Unser Leben integrieren: Die Bedeutung der Leere

Wir haben uns die Methoden angesehen, die verschiedenen Aspekte unseres Lebens zu integrieren. Wir haben gesehen, dass es sehr wichtig ist, eine klare Vorstellung von all den Faktoren zu haben, welche die Grundlage des Zuschreibungsphänomens „Ich“ sind, um mit den verschiedenen Dingen in unserem Leben umgehen zu können und dem spirituellen Pfad auf einer vollständigeren und von Herzen kommenden Weise zu folgen, damit wir eine realistische Basis für unser begriffliches Bezeichnen des „Ichs“ in Bezug darauf haben, als was wir uns selbst sehen.

Unwissenheit: Die wahre Quelle all unserer Probleme 

Sprechen wir von den wahren Quellen oder Ursachen unserer Probleme, worum es in der zweiten edlen Wahrheit geht, dreht es sich stets um die Unwissenheit, obwohl ich denke, das „mangelndes Gewahrsein“ eine bessere Übersetzung für diesen Begriff ist. Dieses mangelnde Gewahrsein bezieht sich sowohl auf Menschen als auch auf Phänomene im Allgemeinen, und wir haben dieses mangelnde Gewahrsein bezüglich der Realität und auch bezüglich Ursache und Wirkung, insbesondere verhaltensbedingte Ursache und Wirkung, sowie Karma. 

Was mangelndes Gewahrsein in Bezug auf Personen betrifft, bezieht sich das sowohl auf uns selbst als auch auf andere. Eine Person ist ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage eines individuellen Kontinuums von Aggregat-Faktoren – man bezeichnet sie normalerweise als die fünf Aggregat-Faktoren: den Körper, den Geist, die verschiedenen Emotionen, die Ebenen von Glück, Leid und so weiter. Als solche ist eine Person etwas, das nicht-konzeptuell erkannt werden kann – wir können jemanden sehen oder hören – und was faktisch ist. Als ein Zuschreibungsphänomen ist eine Person, das „Ich“, an diese Grundlage gebunden und kann nur zusammen mit ihr existieren und erkannt werden. Beruhend auf dem mangelnden Gewahrsein darüber, wie wir so existieren, haben wir alle möglichen störenden Emotionen. Allgemein ausgedrückt betrachten wir uns als eine Art solide Sache, die unabhängig von unserem Körper, unserem Geist, unseren Emotionen, Ursachen und Umständen, und anderem existiert und erkannt wird, und weil das nicht wirklich der Realität entspricht, schafft es ein Gefühl der Unsicherheit.

Es ist interessant herauszufinden, was der emotionale Grundton dieses mangelnden Gewahrseins ist. Sprechen wir von mangelndem Gewahrsein, so ist das eine kognitive Sache: entweder wir kennen die Realität nicht oder auf fehlerhaft Weise. Das ist also kognitiv. Offenbar können wir jedoch das gleiche Phänomen von einem emotionalen Standpunkt betrachten. Es gibt eine emotionale Komponente und aus eigener Betrachtung glaube ich sagen zu können, dass diese Komponente sowohl Verwirrung als auch Unsicherheit ist. Dann gibt es auch die Naivität, obwohl es nicht einfach ist zu sagen, ob man Naivität als eine störende Emotionen, eine störende Geisteshaltung oder etwas anderes bezeichnen würde. Wo gehört sie wirklich hin? Wie dem auch sei, wir stellen uns vor eine solide Entität zu sein, weil wir verwirrt darüber sind, wie wir existieren. Wir fühlen uns unsicher deswegen und versuchen, diesem „Ich“ Sicherheit zu geben. Auf dieser Basis treten dann verschiedene störende Emotionen auf.

Ich habe nicht infrage gestellt, ob Naivität etwas Störendes ist oder nicht; es ist störend. Die Frage ist, ob es sich hierbei um eine Emotion oder eine Geisteshaltung handelt. Wir können hier viel Zeit damit verbringen, über Klassifizierungsschemata zu diskutieren. Das Problem ist, dass es in ihnen, wie sie im Buddhismus genutzt werden, recht feine Unterschiede gibt, und diverse buddhistische Meister haben auch einige Bestandteile unterschiedlich definiert. Die Schwierigkeit ist jedenfalls, dass wir in der westlichen Terminologie nichts haben, was man im buddhistischen Klassifizierungsschema im Sanskrit als “kleshas” bezeichnet, und somit ist es in unserer westlichen Fachsprache nicht klar, ob es um Emotionen oder Geisteshaltungen geht. Die westlichen und buddhistischen Klassifizierungsschemata passen nicht wirklich gut zusammen.

