht loslassen, lähmen wir uns selbst und hindern uns daran, jemals klar und selbstbewusst zur Tat zu schreiten, um einen Ausweg aus der Situation zu finden, das heißt einen neuen Job.
Die anschauliche Visualisation, dass uns unsere Negativität verlässt, während wir das Hundert-Silben-Mantra des Vajrasattva mit dem angemessenen Geisteszustand rezitieren, hilft uns, unsere Fixierung auf den Inhalt unserer vergangenen Erfahrung, destruktiv gehandelt zu haben, loszulassen. Als Folge dessen hilft es uns, unsere Schuldgefühle loszulassen. Dies hilft uns dabei, uns darin zu üben, unsere Fixierung auf den Inhalt jeden Moments unserer Erfahrung aufzugeben, was die Essenz der anfänglichen Stufen der Mahamudra-Praxis ist. Auf diese Weise dient Vajrasattva als eine ausgezeichnete Vorbereitung für Mahamudra.
Guru-Yoga
Eine weitere vorbereitende Übung, die immer betont wird, ist Guru-Yoga als eine Methode, um Inspiration oder ‚Segen’ zu gewinnen. Guru-Yoga auf einer oberflächlichen Ebene zu praktizieren ist ziemlich einfach. Wir visualisieren unseren spirituellen Lehrer, Guru oder Lama vor uns, entweder in der Erscheinungsform von Buddha Shakyamuni, einer Buddha-Gestalt wie Avalokiteshvara oder einem Linienmeister wie Tsongkhapa oder dem Karmapa. Dann stellen wir uns vor, wie dreifarbiges Licht von dieser Gestalt ausströmt, während wir hunderttausendmal oder mehr ein entsprechendes Mantra oder einen Vers rezitieren, während wir inbrünstig um Inspiration bitten, um in der Lage zu sein, die Natur unseres Geistes zu sehen. Auf einer tieferen Ebene ist es jedoch sehr schwierig zu verstehen, was wir tatsächlich während und mithilfe einer solchen Praxis zu tun versuchen. Was versuchen wir auf einer psychischen Eben zu kultivieren? Die Antwort dreht sich um einen der schwierigeren Aspekte der buddhistischen Lehren – die richtige Beziehung zu einem spirituellen Lehrer.
In fast jedem Mahamudra-Text lesen wir etwas wie: „Als eine wesentliche Vorbereitung für Mahamudra-Praxis praktiziere eifrig Guru-Yoga. Stell dir vor, dass dein Körper, deine Rede und dein Geist mit dem deines Guru eins wird. Bitte inbrünstig um Inspiration, um in der Lage zu sein, die Natur deines Geistes zu sehen.“ Auf den ersten Blick sieht es fast so aus, als müssten wir nur solch eine Visualisation machen und solche Bitten aussprechen, und schon leben wir glücklich bis an unser Lebensende, wie in einem Märchen. Wir werden Inspiration empfangen, die wie ein magischer Zauber zur alleinigen Ursache unserer Verwirklichung wird, ohne das wir sonst etwas dafür tun müssten. Sogar in der Jodo Shinshu-Schule des japanischen Buddhismus, in der man sich ausschließlich auf die Kraft Amitabhas verlässt, um Befreiung und Erleuchtung zu erlangen, lässt sich implizit aus dieser Formulierung des Pfades schließen, dass man alle auf dem Ego basierenden Bemühungen unterlassen muss, was von einer Erkenntnis der tiefsten Natur des ‚Ich’ und des Geistes abhängt. Wir müssen also offensichtlich tiefer gehen als nur bis zur oberflächlichen Ebene, auf der wir zu unserem Guru um Inspiration beten, um unsere Natur des Geistes zu sehen, und es dann dabei belassen, weil wir das Gefühl haben, dass unser Wunsch – wenn wir nur genug Vertrauen haben und es ernst meinen – erfüllt werden wird. Plötzlich, als hätte uns der Zauberstab eines Magiers am Kopf berührt, werden wir die Natur unseres Geistes sehen und erkennen.
