Doktrinär bedingtes & automatisch auftretendes unmögliches „Ich“

Rückblick  

Wir haben über die Wichtigkeit des Verständnisses der Leerheit gesprochen, ob es nun um Selbstleerheit oder Anderesleerheit geht, und wir haben erkannt, dass es notwendig ist, wahre Leiden zu überwinden und eine wahre Beendigung der wahren Leiden, die wir alle erfahren, sowie der wahren Ursprünge oder Ursachen dieser Leiden zu erlangen. Wir haben auch gesehen, dass es viele verschiedene Ebenen der Komplexität des Leerheitsverständnisses gibt. Mit der Selbstleerheit reden wir von einer Abwesenheit von etwas Unmöglichem. 

  • Im Gelug ist die Leerheit die Widerlegung und völlige Abwesenheit von unmöglichen Weisen, die Existenz von etwas zu begründen. Die Gelug-Meister beziehen sich in ihren Behauptungen zur Leerheit nicht auf die „Selbstleerheit“. 
  • In den Systemen, die nicht zum Gelug gehören, ist sie die Widerlegung und völlige Abwesenheit konventioneller Objekte, die alle auf unmögliche Weisen begründet werden.  

Mit der Anderesleerheit reden wir von der subtilsten Ebene des Geistes, des Geistes klaren Lichts – der Ebene des Geistes, die frei von bestimmten anderen Phänomenen ist. Diesen Geist des klaren Lichts wollen wir nutzen, um eine nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit dessen zu haben, was unmöglich ist, ob dieses System, in dem Anderesleerheit vertreten wird, diese wahrgenommene Leerheit als „Selbstleerheit“ bezeichnet oder nicht. In manchen Systemen wird der Begriff „Anderesleerheit“ nur auf die Leerheit dessen beschränkt, was unmöglich ist und konzeptuell erfasst werden kann, und wird nicht für die nicht-konzeptuell wahrgenommene Leerheit genutzt.

In unserer Diskussion der Selbstleerheit haben wir auch gesehen, dass wir, wenn es um die Abwesenheit dessen geht, was unmöglich ist, von Personen und allen Phänomenen reden können.  Ganz allgemein kann man es als das Nichtvorhandensein einer unmöglichen „Seele“ von Personen und als ein Nichtvorhandensein von unmöglichen „Seelen“ von Phänomenen betrachten. 

Wir haben auch das Greifen nach einer unmöglichen „Seele“ von Personen und nach einer unmöglichen „Seele“ aller Phänomene erwähnt. Unser Geist bringen eine trügerische Erscheinung hervor, die eine unmögliche „Seele“ repräsentiert und danach zu „greifen“ bedeutet wörtlich, „es kognitiv zu erfassen“. Wir erfassen diese trügerische Erscheinung kognitiv in zweifachem Sinne – wir erfassen sie als ein kognitives Objekt, also nehmen sie wahr, und wir halten sie für Realität, also glauben, dass sie wahr ist. Unser Greifen kann doktrinär bedingt sein – wir haben diese Existenzweise von einem indischen, nicht-buddhistischen Lehrsystem gelernt, und halten sie für wahr. Oder sie könnte automatisch auftreten. Die Darstellung einer unmöglichen Seele, die in jedem dieser zwei Fälle erscheint, ist verschieden und auf diesen Unterschied werde ich gleich eingehen. 

Unser Greifen nach einer unmöglichen „Seele“ wird von dem begleitet, was normalerweise als „Unwissenheit“ übersetzt wird, aber ich ziehe den Begriff „mangelndes Gewahrsein“ vor. „Unwissenheit“ hört sich an, als wäre man dumm. Wir sind jedoch nicht dumm, sondern je nachdem, welcher Definition wir folgen, wissen wir entweder nicht, dass diese trügerische Erscheinung falsch ist oder sind uns nicht bewusst, dass sie falsch ist und erfassen sie auf verdrehte Weise, also genau andersherum, als wie sie wirklich existiert. 

Nutzen wir den allgemeinen Begriff „Leerheit“ sowohl für Personen als auch für alle Phänomene und beschreiben ihn so, dass er all die verschiedenen Lehrsysteme umfasst, ist es auch wichtig, zunächst an dem Verständnis der Leerheit von Personen zu arbeiten – erst in Bezug auf uns selbst und dann in Bezug auf alle anderen – und schließlich zur Leerheit aller Phänomene überzugehen. 

Vorerst beschränken wir unsere Diskussion auf die Gelug-Darstellung.

Die doktrinär bedingte unmögliche „Seele“ von Personen  

Sprechen wir über das doktrinär bedingte unmögliche „Ich“ oder die unmögliche „Seele“ von Personen, geht es um eine „Seele“ oder ein Atman, wie er in einem der indischen nicht-buddhistischen Systeme vertreten wird. Wir identifizieren uns selbst mit so einer Seele oder einem Selbst und denken, das wären wir, wer wir wirklich sind. Diese unmögliche „Seele“ hat generell drei Eigenschaften: 

  • sie wird durch nichts beeinflusst – ist also statisch und ändert sich nie; 
  • sie ist teilelos – sie ist ein Monolith; und  
  • sie kann unabhängig von einem Körper und einem Geist existieren, wenn sie von unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt, Samsara, befreit wird.  

Identifizieren wir uns mit dieser unmöglichen „Seele“ oder diesem Atman, identifizieren wir uns auch mit der Gesamtheit aller drei Eigenschaften, nicht nur einer oder zwei.

