Wir haben über das Selbst oder „Ich“ gesprochen, welches dem Strom der Kontinuität unserer Aggregat-Faktoren zugeschrieben ist, die jeden Moment unserer Erfahrung ausmachen. Dieses konventionelle „Ich“ ist das, worauf sich das Wort oder Konzept auf der Grundlage dieser sich ständig ändernden Aggregate bezieht, die gemäß dem individuellen Karma eine Kontinuität bilden. Sprechen wir über die Leerheit eines Selbst oder einer Person, meinen wir die Abwesenheit von verschiedenen unmöglichen Existenzweisen, die unser Geist gewohnheitsmäßig aus Verwirrung auf dieses konventionell existierende „Ich“ projiziert, um ein falsches „Ich“ zu erschaffen. Es gibt viele Ebenen dieses falschen „Ichs“, die es zu widerlegen gilt und schrittweise sollten wir aufhören, so zu denken, auf diese Weise zu projizieren und an diese Projektionen zu glauben.
Das konventionelle „Ich“ und das falsche „Ich“ sind nicht dasselbe, wie ein gesundes und ein übersteigertes Ego
Das konventionelle „Ich“ und das falsche „Ich“ entsprechen übrigens nicht dem, was wir in unserer westlichen Psychologie unter einem „gesunden Ego“ und einem „übersteigerten Ego“ verstehen. Das sind zwei verschiedene Dinge. Ein „gesundes Ego“ ist, das konventionell existierende „Ich“ zu empfinden oder sich damit zu identifizieren. Ein „übersteigertes Ego“ ist hingegen, das „falsche Ich“ zu empfinden oder sich damit zu identifizieren.
Damit will ich sagen, dass ein „konventionelles Ich“ und ein „falsches Ich“ zu einer Gruppe gehören. Im Westen sprechen wir von einem „gesunden Ego“, das ein Geisteszustand ist. Das konventionelle „Ich“ und das „falsche Ich“ sind keine Geisteszustände und keine Weisen, sich etwas gewahr zu sein, wohingegen ein „gesundes“ und ein „übersteigertes Ego“ Weisen sind, sich etwas gewahr zu sein.
Ein „gesundes Ego“ wird also als das „gesunde Ich“, das „konventionelle Ich“ betrachtet, dass existiert. Auf dieser Basis des konventionellen Ichs stehen wir morgens auf, ziehen uns an und gehen zur Arbeit; ansonsten würden wir uns nicht um uns kümmern. Ein „übersteigertes Ego“ identifiziert sich mit einem „falschen Ich“, das es nicht gibt und mit dem wir denken: „Ich bin das Zentrum des Universums. Ich bin der oder die Wichtigste.“
Doktrinär bedingte Unwissenheit darüber, wie „ich“ existiere
Zunächst ist es notwendig, die so genannte doktrinär bedingte Unwissenheit, die doktrinär bedingte Verwirrung darüber zu widerlegen oder loszuwerden, wie das Selbst existiert. Wir meinen vielleicht, auf bestimmte Weise zu existieren, was wir durch eine gewisse Doktrin übernommen haben. Das bezieht sich hier ganz spezifisch auf die Doktrinen der nicht-buddhistischen indischen Schulen der Philosophie. Das sind Sichtweisen, die wir gelernt haben; jemand musste sie uns beibringen. Es sind keine Dinge, an die jemand von Natur aus glaubt. Obgleich wir in den verschiedenen nicht-buddhistischen indischen Schulen der Philosophie unterschiedliche Behauptungen bezüglich des Selbst oder des Atman haben, gibt es dennoch gewisse Merkmale, die von allen gleichermaßen anerkannt werden.
Was sind diese Eigenschaften? Es gibt drei Eigenschaften dieses unmöglichen Selbst. Ob wir es nun als ein Selbst oder als eine Seele bezeichnen, was sich vielleicht auf ein nicht-indisches Schema bezieht: es ist wirklich schwer zu sagen, wie wir das tatsächlich übersetzen, worum es hier geht. Es gibt jedoch viele Merkmale, die denen unserer westlichen Vorstellung einer Seele ähneln. Belassen wir es aber einfach bei einem Selbst oder einem „Ich“. Bitte denkt daran, dass wir immer den Unterschied zwischen dem konventionell existierenden „Ich“ und dem machen müssen, was als das „falsche Ich“ bekannt ist, denn das „falsche Ich“ existiert überhaupt nicht. Wir widerlegen, dass das konventionelle „Ich“ wie ein „falsches Ich“ existiert.
Das doktrinär bedingte falsche „Ich“ hat, wie von diesen nicht-buddhistischen indischen Schulen vertreten wird, drei Eigenschaften.
Die erste ist, dass es ein statisches Phänomen ist. Wir sollten verstehen, was „statisch“ bedeutet, und darauf achten, dieses Wort nicht einfach als „beständig“ zu übersetzen, denn es bezieht sich hier nicht darauf, dass das Selbst ewig, ohne Anfang und Ende, ist. Im Buddhismus sagt man das ebenfalls.
Dort heißt es, dass das Geisteskontinuum, diese Aggregat-Faktoren, keinen Anfang haben, und das Geisteskontinuum selbst, der Geist, kein Ende hat. Wenn wir ein Buddha sind, wird es nicht weiter diese Aggregat-Faktoren haben, die mit Verwirrung vermischt sind, sondern die reinen Aggregate eines Buddhas. Doch trotz allem hat das Geisteskontinuum keinen Anfang und kein Ende, und der ganzen Sache kann man ein „Ich“ zuschreiben. Für das „Ich“, das konventionelle „Ich“, gibt es weder Anfang noch Ende und natürlich ist das „Ich“ stets individuell, einschließlich des „Ichs“ eines Buddhas. Buddha Shakyamuni ist nicht Maitreya Buddha – sie sind verschieden, sie sind individuell.