Die Natur des Geistes hat zwei Ebenen. Seine konventionelle Natur ist bloße Klarheit und Gewahrsein. Sie ist das, was allem gestattet, als ein Objekt der Wahrnehmung zu erscheinen und erkannt zu werden. Seine tiefste oder ‚letztendliche’ Natur ist, dass er frei davon ist, auf irgendeine phantasierte, unhaltbare Weise zu existieren, wie zum Beispiel als unabhängig von den Erscheinungen, die er als Objekte, die er erkennt, entstehen lässt. Guru-Yoga ist eine tiefgründige jedoch nicht mystische Hilfe, um beide zu sehen. Untersuchen wir den Mechanismus von beiden:
Wenn wir Guru-Yoga praktizieren, unseren Guru um Inspiration bitten und dann ein Ebenbild von unserem Guru in uns auflösen, werden wir, je stärker unsere inbrünstige Achtung und unser Respekt für ihn oder sie ist, einen um so deutlicheren glückseligen, lebendigen Geisteszustand als Resultat dieses Prozesses erleben. Ist unser Vertrauen mit Anhaftung vermischt, dann ist der Geisteszustand, den wir gewinnen, lediglich eine gewisse Aufregung – verwirrt, abgelenkt und nicht sonderlich klar. Doch wenn unsere inbrünstige Achtung und unser Respekt auf Vernunft basieren, beruht dieser glückselige, lebendige Geisteszustand auf zuversichtlichem Glauben. Da er emotional stabil ist, lässt er sich leicht benutzen, sowohl als Geist, der seine eigene konventionelle Natur sieht, als auch als Geist, der diese Natur hat und auf den man sich ausrichtet.
Um zu verstehen, wie der Prozess des Guru-Yoga und die Bitte um Inspiration dazu beiträgt, dass wir die tiefste Natur unseres Geistes sehen, müssen wir verstehen, wie es in den Kontext der Lehren über Leerheit und abhängiges Entstehen hineinpasst, unseren Guru als einen Buddha zu betrachten. Leerheit bedeutet eine Abwesenheit – eine Abwesenheit von unmöglichen Existenzweisen. Wenn wir uns zum Beispiel vorstellen, dass ein Guru von sich aus unabhängig als ein Buddha existiert, projizieren wir eine unmögliche Existenzweise auf diesen Lehrer. Diese Existenzweise hat mit nichts zu tun, das real wäre, denn niemand existiert von sich aus als ‚dies’ oder ‚das’ oder irgendetwas. Jemand existiert als spiritueller Mentor, als Buddha oder beides nur in Bezug auf einen Schüler. Ein ‚Lehrer’ erscheint in Abhängigkeit, nicht nur von einem Geist, dem jemand als ein Lehrer erscheint, und nicht nur von dem, was das Wort oder die geistige Bezeichnung ,Lehrer’ bedeutet, sondern auch in Abhängigkeit von der Existenz von Schülern.
Die Rolle ‚Lehrer’ kann nicht unabhängig von der Funktion des Lehrens existieren. Sie wird tatsächlich definiert als jemand, der lehrt. Die Funktion des Lehrens könnte unmöglich eigenständig existieren, ohne dass es so etwas wie Lernen oder Lernende gäbe. Daher könnte niemand ein Lehrer sein, wenn es nicht so etwas wie Schüler gäbe. Mit anderen Worten, niemand – nicht einmal Buddha Shakyamuni, Tsongkhapa, Karmapa oder sogar unser persönlicher Guru – könnte als spiritueller Mentor existieren, wenn nicht auch jemand als Schüler existierte. Selbst jemand, der zur Zeit nicht lehrt oder im Moment keine Schüler hat, kann nur als Lehrer existieren, wenn er oder sie als Lehrer ausgebildet wurde, was nur passieren würde, wenn es im Universum so etwas wie Schüler gäbe. Darüber hinaus ist jemand in seiner Funktion nur dann ein Lehrer, wenn er oder sie tatsächlich lehrt, und das kann nur in Verbindung mit einem Schüler geschehen.
Die gleiche Argumentationskette lässt sich auf die abhängig entstehende Existenz der Buddhas und fühlenden Wesen anwenden. Fühlende Wesen sind jene mit begrenztem Gewahrsein, während Buddhas jene mit der vollständigsten Kapazität sind, diesen Wesen zu helfen. Niemand könnte ein Buddha sein, wenn es niemals fühlende Wesen gegeben hätte oder geben würde. Aus diesem Grund heißt es, dass die Güte der fühlenden Wesen die Güte der Buddhas bei weitem übertrifft, wenn es darum geht, uns dabei zu helfen, Erleuchtung zu erlangen.