Sehen wir uns etwas genauer an, was diese drei Eigenschaften sind. Zunächst sollten wir verstehen, dass man im Gelug nicht leugnet, dass es ein Selbst oder eine Person gibt. Im Gelug-Prasangika wird ganz spezifisch vertreten, dass es, wenn man es nicht von einer konventionellen oder letztendlichen Sicht aus betrachtet, ein Selbst oder eine Person gibt, die als eine „bloße Konventionalität“ (tib. kun-rdzob-tsam) existiert, die nicht widerlegt wird. Analysiert man es jedoch aus keiner dieser Sichtweisen, kann man keine konventionell existierende Person oder kein konventionell existierendes Selbst finden. Gemäß den Gelug Systemen, die nicht zum Prasangika gehören, gibt es andererseits ein konventionell existierendes Selbst oder eine Person, die frei davon ist, auf eine unmögliche Weise zu existieren und nicht widerlegt wird. Um die Diskussion zu vereinfachen, bezeichnen wir das nicht zu widerlegende Selbst als „konventionell existierendes Ich“ und das zu widerlegende als das „falsche Ich“.  

Was wir hier widerlegen, ist, dass die trügerische Erscheinung, die unser Geist auf ein falsches Selbst oder „Ich“ mit diesen drei Eigenschaften projiziert, dem konventionell existierenden „Ich“ entspricht. In den Nicht-Prasangika-Systemen heißt es, dass unser Geist diese trügerische Erscheinung auf das konventionell existierende „Ich“ projiziert, während man im Prasangika vertritt, dass weder das konventionell existierende „Ich“, noch das „Ich“, das eine bloße Konventionalität ist, durch Analyse gefunden werden kann. Daher gibt es nichts Auffindbares, auf das dieses falsche „Ich“ projiziert werden kann. 

Trotz all dieser Unterschiede vertritt man in allen buddhistischen Systemen, ob Mahayana oder Hinayana, ein konventionell existierendes „Ich“, eine Person oder ein Individuum. All diese buddhistischen Systeme sagen, dass es ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage eines individuellen Kontinuums von Aggregat-Faktoren ist, die jeden Moment der Erfahrung ausmachen. Wir werden hier nicht weiter auf die fünf Aggregate eingehen, da es zu lange dauern würde, sie alle zu beschreiben, und reduzieren sie hier auf einen Körper und einen Geist. Ein Zuschreibungsphänomen ist etwas, das nicht existieren und nicht getrennt von einer Grundlage erkannt werden kann. Das konventionell existierende „Ich“ kann weder existieren noch getrennt von einem Körper und einem Geist als dessen Grundlage erkannt werden. Wir existieren und können als ein „Ich“ auf der Grundlage eines individuellen Kontinuums eines Körpers und eines Geistes erkannt werden, genauer gesagt, eines Körpers, einer Bewusstseinsart, einem Sehen oder Hören, einem Empfinden eines Grades von Glück, sowie verschiedener Emotionen. 

Wir können dieses „Ich“ konzeptuell mit der Kategorie oder dem Konzept „Ich“ bezeichnen, das wir von uns haben, und dieses „Ich“ mit dem Wort „Ich“ benennen. Doch das „Ich“ ist nicht das Konzept „Ich“ oder das Wort „Ich“, und das „Ich“ ist nicht die Grundlage – jeder Moment der Erfahrung. Das „Ich“ ist das, worauf sich das Konzept und das Wort „Ich“ im Kontext dieser Grundlage beziehen. Technisch ist das „Ich“ das Bezugsobjekt (tib. btags-chos) der Zuschreibung.

Wir können dies mit der Analogie eines bestimmten Films, wie „Fluch der Karibik“, verstehen. Was ist „Fluch der Karibik“? Es gibt einen Film „Fluch der Karibik“, nicht wahr? Nun, was ist „Fluch der Karibik“? Es ist nicht der Titel „Fluch der Karibik“, der Titel ist nicht der eigentliche Film, und er ist auch nicht eine bestimmte Sekunde oder ein Moment des Films. Wir sehen nicht nur einen Moment des Films und das war es. Jeder Moment des Films wird nicht gleichzeitig abgespielt. Wir sehen immer nur einen Moment des Films auf einmal, in einer richtigen Reihenfolge, einer logischen Reihenfolge, die einen Sinn ergibt und von einem Moment zum nächsten durch eine Handlung verbunden ist. Was ist nun der Film „Fluch der Karibik“? Er ist das, worauf sich der Titel auf der Grundlage der Kontinuität all dieser Momente bezieht. 

Um es noch einmal zu wiederholen: der Film ist nicht der Titel. Er ist nicht irgendeiner der Momente. Der Film existiert nicht getrennt von den Momenten des Films, noch ist er dasselbe wie einer der Momente des Films. Sogar wenn wir all die Momente herausnehmen und sie auf dem Boden ausbreiten würden, wären sie nicht der Film. Dennoch gibt es einen Film „Fluch der Karibik“ und wir können ihn erleben, indem wir uns ihn ansehen. 

Dasselbe gilt in Bezug auf das konventionelle „Ich“. Es gibt all die Momente eines individuellen Stroms von Kontinuität der Erfahrung. Da gibt es das Wort „Ich“, das diesem Strom zugeschrieben werden kann, vergleichbar mit dem Titel des Films.  Dieses individuelle „Ich“ könnte sogar einen spezifischen Namen in einem bestimmten Leben haben, wie „Sascha“, „Lena“ oder ähnliches. Doch Sascha und Lena sind nicht nur Namen, sie beziehen sich auf Personen. Das „Ich“ existiert nicht getrennt von diesen Momenten der Erfahrung, es ist nicht dasselbe wie jeder Moment, die Momente finden nicht alle gleichzeitig statt und so weiter. Auf der Grundlage dieses konventionellen „Ichs“ übernehmen wir jedoch Verantwortung für unser Leben, für das, was wir aufgrund karmischer Ursache und Wirkung erfahren, wie wir mit anderen umgehen. 