Die störenden Emotionen, die aus unserem mangelnden Gewahrsein dessen entstehen, wie wir als Personen existieren, umfassen entweder sehnsüchtiges Verlangen oder Anhaftung, also Dinge bekommen oder nicht loszulassen zu wollen, was wir haben, um zu versuchen, diesem „Ich“ eine Sicherheit zu geben. Dann haben wir auch Ablehnung, Feindseligkeit und Wut, also Dinge von dem „Ich“ wegzuschieben, wieder mit der Hoffnung, dieses „Ich“ sicher zu machen. Oder wir bleiben naiv und kümmern uns nicht um Dinge oder leugnen deren Existenz, weil wir denken, so würde alles schon seinen Gang nehmen und uns Sicherheit geben. Mit anderen Worten: es ist zu bedrohlich, einen tieferen Blick auf die Realität zu werfen. Natürlich sind das alles aussichtslose Versuche, denn wenn wir so handeln, macht uns das keineswegs sicherer.

Doktrinär bedingte Unwissenheit 

Analysieren wir dieses mangelnde Gewahrsein darüber, wie wir existieren, finden wir viele subtile Ebenen. Unser Gewahrsein mag mangelhaft sein, weil wir in bestimmten Doktrinen nicht-buddhistischer indischer Religionen oder Philosophien belehrt worden sind und daran glauben. Mit dieser doktrinär bedingten Unwissenheit stellen wir uns vor, das „Ich“ wäre ein Atman, was der indische Begriff dafür ist. Diese Systeme gehen von der Wiedergeburt aus, und das, was die Wiedergeburt annimmt, ist das „Atman“. Es geht von einem Leben zum nächsten und was es erlebt, befindet sich unter dem Einfluss von Karma. Das sind sehr indische Systeme. 

Dieses Atman, oder die Seele – was vielleicht unserer westlichen Terminologie am nächsten kommt – hat drei Eigenschaften. Solch eine Seele ist etwas, das statisch ist, sich nie ändert und nie durch irgendetwas beeinflusst wird. Die zweite Eigenschaft besteht darin, teilelos, also monolithisch zu sein und nach Ansicht mancher Schulen die Größe des Universums zu haben – hier gilt es also lediglich, sich teilelos mit dem gesamten Universum zu identifizieren – oder ein winzig kleiner teileloser Lebensfunke zu sein. Weil das Atman teilelos ist, hat es keine unterschiedlichen Aspekte. Die dritte Eigenschaft ist, dass dieses Atman völlig unabhängig von Körper oder Geist existieren kann, insbesondere wenn es Befreiung von der Wiedergeburt erlangt. Die verschiedenartigen indischen philosophischen Schulen unterscheiden sich darin, ob sie dieser Seele ein Bewusstsein zuschreiben oder nicht, aber das ist es, was man im Buddhismus unter „doktrinär bedingter Unwissenheit über das Selbst von Personen“ versteht.

Als Westler mögen wir durch unsere Herkunft oder religiöse Ausbildung den Glauben an eine Seele übernommen haben, in der es die eine oder andere Komponente dieser Beschreibung gibt. Das würde man jedoch als etwas anderes einstufen: als eine Art der fehlerhaften Betrachtung, und nicht als das gesamte Paket. Wenn hier von doktrinär bedingter Unwissenheit die Rede ist, geht es um dieses ganze Paket einer Seele, welche diese drei Eigenschaften hat.

