Verschiedene Sichtweisen zur Selbstleerheit und Anderesleerheit in den Lehrsystemen

Rückblick  

Gestern haben wir unsere Diskussion zum Thema der Selbstleerheit und Anderesleerheit begonnen und gesehen, dass es außerordentlich wichtig ist, ein Verständnis der Leerheit zu haben, um die Leiden von Samsara zu überwinden. Wir können diese Wichtigkeit auch wertschätzen, indem wir die Leerheit im Kontext der vier edlen Wahrheiten verstehen.

Außerdem haben wir gesehen, dass Selbstleerheit eine Abwesenheit von etwas Unmöglichem ist, von etwas, das es nicht gibt. Anderesleerheit bezieht sich auf den Geist des klaren Lichts, der frei von anderen Phänomenen ist. Die vierte edle Wahrheit – der wahre Pfad des Geistes zum Erlangen einer wahren Beendigung der wahren Leiden und deren wahren Ursprüngen oder wahren Ursachen – ist die nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit dessen, was unmöglich ist, mit dem Geist des klaren Lichts. So weit sind wir bis jetzt gekommen. 

Die Vielfalt der Darstellungen der Leerheit dessen, was unmöglich ist, in den indischen Lehrsystemen  

Einer der vielleicht schwierigsten und kompliziertesten Aspekte des Studiums der Leerheit dessen, was unmöglich ist, besteht darin, dass es mehrere verschiedene Darstellungen dieser Leerheit in den buddhistischen Lehrsystemen Indiens gibt. Diese Systeme werden normalerweise in vier wesentliche unterteilt: Vaibhashika und Sautrantika in den Hinayana-Systemen, und Chittamantra und Madhyamaka in den Mahayana-Systemen, sowie innerhalb des Madhyamaka auch Svatantrika, Prasangika und in manchen Fällen Maha-Madhyamaka. Das ist schon kompliziert genug, aber was es noch komplizierter macht, ist, dass es in jeder der tibetischen Traditionen eine eigene Interpretation eines jeden dieser vier indischen Systeme gibt. Und auch innerhalb jeder der tibetischen Traditionen gibt es verschiedene Darstellungen von den unterschiedlichen großen Meistern der verschiedenen Klöster. Das macht es extrem vielschichtig. Trotz dieser verschiedenen Interpretationen sind sich alle darin einig, dass im Kontext des Madhyamaka ein Unterschied zwischen Selbstleerheit und Anderesleerheit gemacht wird. 

Studieren wir ein bestimmtes Erklärungssystem, müssen wir äußerst vorsichtig sein und dürfen nicht den Fehler machen zu meinen, alle würden dasselbe vertreten und glauben, denn wenn wir das tun und dann eine andere Erklärung von dem Lehrer einer anderen Tradition oder dem Autor aus einem anderen Kloster hören, werden wir wirklich verwirrt sein. 

Viele Bäcker können den gleichen Kuchen backen, doch jeder macht ihn etwas anders. Jeder Kuchen, den sie backen, schmeckt köstlich, aber alle sind etwas anders. Die verschiedenen Lehrsysteme und ihre Erklärungen sind vergleichbar mit dieser Analogie. Wir sollten die Verbreitung der verschiedenen Systeme und deren Erklärungen allerdings im Sinne von Buddhas geschickter Lehrmethode verstehen. Die Menschen haben verschiedene Voraussetzungen, verschiedene Kapazitäten, verschieden Ebenen der Intelligenz und verschiedene Ebenen der Vorbereitung. Daher können wir die Dinge allen nicht auf gleiche Weise erklären, sondern müssen es so tun, wie es ihren Bedürfnissen entspricht. 

Wie es besonders in Tibet betont wird, bilden diese buddhistischen Lehrsysteme Indiens einen Stufenpfad; um wirklich die anspruchsvollste Erklärung zu verstehen, muss man sich zunächst durch die weniger anspruchsvollen durcharbeiten. Während man das tut, nähert man sich der tiefgreifendsten Darstellung der Leerheit an, indem man mit jedem System ein immer feineres Verständnis bekommt. 

Sogar in Indien gab es viele Traditionen der Erklärung, die man in den großen Kommentaren der Nalanda-Meister fand, und sie wurden nach Tibet überliefert und zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Leuten übersetzt. Dadurch sind zahlreiche unterschiedliche Übertragungslinien dieser Texte entstanden. Wegen diesen verschiedenen Übertragungslinien aus Indien, sogar hinsichtlich der gleichen Texte, entwickelte sich in Tibet eine Vielfalt von Möglichkeiten, den indischen Lehrstoff zu verstehen. Sowohl in der indischen als auch der tibetischen Literatur gibt es viele Debatten über die Interpretation der Behauptungen der verschiedenen Lehrsysteme, uns so ist es wichtig, ihre Absicht zu verstehen. Auch wenn die Teilnehmer dieser Debatten oft grobe Worte benutzen und sich gegenseitig als Idioten bezeichnen, sollten wir das nicht allzu ernst nehmen, da die Menschen beim Debattieren oft in Rage geraten, sogar beim Niederschreiben dieser Texte. 