Da Gurus und Buddhas nicht unabhängig von Schülern oder Studenten existieren, folgt daraus, dass weder Lehrer noch Schüler als etwas völlig Unabhängiges existieren, wie zwei solide Zementpfosten, von denen jeder auch allein existieren könnte, selbst wenn der andere nie existiert hätte oder existieren würde. Wir können daher logisch schließen, dass es ein Hirngespinst ist, sich vorzustellen, dass ein Guru – als jemand Solides ‚da draußen’ – eine Wirkung auf einen Schüler ausüben kann, die solide wäre, als würde er jemand Solidem ‚hier drinnen’, nämlich ‚mir’, einen Balls zuschießen. Wirkungen, wie das Erlangen der Erkenntnis der Natur des Geistes, können nur in Abhängigkeit von einer gemeinsamen Bemühung sowohl eines spirituellen Leiters als auch eines Schülers entstehen, aber zusätzlich auch in Abhängigkeit von vielen anderen Faktoren. Wie Buddha erklärt hat: „Ein Eimer wird nicht vom ersten oder letzten Tropfen Wasser gefüllt. Er füllt sich durch das Ansammeln einer sehr großen Zahl von Tropfen.“
Die Erkenntnis der konventionellen und tiefsten Naturen des Geistes ist das Ergebnis eines langen und mühsamen Prozesses des Aufbauens und Reinigens (des Ansammelns und der Reinigung) in unzähligen Lebenszeiten. Ersteres bezieht sich auf das Stärken der erleuchtungsbildenden Netzwerke von positiver Kraft (oder positivem Potential) und tiefem Gewahrsein – den ‚zwei Ansammlungen von Verdienst und Einsicht’ – während sich Letzteres auf unsere Reinigung von negativer Kraft (oder negativem Potential) und Hindernissen bezieht. Darüber hinaus müssen wir zutreffenden Lehren über die zwei wahren Ebenen der Natur des Geistes – die konventionelle und tiefste – zuhören, über sie nachdenken, bis wir eine Arbeitsbasis für ein grundlegendes Verständnis haben, und dann korrekt und intensiv über sie meditieren. Indem wir auf diese Weise praktizieren, bauen wir die Ursachen auf, um Erkenntnis und Verwirklichung zu erlangen. Inspiration von unserem Guru kann diesen Prozess nicht ersetzen.
Inspiration von einem spirituellen Mentor ist jedoch das effektivste Mittel, um die Keime des Potentials der Verwirklichung, die wir durch diese Methoden aufgebaut haben, schneller heranreifen zu lassen, so dass sie unverzüglicher ihr Resultat hervorbringen. Inspiration als ein Umstand für das Heranreifen von Ursachen kann von sich aus keine Resultate hervorbringen, wenn es entweder keine oder nur unzulängliche Ursachen gibt, um sie zur Reife zur bringen. Die Inspiration oder der ‚Segen’ von einem Guru, einem Gründer einer Linie oder sogar Shakyamuni selbst kann nicht wie ein Zauber wirken, um uns Verwirklichung und Erleuchtung zu bringen. Daher sollten wir uns nicht der Täuschung hingeben zu denken, dass wir harte Arbeit vermeiden können, wenn wir unsere Probleme überwinden und dauerhaftes, tiefes Glück erlangen wollen sowie die Fähigkeit, anderen am besten zu Diensten zu sein. Inspiration kann uns definitiv helfen, die Wirkung unserer Bemühungen schneller zu ernten – und wird häufig als das effektivste Mittel gelobt, dies zu tun – doch sie kann nie ein Ersatz sein für die anhaltende Bemühung in vielen Lebenszeiten um den Aufbau der Ursachen für diese Wirkungen.
Um es zusammenzufassen, damit ein Schüler oder eine Schülerin Inspiration gewinnen und dann tatsächlich die Natur des Geistes erkennen kann, ist es wesentlich, dass nicht nur er oder sie, sondern auch der Lehrer versteht, wie jeder von ihnen existiert und wie der Prozess von Ursache und Wirkung nur auf der Basis von Leerheit – einer Abwesenheit von unmöglichen Existenzweisen – funktionieren kann. Sobald einer oder beide glauben, dass er oder sie und der andere unabhängig und fest wie Zementpfosten existieren und Inspiration und Erkenntnis wie ein harter Ball, und dass der Prozess von Ursache und Wirkung des Gewinnens von Inspiration und Erkenntnis so funktioniert, als würde man diesen Ball von einem Pfosten zum anderen schießen, dann wird die Wirkung blockiert sein, wie geschickt der spirituelle Mentor und wie empfänglich und ernsthaft der Schüler auch sein mögen. Wenn wir glauben, dass das, was wir in Bezug auf unseren Guru – selbst als Buddha – erleben, irgendwo als etwas Festes ‚da draußen’ existiert und nicht in Abhängigkeit von vielen Faktoren, nicht zuletzt von unserem Geist, entsteht, wie kann er oder sie uns dann entweder Inspiration oder das Verständnis der Natur unseres Geistes zukommen lassen, selbst wenn wir gut darum bitten, mit völliger Aufrichtigkeit und einer korrekten Motivation?