Die ewige Seele oder das „Ich“ 

Wir sollten uns bewusst darüber sein, dass Behauptungen, wie die Tatsache einer ewigen Seele oder eines Selbst, das weder Anfang noch Ende hat, ebenfalls im Buddhismus anerkannt werden. Die Frage stellt sich, welches die Eigenschaften solch eines ewigen Selbst, eines „Ichs“, einer Seele, oder wie auch immer man es nennen mag, sind. Im Buddhismus wird auch das gleiche Wort „Atman“ benutzt. Sprechen wir im Buddhismus von dem, was oft als „Nicht-Selbst“, Selbstlosigkeit oder Identitätslosigkeit übersetzt wird, geht es im Grunde darum, dass es so etwas wie eine unmögliche Seele nicht gibt, welche die drei eben erwähnten Eigenschaften besitzt – statisch, teilelos und unabhängig von einem Körper und Geist existierend. Es bedeutet nicht, dass es so etwas wie eine Seele überhaupt nicht gibt. Im Buddhismus erkennt man ein konventionell existierendes „Ich“, ein Selbst, eine Person oder Seele an. Gehen wir vollkommen davon aus, gar kein Selbst oder „Ich“ zu besitzen, so wissen wir, dass solch eine Person aus der Sichtweise der westlichen Psychologie nicht mit dem Leben zurechtkommen würde. Wenn wir kein Gefühl eines „Ichs“ haben, warum würden wir dann aufstehen, uns um uns kümmern, oder irgendetwas tun? In der Arbeit, unser Leben zu integrieren, richten wir uns auf die Basis des konventionellen „Ichs“, das tatsächlich existiert.

Eine tiefer Ebene der Verwirrung – und sie entsteht ganz automatisch – ist zu meinen, das „Ich“ wäre eigenständig erkennbar und kann also für sich selbst, und nicht mit einem Aspekt seiner Grundlage, erkannt zu werden. Wir sagen: „Ich sehe Gabi“, als würde ich nur Gabi sehen. Wie kann ich jedoch Gabi getrennt von einem Körper sehen, den wir Gabi genannt haben? Wie kann ich Gabi kennen, ohne etwas über sie zu wissen? Wenn ich nicht ihren Namen kenne, dann doch zumindest ein geistiges Bild, etwas über ihren Charakter oder dergleichen. Uns scheint es jedoch so, als kennen wir Gabi und als kennen wir uns, und das entsteht ganz automatisch. Die emotionalen und psychologischen Syndrome, die daraus hervorgehen oder darauf beruhen, sind Dinge, wie: „Ich will, dass Du mich nur wegen mir liebst, und nicht wegen meines Körpers, meines Geistes, meines Geldes, sondern nur mich allein“, als gäbe es ein „Ich“, welches man getrennt von der Grundlage kennen und lieben könnte. 

Vielleicht können wir erkennen, dass dies automatisch so erscheint. Was jedoch die Vorstellung betrifft, das „Ich“ wäre so groß wie das Universums, so müsste es sich hierbei um etwas handeln, was uns jemand beigebracht hat. Ich glaube nicht, dass uns dies einfach von selbst einfallen würde. Aber dieses Gefühl, nur wegen uns selbst geliebt zu werden oder den anderen kennen zu wollen, kommt ganz automatisch.

Das „Ich“ durch geistiges Bezeichnen zuweisen 

Bevor wir zum nächsten Schritt in unseren Übungen kommen, werde ich das „geistige Bezeichnen“ etwas näher erklären. Wie wir bereits besprochen haben, ist das konventionelle „Ich“ ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage eines individuellen Kontinuums der fünf Aggregate. Solch ein „Ich“ ist etwas Faktisches; es existiert und kann nicht-konzeptuell erkannt werden. Ich sehe dich, ich sehe mich, ich gehe, ich rede; daran besteht kein Zweifel. Die Frage ist, wie wir begründen, dass das „Ich“ existiert. Was beweist oder zeigt auf, dass das „Ich“ existiert? Hier kommen wir zum geistigen Bezeichnen. Die einzige Möglichkeit, die Existenz des „Ichs“ zu begründen, besteht in der Verbindung zur geistigen Bezeichnung „Ich“, die ein Konzept ist, oder zu dem Wort „Ich“, was lediglich ein Wort ist.   