Gemäß der traditionellen Erklärung lehrte Buddha all diese Standpunkte und sie alle sind nur dazu da, anderen zu helfen ihre Leiden zu überwinden. Er lehrte sie nicht, um Unwissenheit und Verwirrung unter den Menschen zu fördern oder zu Streit beim Debattieren anzuregen. Das ist ein wichtiger Punkt, an den wir denken sollten. Die Lehren über Leerheit helfen in jedem buddhistischen System, die Leiden der Menschen zu verringern, wenn sie korrekt verstanden werden. 

Die verschiedenen Behauptungen der Leerheit in den Lehrsystemen nach der stufenweisen Reihenfolge studieren 

Die einzige Frage ist, ob das Verständnis einer bestimmten Erklärung der Leerheit alle Leiden auf den tiefsten Ebenen oder nur auf den anfänglichen Ebenen der gröberen Arten des Leidens beseitigt. Ist letzteres der Fall, müssen wir, bevor wir uns mit den subtileren Arten des Leidens befassen, die größeren Arten des Leidens verringern. Diese so genannten „einfacheren“ Lehrsysteme sind für diese erste Aufgabe ausgesprochen wichtig. Die Tibeter betonten in ihrer Herangehensweise an diesen Lehrstoff – und dafür haben wir bereits einen Vorreiter in Indien –, dass diese Systeme in stufenweiser Reihenfolge studiert werden sollten. Wir beginnen nicht mit der fortgeschrittensten, anspruchsvollsten Erklärung, denn würden wir dort beginnen, ohne die einfacheren Systeme durchgegangen zu sein, verstehen wir nicht wirklich das anspruchsvolle System und lassen uns völlig den Nutzen entgehen. 

Wenn wir von einem indischen Lehrsystem zum nächsten übergehen, tun wir es normalerweise, weil die Diskussionen uns geholfen haben, bestimmte logische Ungereimtheiten in den einfacheren Lehrsystemen zu verstehen. Mit anderen Worten: Wir alle sollten zuerst mit den weniger komplexen Systemen arbeiten und mit dem Vaibhashika beginnen, denn es ist ausgesprochen hilfreich, das zu tun. Wenn wir die Behauptungen dieses Systems meistern, wird uns das helfen, unsere Leiden zu verringern. Gehen wir dann tiefer, ist es nicht so, dass wir die Vaibhashika-Behauptungen als nutzlos betrachten und aus dem Fenster werfen, sondern bestimmte logische Ungereimtheiten in ihm erkennen und uns ein anspruchsvolleres System ansehen wollen, das etwas mehr Sinn ergibt. Wir machen mit dem Sautrantika und dann mit dem Chittamatra-System weiter, und auf diese Weise gehen wir zum nächsten System über, wenn wir bereit dafür sind, es zu verstehen. 

Wenn wir nun die indischen Lehrsysteme auf diese Weise durchgehen und sie alle in einer stufenweisen Reihenfolge studieren, fragen wir uns vielleicht, ob wir diesem Vorgang auch beim Studium der verschiedenen Interpretationen der indischen Lehrsysteme der verschiedenen tibetischen Linien folgen sollten. Bilden auch sie eine stufenweise Reihenfolge? Nein, hier ist es nicht so. Wir müssen sie nicht alle lernen, um Befreiung oder Erleuchtung zu erlangen. Wollen wir jedoch unterrichten, um allen von Nutzen zu sein, ist es wichtig, die verschiedenen tibetischen Systeme mit ihren unterschiedlichen Arten der Erklärung zu kennen. Sind wir beispielsweise ein Lehrer und jemand aus einer anderen Tradition, mit der wir nicht so vertraut sind, kommt und stellt uns eine Frage, werden wir keine Antwort auf sie geben können, wenn wir nicht vertraut mit diesen anderen Weisen der Erklärens sind. Natürlich könnten wir die Person zu einem anderen Lehrer schicken, doch wenn wir wirklich Buddhaschaft erlangen wollen, sollten wir in der Lage sein, die Fragen von allen in Bezug zum Dharma zu beantworten und daher ist es hilfreich, all die verschiedenen Systeme zu kennen, was nicht so einfach ist. 

Wie man mit den Debatten zwischen den Meistern der verschiedenen Systeme umgehen sollte 

Lesen wir die tibetischen Kommentare, in denen über die Behauptungen der verschiedenen tibetischen Traditionen hin und her diskutiert wird, mag das, wie gesagt, wie ein Kampf der Gladiatoren aussehen, in denen es um Leben und Tod geht. Wir können sie jedoch auf eine viel mildere Weise betrachten, da alle Meister einer jeden Tradition versucht haben, den Menschen ein klares Verständnis zu vermitteln, indem sie in den verschiedenen Erklärungen anderer Meister auf bestimmte Ungereimtheiten oder Unzulänglichkeiten hingewiesen und vielleicht auch extreme Standpunkte hervorgehoben haben, die wir vermeiden sollten. 