Sowohl im Hinayana als auch im Mahayana ist man sich einig, dass das Geisteskontinuum keinen Anfang hat und im Mahayana heißt es, dass es auch kein Ende hat. Innerhalb des Hinayana gibt es verschiedene Meinungen bezüglich eines Endes, aber darauf werden wir hier nicht weiter eingehen. Wie das Geisteskontinuum ist auch das konventionelle „Ich“, das ein Zuschreibungsphänomen auf dessen Grundlage ist,  ewig – hat also weder Anfang noch Ende. Das konventionelle „Ich“ hat weder Anfang noch Ende. Im Buddhismus wird somit behauptet, dass das konventionelle „Ich“ ewig ist, für immer andauert und von niemandem erschaffen wurde. Es ist stets individuell; auch wenn wir Buddhas werden, bleibt dessen Individualität bestehen. 

„Individuell“ bedeutet allerdings nicht, dass wir alle völlig getrennte Entitäten sind, in Plastik gehüllt und nicht fähig, aufeinander einzuwirken. Daher sollten wir klar zwischen „individuell“ und „getrennt“ oder „isoliert“ unterscheiden. Individuen wirken aufeinander ein, doch bewahren ihre Individualität. Auf der Grundlage der karmischen Potenziale, die wir durch unser zwanghaftes Verhalten aufgebaut haben, sind die Aggregate, die in manchen Leben die Grundlage des „Ichs“ sind, jene eines menschlichen Wesens oder jene eines Tieres, eines Insekten, eines Gottes, eines Geistes oder was auch immer. Die Lebensform, in der wir geboren werden, kann sich in den höheren oder in den niederen Bereichen befinden. Und es ist auch nicht so, dass wir alle eins werden, wenn wir Befreiung oder Erleuchtung erlangen. Wir sind nicht alle eins, wie ein großer Einheitsbrei. 

Die erste Eigenschaft: statisch 

Die erste Eigenschaft des doktrinär bedingten unmöglichen „Ichs“ besteht darin, statisch zu sein – es geht nie eine Veränderung durch, weil es von nichts beeinflusst wird. Der Fachausdruck für dieses charakteristische Merkmal wird für gewöhnlich mit „beständig“ übersetzt, aber „beständig“ kann zwei Bedeutungen haben: „ewig“ oder „sich nicht ändernd“. Hier bedeutet es nicht ewig, weil es im Buddhismus heißt, dass das konventionelle „Ich“ ewig ist. Das Wort „beständig“ bedeutet hier: von nichts beeinflusst, statisch, sich niemals ändernd. Es bezieht sich auf ein „Ich“, das sich nie ändert. Wir werden beispielsweise nicht durch unser Alter beeinflusst. „Mein Körper mag wehtun, aber ich bin innerlich jung, ich bin immer derselbe/dieselbe.“ Oder eine Prostituierte denkt vielleicht: „Du kannst meinen Körper haben, aber nicht mich. Ich werde von dem, was du mit meinem Körper tust, nicht beeinflusst.“ 

Die zweite Eigenschaft ist: eins

Die zweite Eigenschaft – und diese Eigenschaften kommen wie gesagt alle in einem Gesamtpaket und beschreiben in vielerlei Hinsicht dasselbe Paket aus unterschiedlichen Blickwinkeln – diese zweite Eigenschaft wird im Sanskrit oder im Tibetischen mit dem Wort „eins“ angegeben, doch wir sollten verstehen, dass es sich auf einen teilelosen Monolith bezieht. Der Aspekt von „eins und dasselbe“, was auch die Bedeutung von „eins“ ist, wird bereits durch die Eigenschaft, statisch zu sein und sich niemals zu ändern, ausgedrückt. 

Hier gibt es nun zwei Varianten, ein teileloser Monolith zu sein. In einigen nicht-buddhistischen indischen Systemen wird gesagt, das Atman, das Selbst, sei so groß wie das Universum und habe keine Teile. In anderen Systemen geht man davon aus, dass es die Größe eines winzigen Teilchens oder Atoms ohne Teile hat, wie ein Lebensfunke. Die Größe des Universums bezieht sich in einem dieser Systeme auf die Gleichwertigkeit von Atman und Brahman, sowie darauf, dass jeder mit dem gesamten Universum eins ist. Es ist nur eine Illusion, individuell und getrennt in diesem Körper zu stecken. Doch es gibt auch andere, nicht-buddhistische indische Systeme, in denen vertreten wird, dass das Selbst so groß wie das Universum ist, und nicht in allen von ihnen geht es dabei um die Gleichwertigkeit von Atman und Brahman. Wir sollten es also nicht nur auf ein System reduzieren; es gibt zahlreiche indische, nicht-buddhistische Systeme. Die andere Variante ist, dass das Selbst oder der Atman wie ein winziger kleiner Lebensfunke ist, so groß wie ein Atom ohne Teile. Das ist die Vorstellung von einer Seele, die sich wie ein Lebensfunke niemals ändert, unbeeinflusst von allem ist, in einen Körper und Geist eingeht, sie aktiviert und belebt, und dann weitergeht, um in einen anderen Körper und Geist einzugehen und sie zu aktivieren und zu beleben. 

Die dritte Eigenschaft: unabhängig

Die dritte Eigenschaft ist, dass dieses Selbst unabhängig ist. Das heißt, dass es, wenn es Befreiung von unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt erlangt, weiter vollkommen unabhängig von einem Körper oder einem Geist existiert. 

Varianten 

Zusätzlich dazu gibt es zwei Varianten dieses „Atmans“, der unbeeinflusst von allem, ein teileloser Monolith ist und sich nach der Befreiung unabhängig von einem Körper und einem Geist weiter fortsetzt. In beiden ist man sich jedoch einig, dass der Atman, wenn er in einen Körper oder Geist eingeht, sie als seinen Besitz nutzt.

  • Ein Standpunkt ist der des Samkhya, dass diese Art des „Atmans“, der „Seele“ oder des „Ichs“ eine Qualität des passiven Gewahrseins hat, jedoch ohne sich eines Objektes gewahr zu sein. Befindet er sich in einem Körper, animiert er das Äquivalent eines Gehirns, um Objekte zu erkennen.  
  • Der andere Standpunkt des Nyaya vertritt, dass der Atman keine Qualität des Gewahrseins hat; doch auch hier belebt er, wenn er sich in einem Körper befindet, das Äquivalent eines Gehirns, damit es ein Gewahrsein von Dingen gibt.  