Die Beziehung zu einem spirituellen Lehrer
Um Guru-Yoga klarer zu verstehen, müssen wir das Thema der ‚Hingabe zum Guru’ genauer untersuchen. Um eine mögliche Fehlinterpretation zu vermeiden, werde ich den Fachbegriff dafür als ‚aus ganzem Herzen kommende Verpflichtung gegenüber einem spirituellen Lehrer‘ übersetzen, nämlich die Verpflichtung, diese Person als einen Buddha zu betrachten. Diese Verpflichtung hat nichts mit dem Thema zu tun, ob unser spiritueller Mentor ‚da draußen’ als ein Buddha existiert oder nicht. Schließlich können wir von unserem Lehrer oder unserer Lehrerin nur in Bezug auf unsere Erfahrung mit ihm oder ihr sprechen. Die Art und Weise, wie ein spiritueller Mentor existiert, kann nur in Hinsicht auf den Geist formuliert werden. Daher verpflichten wir uns dazu, unsere Erfahrung mit unserem Lehrer als die Erfahrung mit einem Buddha zu betrachten.
Diese Beziehung zu einem spirituellen Lehrer als einem Buddha ist grundsätzlich ein sehr persönlicher Vertrag. Sprechen wir vom Standpunkt des Schülers, lautet unser Vertrag mit dieser Person: „Ich mache mir jetzt, an diesem Punkt meiner Praxis, keine Gedanken darüber, wie du deine Motivation für das, was du tust, erzeugst und erlebst. Ich möchte anderen so vollständig wie möglich helfen können und möchte den Zustand eines Buddha erreichen, um am besten in der Lage zu sein, diesen Nutzen hervorzubringen. Da ich dich und mich sehr sorgfältig geprüft und gesehen habe, dass wir beide dafür geeignet sind, diese Art von Beziehung einzugehen, nehme ich mir vor, von nun an meine Erfahrung von all dem, was du sagst oder tust, als eine persönliche Belehrung zu betrachten. Ich werde deine Handlungen und Worte als allein von dem Wunsch motiviert betrachten, mir bei meiner Weiterentwicklung zu helfen, so dass ich meine Probleme und Unzulänglichkeiten überwinden und anderen vollständiger von Nutzen sein kann. Ein Buddha ist jemand, bei dem jeglicher Gedanke, jegliches Wort und jegliche Handlung anderen nutzen, mit anderen Worten jemand, der immer lehrt. Daher werde ich dich als jemanden betrachten, der mich ständig lehrt.
Weder unsere Beziehung noch der Nutzen, den ich daraus ziehen kann, existiert als etwas, dass nur von einer Seite kommt oder als ein solides Etwas, wie ein Seil, das zwischen uns gespannt ist. Unsere Beziehung existiert nur in Bezug darauf, dass und wie sie von unserem Geist erlebt wird, was von uns beiden abhängt. Da ich unsere Beziehung nur auf die Weise erleben kann, wie ich sie mir vorstelle und sie wahrnehme, werde ich sie auf eine solche Weise erleben, dass ich den maximalen Nutzen daraus erhalten kann. Aus diesem Grund werde ich meine Erfahrung mit dir als die Erfahrung mit einem Buddha betrachten. Und wenn ich sie als solche betrachte, wird sie tatsächlich die Erfahrung mit einem Buddha sein und als solche fungieren. Es ist kein Selbstbetrug, den man für einen guten Zweck ausführt.“
Die wichtigste Art, wie unser spiritueller Lehrer oder einer der Buddhas uns dabei helfen kann, dass wir uns von unserer Verwirrung und unseren Problemen befreien und all unser Potential wirksam dazu benutzen, anderen zu helfen, besteht darin, uns darin zu unterrichten, unterscheidendes Gewahrsein oder ‚Weisheit’ zu entwickeln. Wir müssen einen Geist kultivieren, der zwischen Realität und Phantasie unterscheiden und sehen kann, was hilfreich und was schädlich ist. Daher ist unsere Beziehung zu unserem Guru nicht die eines Soldaten in der Armee zu seinem oder ihrem General. Wann immer der General spricht, springen wir auf, salutieren mit einem lauten „Jawohl, Herr General!“ und folgen gehorsam, ohne Fragen zu stellen. Wenn unser spiritueller Mentor spricht, sind wir natürlich respektvoll, doch wir erleben dies als eine Gelegenheit, unterscheidendes Gewahrsein zu üben.