Es gibt eine Grundlage – wir haben also die sich ständig ändernden Aggregat-Faktoren, die jeden Augenblick unserer Erfahrung ausmachen – und auf deren Basis können wir konzeptuell die Bezeichnung „Ich“ zuweisen oder sie konzeptuell mit dem Wort „Ich“ benennen. Ich bin nicht das Wort „Ich“ oder das Konzept „Ich“. Ich bin kein Wort oder Konzept. Das „Ich“ ist das, worauf sich das Konzept und Wort „Ich“ auf der Grundlage all dieser Dinge, der Aggregate, beziehen, die sich ändern. Die größere Verwirrung besteht dann darin zu meinen, es gäbe in jedem Augenblick etwas auf Seiten der Aggregate, eine auffindbare definierende Eigenschaft, die mich zu „mir“ macht. Entweder es macht mich aus eigener Kraft, von selbst, zu „mir“ oder in Verbindung mit dem Bezeichnen als der Grundlage für das „Ich“. 

Weil wir meinen, es gäbe in jedem Augenblick etwas, das mich zu „mir“ oder dich zu „dir“ macht, entstehen in unserem Geist ganz automatisch bestimmte merkwürdige Gedanken, wie: „Ich muss mich selbst finden“ oder: „Ich muss mich selbst erkennen“. Nun, was erkennen wir, wenn wir uns selbst finden oder erkennen wollen? Es ist eine Art bestimmter Charakteristik, die mich zu „mir“ macht. Wir analysieren, warum wir den andern lieben. Nun, es gibt etwas Besonderes an ihm, das ihn einzigartig und zu dem Objekt unserer Liebe macht, das wir einfach haben müssen. Und so gibt es dieses automatisch auftretende Missverständnis, es gäbe etwas Besonderes auf Seiten dieser Person, das sie einzigartig macht, und wegen dem wir sie mögen oder nicht. Dies wird als die subtilste Form der Verwirrung betrachtet.

Man könnte auch sagen, es gäbe etwas Solides und Auffindbares, eine Art Stütze, welche die Person trägt, wie in dem Beispiel der Stütze hinter einer Leinwand, die einen Schatten wirft.

Die Realität auf der atomarer Ebene betrachten 

Wir können dies auf einer sehr einfachen Ebene verstehen, wenn wir es anhand eines Stuhls oder unseres Körpers betrachten. Betrachten wir diese Dinge unter einem Elektronenmikroskop, so bestehen sie aus Atomen, die wiederum aus Elektronen und Kraftfeldern bestehen. Da gibt es nichts Solides, was diese Dinge zu einem Stuhl oder einem Körper macht, und was man aus eigener Kraft auf dessen Seiten finden könnte. Bleiben wir auf der Ebene der Analyse von Atomen, was ein anfänglicher Schritt unseres Verständnisses der Realität ist. Das Wort „dennoch“ spielt hier eine ausgesprochen wichtige Rolle, denn obwohl mein Körper aus Atomen, Kraftfeldern, Elektronen und all diesen Dingen besteht und nichts Solides an ihm ist, was auch für den Stuhl gilt, so falle ich dennoch nicht durch ihn hindurch. Der Stuhl trägt mich in gewisser Weise. Dieses „dennoch“ ist also von großer Bedeutung, denn es ist der Schlüssel für unser Verständnis der Realität. Nichts ist auffindbar, aber dennoch funktionieren die Dinge.

Shantideva hat das sehr schön formuliert. Um das, was er sagt, mit anderen Worten auszudrücken, sind wir nur bereit für die nächste subtilere Ebene des Verständnisses, wenn wir dieses „dennoch“ auf der einfachsten Ebene verstehen: obwohl alles aus Atomen besteht, fallen wir dennoch nicht durch den Boden. Ohne diese Grundlage werden wir große Schwierigkeiten haben, tiefgründiger zu werden, denn dann würden wir uns immer weiter auf den Nihilismus zubewegen, um so tiefer wir gehen. Ich denke, sogar auf dieser Ebene der Atome, ist es nicht so einfach, das „dennoch“ wirklich zu verstehen.