Beide sind sich darin einig, dass ein Gehirn, das lediglich ein Stück Materie ist, sich nichts gewahr ist, denn sonst hätte ein abgetrenntes Gehirn in einem Glas Gewahrsein.

Wie mein Lehrer stets betonte, sollten wir nicht meinen, diese Systeme wären dumm. Sie sind wirklich anspruchsvoll, ziemlich komplex, und bieten eine vollständige Weltsicht. Untersuchen wir uns selbst, erkennen wir, dass viele der Aspekte dieser Art des unmöglichen „Ichs“ darin bestehen, was wir über uns selbst denken. Wir haben keine Zeit, hier tiefgründig zu analysieren, wie wir manche dieser indischen, nicht-buddhistischen Sichtweisen haben, aber es ist recht hilfreich und nützlich, es einmal zu betrachten. 

Aber wir denken auf diese Weise. Es scheint, als gäbe es eine Art von unabhängig existierendem „Ich“ in uns, das in unserem Kopf redet. Wir fragen uns, wer die Stimme in unserem Kopf ist und wer all die Dinge nutzt, die wir haben? Wir denken: „ich habe einen Intellekt und daher werde ich meinen Geist nutzen, um etwas herauszufinden.“ Das ist, als würden wir sagen: „ich habe eine Kuh und daher werde ich sie nutzen, um Milch zu bekommen.“ 

Diese Art des „Ichs“ ist unmöglich. So etwas gibt es nicht, gab es nie und wird es niemals geben. Im buddhistischen Training gehen wir zahlreiche logische Gedankengänge durch, um die logischen Unstimmigkeiten all der Aspekte dieser Art des Glaubens zu identifizieren, sowohl von der Seite eines passiven Gewahrseins, als auch von der Seite, gar kein Gewahrsein zu haben. 

Aufgrund einer Glaubensvorstellung, als dieses unmögliche „Ich“ zu existieren, können wir alle möglichen störenden Emotionen entwickeln. Wir denken vielleicht: „ich bin das gesamte Universum und daher gehört mir alles, ich kann alles nutzen, was deiner Meinung nach dir gehört, weil es eigentlich meins ist.“ 

Solch ein „Atman“, das diese drei Eigenschaften hat, wird als das „grobe unmögliche Ich oder die unmögliche Seele einer Person“ bezeichnet und ist doktrinär bedingt. Jemand musste uns das beibringen und wir haben es als wahr akzeptiert. Der erste Schritt unseres Verständnisses der Selbstleerheit – wenn wir es um unserer Darstellung willen dem Gelug zuschreiben – besteht darin, zu verstehen, dass es so etwas, wie diese Art der „Seele“, der „Person“ oder des „Ichs“ nicht gibt. Es ist also eine völlig Abwesenheit; so etwas gibt es nicht. Das bedeutet Selbstleerheit – eine völlige Abwesenheit. So etwas, wie diese Existenzweise einer Person, gibt es nicht. 

Automatisch auftretende unmögliche „Seelen“ von Personen  

Dann haben wir auch eine subtile Ebene des mangelnden Gewahrseins und der Verwirrung darüber, wie wir existieren. Niemand musste uns das beibringen; niemand hat uns in dieser Art des „Ichs“ geschult oder indoktriniert. Ob wir nun diese doktrinär bedingte Unwissenheit und dieses Greifen nach einem groben unmöglichen „Ich“ haben oder erkennen, dass es so etwas nicht gibt, diese automatisch erscheinende Unwissenheit ist da. 

Der Fachausdruck für diese subtilere Art des unmöglichen „Ichs“ ist ein „eigenständig erkennbares Ich“, was sich auf ein „Ich“ bezieht, das ganz für sich wahrgenommen werden kann, ohne zuerst dessen Grundlage für die Zuschreibung und gleich darauf das „Ich“ zusammen mit dessen Grundlage wahrzunehmen. Für alle, die Tibetisch lernen, lautet der Begriff dafür „rangkya tubpe dze-yokyi dag“ (rang-rkya thub-pa’i rdzas-yod-kyi bdag), ein recht schwieriges Wort. 

Wenn wir nach diesem subtilen unmöglichen „Ich“ greifen, betrachten wir uns zum Beispiel im Spiegel und sehen ein Gesicht, das vielleicht etwas rund, alt und voller Falten ist. Dazu haben wir auch noch graue Haare und sagen: „das bin nicht ich“, als gäbe es da ein „Ich“, das getrennt von diesem Körper erkannt werden kann. Greifen wir dann noch nach einem groben, unmöglichen „Ich“, meinen wir stattdessen als dieser ewig junge Mensch zu existieren, der wir als Jugendlicher waren. 

Andererseits denken wir mit dem Greifen nach dem subtilen, unmöglichen „Ich“, wir würden uns sehen, wenn wir das Spiegelbild unseres Gesichtes im Spiegel betrachten. Wir denken nicht: Ich sehe ein Gesicht und auf der Grundlage des Gesichtes sehe ich das Zuschreibungsphänomen „Ich“. Vielmehr denken wir: „ich sehe mich selbst im Spiegel“, als würden wir eigenständig, ganz für uns, existieren. Oder in Bezug auf einen anderen, sagen wir: „ich kenne Sascha“, als könnten wir Sascha ganz für sich kennen. Es ist nicht so, dass ich eine Person kenne, den Anblick eines Körpers, die Erfahrung einer Unterhaltung mit ihm und beruhend darauf kenne ich Sascha. Nein, so ist das nicht. Sondern ganz einfach: „ich kenne Sascha“, oder „ich sehe Sascha; da ist er.“

Analysieren wir nun, wie es ist, mit jemanden am Telefon zu sprechen, wird es wirklich merkwürdig, denn wir sagen: „Ich höre Sascha am Telefon. Ich spreche mit Sascha.“ Nun, was hören wir? Wir hören das Vibrieren einer Membran in einem Gerät, das durch einen elektronischen Impuls aktiviert und durch den vibrierenden Klang einer Stimme in einem anderen Gerät übertragen wurde. Beruhend darauf sagen wir dann: „ich spreche mit Sascha“. 