Wenn wir in der Armee immer Gehorsam zeigen und ein guter Soldat sind, gibt uns der General zudem vielleicht eine Beförderung. Doch mit einem spirituellen Lehrer ist es ganz anders. Es ist nicht so, dass uns der ständige Gehorsam, ohne Fragen zu stellen, zu einem guten Schüler macht und dass uns der Guru, wenn wir nur aufrichtig darum bitten, eine Beförderung geben und uns in den Rang derer aufnehmen wird, die die Natur des Geistes sehen. Das Sehen der Natur unseres Geistes kann nur in direkter Abhängigkeit von unserer Entwicklung des unterscheidenden Gewahrseins entstehen. Die Weise, in der wir unseren Lehrer erleben, trägt indirekt zu unserem Erfolg bei, in dem sie uns hilft, diese Unterscheidungsfähigkeit zu kultivieren.
Das klassische Beispiel für diesen Prozess kommt aus dem Bericht über ein früheres Leben des Buddha. In einem früheren Leben hatte der Buddha einmal einen spirituellen Mentor, der ihm und all seinen anderen Schülern sagte, sie sollten durch das Dorf gehen und für ihn stehlen. Jeder ging los, um zu stehlen, außer dem Buddha, der in seinem Zimmer blieb. Der Guru kam in Buddhas Zimmer und schrie voller Zorn: „Warum gehst du nicht los und stiehlst für mich? Willst du mir keine Freude bereiten?” Buddha antwortete ruhig: „Wie kann Stehlen jemanden glücklich machen?” Der Guru antwortete: „Ah, du bist der einzige, der den Sinn dieser Lektion verstanden hat.“
Wenn wir daher alles, was unser spiritueller Mentor sagt und tut als eine Belehrung betrachten und erleben, können wir es als Hilfe benutzen, um unsere Weisheit und Unterscheidungsfähigkeit zu entwickeln. Ganz gleich, was unser Lehrer uns nahe legt zu tun, wir untersuchen es, um zu sehen, ob es Sinn macht. Wenn es in Übereinstimmung mit Buddhas Lehren ist und wir fähig sind, es zu tun, tun wir es ‚geradewegs und vorn vorne bis hinten’, wie meine Mutter sagen würde. Im Laufe des Prozesses hat uns unser Lehrer beigebracht, Dinge gründlich zu überdenken, bevor wir handeln, und dann entschieden und mit Selbstbewusstsein zu handeln. Und wenn er oder sie uns bittet, etwas zu tun, was uns völlig unangemessen scheint, tun wir es nicht und erklären höflich, warum nicht. Unser spiritueller Leiter hat uns einmal mehr eine Gelegenheit geboten, unsere unterscheidende Weisheit zu trainieren und anzuwenden.
Die am meisten vorteilhafte Beziehung zu einem Guru hat sicherlich nichts mit einem Personenkult zu tun. Wenn wir unseren Guru als eine Kult-Ikone betrachten, haben wir uns im Inhalt unserer Erfahrung verfangen und uns auf ihn fixiert. Wir blasen das Objekt unserer Erfahrung, in diesem Fall einen Guru, auf und verfestigen es, und setzen ihn oder sie fast buchstäblich auf einen Sockel, wie eine solide Goldstatue, wann immer wir sehen oder uns vorstellen, wie diese Person auf einem Lehr-Thron sitzt. Mit diesem Geisteszustand unterliegen wir der Selbstverleugnung und beten den Inhalt unserer Erfahrung an, wobei wir seinem oder ihrem Namen einen Titel nach dem anderen hinzufügen. Wir sind uns weder der Natur des Geistes und ihrer Beziehung zu unserem Erleben unseres spirituellen Mentors bewusst noch auf sie ausgerichtet. Mit solch einer verwirrten und naiven Einstellung machen wir uns anfällig für ernsthaften Missbrauch.
