Rückblick
Wir haben über Selbstleerheit und Anderesleerheit gesprochen, und bis jetzt haben wir unsere Darlegung auf die Gelug-Behauptungen beschränkt, obgleich die Begriffe „Selbstleerheit“ und „Anderesleerheit“ im Gelug nicht dafür benutzt werden. Manche Nicht-Gelug-Meister gebrauchen jedoch diese Begriffe für Gelug-Behauptungen und widerlegen sie als falsch.
Der Einfachheit halber werden wir den Begriff „Selbstleerheit“ nutzen, wenn wir über die konzeptuelle und die nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit unmöglicher Existenzweisen sprechen, obwohl dieser Begriff in verschiedenen tibetischen Systemen und von verschiedenen Autoren unterschiedlich benutzt werden mag. Wir haben gesehen, dass es äußerst wichtig ist, Selbstleerheit vollständig und nicht-konzeptuell zu verstehen. Das liegt daran, dass die Gewohnheit unseres Greifens nach unmöglichen Existenzweisen unseren Geist dazu bringt, Erscheinungen von allem, was wir erfahren, entstehen zu lassen, als würde es auf unmögliche Weise existieren und dann glauben wir, es sei wahr. Wir glauben, dass diese unmögliche Existenzweise wahr ist, weil wir es nicht besser wissen und es sich so anfühlt. Wir sind uns nicht gewahr, dass diese Existenzweise falsch ist. Diese Erscheinung einer unmöglichen Existenzweise ist im Grunde eine Illusion. Sie entspricht nichts Realem, doch das wissen wir nicht und wenn wir sie wahrnehmen, greifen wir danach, als würde sie der Realität entsprechen. Beruhend darauf, entwickeln wir alle möglichen störenden Emotionen – Wut, Gier, Anhaftung und so weiter – und angetrieben durch diese störenden Emotionen handeln wir auf zwanghafte karmische Weise, die uns und allen Leiden bringt.
Die Natur der gegenseitigen Abhängigkeit von Dingen sehen
Was wir dann mit Selbstleerheit erkennen sollten, ist, dass es kein impliziertes Objekt (tib. zhen-yul) für diese unmöglichen Existenzweisen gibt, dessen Erscheinung unser Geist projiziert; es ist völlig abwesend, denn so etwas gibt es nicht. Es entspricht nichts, sondern ist nur eine Erscheinung, die unser Geist projiziert; im Grunde kann er die unmögliche Existenzweise nicht projizieren, weil sie gar nicht existiert. Haben wir einmal verstanden, dass diese so genannten trügerischen Erscheinungen völliger Unsinn sind, werden wir mit genügend Vertrautheit zunächst aufhören daran zu glauben, dass sie wahr sind, und schließlich wird unser Geist mit genügend Vertrautheit und einer starken Ansammlung positiver Kraft aufhören, sie zu projizieren. Wenn diese falschen, trügerischen Erscheinungen nicht mehr entstehen, wir nicht mehr an sie glauben und daraufhin keine störenden Emotionen mehr entwickeln, bringen wir keine Leiden mehr hervor und erfahren sie nicht mehr.
Wenn unser Geist diese trügerischen Erscheinungen projiziert, scheint es, als würden Dinge als solide Dinge wie in Plastik eingehüllt existieren. Deshalb ist unser Gewahrsein begrenzt; wir sind nicht in der Lage zu sehen, wie alles miteinander verbunden ist und wie alles abhängig voneinander entsteht. In dieser Situation sind wir ein begrenztes Wesen (tib. sems-can). Das ist das Wort, was normalerweise als „fühlendes Wesen“ übersetzt wird. Es bezieht sich auf jemanden mit einem begrenzten Geist; ein Buddha ist kein fühlendes Wesen.
Wollen wir wirklich in der Lage sein, allen als ein Buddha zu helfen, müssen wir erkennen können, wie alles miteinander verbunden ist. Mit anderen Worten sollten wir erkennen, was in Anbetracht anfangsloser Zeit all die Ursachen dafür sind, dass alle Lebewesen ihre Art der Leiden und des heranreifenden Karmas erfahren, und wir sollten uns bewusst über all die Auswirkungen sein, die unsere Lehren auf sie haben. Dafür müssen wir unseren Geist davon abbringen, Dinge sozusagen wie in Plastik einzuhüllen, als wären sie getrennt voneinander und hätten nichts miteinander zu tun. Sehen wir, wie alles miteinander verbunden ist, insbesondere Ursache und Wirkung, sind wir dann als ein Buddha in der Lage, zu wissen, wie wir allen bestmöglich helfen können. Das ist der ganze Sinn und Zweck davon, ein Buddha zu werden. Und denkt bitte nicht, es gäbe um diese ganze Weise, wie alles miteinander verbunden ist und in Beziehung zueinander steht, eine riesige Blase aus Plastik und macht auch keine unmögliche Existenzweise daraus.