Wir können dies noch etwas persönlicher in Bezug auf unser emotionales Wohlergehen betrachten. Viele von uns kennen das Gefühl zu denken: „Ich will, dass du mich nur wegen mir liebst, und nicht wegen meinem Aussehen, meinem Geld oder meinem Verstand. Du sollt nur mich lieben.“ Oder wir sagen: „Du kennst mich gar nicht richtig.“ Damit sind dann natürlich alle möglichen störenden Emotionen verbunden, wie: „Du liebst mich nicht wirklich“ usw. Wir werden wütend und erfahren alle möglichen Leiden. „Du hast keine Wertschätzung gegenüber mir.“ Beginnen wir, wirklich darüber nachzudenken, fallen uns immer mehr Beispiele dazu ein. 

All das tritt automatisch auf. Niemand muss es uns beibringen. Das Schlimme daran ist, dass es sich anfühlt, als würden wir so existieren, und weil es sich so anfühlt, glauben wir, dass es wahr ist. Es fühlt sich so an, weil der Geist eine Erscheinung von uns hervorbringt, so zu existieren. „Erscheinung“ bedeutet nicht unbedingt nur visuell; er bringt eine Erscheinung hervor, sich einfach so zu fühlen. Es fühlt sich so an, als gäbe es da ein „Ich“, das entweder irgendwo in uns ist, „hallo, hier bin ich“, oder etwas ist, das ganz für sich erkannt und geliebt werden kann. Dann denken wir: „Ich drücke mich selbst aus.“ 

Es gibt viele störende Emotionen, die entweder doktrinär bedingt sind oder automatisch auftreten, und wenn wir mit diesem Lehrstoff arbeiten, werden wir immer mehr entdecken. Beispielsweise denken wir: „ich habe mich von meinem Körper entfremdet“ oder „ich habe mich von meinen Gefühlen entfremdet“. Das impliziert ein „Ich“, das existiert und unabhängig von einem Körper und Gefühlen existieren kann und sich von ihnen entfremdet. Das ist im Grunde ziemlich merkwürdig. Oder wir haben alle möglichen komischen dualistischen Vorstellungen, wie: „ich gehe nach Indien, um mich selbst zu finden“, oder „es tut mir leid, aber gestern war ich nicht bei mir. Ich war betrunken und nicht ich selbst. Das war nicht wirklich ich. Und jetzt werde ich mich selbst bestrafen: Du hast dich gestern wirklich daneben benommen!“ Das ist doch ziemlich dualistisch oder nicht? Da gibt es ein „Ich“, das sich daneben benommen hat, und dann das „Ich“, das der Richter, der Erzieher ist. „Oh, ich bin viel zu hart mit mir ins Gericht gegangen. Ich sollte mich selbst besser behandeln.“ 

All das tritt automatisch auf. Niemand muss uns beibringen, so zu denken. Wir haben eine große Anzahl störender Emotionen und ein hohes Maß an Leiden, die durch diese verzerrten Sichtweisen entstehen. So etwas, wie diese zwei Arten des unmöglichen „Ichs“ gibt es nicht, obwohl sie natürlich konventionell existieren. 

Nehmen wir uns einen Moment Zeit, um das, worüber wir gerade gesprochen haben, zu verinnerlichen. „Ich muss meine Beine ausstrecken“, als würden wir Beine besitzen und nun aufstehen, um sie zu strecken. 

Ich denke, das ist ein guter Zeitpunkt, um zu sehen, ob es zu dem, was wir bis hierhin besprochen haben, Fragen gibt. 

Fragen  

Der Film, von dem wir geredet haben, existiert er getrennt von demjenigen, der ins Kino geht und den Film sieht? Können wir von einem Film reden, ohne das Subjekt, das ihn sieht? 

Das wird etwas kompliziert, denn natürlich könnte im Kino ein Film laufen, ohne dass ihn jemand sieht. Das ist eine vereinfachte Antwort. Läuft dort ein Film? Nun, wir wissen es nicht; jemand müsste ins Kino gehen, um es herauszufinden, und wenn man hingeht, wird die Existenz des Films durch den Bezug zu einem Geist begründet. Wenn niemand ins Kino geht, kann nicht festgelegt werden, ob dort ein Film lief oder nicht. Oder wir müssten den Filmprojektor überprüfen, den Stromzähler oder so etwas, um zu wissen, ob er lief oder nicht. 

Was unser Leben betrifft, sollte es auch jemanden geben, der die Erfahrungen beobachtet und wahrnimmt, denn wenn man es mit einem Film vergleicht, der Analogie eines Films, sollte es Zuschauer geben oder einen Beobachter, der die Erfahrungen wahrnimmt, um „ich“ sagen zu können. 

Nun, ein konventionelles „Ich“ nimmt zweifellos unser Leben wahr, doch das konventionelle „Ich“ ist nicht etwas, das getrennt von unserem Leben ist, es beobachtet, in unserem Kopf wie in einem Kino sitzt und zuschaut, was auf der Leinwand unserer Augen erscheint. Es ist nicht getrennt davon und es ist auch nicht identisch damit. Es ist nicht so, dass es in einen Körper ein- und wieder ausgeht, um in einen anderen Körper einzugehen und sich den Film anzusehen, der in jedem läuft. Es kann nicht getrennt von der ganzen Erfahrung erkannt werden, doch es gibt zweifellos jemanden, der Dinge erfährt und tut. 