Das andere Extrem, in das wir verfallen könnten, wenn wir uns in der Seite des Objekts unserer Erfahrung mit unserem Lehrer verfangen, ist, dass wir den Guru mit Feindseligkeit und vielleicht tiefer Enttäuschung und Missfallen kritisieren. Er oder sie hätte doch vollkommen sein sollen, und wir sehen ernsthafte Fehler in seiner oder ihrer Ethik oder Urteilskraft. Oder wir halten aus Angst den Mund, weil wir denken, dass wir, wenn wir unserem Lehrer etwas abschlagen, ein schlechter Schüler sind und er uns ablehnen wird. Oder wir meinen, dass wir mit einem Nein von unserer Seite zugeben würden, dass wir dumm waren, diese Person als unseren spirituellen Leiter gewählt zu haben, und statt uns und anderen gegenüber als dumm dazustehen, akzeptieren wir blind alles und stimmen allem zu, was unser Mentor tut oder sagt. In all diesen Fällen haben wir unseren Vertrag aus den Augen verloren, unterscheidendes Gewahrsein aus unserer Interaktion mit dem Lehrer zu lernen, unabhängig vom Inhalt dieser Interaktion. Solch eine Übereinkunft erfordert offensichtlich nicht nur einen höchst qualifizierten spirituellen Meister sondern auch einen höchst qualifizierten Schüler, der emotionale Reife besitzt und nicht nach einem Vater- oder Mutterersatz sucht, der alle Entscheidungen für ihn oder sie trifft.
Wenn wir Guru-Yoga praktizieren, versuchen wir daher – selbst wenn wir noch keinen persönlichen Mentor haben, mit dem wir einen solchen Vertrag haben – den Richtlinien, wie man den größten Nutzen aus solch einer Beziehung ziehen kann, zu folgen. Wir versuchen es zu vermeiden, uns im Inhalt unserer Visualisation zu verfangen und uns von ihm betören zu lassen. Wir brechen nicht in Entzücken darüber aus, wie wundervoll unser Guru oder Buddha ist, dass er uns glückseliges Licht zusendet. Stattdessen richten wir uns auf die Seite der Erfahrungsseite dessen aus, was geschieht – auf den Geist, der den Austausch von Licht und die Inspiration zulässt, die dieses Licht symbolisiert. Genau wie wir unterscheidendes Gewahrsein hinsichtlich dessen entwickeln können, was angemessen ist und was nicht, indem wir jede einzelne Handlung unseres spirituellen Leiters als eine Belehrung erleben, können wir auch unterscheidendes Gewahrsein in Bezug auf abhängiges Entstehen und Leerheit aus der Praxis des Guru-Yoga entwickeln.
Wenn wir Bitten an den Guru richten, was tun wir dann? Wenn wir inbrünstig bitten: „Möge ich in der Lage sein, die Natur meines Geistes zu erkennen“, erzeugen wir einen sehr starken Wunsch, die Natur des Geistes durch eine richtige Interaktion mit einem spirituellen Lehrer zu sehen und zu verstehen. Genau wie Angespanntheit nicht ‚da draußen’ existiert, sondern vom Geist abhängt, genauso sind stabile Erkenntnis oder selbst eine vorübergehende blitzartige Einsicht in die Natur des Geistes und die Wirklichkeit nicht Dinge ‚da draußen’, die uns jemand wie einen Ball zuwerfen kann. Sie sind Dinge, die in Abhängigkeit und in Verbindung mit einem Geist erscheinen, als ein Resultat eines riesigen komplexen Gefüges von Ursachen.
Die Untrennbarkeit unseres Geistes von unserem Guru
Gampopa, der tibetische Meister des frühen zwölften Jahrhunderts, sagte: „Als ich die Untrennbarkeit meines Geistes von meinem Guru erlebte, nahm ich Mahamudra wahr.“ Wir können Gampopas richtungsweisende Aussage auf vielen Ebenen verstehen, zum Beispiel in Hinblick darauf, Inspiration durch ständige Erinnerung an unseren Lehrer zu erlangen, einen glückseligen, lebendigen Geisteszustands durch unsere inbrünstige Hochachtung und unseren Respekt für ihn oder sie zu erlangen und so weiter. Doch Gampopa hat mit Gewissheit nicht gemeint, dass er, als er eine mystische Vereinigung mit seinem Guru erlebte, wie mit Gott oder seiner Geliebten, Mahamudra wie ein vom Himmel gesandtes Geschenk erblickte. Stattdessen sah er, dass die Beziehung zu seinem spirituellen Mentor eine Erfahrung des Geistes war, die verlangte, dass man aus jedem Moment der Begegnung etwas lernt. Der daraus resultierende Nutzen entstand daher in Abhängigkeit vom Geist und konnte nur abhängig vom Geist existieren. In diesem Sinne erkannte er, dass sein Guru und sein Geist untrennbar waren.