Ein statisches „Ich“ wäre ein „Ich“, das sich nicht von einem Augenblick zum nächsten ändert und von nichts beeinflusst wird. Das ist also die erste Eigenschaft: „Ich ändere mich nie, ich bin nach wie vor das Ich. Ich bin gestern schlafen gegangen und heute früh aufgestanden – da bin ich wieder.“ Dasselbe „Ich“ – es hat sich nicht geändert.
Die zweite Eigenschaft ist, dass das „Ich“ ein „Monolith“ ist. Es ist monolithisch, hat keine Teile, ist teilelos. Für gewöhnlich wird es einfach als „eins“ übersetzt, aber das ist zu vage. Und entweder wird in den indischen Schulen gesagt, es sei so groß, wie das Universum, oder wie ein winzig kleiner Funke, doch in beiden Fällen gibt es keine Teile, es ist ein Monolith.
Die dritte Eigenschaft ist, dass es etwas völlig Getrenntes von den Aggregaten ist, also einfach ausgedrückt: völlig getrennt von Körper und Geist. Vereinfachen wir diese Sichtweise, wäre es folgendermaßen: „Wer bin ich? Was ist das Ich? Es ist wie ein kleiner Funke, ein monolithischer Lebensfunke, eine Seele oder was auch immer, die sich nie ändert, sondern einfach in den Körper hineinkommt, wie in ein Haus, dort bleibt und dann wieder hinausgeht und in einen anderen Körper eingeht, dabei jedoch immer dieselbe bleibt.“ Das ist diese Art des „Ichs“, die man uns beibringen müsste. Es ist nicht etwas, das wir von Natur aus so empfinden würden, wie eine Seele zu sein, die von einem Leben zum nächsten weitergeht. Haben wir zum ersten Mal die nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit und verstehen, dass es so etwas nicht gibt und sich dieses Konzept auf nichts bezieht, was wirklich wahr oder real ist, werden wir es los. Wir werden diese Glaubensvorstellung des doktrinär bedingten „falschen Ichs“ los.
Eine interessante Frage ist natürlich: „Was ist mit uns Westlern, die wir nie eines dieser indischen, nicht-buddhistischen philosophischen Systeme studiert haben? Werden wir es los, wenn wir den Pfad des Sehens erlangen?“ Kedrub Je, einer von Tsongkhapas Schülern, sagte, dass alle dieses Problem haben, ob sie nur in diesem Leben die indischen Schulen der nicht-buddhistischen Philosophie studiert haben oder nicht. In einem früheren Leben muss man sie studiert haben. Das führt uns zu der merkwürdigen Vorstellung, dass es auch diese indischen Schulen der Philosophie schon seit anfangsloser Zeit gegeben hat.
Aber jeder hat dieses Problem, einschließlich der Tiere. Die Konzepte eines falschen „Ichs“, die wir vielleicht durch andere philosophische und religiöse Systeme, wie dem Christentums oder ähnlichen übernommen haben, wären eine so genannte begriffsbestimmende Art dieser Unwissenheit, dieser Art der Verwirrung. Doch man müsste sagen, dass es dem vielleicht ähnelt, denn wir könnten auch durch andere Systeme, neben den indischen Hindu-Systemen, indoktriniert worden sein, die eine Art der Glaubensvorstellung haben, die aus buddhistischer Sicht falsch ist. Sie muss nicht einmal aus einem religiösen System kommen, sondern könnte auch aus einem System der Psychologie stammen.
Außerdem kann man hinzufügen, dass es störende Emotionen, störende Geisteshaltungen gibt, die doktrinär bedingt sind und auf diesem Irrglauben beruhen. Beruhend darauf, dass wir glauben, als dieses doktrinär bedingte falsche „Ich“ zu existieren, werden wir besitzgierig und wollen an Dingen festhalten, die diesem falschen „Ich“ gehören. Oder wir werden wütend auf Menschen und Dinge, weil wir meinen, sie würden dieses doktrinär bedingte falsche „Ich“ bedrohen. Zunächst lösen wir uns also davon.
Automatisch erscheinende Unwissenheit darüber, wie „ich“ existiere
Auf einer tieferen Ebene haben wir dann jedoch das, was als „automatisch erscheinende Unwissenheit“ bekannt ist. Wir könnten also sagen: „Ja, ich habe verstanden, dass das Selbst etwas ist, das sich von einem Augenblick zum nächsten ändert, es im Laufe der Zeit Teile und solche Dinge hat, und dass es nicht getrennt von den Aggregaten ist; es wird den Aggregaten lediglich zugeschrieben. Das habe ich verstanden.“ Das bleibt uns, nachdem wir den doktrinär bedingten falschen Glauben widerlegt haben. Diesen Punkt gilt es zu erkennen, was in dem Übrigen noch fehlerhaft ist, nachdem man die erste Widerlegung gemacht hat.