Das wird jetzt zu einer langen Ausführung über die Leerheit, die ich nicht wirklich eingeplant habe; aber vielleicht ist sie hilfreich. Warum ich überhaupt darauf gekommen bin, war, dass unser Fokus für gewöhnlich auf dem mangelnden Gewahrsein in Bezug auf das Selbst liegt. Leerheit bedeutet eine Abwesenheit von unmöglichen Existenzweisen und um ein erstes Verständnis der Leerheit zu bekommen, betrachten wir es zunächst im Sinne einer Person oder eines Selbst, denn das ist etwas einfacher zu verstehen. Dann sehen wir sie uns hinsichtlich aller Phänomene an. Reden wir über alle Phänomene, handelt es sich um Dinge, die statisch und nichtstatisch sind, was sich darauf bezieht, ob sie sich ändern oder durch irgendetwas beeinflusst werden. Was die Aggregat-Faktoren unserer Erfahrung betrifft, so umfassen sie lediglich alles, was sich ändert, also was nichtstatisch ist. Mit anderen Worten: Jede Komponente unserer Erfahrung in diesem speziellen Schema ist etwas, das durch etwas anderes beeinflusst wird; sie wird durch Ursachen und Bedingungen herbeigeführt. Obwohl es in unserer Erfahrung auch um statische Phänomene geht, gehören sie nicht zu dem Schema der fünf Aggregate.

Haben wir ein grundlegendes Verständnis der Leerheit, kehrt sich die Reihenfolge, in der wir uns in unserer Meditation auf die Leerheit richten, um. Zunächst beziehen wir uns in erster Linie gedanklich auf die fünf Aggregate – die Dinge, die sich ändern, also die Leerheit der Grundlage für die Bezeichnung des „Ichs“. Sehen wir dann, dass sich jeder Augenblick unserer Erfahrung ändert und alles durch andere Dinge beeinflusst wird, sich unterschiedlich schnell ändert und nichts Solides in Bezug auf die Grundlage im Augenblick verbleibt, folgt daraus ganz natürlich, dass man kein solides auffindbares Ding, dieses „Ich“, damit bezeichnen könnte. Alles ändert sich, alles wird von Millionen anderer Dinge beeinflusst, alles besteht aus Teilen und so weiter. Somit gibt es kein solides „Ich“, was all dem aufsitzt. 

Die drei Zeiten 

Mit dieser Grundlage für die Bezeichnung des „Ichs“, des Kontinuums von Erfahrungen, gibt es die Vergangenheit – was bereits stattgefunden hat – die Gegenwart – was gegenwärtig stattfindet – und die Zukunft – was noch nicht stattfindet. Im Buddhismus bezeichnen wir sie jedoch nicht als „Vergangenheit“, „Gegenwart“ und „Zukunft“, da es sich hierbei um ganz andere Betrachtungsweisen der Zeit handelt. Das begriffliche Bezugssystem ist in gewissem Sinne umgekehrt, denn hier haben wir zunächst „noch nicht stattgefunden“, dann „gegenwärtig stattfindend“ und schließlich „nicht länger stattfindend“. Dieses buddhistische Konzept der Zeit ist ein großes Thema und darüber hinaus ein überaus wichtiges. Es ist tatsächlich maßgebend, um Bodhichitta verstehen und darüber meditieren zu können. Man darf nicht Tsongkhapas Erklärung dazu vergessen, wie man einen Zustand bestimmt, den man in der Meditation zu erzeugen versucht: man muss wissen, worauf man sich richtet und wie der Geist damit umgeht.

Beim Bodhichitta gibt es zwei Momente – in der buddhistischen Analyse sprechen wir von „Momenten“, wenn wir uns auf eine Zeitspanne beziehen, die nur einen Augenblick andauert. In der ersten Phase richten wir uns mit Liebe und Mitgefühl, dem Wunsch, alle begrenzten Wesen mögen glücklich und frei von ihrem Leid sein, wirklich auf alle. Der außergewöhnliche Entschluss ist, definitiv etwas dagegen zu unternehmen: sie bis hin zu Befreiung und Erleuchtung zu führen, und ihnen nicht nur oberflächlich zu helfen. Das Hauptaugenmerk im Bodhichitta liegt dann jedoch auf unserer individuellen, noch nicht stattfindenden Erleuchtung, die auf der Grundlage der Buddha-Natur an einem Punkt unseres geistigen Kontinuums stattfinden kann. Der Geist tut dies, indem er die Absicht hat, sie zu erlangen, um eine gegenwärtig stattfindende Erleuchtung zu erlangen, um dadurch allen anderen helfen zu können. 