Hier gibt es zwei Probleme. Eins besteht darin, dass all diese Diskussionen über Leerheit zum Beispiel ein hohes Maß an Fachausdrücken umfassen und jede Tradition und jeder Autor dazu neigt, andere Definitionen für die gleichen Begriffe zu haben. Unterscheiden wir nicht klar zwischen den verschiedenen Definitionen, passiert es häufig, dass wir fälschlicherweise unsere Definition eines Begriffs der Verwendung dieses Begriffs in einem anderen System hinzufügen, wo er ganz anders definiert wird, und somit ergibt das, was dort gesagt wird, überhaupt keinen Sinn. In einem Großteil des Debattierens geht es um diese Dinge. Doch die Kritiken anderer Systeme sind vielleicht Warnungen: „Wenn wir euren Begriff mit unserer Definition benutzen, ergibt es wirklich keinen Sinn. Seid also vorsichtig und definiert eure Begriffe genau und eindeutig.“ 

Viele dieser tibetischen Erklärungen beruhen auch auf der Meditationserfahrung großer Meister. Obwohl sie vollkommen gültige Meditationserfahrungen gehabt und auf authentische Weise die beabsichtigten Resultate ihrer Praxis erlangt haben mögen, waren sie, wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama betont, nicht alle gleichermaßen geschickt darin, ihre Erfahrungen zu erklären. Einige von ihnen haben sie ganz klar formuliert und erklärt, andere weniger. Das ist oft die Wurzel des Problems – einige dieser Meister waren ganz einfach nicht so gut im Schreiben. 

Es gibt viele Punkte, die daraus folgen, doch ein wichtiger Punkt in Bezug darauf, dass verschiedene Meditationsmeister unterschiedliche Meditationserfahrungen hatten, ist folgender: Wenn wir einer bestimmten Tradition mit dem Text und den Erklärungen einer der großen Linienmeister folgen und sie sehr nützlich finden, bedeutet dies keineswegs, dass unsere Meditationserfahrung genau dieselbe wie die des Meisters sein wird. Sie mag ganz anders sein. Wir sehen das immer wieder in den historischen Beispielen, in denen Tsongkhapa beispielsweise ein völlig anderes Verständnis und eine ganz andere Verwirklichung als die seines Lehrers hatte. Haben wir eine andere Meditationserfahrung als die der Meister der Überlieferungslinie, die wir studiert haben, oder jener der großen Meister oder Lehrer, bei denen wir persönlich gelernt haben, heißt das aber auch nicht, dass unsere Verwirklichung notwendigerweise korrekt ist. Sie muss immer überprüft werden, um zu erkennen, ob sie gültig ist oder nicht. Hat sie wirklich zum beabsichtigten Resultat geführt? 

Eine große gemeinsame Theorie der verschiedenen Behauptungen der unterschiedlichen Lehrsysteme 

Ein großes Interesse Seiner Heiligkeit des Dalai Lama besteht jedoch darin zu versuchen, eine so genannte „große gemeinsame Theorie“ der Behauptungen der verschiedenen tibetischen Traditionen zu entwickeln. Ohne zu leugnen, dass sie wirklich ziemlich widersprüchliche Interpretationen bestimmter Punkte haben – und dies wirklich so ist, dass sie widersprüchlich sind – stehen sie dennoch in Bezug auf die wesentlichen Punkte miteinander im Einklang. Es ist nicht so, dass sie im Sinne meines Gelugpa-Systems oder meines Nyingma-Systems zusammenpassen, sondern weil sie alle gültige Erklärungsweisen der wesentlichen Punkte aus verschiedenen Blickwinkeln sind. 

Das führt uns zu einem ausgesprochen heiklen Punkt. Für gewöhnlich läuft die Beschreibung darauf hinaus, wie die verschiedenen Religionen zueinander in Beziehung stehen und interagieren, doch hier geht es nun auch darum, wie die verschiedenen Traditionen innerhalb des Buddhismus zusammenarbeiten und miteinander verknüpft sind. Wir könnten einen exklusiven Standpunkt haben und meinen, nur unser System sei korrekt und man würde in die Hölle gehen, wenn man einem anderen folgt. Auf der anderen Seite könnten wir einen inklusiven Standpunkt haben und meinen, ihr Verständnis habe zwar einige Gemeinsamkeiten mit unserem, aber es sei ein niedrigeres und unseres sei das höchste. Wir sollten prüfen, ob wir eine dieser Sichtweisen oder eine pluralistische Sichtweise haben, mit der wir die Behauptungen aller Systeme gleichermaßen respektieren. 

Obgleich wir noch nicht auf die Einzelheiten der Selbstleerheit und Anderesleerheit eingegangen sind, denke ich, dass diese Punkte wichtig sind. Auch wenn wir die folgenden ausführlichen Erklärungen nicht verstehen oder noch nicht verstehen werden, wird es inspirierend sein, sich mit dieser Art des Studiums zu befassen, wenn wir zumindest etwas über sie erfahren. 

In diesem buddhistischen Lehrstoff finden wir im Grunde alle drei Ansätze des interreligiösen Dialogs. Wir erkennen, dass die buddhistische Sichtweise zu nicht-buddhistischen Behauptungen – wie zum Beispiel über den Atman (das Selbst) – darin besteht, dass sie ganz einfach falsch sind, was recht exklusiv ist. Innerhalb der buddhistischen Lehrsysteme Indiens ist es andersherum, denn sie alle sind ziemlich hilfreich und es gibt bestimmte gemeinsame Aspekte, doch sie bilden einen Stufenpfad und in unserem Prasangika-System ist es das, was man tatsächlich benötigt, um Befreiung und Erleuchtung zu erlangen. Folgen wir jedoch der Herangehensweise Seiner Heiligkeit des Dalai Lama an die verschiedenen tibetischen Traditionen, ist sie eher pluralistisch, denn alle werden gleichermaßen gültig als Methoden zum Erlangen der Befreiung und Erleuchtung betrachtet. Können wir also klar zwischen den verschiedenen Herangehensweisen der unterschiedlichen Texte unterscheiden, die mit diesem Thema über Selbstleerheit und Anderesleerheit verbunden sind, ist das meiner Meinung nach hilfreich, weniger Verwirrung diesbezüglich zu haben. 