Das wäre der Glaube, dass dieses sich ändernde „Ich“, das den Aggregaten zugeschrieben ist, dennoch eigenständig erkennbar ist: „Ich kann es nur für sich kennen.“ Es könnte für sich erkannt werden, ohne gleichzeitig etwas anderes zu kennen oder wahrzunehmen. Ich kenne Sascha, nicht wahr? Das geschieht ganz automatisch: „Ich denke, ich kenne Sascha.“ Wie kann ich Sascha kennen, ohne gleichzeitig an einen Körper, einen Geist oder eine Stimme zu denken? „Ich höre Sascha am Telefon.“ Höre ich Sascha am Telefon oder höre ich eine Stimme, der Sascha zugeschrieben wird? Doch es scheint, als würde ich Sascha hören, sehen und kennen. Das ist diese trügerische Erscheinung, die falsch ist, dass das Selbst oder eine Person eigenständig erkennbar ist.
So denken wir über das „Ich“. Wir können nicht „Ich“ denken, ohne zumindest an das Wort „Ich“ zu denken, aber wir denken „Ich“. Und das ist ein „Ich“, das seine Individualität ausdrücken muss, einzigartig sein muss und all diese Dinge. „Ja, ich weiß, dass es sich von einem Augenblick zum nächsten ändert und all diese anderen Dinge.“ Wir denken: „Wer bin ich?“ „Was ist meine Identität?“ „Was soll ich jetzt tun?“, obwohl wir verstehen, dass das „Ich“ zugeschrieben ist. Es scheint allerdings ganz automatisch so zu sein, als könnte ich einfach an „mich“ denken und daran, was ich tun sollte, ohne auch an einen Körper, den Geist und diese anderen Dinge zu denken.
Oder es scheint so zu sein, als könnten wir dieses eigenständig erkennbare „Ich“ einfach mit der Stimme gleichsetzen, die in unserem Kopf abläuft, und dann denken wir, dass wir sagen: „Was soll ich jetzt tun?“ und diejenigen wären, die sich in unserem Kopf Sorgen machen. Ich verstehe, dass das „Ich“ nicht getrennt von den Aggregaten ist; es ist irgendwie Teil des Ganzen. Aber es ist wie der Boss, der fragt: „Was soll ich jetzt tun?“ Nun: „ich werde dies sagen“, „ich werde dies tun“, als gäbe es ein kleines „Ich“ da drinnen, hinter einem Schaltpult, das die Knöpfe betätigt und die Information von den Augen wie auf einer Leinwand oder einem Bildschirm aufnimmt.
Dann haben wir all die automatisch auftretenden störenden Emotionen und Geisteshaltungen, die auf dieser automatisch erscheinenden Unwissenheit darüber beruhen, wie ich oder du existieren. Dann denke ich, dass ich alle möglichen Dinge benötige, um diesem „Ich“, das ich ganz für sich kennen kann, Sicherheit zu verleihen; dadurch kommt es zu Gier und Anhaftung, und wir wollen diese Dinge nicht loslassen, weil wir meinen, sie würden dem „Ich“ Sicherheit geben. Oder es gibt bestimmte Dinge, die wir nicht haben wollen, und werden wütend, weil wir sie loswerden wollen, um diesem „Ich“, diesem eigenständig erkennbaren „Ich“, Sicherheit zu geben.
All diese störenden Emotionen kommen ganz von selbst hoch. Wir können diese Syndrome ganz leicht erkennen und dann ist es ziemlich lustig, wenn man darüber nachdenkt. Sie sind lustig, weil sie wahr sind. „Ich möchte nicht, dass Menschen mich nur wegen meinem guten Aussehen lieben, nur wegen meinem Geld oder weil ich berühmt bin. Ich will, dass die Menschen mich wegen mir lieben“. So denken wir doch, oder? Als gäbe es da ein „Ich“, das man getrennt von all diesen anderen Dingen kennen und lieben könnte. Wie süß! So, all diese Dinge empfinden wir ganz von selbst und niemand musste sie uns beibringen. „Liebe mich einfach für mich.“ Nehmen wir uns einen Moment Zeit und denken einmal darüber nach, wie wahr diese Dinge sind. Es gibt auch viele logische Argumentationsketten, um uns die Absurdität dieser Glaubensvorstellungen vor Augen zu führen und zu erkennen, dass es unmöglich so sein kann. Wir werden hier nicht auf sie alle eingehen, weil wir nicht genug Zeit dafür haben.
[Meditation]
Das Objekt der Widerlegung gemäß dem Prasangika
Gut, obwohl es sich also so anfühlt... Das ist es, was so furchtbar daran ist: Es fühlt sich so an, als gäbe es da ein „Ich“, das ganz für sich erkannt werden kann, das ich kreativ ausdrücken und das jeder dann kennen kann. Und wir versuchen, unsere einzigartige Individualität zu finden und all diese Dinge. Obgleich es sich so anfühlt, bezieht es sich auf nichts Reales. Das ist es, was abwesend ist: eine tatsächliche Entsprechung dessen. Dann gilt es zu erkennen, was nach dieser Widerlegung übrig bleibt.
Ich weiß also, dass sich das „Ich“ ständig ändert, Teile hat und nicht getrennt von den Aggregaten ist. Es wird ihnen zugeschrieben und kann nicht für sich selbst erkannt werden. All das bin ich mir bewusst, doch damit diese Zuschreibung des „Ichs“ dem Strom der Kontinuität der Aggregate korrekt ist, muss es etwas Einzigartiges und Auffindbares auf Seiten des „Ichs“ geben, was das „Ich“ zu „mir“ macht und nicht zu „dir“. Das ist eine subtilere Ebene dessen, was im Kontext all dieses geistigen Bezeichnens und dem, worüber wir gesprochen haben, automatisch auftritt: es gibt nach wie vor etwas auf Seiten des „Ichs“, auf Seiten des Bezugsobjektes des Wortes „Ich“, das mich einzigartig und individuell macht, und mich als „Ich“ begründet. Diese unmögliche Existenzweise, diese unmögliche Weise, die Existenz zu begründen, ist das, was im Prasangika widerlegt wird.