Natürlich sollten wir genau verstehen, worauf wir uns da fokussieren, wenn wir von einer noch nicht stattfindenden Erleuchtung reden. Mit Sicherheit handelt es sich nicht um die gleiche Sache, die sich dort an einem Punkt auf der zeitlichen Linie unseres geistigen Kontinuums befindet, sich auf einem Fließband der Zeit auf uns zubewegt, immer näher kommt und schließlich zur gegenwärtig stattfindenden Erleuchtung wird. So ist das nicht. 

Diese Erklärung soll nur die Wichtigkeit verdeutlichen, die buddhistische Darstellung der drei Zeiten zu verstehen. Das ist wirklich ausgesprochen wichtig, denn ansonsten kann es sein, dass unsere Bodhichitta-Meditation ziemlich vage ist. Und tatsächlich verstehen viele Menschen nicht, worauf sich Bodhichitta richtet und nennen die Meditation über Mitgefühl „Bodhichitta-Meditation“, während sie das nicht ist. Im Grunde handelt es sich dabei um ein Schritt auf dem Weg zu Bodhichitta, aber sie ist nicht gleichbedeutend damit. Sie ist eine Grundlage dafür, aber nicht Bodhichitta selbst.

Wie gesagt verstehen wir in der Meditation zunächst die Leerheit der Grundlage für die Bezeichnung des „Ichs“, der Aggregate. Der nächste Schritt in der Meditation, bei dem es darum geht, die Leerheit des „Ichs“, der Bezeichnung, zu verstehen, wird einfacher. Es ist notwendig, eine geeignete Grundlage für die Bezeichnung des „Ichs“ zu haben. Wir können über all die problematischen Aspekte, die Teil jedes Augenblicks unseres geistigen Kontinuums, eines jeden Momentes unserer Erfahrung sind, sprechen: störende Emotionen, unsere Verwirrung und so weiter. Wir können all die ursächlichen Faktoren analysieren, die einen Einfluss darauf hatten und es verstärkt haben. Das ist gewiss ein Teil der Grundlage für die Bezeichnung des „Ichs“. Oft richten wir uns in unserer buddhistischen Praxis darauf, weil wir stets die wahren Probleme und deren wahre Ursachen analysieren. Teil dieser Grundlage für die Bezeichnung des „Ichs“ sind jedoch auch all die positiveren Aspekte, die genutzt werden können, um eine noch nicht stattfindende Erleuchtung zu erlangen. All diese positiven Aspekte sind ebenfalls durch Ursachen, Bedingungen, die Einflüsse anderer Menschen, den Einfluss unseres Wohnortes und die verschiedenen anderen Dinge entstanden.

Das „Ich“ existiert, aber das unmögliche „Ich“ gibt es nicht 

Nun werde ich all die verschiedenen Teile, über die wir gesprochen haben, zusammenfügen. Wie gesagt, betrachten wir uns normalerweise im Sinne eines unmöglichen „Ichs“, aber so etwas, wie ein unmögliches „Ich“, gibt es nicht. Dennoch haben wir ein konventionelles „Ich“, das funktionsfähig ist. Was wäre nun also die gesündeste Grundlage für die Bezeichnung des „Ichs“? Offensichtlich müssen wir das „Ich“ auf der Gesamtheit der Grundlagen, sowohl der problematischen Aspekte als auch der Aspekte bezeichnen, die sich vermehren und uns helfen können, Erleuchtung zu erlangen – die noch nicht stattfindende Erleuchtung, die an einem späteren Punkt unseres geistigen Kontinuums erlangt werden kann. Wie wird das Erlangen der noch nicht stattfindenden Erleuchtung zustande kommen, sodass wir eine gegenwärtig stattfindende Erleuchtung haben werden? Der Prozess dafür besteht darin, sich von den negativen Aspekten zu lösen und die positiven zu vermehren. Mit anderen Worten wollen wir all die problematischen Aspekte der Grundlage für die Bezeichnung des „Ichs“ beseitigen, damit nur die positiven übrigbleiben. Wie tun wir das? Wir wenden das Verständnis der Leerheit an. Diese unmöglichen Dinge sind unmöglich; es gibt sie nicht, sie entsprechen nicht der Realität.