Wäre ich ein traditioneller Zen-Lehrer und hätte so eine Frage bekommen, wäre ich aufgestanden und hätte dich mit einem Stock geschlagen. Daraufhin würde ich fragen: „Hat das jemand gespürt?“, worauf du bestätigen würdest, dass es da ein konventionelles „Ich“ gibt, das den Schlag gespürt hat. Aber ich bin kein traditioneller Zen-Lehrer. 

Ich habe eine Frage zum buddhistischen Glauben oder Vertrauen und zur Überzeugung. Sie haben zuvor gesagt, dass nur Aryas die Wahrheit oder die Gültigkeit dieser Aussagen wahrnehmen, über die wir hier gesprochen haben. Wir können sie nicht wahrnehmen, wir können sie nicht überprüfen, und müssen sie nur glauben oder für selbstverständlich halten. Manche Menschen, die keine Buddhisten sind, glauben aber, im Gegensatz zu uns, nicht an diese Annahmen, an diese Wahrheiten. Wie können wir sie überzeugen, diese Wahrheiten bestätigen oder uns selbst beweisen, dass sie richtig sind? 

Zunächst sollte ich zu bedenken geben, dass in den indischen, nicht-buddhistischen Schulen Leiden vertreten werden, sowie dessen Ursachen, dessen Beendigung und einen Pfadgeist des Verstehens, der diese Beendigung bewirkt. Buddha hat erkannt, dass dies nicht wirklich die tiefgründigsten Ebenen des Leidens, dessen Ursachen, dessen Beendigung und des Pfadgeistes des Verstehens waren, um eine wahre Beendigung zu bewirken. Er lehrte eine weitere Gruppe dieser Vier und Aryas betrachten sie als wahr. Daher werden sie „die vier Arya-Wahrheiten“, die vier edlen Wahrheiten genannt. Glauben wir daran, dass die indischen, nicht-buddhistischen Versionen dieser Vier wahr sind, haben wir doktrinär bedingtes Greifen danach, dass sie wahr sind. Doch da die meisten von uns nicht einmal von den indischen, nicht-buddhistischen Versionen dieser Vier gehört haben, müssen wir einfach überzeugt davon sein, dass die Vier von Buddha gelehrten wahr sind. Die Frage bezieht sich also auf uns gewöhnliche Westler, die in diesem Leben nicht diese indischen, nicht-buddhistischen Sichtweisen studiert und akzeptiert haben.  

Es ist wirklich schwer, andere von etwas zu überzeugen, wenn sie nicht offen und empfänglich dafür sind. Sogar wenn wir mit Logik diskutieren, akzeptieren sie vielleicht nicht, was wir sagen. Das hat auch Shantideva gesagt, dass wir nur mit jemandem wirklich debattieren oder diskutieren können, wenn wir bestimmte Dinge gemeinsam haben. Eines dieser Dinge, das wir miteinander teilen müssen, ist etwas logisch anzuerkennen und zu akzeptieren, dass Behauptungen durch Logik bewiesen oder widerlegt werden. Wenn also das, was wir glauben, widerlegt wird, weil sich zeigt, dass es unlogisch ist, stimmen wir zu es nicht mehr zu akzeptieren. Wenn eine Person keine Logik akzeptiert, sagt sie: „Mir ist es egal, was du sagst. Ich glaube nun einmal dies und es verhält sich so, weil es jenseits dessen ist, was irgendjemand nachvollziehen kann“. Dann ist es hoffnungslos und es gibt keine Möglichkeit, die Person zu überzeugen, außer sie glaubt an mystische Kräfte und schenkt uns ihr Vertrauen, nachdem wir ein Kaninchen aus dem Hut gezaubert haben. 

Wir können jedoch sagen, dass diese vier edlen Wahrheiten Tatsachen sind, die von den Aryas als wahr erkannt werden, während gewöhnliche Leute sie nicht für wahr halten – wie zum Beispiel, dass Leiden für immer vorbei sein werden und wir sie nicht nur für eine Weile unterdrücken, sie aber wiederkommen werden und wir einfach nur lernen müssen, mit ihnen zu leben und das Beste daraus zu machen. Trotz allem können wir allerdings als Praktizierende überzeugt von diesen vier Tatsachen, diesen vier edlen Wahrheiten, sein, bevor wir ein Arya werden. Unsere Ebene der Überzeugung in sie wird jedoch nicht auf nicht-konzeptueller Wahrnehmung dieser Wahrheiten beruhen, sondern auf Logik, und sie wird konzeptuell sein.

Es gibt viele Ebenen, zu der Überzeugung von etwas zu gelangen, und alles fängt damit an, empfänglich zu sein. Ich denke, wir beginnen damit, neugierig zu sein und uns buddhistische Lehren mit einem offen Geist anzuhören. Dann haben wir so genanntes „unentschlossenes Schwanken“ – „Ich weiß nicht wirklich, ob es korrekt ist oder nicht. Vielleicht ist es richtig, vielleicht nicht, aber es interessiert mich und so werde ich es weiter erforschen.“ Dann haben wir die Vermutung, die im Grunde darin besteht, nicht wirklich zu verstehen,warum es wahr ist, aber wir vermuten, dass es wahr ist und schauen, was kommt. 

Als nächstes nutzen wir die Schlussfolgerung; beruhend auf Logik schlussfolgern wir, dass etwas korrekt ist. Es gibt viele gültige Argumentationsketten, die wir nutzen können, um ein schlussfolgerndes Verständnis zu bekommen, und so beginnen wir mit der Überlegung, die wir nutzen, um überzeugt zu sein, dass der Buddha eine gültige Quelle der Information ist. Wenn Buddha eine gültige Quelle der Information ist und es nicht nur auf Glauben basiert oder darauf, den Buddha zu mögen, sondern wir durch Logik überzeugt sind, dass es keinen Grund gibt, warum Buddha lügen oder sich etwas ausdenken sollte, gelangen wir zu der Überzeugung, dass das, was er sagte, wahr ist. Denn der einzige Grund, warum er in der Lage war, ein Buddha zu werden, bestand in dem Mitgefühl, anderen zu helfen.  