Gut, ich denke das reicht als weitere Einführung zu diesem Lehrstoff. Jetzt können wir uns ins Herz der Sache begeben. 

Die Bedeutung des Begriffes „Leerheit“ in Selbstleerheit und Anderesleerheit  

Reden wir von Selbstleerheit und Anderesleerheit, bedeutet das Wort „Leerheit“ eine Abwesenheit von etwas. Im Kontext der Selbstleerheit bezieht es sich auf eine Abwesenheit von etwas Unmöglichem – so etwas gibt es nicht. Jedes der indischen Lehrsysteme gibt Erklärungen zu anderen Ebenen dessen, was unmöglich ist, und keine von ihnen existierte jemals oder wird jemals existieren, denn jede von ihnen ist vollkommen unmöglich. Darüber hinaus werden in vielen der tibetischen Traditionen die Behauptungen dieser indischen Lehrsysteme anders erklärt.

Manche Menschen übersetzen das englische Wort „voidness“ als „emptiness“, doch im Kontext der Selbstleerheit ziehe ich das Wort „voidness“ dem Wort „emptiness“ vor (im Deutschen werden beide Wörter mit „Leerheit“ oder „Leere“ übersetzt). „Emptiness“ vermittelt den Eindruck, dass es etwas Auffindbares gibt, das leer von etwas Unmöglichem ist, wie ein Glas, das kein Monster enthält. Obwohl diese Bedeutung den Behauptungen der weniger anspruchsvollen Lehrsysteme passen mag, ist sie im Prasangika vollkommen unpassend. Daher benutze ich das Wort „emptiness“ für die Selbstleerheit in keinem der Lehrsysteme, um diese Verwirrung zu vermeiden.

Der Begriff „Selbstleerheit“ bezieht sich auf die Abwesenheit einer Selbstnatur (tib. rang-bzhin), auf eine unmögliche Selbstnatur. Das Wort „Selbst“ ist hier die kurze Form für „Selbstnatur“ oder genauer gesagt eine „selbst-begründende Natur“. Das bezieht sich auf eine Natur, die auf Seiten eines Objektes auffindbar ist und die Kraft hat, etwas Unmögliches zu begründen. 

  • Die Gelug-Interpretation des Prasangika vertritt, dass die unmögliche Sache, die eine selbst-begründende Natur begründet, die selbst-begründete Existenz von etwas ist.  
  • Die Nicht-Gelug-Interpretation des Prasangika vertritt, dass die unmögliche Sache, die eine selbst-begründende Natur begründet, die konventionellen Objekte selbst sind, die alle selbst-begründet sind.  

Sprechen wir über die Anderesleerheit, bezieht sich das, was abwesend ist, auf Dinge, die fremd sind oder nicht zum Geist des klaren Lichts gehören. Je nach der tibetischen Tradition können die Phänomene, die abwesend sind, entweder Ebenen des Geistes selbst sein, Arten von Objekten, die auf diesen anderen Ebenen des Geistes wahrgenommen werden, oder die Existenzweise dieser anderen Ebenen des Geistes. Die verschiedenen tibetischen Traditionen unterscheiden sich auch in Bezug auf die Existenzweise des Geistes klaren Lichts. 

All die tibetischen Systeme vertreten jedoch gleichermaßen, dass wir das Unmögliche mit dem Verständnis widerlegen müssen, dass es keineswegs existiert, um Erleuchtung zu erlangen. Dann ist es notwendig, uns nicht-konzeptuell mit dem subtilsten Geist des klaren Lichts auf Leerheit – die völlige Abwesenheit dessen, was unmöglich ist – zu richten. 

Es gibt jedoch noch ein paar weitere Unterschiede zwischen den Gelug- und den Nicht-Gelug-Systemen. 

  • Die Nicht-Gelug-Systeme vertreten, dass die konzeptuell wahrgenommene Leerheit  und die nicht-konzeptuell wahrgenommene Leerheit nicht dasselbe sind, während man im Gelug vertritt, dass sie dasselbe sind.  
  • Darüber hinaus vertritt man im Gelug, dass der Geist des klaren Lichts zu einem Geist gemacht werden muss, der die Leerheit von unmöglichen Existenzweisen wahrnimmt, während man in anderen behauptet, dass er bereits über diese Leerheit als sein Objekt verfügt. 

Die Frage ist also, wie man diese verschiedenen Abwesenheiten nennt: 

  • Einige tibetische Traditionen, und manchmal nur einige Meister in diesen Systemen, nutzen den Begriff „Anderesleerheit“ für den Geist des klaren Lichts und andere nicht.  
  • Unter ihnen, die es tun, gibt es, wie wir gesehen haben, keine Einheitlichkeit in der Interpretation dessen, was die anderen Phänomene sind, von denen der Geist des klaren Lichts frei ist. 
  • In manchen Traditionen benutzt man den Begriff „Selbstleerheit“ in Bezug auf die eigenen Behauptungen einer Abwesenheit dessen, was unmöglich ist, während sich andere auf sie als Vertreter der Selbstleerheit beziehen.  
  • Manche Systeme nutzen den Begriff „Selbstleerheit“ nur für die Abwesenheit dessen, was unmöglich ist und konzeptuell, aber nicht nicht-konzeptuell als Leerheit wahrgenommen werden kann. 