Oft denken wir: „Ich muss mein wahres Ich finden. Ich muss diese Einzigartigkeit finden“, was besonders im Westen so ist, wo wir davon ausgehen, dass es etwas Einzigartiges, Individuelles gibt, was mich ausmacht. Und wir meinen, wir könnten es irgendwo in uns finden, auch wenn es etwas vage ist, wo es denn sein könnte. Dann haben wir alle möglichen merkwürdigen Vorstellungen und sagen: „Gestern war ich betrunken und war nicht mehr ich selbst.“
Die Widerlegung solch eines falschen „Ichs“, dessen Existenz durch eine einzigartige definierende Eigenschaft auf Seiten des „Ichs“ oder auf Seiten der Aggregate begründet wird, führt uns zur Prasangika-Sicht der Leerheit, dass die Existenz des Selbst oder die Existenz von irgendetwas lediglich in Bezug auf eine Bezeichnung, ein Konzept „Ich“ begründet wird. Es gibt nichts auf Seiten des Bezugsobjektes, das es begründet oder zu einem erkennbaren, einzigartigen Objekt macht, das man kennen kann. Es gibt nichts auf Seiten des Objektes, das eine Peripherie festlegt, die wie eine Plastikhülle ist, und dieses Ding zu einer einzigartigen Sache macht, die man kennen kann, wie in diesem Fall das „Ich“. Oft beziehen wir uns dabei gedanklich auf definierende Eigenschaften und meinen, es gäbe definierende Eigenschaften auf Seiten des Objektes, die es zu dem machen, was es ist, und es als „Ich“ definieren. „Das ist es, was „mich“ zu „mir“ macht.
Dennoch funktioniere ich
Doch wenn wir es widerlegen, ist es nicht so, dass kein „Ich“ übrig bleibt. Das ist ausgesprochen wichtig: „Ich bin dennoch hier. Ich rede; ich bin glücklich; ich bin unglücklich. Ich muss nach wie vor morgens aufstehen, mich anziehen und zur Arbeit oder zur Schule gehen.“ Doch all das kann funktionieren, weil es nichts auf Seiten des Objektes gibt, das es begründet. Gäbe es etwas seitens eines Objektes, das es begründet, wäre es wie ein Tischtennisball. Es könnte mit nichts interagieren, sondern würde einfach nur da sein. Wie würde ich etwas lernen? Würde ich etwas von jemandem oder aus einem Buch lernen, wäre ich nicht länger „ich“, weil damit etwas dem „Ich“ hinzugefügt würde. Wirklich merkwürdig wird es, wenn wir all die absurden Konsequenzen in Betracht ziehen, die sich daraus ergeben, an diese unmöglichen Existenzweisen zu glauben.
Wir müssen also stets dieses „dennoch“ bedenken. Obwohl das Selbst frei von diesen unmöglichen Existenzweisen ist, funktioniere ich dennoch, tue trotz allem Dinge und kann trotzdem Erleuchtung erlangen. Wir arbeiten also einfach daran, positive Kraft anzusammeln, zu verstehen, zu studieren, zu denken, zu meditieren, anderen zu helfen, ohne uns Sorgen zu machen, einzigartig sein zu müssen, unsere Individualität ausdrücken zu müssen, ob jemand uns mag, was andere von uns denken werden und all diese Dinge. Das brauchen wir nicht und ich bezeichne es als Müll, geistigen Müll. Wir brauchen ihn nicht. Er beruht auf einer falschen Vorstellung, mit der wir meinen, es gäbe da ein kleines „Ich“ in uns, das wir beschützen müssen.
Dieselbe Analyse kann man auch auf andere Menschen anwenden. Mit anderen Menschen haben wir so große Schwierigkeiten, weil wir fälschlicherweise denken, es gäbe etwas Besonderes, Einzigartiges auf Seiten der anderen Person, das sie zu dem macht, der sie ist. Wir denken: „Viele Leute dort draußen mögen und lieben mich vielleicht, aber das zählt nicht, denn ich will, dass du mich liebst. Nur du bist derjenige, der mir wirklich wichtig ist.“ Warum? „Weil es etwas Besonderes auf Seiten dieses Du gibt, dass dich zu demjenigen macht und ich möchte, dass du mich von dir aus liebst.“ Und dann werden wir natürlich wütend, wenn das nicht passiert.
Dasselbe gilt in Bezug auf Objekte: „Das ist mein Computer und es gibt etwas auf Seiten dieses Computers, das ihn zu meinem macht, denn schließlich habe ich ihn gekauft.“ Auch auf Objekte beziehen wir uns gedanklich mit der gleichen falschen Identität, dass es etwas seitens des Objektes gibt, das es zu dem macht, was es ist, wie in dem Beispiel der Uhr. Das Kind betrachtet sie als ein Spielzeug und wir meinen, es sei dumm, oder es sei gefährlich, weil es sie kaputt machen wird. Vielleicht macht es sie kaputt, das mag sein, doch wir werden so wütend und sagen: „Das ist mein kostbares Objekt und diese Person denkt, es wäre nur irgendetwas Wertloses. Sie kann doch sehen, dass es einen Wert auf Seiten des Objektes gibt, dass es schön und teuer ist.“ Wir können alle möglichen störenden Emotionen haben.