Und nun kommen wir zurück zu unserem „dennoch“. Solange wir bei dem Verständnis der Leerheit bleiben, können all diese problematischen Aspekte nicht mehr entstehen. Wenn wir die Leerheit nicht verstehen, werden sie natürlich weiter wirken, aber wenn wir sie verstehen, erkennen wir, dass es keine stützende Grundlage für sie gibt, wie ein Objekt, das einen Schatten auf eine Leinwand wirft. Es gibt nichts, was sie stützt und so werden sie nicht wieder auftauchen. Unser „dennoch“ bezieht sich jedoch darauf, dass die positiven Eigenschaften nicht dadurch zerstört werden, weil sie auf einem korrekten Verständnis der Realität beruhen. Wir verstärken diese positiven Eigenschaften, indem wir Inspiration von den Menschen und Dingen in unserem Leben erfahren, die uns diese positiven Eigenschaften gezeigt oder vermittelt haben.

Tantra und Leerheit 

Für jene, die sich mit Tantra-Meditation befassen, ist dies die ganze Grundlage dafür, was wir in dieser Meditation machen. Wir haben all diese verschiedenen widersprüchlichen und problematischen Aspekte. Mit der Leerheit, also der völligen Abwesenheit all dieser problematischen Aspekte, visualisieren wir uns dann selbst in der Form einer Buddha-Gestalt und schreiben dem „Ich“ im Grunde all die positiven Aspekte statt der negativen zu. Das ist Teil der Theorie, die hinter der Tantra-Umwandlung steckt. Sie muss jedoch mit der Erkenntnis einhergehen, dass das, was wir uns vorstellen und visualisieren, nur ein Ebenbild der noch nicht stattfindenden Erleuchtung und gewiss keine gegenwärtig stattfindende Erleuchtung ist. Nur weil ich denke, ich wäre erleuchtet, erfahre ich keine gegenwärtige Erleuchtung. 

Fokussieren wir uns auf ein „Ich“, dem wir Mitgefühl und korrektes, klares Verständnis zuschreiben, steht dies nicht im Widerspruch zu einem Verständnis der Leerheit. Beziehen wir uns jedoch auf der Grundlage von Wut gedanklich auf das „Ich“, wird diese Wut beseitigt, wenn wir verstehen, dass es diese unmöglichen Existenzweisen nicht gibt. Wut und das Verständnis der Leerheit kann es nicht gleichzeitig geben. Man kann zwar Leerheit und Wut verstehen, aber darum geht es nicht. Ich rede davon, was bewusst stattfindet, was man erlebt. Das Verständnis der Leerheit verstärkt die positiven Eigenschaften und beseitigt sie nicht, aber es schließt sich gegenseitig mit den negativen Eigenschaften aus. Diese beiden sind unvereinbar. Diese Tantra-Methode ist nicht nur die Kraft des positiven Denkens, sondern ist fest mit dem Verständnis der Leerheit verankert.

Was nun den Umgang mit diesen Buddha-Gestalten betrifft – Chenrezig repräsentiert Mitgefühl, Manjushri steht für klares Verständnis usw. – so kann es recht schwierig sein, sich mit ihnen zu befassen, weil sie eine sehr idealisierte und perfekte Form von Mitgefühl und Verständnis sind. Hier kann unsere Praxis des Integrierens der positiven Aspekte unseres Leben hilfreich sein. 

Die Buddha-Gestalten beziehen sich auf die verschiedenen Buddha-Natur-Aspekte. Sprechen wir über die Buddha-Natur, so geht es um diese Faktoren, die Teil unseres geistigen Kontinuums sind, die sich in die verschiedenen Körper eines Buddhas, die verschiedenen Aspekte eines Buddhas, transformieren lassen. Ist die Rede also von diesen Buddha-Natur-Aspekten, sprechen wir genau über die gleichen Aspekte, mit denen der Geist arbeitet. Der Geist arbeitet mit vielen verschiedenen Aspekten: er kann Dinge verstehen, er kann sich um Dinge kümmern, Mitgefühl empfinden und so weiter. Das bezeichnen wir als „grundlegende Ebene“. Auf dieser Basis ist es möglich, die resultierende Ebene zu erreichen, die durch die Buddha-Gestalt repräsentiert wird.