Es ist somit nicht standardisiert und festgeschrieben, auf was sich diese Begriffe „Selbstleerheit“ und „Anderesleerheit“ beziehen und wie die verschiedenen Autoren sie benutzen. Ungeachtet dessen vertritt jeder – und das ist die gemeinsame Feldtheorie –, dass dasselbe notwendig ist, um Erleuchtung zu erlangen: die nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Abwesenheit dessen, was unmöglich ist, mit dem Geist des klaren Lichts. Wollen wir irgendein Autor oder System studieren, müssen wir daher zu Beginn unserer Studien die Definitionen der wichtigsten Begriffe lernen, die von diesem Autor oder diesem System genutzt werden. 

Selbstleerheit  

Sprechen wir zunächst über die Selbstleerheit. Obwohl die Gelugpas diesen Begriff selbst nicht benutzen, bedienen sich viele Nicht-Gelug-Autoren dieses Wortes, wenn sie über die Gelug-Darstellung sprechen und behaupten, es wäre eine fehlerhafte Selbstleerheit, also nicht das, was sie als Selbstleerheit vertreten. Die buddhistische Methode besteht jedoch darin, zunächst zu verstehen, was etwas nicht ist und es dann auszuschließen, um zu wissen, was etwas ist. Betrachten wir also zunächst die Gelug-Behauptungen über die Leerheit, auch weil es sich dabei um jene handelt, mit denen ich selbst am vertrautesten bin. Für die Gelug ist das, was unmöglich ist und was die Leerheit widerlegt, eine unmögliche Existenzweise.

Wie gesagt gibt es, was das Verständnis der als unmöglich zu widerlegenden Existenzweisen in jedem der indischen Lehrsysteme betrifft, Ebenen der Komplexität, die wir durcharbeiten müssen. In den weniger komplizierten Systemen – hier rede ich besonders von den Hinayana-Systemen des Vaibhashika und Sautrantika – finden wir den Begriff „Leerheit“ nicht; sie benutzen ein anderes Wort dafür. Das Sanskrit-Wort ist anatman und bedeutet „ein Nichtvorhandensein einer unmöglichen Seele“, weil es so etwas nicht gibt. Es hat also eine ähnliche Bedeutung wie das Wort „Leerheit“. So etwas, wie einen „Atman“, gibt es nicht, der von den verschiedenen nicht-buddhistischen indischen Systemen als eine „Seele“ definiert wird und sich auf eine Person bezieht. Obwohl atman als „Selbst“ oder „Identität“ und anatman als „Selbstlosigkeit“ oder „Identitätslosigkeit“ übersetzt werden kann, geht es bei dem Begriff eigentlich um eine Seele, die einen Körper und Geist als eine Person belebt und begründet. 

Nur so am Rande und damit es nicht verwirrend für euch ist, wenn wir über Hinayana reden: dies ist ein Begriff, der im Mahayana geprägt wurde. Er ist nicht gerade schön, aber man benutzt ihn innerhalb des Buddhismus als allgemeinen Begriff in 18 verschiedenen Schulen. Die Lehrsysteme des Vaibhashika und Sautrantika, die von den Tibetern und Indern, von denen sie stammen, studiert werden, sind Unterarten einer dieser 18 Schulen, der Sarvastivada. Der Theravada, der momentan in Südostasien und Sri Lanka existiert, ist eine weitere dieser 18 Schulen. Wir sollten also nicht Theravada mit Vaibhashika und Sautrantika gleichsetzen, denn der Theravada hat seine eigenen, völlig verschiedenen philosophischen Behauptungen. 

Das Nichtvorhandensein einer unmöglichen Seele von Personen und Phänomenen  

Was nun das anatman, das Nichtvorhandensein einer unmöglichen Seele (die Seele ist hier der „Atman“) in den Mahayana-Systemen betrifft, befindet sich etwas innerhalb eines Körpers und Geistes, das sie irgendwie aktiviert und belebt. Es ist vergleichbar mit der SIM-Karte in einem Telefon. Wir können von einer unmöglichen Seele einer Person reden, welche die Person irgendwie lebendig und funktionsfähig macht, oder von einer unmöglichen Seele eines Phänomens, welches ihm innewohnt und begründet, dass es existiert und funktioniert. Daher haben wir generell die Terminologie „ein Nichtvorhandensein einer unmöglichen Seele von Personen“ (tib. gang-zag-gi bdag-med) und „ein Nichtvorhandensein einer unmöglichen Seele von Phänomenen“ (tib. chos-kyi bdag-med), wie der Tisch, das Bein eines Körpers oder ein Geist. 