Oder wir denken wir haben ein Problem und betrachten es, als gäbe es etwas auf Seiten des Problems, was es zu einem Problem macht, das wie ein riesiger furchtbarer Ballon ist. Wäre es jedoch so, würde es für alle ein Problem darstellen und es gäbe keine Möglichkeit, es loszuwerden, weil es ja da ist. Es gibt etwas auf Seiten des Problems, dass es zu einem Problem macht. Ja, da gibt es diese Schwierigkeiten und ich bezeichne sich als „ein Problem“, doch es ist aus Ursachen und Umständen entstanden, die beeinflusst und verändert werden können. Daher ist es keine große Sache! Es gibt nichts Inhärentes, Auffindbares, das einfach da ist und es ganz von sich aus, aus eigener Kraft, zu einem soliden Problem macht.
Sich auf Leerheit ausrichten
Wenn wir uns auf die Leerheit, die Leere, ausrichten, konzentrieren wir uns auf Folgendes: „So etwas gibt es nicht, so etwas gab es nie und wird es nie geben.“ Obwohl es sich so anfühlen mag, als gäbe es dieses unmögliche „Ich“, bezieht sich dieses Gefühl auf nichts Wirkliches oder Reales. „So etwas gibt es nicht“, und damit durchtrennen wir diese Glaubensvorstellung, wir durchtrennen diese Vorstellung davon, dass es so ein Ding gibt.
Habt ihr hier einen Santa Claus oder einen Weihnachtsmann? Ich haben auf der Straße jemanden gesehen, der so verkleidet war, in rot und mit einem komischen Hut. Oh, ihr habt hier Väterchen Frost. Das ist ein gutes Beispiel! Hier ist jemand, ein Mann, der sich als Väterchen Frost verkleidet hat und wie Väterchen Frost aussieht. Ich denke es ist Väterchen Frost, aber nachdem ich lange darüber nachgedacht habe merke ich: „Es gibt ja gar kein Väterchen Frost.“ Was bleibt also übrig? Übrig bleibt ein Mann, der wie Väterchen Frost aussieht, aber nicht Väterchen Frost ist. Es bleibt also etwas übrig, die Grundlage. Die Grundlage ist der Mann. Wir negieren nicht den Mann. Was wir negieren, ist die trügerische Erscheinung. „Er sieht aus, als wäre er wirklich Väterchen Frost!“ Mit dem Verständnis der Leerheit verstehen wir dann nicht nur, dass dieser Mann nicht Väterchen Frost ist, aber der dort drüben, auf der anderen Seite, schon, sondern, dass es „so etwas, wie Väterchen Frost nicht gibt.“ Das ist eine trügerische Erscheinung.
Und das ist genau dasselbe. Es gibt ein konventionelles „Ich“, das als das „falsche Ich“ zu existieren scheint, aber so etwas, wie das „falsche Ich“ gibt es nicht. Es bezieht sich auf nichts Reales. Übrig bleibt das konventionelle „Ich“, das wie das „falsche Ich“ aussieht und sich wie das „falsche Ich“ anfühlt. Werden wir dann schließlich immer vertrauter damit und gewöhnen uns an dieses Verständnis, dass es so etwas nicht gibt, wird der Geist irgendwann damit aufhören, diese trügerische Erscheinung zu projizieren. Denken wir einen Moment darüber nach.
[Meditation]
Was begründet Individualität?
Welche Rolle spielt die Einzigartigkeit oder Individualität? Sie haben gesagt, dass es kein einzigartiges Selbst gibt, aber erwähnten, dass Buddha Maitreya nicht Buddha Shakyamuni ist. Verschiedene Arten des Selbst sind also einzigartig und funktionieren als Individuen mit anfangslosem Bewusstsein. Wo liegt die Grenze, nicht einzigartig aber individuell zu sein?
Wir sind alle Individuen, doch es gibt nichts auf Seiten von jedem von uns, das uns zu diesem Individuum macht. Es gibt nichts Auffindbares. Sogar wenn man die Gene, Chromosomen und diese Dinge betrachtet, gibt es, wenn man es tiefer analysiert, verschiedene chemische Bestandteile, die aus den diversen Atomen bestehen, die wiederum aus Elektronen bestehen und so weiter. Man kann nichts finden.
Konventionell kann man also sagen, dass es bestimmte definierende Eigenschaften gibt, was Karma, die Kontinuität von Ursache und Wirkung und diese Dinge betrifft. Unser Geisteskontinuum ist also ein Kontinuum, das auf Ursache und Wirkung beruht, und das eines anderen beruht auf einem anderen Strom von Kontinuität von Ursache und Wirkung. Doch es ist nicht so, dass diese Abfolge von Ursache und Wirkung sich hier, auf Seiten des Objektes, befindet. Gewohnheiten, karmische Tendenzen und so weiter – das sind Zuschreibungen des Kontinuums der Aggregate, genau wie das Selbst, und ihre Existenz wird ebenfalls nur durch geistiges Bezeichnen mit Konzepten und Benennen mit Worten begründet.