Die Grundlage, der Pfad und das Ergebnis

In der buddhistischen Analyse sprechen wir von der Grundlage und dem Pfadgeist, der zur resultierenden Ebene führt. Es geht also stets um diese drei Aspekte: Grundlage, Pfad und Ergebnis. Werfen wir einen Blick auf den Pfad oder Pfadgeist. Es gibt all diese verschiedenen buddhistischen Meditationen über Mitgefühl und Leerheit, von denen die meisten sehr ausführlich sind und die uns helfen, die noch nicht stattfindende Erleuchtung zu erlangen, dessen Aspekte durch diese unterschiedlichen Buddha-Gestalten repräsentiert werden. Im gegenwärtigen Moment gibt es jedoch, besonders für jene von uns, die auf dem Pfad noch nicht so fortgeschritten sind, die guten Eigenschaften, die wir durch den Einfluss der verschiedenen Familienmitglieder erlangt haben, sowie durch das Land in dem wir leben, durch die verschiedenen Tätigkeiten, die wir ausgeübt haben, durch unsere Freunde und so weiter. Und hier kommen die Übungen mit ins Spiel.

Die Grundlage für die Bezeichnung des „Ichs“ ist also jeder Augenblick unserer Erfahrung all der problematischen und positiven Aspekte – das Ganze. Betrachten wir es aus einem anderen Blickwinkel im Sinne eines geistigen Kontinuums, besteht die Basis für die Bezeichnung des „Ichs“ in den Phasen der Grundlage, des Pfades und des Ergebnisses des geistigen Kontinuums. Es handelt sich dabei nicht um eine zeitliche Linie, denn es ist nicht so, dass es am Anfang die Grundlage gab und dann den Pfad. Der Pfad ist anfangslos, aber er ist damit verbunden, sich von den negativen, problematischen Aspekten zu lösen und die positiven zu stärken. Es ist schwer, einen Bezug zur Grundlage, den Aspekten der Buddha-Natur, herzustellen, und es ist auch nicht leicht, einen Bezug zu den resultierenden Aspekten, den idealisierten Formen dieser Qualitäten aufzubauen. Viel einfacher ist es, sich auf einer Ebene des Pfades mit den positiven Eigenschaften auseinanderzusetzen, die wir gegenwärtig haben.

Schlussfolgerung 

Wenn wir all diese positiven Dinge, die wir von den verschiedenen Aspekten unseres Lebens bekommen haben, erkennen und integrieren können, damit sie eine harmonische Grundlage für die Bezeichnung des „Ichs“ werden, befinden wir uns in einer viel besseren Position, dem buddhistischen Pfad folgen zu können. Wir erkennen unsere Ebene des Pfades der positiven Faktoren. Dies ist ein Schritt, wahrscheinlich eine Art „Dharma-light“-Vorstufe, um in der Lage zu sein, dem buddhistischen Pfad folgen zu können und eine positive Grundlage für die Bezeichnung des „Ichs“ zu haben. Er verleiht uns die Kraft, die verschiedenen buddhistischen Praktiken des „echten Dharma“ zu üben, um die resultierende Ebene, das Ergebnis, zu erreichen. Als zusätzlichen Nutzen verfügen wir über einen viel gesünderes Ich-Gefühl des konventionellen „Ichs“, um mit den Dingen in diesem Leben klarzukommen. Dieses gesündere Ich-Gefühl eines positiven „Ichs“ ist für die weiterführende Tantra-Praxis von enormer Bedeutung, um unser Ego nicht auf merkwürdige Weise zu übersteigern oder in völlige Fantasien abzudriften.

Obwohl wir in diesem Teil nicht mehr Zeit für weitere Übungen genutzt haben, wollte ich eine breitere Ebene für diese Art der Praxis auf dem allgemeinen Dharma-Pfad präsentieren, sowie die Theorie hinter dessen Ausführung und den Nutzen sowohl auf einer „Dharma-light“-Ebene als auch auf einer Ebene des „echten Dharma“.

Vielleicht verdeutlicht diese Analyse auch einen Punkt, den ich zu Beginn gemacht habe: nämlich dass wir versuchen sollten, all die unterschiedlichen Aspekte des Dharma, die wir uns im Laufe der Zeit aneignen, zu „integrieren“, sie zusammenzufügen und zu erkennen, wie alles miteinander in Verbindung steht. Und wenn wir beginnen, immer mehr Dinge auf vielfältige Weise miteinander zu verbinden, werden wir immer mehr Schätze des Dharma bergen.

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