Und auch wenn es etwas komisch klingt, von unmöglichen Seelen in Bezug auf alle Phänomene zu sprechen, ist dies im Grunde die Terminologie, die benutzt wird und eine Bedeutung hat; es handelt sich dabei nicht nur um einen dummen und verantwortungslosen Gebrauch von Worten. Wir beziehen uns hier immer auf den Grundsatz, dass Buddha nicht dumm war und keine dummen Dinge lehrte. Er wählte Worte, weil sie eine Bedeutung haben, die Menschen hilft, Leiden zu überwinden. Wie mein Lehrer Serkong Rinpoche immer gern betonte, ist es ausgesprochen arrogant zu meinen: „Buddha hat es nicht gut erklärt. Ich kann es mit meinen Worten und meiner eigenen Terminologie viel besser erklären.“ 

In den Hinayana Systemen wird nur von dem Nichtvorhandensein einer unmöglichen Seele von Personen gesprochen. Sie erklären es nicht im Sinne eines Nichtvorhandenseins einer unmöglichen Seele von Phänomenen; dies wird nur im Mahayana vertreten, wo es sowohl um das Nichtvorhandensein einer unmöglichen Seele von Personen als auch von Phänomenen geht. Doch obgleich man in den Hinayana-Systemen nicht von einem Nichtvorhandensein einer unmöglichen Seele von Phänomenen spricht, werden dort die Weisen beschrieben, wie bestimmte Arten von Phänomenen existieren und wie sie nicht existieren. Ein Buddha würde all das im Sinne der Hinayana-Systeme verstehen, aber würde es nicht als ein Nichtvorhandensein einer unmöglichen Seele, als Leerheit oder dergleichen bezeichnen. 

In diesen Hinayana-Systemen ist das Verständnis der Realität eines Buddhas und eines Arhats – eines befreiten Wesens – im Grunde dasselbe; es ist nur so, dass ein Buddha mehr weiß. Ein Buddha weiß, wie er alle zur Befreiung führt und ein Arhat weiß es nicht. 

Wenn es in den Mahayana-Systemen um ein Nichtvorhandensein unmöglicher Seelen von Personen geht, sind damit unmögliche Arten von Seelen gemeint, die niemand hat, und es ist notwendig, dieses Nichtvorhandensein oder diese Abwesenheit zu verstehen, um Befreiung als ein Arhat zu erlangen. Um dann Erleuchtung zu erlangen, ist es notwendig, die unmögliche Seele von Phänomenen zu verstehen, was sich auf eine subtilere unmögliche Existenzweise bezieht. Das wird in diesen Systemen als „Leerheit“ bezeichnet und sie bezieht sich nicht nur auf physische Objekte und solche Dinge, sondern auch auf Personen. Das gilt es zu verstehen, wenn wir Erleuchtung erlangen wollen. 

Was in Bezug auf Personen unmöglich ist und was in Bezug auf alle Phänomene (einschließlich Personen) unmöglich ist, unterscheidet sich in allen Mahayana-Lehrsystemen, außer dem des Prasangika. Daher unterscheiden sich laut allen Lehrsystemen, außer dem des Prasangika, die durch die Leerheit negierten unmöglichen Existenzweisen, die es zu verstehen gilt, um Befreiung zu erlangen, von jenen, die man verstehen muss, um Erleuchtung zu erlangen. Im Prasangika wird andererseits gesagt, dass die zu widerlegende unmögliche Art des Verstehens für beide Arten des Erlangens gleich ist. Der einzige Unterschied zwischen den tibetischen Interpretationen dieses Punktes ist, dass das Verständnis zum Erlangen der Befreiung für die Nicht-Gelugpas sich nicht auf alle Phänomene, sondern nur auf manche beziehen muss, während es sich für die Gelug gleichermaßen auf alle Phänomene beziehen muss, um entweder Befreiung oder Erleuchtung zu erlangen. 

Nach Ansicht des Prasangika werden wir also mit einem geringeren Verständnis des Nichtvorhandenseins einer unmöglichen Seele von Personen, was die Nicht-Prasangikas vertreten und was korrekt ist, keine Befreiung erlangen, sondern weiterhin eine ganz subtile Ebene des mangelnden Gewahrsein (der Unwissenheit) und störender Emotionen haben. Um sie loszuwerden und sogar um Befreiung zu erlangen, müssen wir ein vollständiges Verständnis der Leerheit aller Phänomene entwickeln, das sich auch auf Personen bezieht. 

Hierbei handelt es sich nicht nur um eine interessante Tatsache hinsichtlich verschiedener philosophischer Systeme, sondern es hat auch eine große Auswirkung auf unsere Praxis. Die Auswirkung besteht darin, dass die Hauptquelle (sie mag nicht die einzige Quelle sein, aber die Hauptquelle) unserer störenden Emotionen – Wut, Gier, Anhaftung usw. – ein Missverständnis ist, das wir darüber haben, wie Personen existieren, und daher müssen wir daran als erstes arbeiten. Wenn unser Computer kaputt geht, ist das Wichtigste, worauf wir uns konzentrieren müssen, nicht so sehr die Leerheit des Computers, sondern die Leerheit von „uns“, wie wir uns ärgern, wegen „unserem“ Besitz. „Ich, ich, ich, was werde ich jetzt tun?“ Und wenn unser Freund uns verlässt oder etwas tut, was wir nicht mögen, ist das, woran wir zunächst arbeiten müssen, nicht die Leerheit unseres Freundes, nicht die Leerheit des Geistes, der Gedanken oder all dieser Dinge, sondern die Leerheit von uns, die wir uns ärgern. Es geht um dieses Denken: „Jeder sollte tun, was ich möchte, weil ich am wichtigsten und das Zentrum des Universums bin.“ Wir arbeiten also zuerst an der falschen Vorstellung von uns selbst, da sie die Hauptquelle unseres Leidens ist. Das ist es, was wir von dem lernen, was ich gerade über all diese philosophischen Systeme erklärt habe. 