Betrachtet einmal Ursache und Wirkung. Ein einfaches Beispiel, das man immer im Buddhismus nutzt, ist „ein Same und ein Keimling“. Ein Keimling ist das Resultat des Samens. Ein Same ist die Ursache des Keimlings. Gibt es etwas auf Seiten des Keimlings, was man finden kann, und sagt, dass er von diesem Samen kam? Gibt es etwas auf Seiten des Samens, das sagt, dass es diesen Keimling hervorbringen wird? Nein, offensichtlich nicht. Was begründet also, dass der Same die Ursache des Keimlings und der Keimling das Resultat des Samens ist? Was begründet es? Was beweist es? Wie wird es begründet? Es wird begründet, indem wir „diese Ursache und Wirkung“ beruhend auf dem Konzept von Ursache und Wirkung geistig bezeichnen. War der Same die Ursache des Keimlings? Ja; das ist der „Dennoch-Faktor“. Spielt es eine Rolle, ob ich weiß, dass dieser Same die Ursache des Keimlings war? Nein, es spielt überhaupt keine Rolle. Das erfordert viel Denkarbeit.
Ist der Geist des klaren Lichts das Selbst?
Gestern haben Sie über die subtilste Ebene des Geistes gesprochen, den Geist des klaren Lichts, der all unsere Erfahrungen miteinander verbindet, wiedergeboren wird, sich in verschiedenen Leben fortsetzt und allen Arten von Erfahrungen zugrunde liegt, die wir haben. Das klingt ganz danach, als würden Sie nun über das „wahre Selbst“ sprechen, ein zugrunde liegendes Selbst, was einzigartig zu uns gehört. Wie kann man das verstehen?
Nein! Wenn wir fragen, was es ist, das eine Kontinuität ohne Anfang und Ende hat, könnte man sagen: „der subtilste Geist mit der subtilsten Energie, die dessen Grundlage ist.“ Und das ist die Grundlage, der das konventionelle „Ich“ zugeschrieben wird, sowie auch karmischen Tendenzen, Gewohnheiten und so weiter. Dies ist auch die Grundlage der Bezeichnung der Konzepte von „Ich“, karmischen Tendenzen und Gewohnheiten, sowie die Grundlage der Benennung mit den Worten „Ich“, karmische Tendenzen und Gewohnheiten. Doch die Grundlage der Benennung ist nicht das, worauf sich die Benennung bezieht. Aus diesem Grund habe ich davon gesprochen, dass man, um wirklich Leerheit zu verstehen, korrekt geistiges Bezeichnen und Benennen verstehen muss – all die Komponenten, die mit dem Bezeichnen und Benennen zu tun haben.
Denkt an das Beispiel, dass eine Apfelsine keine farbige Form ist; sie ist kein Geruch; sie ist kein Geschmack. Das war die Grundlage der Benennung, und eine Apfelsine ist nicht das Wort „Apfelsine“. Sie ist kein bedeutungsloses Klangbild, auf das sich eine Gruppe von Leuten geeinigt hat, es für dieses Objekt, dieses konventionelle Objekt zu nutzen, das sie nun als „eine Apfelsine“ bezeichnen. Es ist schon ziemlich verrückt: Es gibt auch eine Konvention, dass bestimmte Linien auf einem Stück Papier ebenfalls dieses Objekt repräsentieren. Wenn man einmal darüber nachdenkt, ist das schon ziemlich merkwürdig.
Unwissenheit ist anfangslos
Woher kommt überhaupt diese angeborene, masochistische Unwissenheit? Wem dient sie?
Für uns Westler ist das wirklich schwer zu verstehen und zu verarbeiten. Doch wir sprechen von anfangsloser Kontinuität. Es gibt also einen anfangslosen Geist, ein anfangsloses Geisteskontinuum, sowie anfangslose Verwirrung, anfangslose Unwissenheit, automatisch erscheinende Unwissenheit – kein Anfang. Sie wurde nicht von jemandem erschaffen und dient niemandes Zweck. Niemand unterzieht uns einem Test oder erlaubt sich einen schlechten Witz mit uns.
Es ist so hässlich, weil es sich aufgrund unseres begrenzten Körpers und begrenzten Geistes ganz automatisch so anfühlt. Es fühlt sich so an, als wäre ich ein getrenntes, eigenständig erkennbares, auffindbares „Ich“, und zwar nicht nur, wenn das Geisteskontinuum mit der Bezeichnung „Ich“ aus verschiedenen karmischen Gründen mit einem menschlichen Körper verbunden ist, sondern auch, wenn es mit dem Körper eines Insektes oder irgendeinem anderen Körper verbunden ist.
Versucht einmal, eine Ameise mit dem Finger an ihrer Bewegung zu hindern – sie wird gleich in eine andere Richtung laufen. Legt man ein Stück Papier in ihren Weg, damit sie darauf krabbelt, wird sie sofort wegrennen. Warum? Sie bezieht sich gedanklich auf das „Ich“. Sie mag nicht das Wort „Ich“ kennen, aber sie hat ohne jeden Zweifel das Konzept „Ich“ und versucht, es zu verteidigen. Das Wort „anfangslos“ ist nicht so leicht zu verstehen.
Betrachtet man Dinge hinsichtlich Ursache und Wirkung, so hat jede Ursache eine Wirkung, ein Resultat, der vorangegangenen Ursache. Betrachtet man also Ursache und Wirkung, und will die letztendliche, erste Ursache finden, kann man das nicht, weil jede Ursache das Resultat von etwas anderem ist. Vielleicht ist das hilfreich, um zu dem Wort „anfangslos“ zu gelangen, denn das ist immer das Problem mit einem Schöpfer, der die erste Ursache ist. Woher kam denn der Schöpfer? Man müsste sagen, dass der Schöpfer entweder immer da war oder aus dem Nichts kam.