Wir sollten es nicht als Glaube oder so etwas abtun, denn wir können diese Dinge gültig erkennen. Woher wissen wir beispielsweise, wann unser Geburtstag ist? Wie können wir das wissen? Wir sind überzeugt, dass unsere Mutter uns nicht anlügt, und wenn sie uns erzählt, dass wir an diesem oder jenem Tag geboren wurden oder wenn wir es auf einem Zertifikat in einem Krankenhaus geschrieben sehen, betrachten wir es als eine gültige Quelle der Information. Es gibt keine Möglichkeit, nur für uns selbst herauszufinden, wann unser Geburtstag ist. Diese Schlussfolgerung ist ganz einfach, dass etwas wahr ist, weil die Quelle der Information zuverlässig ist. „Wie lautet mein Name?“ Jemand musste ihn uns sagen. 

Dann gibt es ein gültiges schlussfolgerndes Verständnis auf der Grundlage von Logik und Überlegung. All diese Diskussionen über Leerheit beruhen auf Logik. Lange bevor wir ein Arya werden, könnten wir zu der Überzeugung gelangen, dass es möglich ist, für immer frei von Leiden zu werden, sodass sie niemals wiederkehren, wenn wir die logischen Gründe dafür verstanden haben – nämlich die Logik, mit der Selbstleerheit bewiesen wird. Zunächst werden wir diese Überlegungen, die Logik durchgehen müssen, um unsere Überzeugung zu bekräftigen, dass Leerheit wahr ist und es stimmt, dass sie das direkte Gegenmittel für unser mangelndes Gewahrsein, für unsere Unwissenheit ist. Unser Verständnis der Leerheit hängt auf dieser Stufe sehr davon ab, eine Argumentationskette durchzugehen. 

Sind wir schließlich vertraut genug damit, müssen wir uns nicht mehr direkt auf die Argumentationskette stützen. Wir müssen nicht jedes Mal die Argumentationskette durchgehen, wenn wir meditieren oder uns auf Leerheit fokussieren wollen, aber wir würden uns weiterhin konzeptuell durch eine Kategorie, wie „so etwas nicht“ auf sie richten, oder durch eine der Kategorien „das ist eine wahre Beendigung“ oder „das ist eine wahre Ursache des Leidens“. Sind wir vertraut genug mit der konzeptuellen Wahrnehmung und haben genug positive Kraft aufgebaut, wird unsere Wahrnehmung der Leerheit und unsere Überzeugung, dass das Verständnis der Leerheit der wahre Pfad des Geistes ist, der zu einer wahren Beendigung wahrer Probleme und deren wahren Ursachen führt, nicht-konzeptuell sein.

Sehen wir uns ein einfacheres Beispiel dazu an, wie wir zu der Überzeugung gelangen, dass es keine Schokolade im Haus gibt. Denken wir logisch darüber nach, könnte die Schokolade, wenn es welche im Haus gäbe, nur hier oder dort sein. Sehen wir an allen Orten nach, wo sie sein könnte, und finden keine Schokolade, müssen wir logisch schlussfolgern: wenn sie an keinem dieser Orte ist, gibt es keine Schokolade im Haus. Wir fokussieren uns auf die Tatsache: „es gibt keine Schokolade“, indem wir die Überlegung durchgehen: „sie war nicht hier, sie war nicht dort, also gibt es keine.“ 

Das ist nicht so einfach, weil wir wirklich nicht glauben wollen, dass wir keine Schokolade mehr im Haus haben oder dass wir tatsächlich unsere Schlüssel verloren haben, wenn wir sie nicht finden können, nachdem wir überall im Haus nach ihnen gesucht haben, wo wir sie hingelegt haben könnten. Wir wollen es nicht akzeptieren und daher suchen wir weiter überall im Haus nach Schokolade oder in jeder Tasche und jeder Schublade nach den Schlüsseln. Schließlich müssen wir aufgeben und beschließen: „es gibt keine Schokolade“ oder „ich habe meine Schlüssel verloren“, aber das tun wir nicht gern. Genauso verhält es sich, wenn wir nach diesem unmöglichen „Ich“ suchen – es ist ziemlich schwer, unseren Glauben an das, wer wir sind, aufzugeben. Wir wollen ihn nicht loslassen, auch wenn wir logisch erkennen, dass es so etwas nicht gibt. 

Auf der nächsten Stufe unserer Suche nach Schokolade oder unseren Schlüsseln müssen wir nicht weiter überall im Haus nach der Schokolade suchen oder all unsere Taschen nach den Schlüsseln durchwühlen. Wir müssen uns nicht auf das logische Denken stützen: „wenn sie nicht hier ist, haben wir keine“. Dennoch müssen wir uns, um uns auf diese Schlussfolgerung zu fokussieren, weiter durch die Kategorie „keine Schokolade“ oder „keine Schlüssel“ daran erinnern. Es ist also mitten in der Nacht und wir wollen unbedingt Schokolade essen, aber wir haben schon gesucht und wissen, dass es keine Schokolade mehr gibt. Daher müssen wir nicht noch einmal suchen, um uns selbst zu überzeugen. Kommt dieses Verlangen hoch, müssen wir uns allerdings daran erinnern und denken: „keine Schokolade“. Es ist also dieselbe Kategorie „keine Schokolade“, oder, wie wir hier sagen würden: „Pech gehabt mein Lieber. Es gibt keine Schokolade.“ 

Schließlich kommen wir vielleicht zu dem Punkt, an dem wir uns gedanklich gar nicht auf diese Kategorie beziehen müssen; wir wissen einfach, dass es keine Schokolade gibt. Wir müssen nicht suchen; wir müssen uns nicht gedanklich auf diese Kategorie, dieses Konzept „keine Schokolade“ beziehen, sondern wissen es einfach. Das wäre die nicht-konzeptuelle Wahrnehmung davon. Wir essen also einfach etwas anderes, während wir uns vollkommen bewusst darüber sind, dass es keine Schokolade gibt. Wir müssen nicht wieder denken: „keine Schokolade“ und es ist nicht notwendig, erneut zu suchen. 