Aus Gampopas Aussage folgt nicht, dass die Beziehung mit einem spirituellen Meister nur in unserem, des Schülers, Kopf passiert. Das ist genauso falsch als würde man sagen, alles käme von der Seite eines allmächtigen Guru/Buddha. Eine Beziehung zwischen einem Lehrer und einem Schüler entsteht in Abhängigkeit nicht nur von den beiden Personen, sondern auch von einem Geist, der die Interaktion Moment für Moment erlebt. Wenn wir dies verstehen, verfangen wir uns nicht im Inhalt der Erfahrung, wobei wir uns entweder auf die Seite des Objekts des ‚heiligen Guru’ oder die Seite des Subjekts des ‚armen, hilflosen Ich’ fixieren. Stattdessen bleiben wir auf die Erfahrung und die tiefste Natur des Geistes und der Wirklichkeit ausgerichtet, die es gestattet, dass die Ursache-Wirkung-Beziehung von Inspiration und Nutzen zwischen den beiden beteiligten Personen auftreten kann. Dies wird symbolisiert durch einen Fluss transparenten Lichts vom Guru zum Schüler, die wir beide auch als aus klarem Licht bestehend visualisieren und daher erleben. Es gibt keinen soliden, festen Guru ‚da draußen’, der irgendein solides, grelles Licht auf ein solides, festes Ich scheinen lässt, das unabhängig ‚hier drinnen’, in meinem Kopf, dasitzt. Diese Guru-Yoga-Praxis ist also extrem hilfreich, um uns darin zu üben, uns in der Mahamudra-Meditation mit unterscheidendem Gewahrsein auf die tiefste Natur des Geistes auszurichten.
Guru-Mantras
Wenn wir Guru-Yoga praktizieren, begleiten wir unsere Visualisation mit der wiederholten Rezitation eines Guru-Mantras oder -Verses, der eine Bitte beinhaltet. In der Karma-Kagyü-Tradition zum Beispiel, die von einem von Gampopas Schülern, dem ersten Karmapa, ausging, rezitieren wir das Mantra ‚Karmapa kyenno’, das wörtlich bedeutet: „Karmapa, wisse in deiner Allwissenheit Bescheid!”. In der Gelug-Kagyü-Tradition der Mahamudra, ersetzen wir die Visualisation und das Mantra des Karmapa mit denen von Tsongkhapa. Sonst sind Vorgehensweise und Ablauf genau dieselben.
Belassen wir unserem Verständnis dabei, dass der Guru äußerlich ist, wird die Rezitation von zum Beispiel dem Karmapa-Mantra lediglich zu einer Übung in Hingabe und nicht zu etwas Tieferem. Wir rezitieren quasi das Äquivalent von: „Karmapa, höre zu und wisse über meine Probleme Bescheid! Nur du weißt in deiner Allwissenheit, wie man sie beseitigen kann.“ Im besten Fall führt das dazu, dass wir Karmapa als Buddha sehen, der die sichere Richtung der Zuflucht weist, die wir in unser Leben bringen. Im weniger günstigen Fall führt es dazu, dass wir das Gefühl haben, dass nur Karmapa uns von all unseren Problemen retten kann. Dann entspricht unsere Bitte an den Guru mit dem Karmapa-Mantra in diesem Fall einem ständig wiederholten: „Gott steh mir bei!“.
Doch wenn wir die Untrennbarkeit unseres Geistes und unseres Gurus sehen, wiederholen wir tatsächlich: „Geist, wisse in deiner Allwissenheit Bescheid!“, wann immer wir ‚Karmapa kyenno’ rezitieren. Mit unseren inbrünstigen Bitten an den Guru richten wir dann auf der Zuversicht basierend, dass unser Geist, als Teil unserer Buddha-Natur, fähig ist, die Wirklichkeit zu sehen, unsere Energien voller Kraft auf die Mahamudra-Erkenntnis. Selbst wenn wir noch keinen persönlichen Guru haben, der als Kanal für die Linie fungiert, die von ihren Begründern zu uns kommt, verbindet uns unsere Buddha-Natur mit der Linie und kann so als Quelle innerer Inspiration dienen. Daher verlassen wir uns nicht nur auf äußerliche Gurus, wir haben auch einen inneren Guru – die Natur des Geistes. Wenn wir die Untrennbarkeit unseres Geistes und unseres Gurus in diesem tiefsten Sinne sehen, gewinnen wir die tiefste Ebene der Inspiration.