Wenn unser Computer kaputt geht, verstehen wir vielleicht: „Na klar, er wurde hergestellt, er ist vergänglich, und alles, was hergestellt wurde, wird irgendwann kaputt gehen. Was ist der Computer? Ist es dieser Schlüssel? Ist es jener Schlüssel? Ist er etwas Getrenntes von den Schlüsseln?“ Wir können keinen selbst-begründeten Computer finden – so etwas gibt es nicht – und so widerlegen wir die selbst-begründete Existenz des Computers, aber wir haben immer noch dieses große, solide, selbst-begründete „Ich“, das sich ärgert und sich über den nächsten Computer ärgern wird, den wir kaufen und der kaputt geht. Genauso verhält es sich mit unserem Freund. Wir verstehen vielleicht, dass er unter dem Einfluss von störenden Emotionen, seiner Herkunft und anderen Dingen gehandelt hat, die gerade in seinem Leben stattfinden. Warum bin ich böse auf ihn? Wir können den Freund in Körper, Geist und auch das Ereignis, was er getan hat, dekonstruieren. Doch wenn wir das „Ich“ nicht analysiert haben, werden wir beim „Ich“ hängenbleiben, das sich über die nächste Sache, die passiert, und den nächsten Freund ärgern wird. 

Aus diesem Grund finden wir in den Anweisungen zur Leerheitsmeditation am Anfang immer, dass wir unser Verständnis der Leerheit auf das Selbst, insbesondere auf uns selbst anwenden sollten, weil es einfacher zu verstehen ist, und es erst dann auf alle Phänomene anwenden. Sind wir dann vertrauter mit der Leerheitsmeditation, die wir auf diese Weise ausführen, richten wir uns in der Meditation zunächst auf die Leerheit der Phänomene, besonders auf die Aggregate – unseren Körper und Geist – und haben wir dann verstanden, dass sie frei davon sind, eine selbst-begründete Existenz zu haben, können wir hinzufügen: „und es gibt kein selbst-begründetes Ich, das diese Aggregate erfährt.“ Das ist die zweite Stufe; es ist nicht die erste Stufe, sondern die zweite Stufe der Praxis. 

Versuchen wir also, uns mit der Praxis der Leerheitsmeditation zu befassen, ist es wichtig, die Anweisungen zu kennen, zu wissen, in welcher Reihenfolge wir die Dinge ausführen und zu verstehen, warum. Schließlich wollen wir es ja richtig praktizieren, wenn es uns ernst damit ist. Menschen haben mit diesem Lehrstoff seit 2.500 Jahren gearbeitet und wir können von ihrer Erfahrung profitieren. 

Zwei Arten von störenden Emotionen und Greifen  

Von Sautrantika bis Prasangika vertreten die buddhistischen Lehrsysteme Indiens zwei Ebenen unmöglicher Seelen von Personen; im Vaibhashika vertritt man nur die erste. Entsprechend dieser zwei Ebenen vertritt man in den Systemen, die nicht zum Vaibhashika gehören, zwei Arten von störenden Emotionen und zwei Arten des Greifens nach unmöglichen Existenzweisen. Eine nennt man „doktrinär bedingt“ (tib. kun-brtags); sie baut darauf auf, die Behauptungen einer der nicht-buddhistischen Lehrsysteme Indiens gelernt und angenommen zu haben oder die Behauptungen bezüglich aller Phänomene einer der weniger anspruchsvollen buddhistischen Lehrsysteme Indiens gelernt und angenommen zu haben. Das sind nicht die störenden Emotionen, die jeder hat – ein Hund würde sie beispielsweise nicht haben. Wir haben also eines dieser Systeme studiert und deren Doktrin angenommen, und somit sind sie „doktrinär bedingt“. Die andere Ebene ist das „automatische Auftreten“ (tib. lhan-skyes). Auch ein Hund hat diese störenden Emotionen. Wir müssen einem Hund nicht beibringen zu knurren und böse zu werden, wenn jemand versucht, ihm seinen Knochen wegzunehmen. Das muss niemand dem Hund beibringen. 

Was nun die doktrinär bedingten Emotionen und das doktrinär bedingte Greifen betrifft, ist es glaube ich ziemlich irreführend, sie als „intellektuell basiert“ zu bezeichnen. Sie sind nicht notwendigerweise intellektuell basiert und müssen nicht unbedingt etwas mit dem Intellekt zu tun haben. „Intellektuell“ lässt darauf schließen, dass wir etwas, wie ein komplexes, konzeptuelles System, rational verstehen. Darum geht es jedoch nicht. Es könnte sein, dass jemand uns das Dogma eines religiösen Systems gelehrt hat; wir verstehen es nicht intellektuell, aber wir akzeptieren es leichtgläubig und identifizieren uns damit als unserer Religion und unserem Glauben und werden wütend auf alle, die unsere Religion oder unsere Glaubensvorstellungen infrage stellen. 

Darum geht es hier. Es muss also nicht intellektuell sein. Wir müssen in einer Glaubensvorstellung indoktriniert worden sein, um hinauszugehen, einen Glaubenskrieg zu führen und diesen Glauben, an dem wir so hängen und auf den wir stolz sind, zu verteidigen. Solche störenden Emotionen unterscheiden sich von jenen, die automatisch auftreten und die sogar ein Hund hat. Ein Hund geht nicht hinaus und kämpft für eine Religion. Versteht ihr den Unterschied zwischen diesen beiden Arten von störenden Emotionen? 