Diese Diskussion kann recht schnell ziemlich tief gehen, wenn wir uns mit der ganzen Thematik der Zeit und diesen Dingen befassen. Besonders, wenn man es vom Standpunkt des Urknalls betrachtet, also dass Zeit und Raum mit dem Urknall begannen, ergibt es nicht viel Sinn, von jemandem zu sprechen, der den Urknall bewirkt hat, denn dieselbe Schöpfung umfasst die Zeit und wenn Zeit erschaffen wurde, wie kann es dann eine Zeitvariante dessen geben, das sie erschaffen hat? Die ganze Sache beginnt also, metaphysisch überaus problematisch zu werden. Ganz einfach ausgedrückt ist das Problem: „Wie kann man einen Anfang des Anfangs haben?“ „Wie kann man einen Anfang erschaffen?“ Einen Anfang zu erschaffen bedeutet, dass es etwas vor dem Anfang gab.
Das sollte man im Kontext von „Zyklen“ verstehen. Ein spezifisches Universum geht einen Zyklus durch und es gibt mehrere Universen, unzählige Universen. In diesem Zyklus des Entfaltens, Bestehens, Zerfallens und dann der Leerheit gibt es eine bestimmte Periode, in der das Weltensystem in der Lage ist, Leben und fühlende Wesen hervorzubringen. Im Grunde ist das Buddhas Version der Evolution, in der es innerhalb dieses Weltensystems Lebensformen gibt, in die sich ein Geisteskontinuum inkarnieren kann.
Jedes individuelle Universum hat also einen Anfang, was dessen Zyklus betrifft, doch es gibt keinen Anfang der Zyklen im Allgemeinen, keinen ersten Zyklus. Und es gibt zahllose Universen, die alle Zyklen durchgehen, und zwar nicht auf synchrone Weise. Es gibt immer einen Ort, an dem fühlende Wesen wiedergeboren werden können, und es ist nicht so, dass fühlende Wesen eines Weltensystems oder eines Universums immer in diesem Weltensystem oder Universum geboren werden.
Von einem konzeptuellen zu einem nicht-konzeptuellen Verständnis der Leerheit gelangen
Chögyam Trungpa Rinpoche sagte in seinem Buch: „Spirituellen Materialismus durchschneiden“, der Grund, warum wir die Leerheit nicht erkenne, liege darin, dass wir versuchen die Leerheit zu erkennen. Wie soll es denn dann funktionieren?
Das bezieht sich darauf, wie man von einem konzeptuellen zu einem nicht-konzeptuellen Verständnis der Leerheit gelangt. Der Punkt ist, dass es auf einem Missverständnis beruht, aus der Leerheit und dem Verständnis der Leerheit eine Sache machen zu wollen. Wir betrachten das „Ich“ und die Leerheit wie Tischtennisbälle und meinen, unser Verständnis der Leerheit wäre ein weiterer Tischtennisball, den wir mit diesem Tischtennisball verbinden müssen. Dann arbeiten wir wirklich hart daran, dass dieses „Ich“ sie verwirklicht, aber natürlich werden wir sie so nie verwirklichen, weil wir den gesamten Vorgang missverstehen.
Das heißt nicht, dass wir uns nicht weiter bemühen, die Leerheit zu verstehen. Wir werden sie nicht verwirklichen, indem wir einfach nur in unserem Liegestuhl in der Sonne sitzen und Limonade trinken. Dann wird es nicht passieren. Wir kennen das aus eigener Erfahrung, wenn wir uns vornehmen, eine schöne Zeit zu haben. Hattet ihr schon mal dieses Konzept: „Jetzt werde ich versuchen, eine richtig gute Zeit zu haben!“ Das funktioniert nicht, oder? Eine halbe Stunde bevor ich gehen muss, sage ich zu den anderen: „ich werde jetzt eine gute Zeit haben“, und dann beeile ich mich, weil ich nicht viel Zeit habe. Das macht immer alles kaputt. Man ist mit jemandem zusammen und sagt: „Haben wir nicht gerade eine gute Zeit?“ als gäbe es etwas auf Seiten der „guten Zeit“, die sie zu einer guten Zeit macht. Wir meinen, sie wäre dort drüben, wie dieser Tischtennisball, und wir müssten sie nur finden, vielleicht in der Disko oder auf der Party.
Der Zweck philosophischer Sichtweisen bezüglich der Leerheit
Was war die Absicht hinter der Entwicklung buddhistischer Philosophie? Denn meist wird gesagt, dass all diese Dinge, all diese Lehren wie Heilmittel für uns sind und fühlenden Wesen helfen. Sie sind für uns da und helfen uns, Befreiung oder Erleuchtung zu erlangen, wie sie es für zahllose Wesen vor uns bereits getan haben. Und für viele Wesen boten all diese hohen philosophischen Schulen des Mahayana-Buddhismus eine letztendliche Sicht, um Erleuchtung zu erlangen. Was ist also die Absicht hinter dieser ganzen Entwicklung, wenn beispielsweise Lama Tsongkhapa die ganze Sache erneuert und umschreibt, obwohl bereits so viele Wesen vor Lama Tsongkhapa in Tibet und auch außerhalb von Tibet mit diesem Verständnis Erleuchtung erlangt haben? Was ist der Punkt hinter der Evolution dieser Philosophie, wie sie am Anfang von Buddha oder Nagarjuna präsentiert wurde?