Der innere Guru ist nun keine unabhängig existierende Gestalt in unserem Kopf, von dem wir besondere Botschaften erhalten können, denen wir unbedingt folgen müssen. Wenn Gedanken – wie zum Beispiel die Idee, dieses oder jenes zu tun – oder sogar Erkenntnisse erscheinen, kann es sich sowohl um gute als auch dumme Ideen handeln, um richtige Erkenntnisse oder falsche. Nur weil plötzlich etwas Neues und Unerwartetes in unserem Geist erscheint, heißt es noch lange nicht, dass es verlässlich wäre. Wir müssen immer seine Gültigkeit überprüfen.
Darüber hinaus befindet sich da keine kleine Person in unserem Kopf, die uns die Gedanken mit Absicht als Botschaft zusendet. Gedanken und Erkenntnisse, gültige wie ungültige, entstehen durch einen Prozess von Ursache und Wirkung als das Heranreifen eines gewissen Samens oder Potentials. Samen werden entweder durch unsere vorangegangenen gewohnheitsmäßigen Handlungen angelegt, die entweder konstruktiv oder destruktiv sein können, gut begründet oder verblendet. Sie reifen heran, wenn die richtigen Umstände dafür bestehen. Das Erkennen der Natur des Geistes als Buddha-Natur und das Erkennen der Untrennbarkeit unseres Geistes und unseres Guru – oder genauer gesagt, unseres Geistes und unserer Buddha-Natur als unserem inneren Guru – fungieren als Umstände. Umstände, in denen aus den Samen des Potentials, das wir durch vorangegangene Praktiken des Aufbauens und Reinigens sowie des Zuhörens, Überdenkens und Meditierens aufgebaut haben, richtige Verwirklichungen heranreifen können. Genau wie es wesentlich ist, unseren äußerlichen Guru nicht romantisch zu einem Bewirker von Magie und Wundern zu verklären, gilt dasselbe für unseren inneren Guru.
Die Bedeutung jeder Belehrung untersuchen
In der Praxis des Buddhismus ist es sehr wichtig, sich alle Belehrungen tiefgehend anzuschauen, besonders jene, die sich in fast jedem Text über ein bestimmtes Thema wiederholen, wie die Aussage, dass Guru-Yoga und die Bitte an den Guru um Inspiration die wichtigsten Vorbereitungen für Mahamudra-Praxis sind. Atisha, der indische Meister des frühen elften Jahrhunderts, sagte: „Nimm alles in den großen Texten als anleitende Anweisungen für die persönliche Praxis.“ Das heißt jedoch nicht, dass wir sie einfach wie Befehle von unserem General betrachten, denen wir ohne jeglichen Gedanken gehorchen müssen. Wir müssen tief hineintauchen, um zu versuchen, die Bedeutung und den Sinn jeder Anweisung zu verstehen.
Buddhas Lehren können in auslegbare und endgültige unterteilt werden – wörtlich jene, die dazu beabsichtigt sind, uns tiefer zu führen und jene, die die tiefste Bedeutung betreffen, zu der wir geführt werden. Der tiefste Punkt, zu dem alle Lehren des Buddha führen, ist die Erkenntnis der Leerheit. Daher, um – in Atishas Worten – zu verstehen, wie „alle Lehren zusammenpassen, ohne sich zu widersprechen“, müssen wir die Anweisungen über das, was wir praktizieren, mit den Lehren über alles andere zusammenbringen, besonders mit jenen über Leerheit. Das Studium des Buddhismus ist, als würde man Teile eines riesigen Puzzles bekommen. Es ist unsere Aufgabe, alle Teile zusammenzusammeln, wie zum Beispiel Guru-Yoga und Leerheit, und sie zusammenzusetzen. Selbst der Prozess des Nachdenkens, wie sie wohl zusammenpassen, und es herauszufinden, und zwar nicht nur intellektuell, dient als Vorbereitung zur Beseitigung von Hindernissen und zur Stärkung der erleuchtungsbildenden Netzwerke der positiven Kraft und des tiefen Gewahrseins.
Daher sind vorbereitende Praktiken eine wesentliche Voraussetzung für jeglichen Erfolg mit den Mahamudra-Methoden. Ohne sie sitzen wir vielleicht da und machen etwas, was Mahamudra-Meditation zu sein scheint. Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass wir uns auf den natürlichen Zustand des Geistes ausrichten. Doch tatsächlich tun wir nichts, als nur dazusitzen und entweder vor uns hin zu träumen oder im besten Falle uns auf nichts auszurichten, völlig ‚high’, mit unserem Kopf in den Wolken. Es kann sein, dass wir im Laufe des Prozesses ein bisschen entspannter werden, doch unsere Meditation geht im Grunde nicht in die Tiefe.