Vielleicht habe ich es zu vereinfacht dargestellt, aber ich denke, dadurch bekommen wir zumindest eine kleine Vorstellung davon, worum es hier geht, wenn wir über konzeptuelle und nicht-konzeptuelle Wahrnehmung, Logik und so weiter reden, sowie darüber, wie wir wissen, dass etwas wahr ist. Auf all diesen Stufen ist die Ebene der Überzeugung jedoch anders: „Ich glaube, es gibt vielleicht etwas Schokolade im Haus.“ „Ich glaube, es ist keine Schokolade mehr übrig“. „Ich nehme an, dass es keine mehr gibt, aber ich sehe trotzdem nach, um sicherzugehen.“ Und dann: „Ich habe keine gefunden, also gibt es keine.“ Die Überzeugung wird immer stärker. 

Entschuldigt bitte, dass meine Antwort auf diese Frage so langatmig war, aber sie offenbart einen weiteren Aspekt dieser Lehre, der darin besteht, wie wir etwas erkennen oder von etwas überzeugt sind.  Das sind die Stufen, um die es beim Leerheitsverständnis geht, ob wir nun über Selbstleerheit oder Anderesleerheit sprechen. Wie wissen wir, dass es so etwas, wie ein Klare-Licht-Ebene, eine subtilste Ebene des Geistes gibt? „Ich weiß es nicht aus meiner eigenen Erfahrung, aber Buddha hat davon gesprochen.“ Dort fangen wir an und überlegen dann: „Warum würde Buddha lügen?“ Wir könnten logisch überzeugt davon sein, dass es so eine Ebene des Geistes gibt, doch bis wir sie tatsächlich erfahren und nicht nur denken: „ach ja, ein Geist des klaren Lichts“, sondern sie tatsächlich nicht-konzeptuell erfahren, wird unsere Ebene der Überzeugung nicht zu 100% vollständig sein. 

Der Geist des klaren Lichts ist von Natur aus nicht-konzeptuell. Denken wir in der Meditation: „aha, das ist der Geist des klaren Lichts“, ist das ein ganz offensichtlicher Hinweis darauf, dass er es nicht ist, denn dieser Gedanke ist konzeptuell. Wir könnten den Geist des klaren Lichts erfahren und nicht wissen, was es ist – der Begriff ist für gewöhnlich, ihn nicht „zu erkennen“ – und das passiert zum Zeitpunkt des Todes. Es ist nichts Besonderes. Um überzeugt von ihm zu sein, ist es notwendig, ihn nicht nur zu erfahren, sondern ihn zu erkennen, jedoch nicht konzeptuell. Das ist nicht so einfach und natürlich gibt es hier viele Stufen. Wenn ich Sascha sehe, muss ich dann „Sascha“ denken, um ihn zu erkennen? Brauche ich ein Konzept von „Sascha“, um zu wissen, wer er ist, wenn ich ihn sehe? Muss ich den Sascha, den ich sehe, nun der Kategorie „Sascha“ zuordnen, in der all die Male enthalten sind, in denen ich ihn gesehen habe, um zu wissen, dass es sich um Sascha handelt? Und bekommen wir dadurch nicht den Eindruck, dass er statisch ist und sich überhaupt nicht verändert hat? Das sind interessante Fragen. 

Aus diesem Grund müssen wir sehr vorsichtig mit unserer westlichen Terminologie sein. In unserer westlichen Sprache könnten wir sagen, dass wir Sascha nicht-konzeptuell erkennen, indem wir ihn einfach nur sehen, und nicht unbedingt dadurch, ihn konzeptuell der Kategorie und dem Konzept zuzuordnen, die wir von Sascha haben. In der buddhistischen Terminologie würden wir nur das Wort „erkennen“ für die konzeptuelle Wahrnehmung von Sascha benutzen, da wir ihn damit erneut wahrnehmen, nachdem wir ihn zuvor wahrgenommen haben und all die Male, in denen wir ihn zuvor wahrgenommen haben, mit dem vergleichen, was wir jetzt wahrnehmen. Etwas zu „erkennen“ („recognize“ im Englischen) bedeutet schließlich, etwas erneut wahrzunehmen („to cognize something again“). 

Hören wir also die Redewendung „den Geist des klaren Lichts erkennen“, ist das eine irreführende Übersetzung. Es geht darum, „das Angesicht dessen zu kennen“. Wir kennen es, indem wir es von dem unterscheiden, was es nicht ist. Das muss kein konzeptueller Vorgang sein, sondern kann auch nicht-konzeptuell sein. Ein Säugling oder ein Tier kann zum Beispiel Licht von Dunkelheit unterscheiden, oder heiß von kalt. Sie brauchen keine Worte oder Konzepte dafür, um zwischen diesen beiden zu unterscheiden. Das unterstreicht die Notwendigkeit, Definitionen zu lernen und zu verstehen. 

Lasst uns für heute Abend damit enden. Morgen werden wir mit unserer Diskussion über Selbstleerheit weitermachen und uns die unmöglichen Existenzweisen aller Phänomene ansehen, die wir uns vorstellen und projizieren können, und uns dann mit der Diskussion der Anderesleerheit befassen. 

Widmet bitte in euren eigenen Worten und Gedanken die positive Kraft, die hierdurch aufgebaut wurde, dem Erlangen der Erleuchtung für alle.

Nach der Widmung können wir uns selbst hochheben und nach draußen führen. Denken wir so? Das ist die Frage, oder? Der Wecker läutet am Morgen und ich sage zu mir selbst: „Na mach schon Alex, steh auf. Erhebe dich, Alex.“ Dann erhebe ich mich und beginne den Tag. Das ist das unmögliche „Ich“.

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