Die Weise, wie die Lehren von Buddha präsentiert wurden, mag für manche Arhats anfangs klar gewesen sein, die in der Lage waren, sie direkt durch die Worte Buddhas zu verstehen. Doch für die meisten anderen, wurde das, was in den Sutras gesagt wurde, im Laufe der Zeit ziemlich unklar und verwirrend, also gab es indische Kommentare. Später waren sich die Menschen auch nicht mehr klar darüber, was diese Kommentare bedeuteten, obwohl sie anfangs wahrscheinlich völlig klar waren, und dann gab es weitere Kommentare. Der Grund, warum im Laufe der Zeit immer mehr Kommentare verfasst wurden, lag also darin, Dinge für die Menschen dieser Zeit klarer zu machen, für die diese früheren Darstellungen nicht mehr klar waren.
Seine Heiligkeit der Dalai Lama wies auch darauf hin, dass es zahlreiche Meister in der Vergangenheit gab, die wirklich hoch-verwirklichte Praktizierende waren und außerordentliche Ebenen erreicht hatten, aber sich nicht so gut ausdrücken konnten. Ob sie Erleuchtung erlangten oder nicht, ist irrelevant. Die Texte, die sie schrieben, waren somit verwirrend und nicht sehr klar, was nicht bedeutet, dass sie keine hohen Verwirklichungen hatten. Doch nur hohe Verwirklichungen zu erlangen, ist kein Garant dafür, es anderen erklären und Texte verfassen zu können, die klar sind.
Auch ändert sich die Zeit und die Denkweise, und es ist notwendig, Dinge auf eine andere Weise zu erklären, die die Menschen dieser Zeit und Kultur verstehen können. Vielleicht hören wir Lehren von Tibetern, die Dinge anhand von Beispielen mit Yaks und Eseln beschreiben, was für uns keinen großen Sinn ergibt, aber wenn sie uns jemand anhand der Arbeit mit einem Computer erklärt, mag es leichter für uns sein, sie zu verstehen. Es gibt das Beispiel: „Sei nicht wie der Esel, der das Gold abschüttelt, das in sein Ohr gegeben wurde.“ Das mag ja ein sehr schönes Beispiel sein, das wir verstehen können, aber man könnte auch sagen: „Sei nicht wie jemand, der auf dem Computer eine Datei bekommt und dann vergisst, sie zu speichern und verliert.“ Zu welchem Beispiel haben wir mehr Bezug? Manche Menschen haben mehr Bezug zu dem einen, manche zu dem anderen Beispiel. Ich besitze einen Computer; ich habe keinen Esel. Daher habe ich mehr Bezug zu dem Beispiel mit dem Computer.
Die Notwendigkeit, positive Kraft für das Verständnis der Leerheit aufzubauen
Hoffentlich haben wir eine allgemeine Vorstellung davon bekommen, worum es bei der Leerheit geht. Es ist recht schwierig, sie wirklich zu verstehen. Und sogar wenn wir sie verstehen, ist es schwer, tatsächlich eine tiefe Überzeugung davon zu haben, dass es wirklich so ist. Um also zu verstehen, reicht es nicht aus, einfach zu hören, darüber nachzudenken, zu versuchen darüber zu meditieren und so weiter. Es reicht nicht, es nur zu tun, um sich Wissen darüber anzueignen. Das ist nicht genug, denn wir haben, wie wir es im Westen nennen, viele „geistige Blockaden“. Wir verstehen es einfach nicht und haben eine Art Blockade, die uns davon abhält, es wirklich zu verstehen. Um also diese geistigen Blockaden zu durchbrechen, brauchen wir jede Menge positive Kraft.
Daher ist es notwendig, zahlreiche konstruktive Dinge zu tun, anderen zu helfen, Niederwerfungen zu machen oder was immer es sein mag, um dieses Netzwerk positiver Kraft aufzubauen, das zuweilen auch mit „Ansammlung von Verdienst“ übersetzt wird, aber das klingt eher, als würden wir nur genug Briefmarken sammeln müssen, um einen Preis zu gewinnen. Es geht darum, genügend positive Kraft aufzubauen, was damit vergleichbar ist, eine Batterie aufzuladen, bis das Lämpchen leuchtet. Wir müssen also genügend Energie, genügend positive Kraft, hineinstecken, damit wir die geistige Blockade durchbrechen und etwas verstehen können. Das ist wirklich so und dieses Bild des Aufladens einer Batterie, damit sie funktioniert, ist, glaube ich, sehr hilfreich. Es ist nicht so, dass wir bestimmte Dinge tun müssen und dann etwas verdienen, als würden wir das Verständnis kaufen. Wenn wir etwas verdienen, geht es um Verdienst, als hätten wir etwas verdient, doch diese Art, den Vorgang wahrzunehmen und zu verstehen, ist ziemlich falsch.
Nur positive Handlungen auszuführen, reicht nicht aus; sie müssen mit der richtigen Motivation ausgeführt werden. Und dann widmen wir diese positive Kraft: „Möge sie zum Erlangen von Bodhichitta beitragen, dem Erlangen des Verständnisses der Leerheit, damit sie als eine Ursache dient, Erleuchtung zum Wohle aller zu erreichen.“ Ohne die richtige Widmung laden wir die Batterie nur auf, um ein dummes Spielzeug-Auto damit zu betreiben, das immer wieder im Kreis herumfährt und ein schönes angenehmes Samsara schafft. Wir denken also: „Möge alles Verständnis und alle positive Kraft, die daraus entstanden sind, als Ursache dienen, mit vollständigem Bodhichitta wirklich Leerheit zu verstehen, damit wir tatsächlich Erleuchtung zum Wohle aller erlangen können.“