Das ist nur eine anfängliche Ebene des Erkennens, was doktrinär bedingte störende Emotionen sein könnten. Genauer gesagt handelt es sich dabei um störende Emotionen, die entstehen, wenn uns beigebracht wurde und wir daran glauben, dass wir als das „Atman“, die Seele, existieren, was von einem der nicht-buddhistischen Systeme vertreten wird. Sie entstehen, weil wir meinen, selbst als solch ein „Atman“ zu existieren. 

Es gibt also doktrinär bedingtes und automatisch auftretendes Greifen nach unmöglichen Seelen von Personen und die störenden Emotionen, die entstehen, weil wir meinen, wir würden selbst als diese Ebene einer unmöglichen Seele existieren. Zunächst beseitigen wir die störenden Emotionen, die doktrinär bedingt sind, indem wir grundsätzlich verstehen, dass die Behauptungen der doktrinären Systeme, die wir angenommen haben, keinen Sinn ergeben – sie widersprechen sich selbst. Auch wenn wir all die Lehren des System, wegen dem wir einen Krieg führen, intellektuell nicht verstanden haben, müssen wir dennoch überzeugt davon sein, dass dessen Behauptungen fehlerhaft sind und nicht der Realität entsprechen, um unsere Identifizierung mit diesem System und der Art des „Atmans“, die es vertritt, aufzugeben. Um jedoch die automatisch entstehende Wut, die Anhaftung, die Gier und diese Dinge loszuwerden, die auch ein Hund hat, ist es notwendig, viel mehr Arbeit und Bemühung hineinzustecken. Es ist schwieriger und kommt als zweites. 

Spannend ist, dass es eine ganze Diskussion darüber gibt, was passiert, wenn wir in diesem Leben nie eines dieser nicht-buddhistischen Lehrsysteme Indiens studiert haben. Haben wir dann trotzdem doktrinär bedingte störende Emotionen? Müssen wir sie trotz allem als Arya loswerden? Könnten wir die doktrinär bedingten störenden Emotionen mit jenen ersetzen, die es in den westlichen Denksystemen gibt? Es ist sehr verleitend, einfach zu sagen: „Na klar. Wir beseitigen einfach die westlichen Glaubensvorstellungen und das, was wir vielleicht in diesem Leben gelernt haben“, doch damit ignorieren wir die anfangslose Wiedergeburt. 

In den tibetischen Kommentaren wird erklärt, das im Grunde alle über doktrinär bedingtes Greifen und doktrinär bedingte störende Emotionen verfügen, auch wenn sie solche Systeme nicht in diesem Leben gelernt haben. Das liegt daran, dass sie sie in einem früheren Leben studiert und angenommen haben müssen. So, wie es immer irgendwo Buddhas gibt, welche buddhistische Lehren in der Vielzahl von Universen vermitteln, gibt es immer auch nicht-buddhistische Meister, welche nicht-buddhistische Lehren verbreiten. Das ist die Erklärung, die gegeben wird. 

Jeder hat also dieses doktrinär bedingte Greifen nach unmöglichen Seelen und doktrinär bedingte störende Emotionen, ob sie nun eines der nicht-buddhistischen Systeme Indiens in diesem Leben studiert und angenommen haben oder nicht. Wir haben vielleicht nur die Lehren von einigen Merkmalen der Seele, wie sie von manchen nicht-indischen Glaubenssystemen vertreten werden, gelernt und angenommen, und haben somit störende Emotionen, die aufgrund unserer Identifizierung mit diesen Behauptungen entstehen, doch man müsste sie anscheinendes doktrinär bedingtes Greifen und anscheinende störende Emotionen nennen. Sie sind keine wirklich Definierenden, sondern nur etwas ähnliches. 

Betrachten wir die Liste der individuellen Merkmale des Atman, auf dessen Akzeptieren diese doktrinär bedingten störenden Emotionen und das doktrinär bedingte Greifen beruhen, merken wir, dass es in unseren westlichen religiösen Systemen nicht viele Behauptungen über die Seele oder das Selbst gibt, die ihnen ähneln. So wird zum Beispiel in vielen westlichen Religionssystemen eine Seele vertreten, die mit der Empfängnis in den Körper eingeht und ihn dann zum Zeitpunkt des Todes wieder verlässt und in den Himmel oder die Hölle geht. Daran können wir sehen, dass dies große Ähnlichkeit mit manchen Aspekten der nicht-buddhistischen indischen Glaubensvorstellungen hat. Wir denken wahrscheinlich nicht, dass diese Seele so groß wie das Universum ist, was man in der ganzen Atman/Brahman-Vorstellung finden, aber es gibt bestimmte Aspekte oder Teile dieses indischen Glaubens. Was hier widerlegt werden muss, ist jedoch das Gesamtpaket. Ein westlicher Glaube an eine Seele, die mit der Empfängnis in den Körper eingeht, ihn mit dem Tod wieder verlässt und dann in den Himmel oder die Hölle geht, wird im Buddhismus als doktrinär bedingte fehlerhafte Betrachtung (tib. tshul-min yid-byed) klassifiziert, nicht als doktrinär bedingtes Greifen nach einer unmöglichen Seele von Personen.

Top