Emotionale und kognitive Schleier beseitigen
Wie gesagt greifen wir aufgrund dieser Erscheinungen unmöglicher Existenzweisen nach ihnen und glauben tatsächlich an sie, was all diese störenden Emotionen hervorbringt. Dieses Greifen, unser mangelndes Gewahrsein, dass diese Erscheinungen falsch sind, und all die störenden Emotionen, die damit einhergehen, werden „emotionale Schleier“ (tib. nyon-sgrib) genannt. Um Befreiung von Leiden zu erlangen, also keine Leiden mehr zu erfahren, müssen wir frei von diesen emotionalen Schleiern werden. Das Verständnis und die nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit unmöglicher Existenzweisen wird dies bewirken, wenn dessen Motivation Entsagung ist, die Entschlossenheit, frei von diesem Leiden zu sein, beruhend auf dem Verständnis und der Überzeugung, dass wir für immer frei davon werden können. Vereinfachen wir unsere Darlegung und bezeichnen die Leerheit unmöglicher Existenzweisen einfach als „Leerheit“.
Wenn wir die wahre Beendigung dieses Greifens nach unmöglichen Existenzweisen erlangt haben, erreichen wir durch diese nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit die so genannte Befreiung und werden ein befreites Wesen, ein Arhat. Obgleich wir keine Leiden mehr erfahren und somit kein samsarisches Wesen mehr sind, ist unser Geist als ein Arhat dennoch weiterhin begrenzt. Das liegt daran, dass unser Geist nach wie vor die Gewohnheiten dieses Greifens und des mangelnden Gewahrseins hat und somit weiter diese trügerischen Erscheinungen unmöglicher Existenzweisen projiziert. Es ist nur so, dass wir nun als ein Arhat nicht mehr daran glauben, dass sie etwas Realem entsprechen.
Es gilt, mit dieser nicht-konzeptuellen Wahrnehmung immer weiter zu arbeiten, immer mehr positive Kraft und tiefes Gewahrsein der Leerheit aufzubauen, damit wir zu dem Punkt gelangen können, an dem wir für immer in diese nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit vertieft sind. An diesem Punkt hat unser Geist eine wahre Beendigung des Hervorbringens dieser trügerischen Erscheinungen erlangt. Diese ständigen Gewohnheiten des Greifens, die diese trügerischen Erscheinungen hervorbringen, werden „kognitive Schleier“ (tib. shes-sgrib) genannt, und wenn wir für immer von ihnen frei werden, haben wir Buddhaschaft erlangt.
Auf diese Weise werden die zwei Schleier gemäß des Gelug-Prasangika erklärt. In anderen Lehrsystemen und tibetischen Traditionen werden sie auf eine etwas andere Art erklärt, doch es wäre zu kompliziert, hier darauf einzugehen.
Ebenen des Geistes
Der Geist hat viele verschiedene Ebenen der Subtilität. Mit Geist meinen wir geistige Aktivität. Es handelt sich nicht um ein Ding, das sie ausführt; wir reden nicht von etwas, wie einem Filmprojektor, der etwas tut. Sprechen wir im Buddhismus über den Geist, meinen wir die geistige Aktivität des Hervorbringens von Erscheinungen von etwas, wie geistige Hologramme, während wir uns etwas gewahr sind. Sich etwas gewahr zu sein, bedeutet, sich kognitiv mit einem Objekt zu befassen. Hier gibt es zahlreiche Ebenen der Subtilität – nicht-konzeptuell, konzeptuell und so weiter. Und sogar in Bezug auf die yogische nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit können wir mit ihr zwei verschiedene Ebenen der geistigen Aktivität haben, eine gröbere Ebene und eine subtilere Ebene. Die gröbere Ebene ist die gleiche Ebene wie nicht-konzeptuelle Sinneswahrnehmung, die sich auf die Elemente des groben Körpers als dessen physischer Grundlage stützt, während sich die subtilere Ebene auf die subtilste Ebene des Geistes, den Geist des klaren Lichts, bezieht, der sich als dessen physische Grundlage auf den subtilsten Energiewind stützt. Die gröbere Ebene ist jene, die wir in der Sutra-Praxis oder der Praxis der ersten drei Tantra-Klassen erreichen, während die subtilere Ebene die ausschließliche Domäne des Anuttarayoga-Tantra ist.
Auf beiden Ebenen, wenn wir mit dem verbundenen Paar von Shamatha und Vipashyana nicht-konzeptuell vollkommen in Leerheit versunken sind, gibt es kein Hervorbringen von Erscheinungen unmöglicher Existenz und kein Greifen nach ihnen; unsere Wahrnehmung ist vorübergehend frei davon. Es gibt nicht nur kein Hervorbringen von Erscheinungen oder Erscheinungen unmöglicher Existenz, sondern auch kein Hervorbringen von Erscheinungen oder Erscheinungen konventioneller Objekte, die entweder auf unmögliche Weise oder nur als bloße Konventionalitäten existieren. Die gröbere Ebene wird erlangt, indem wir mit unserem Verständnis diese falsche Erscheinung der unmöglichen Existenz und unseren Glauben daran durchtrennen. Wir wissen, dass es so etwas nicht gibt. Das ist Unsinn und bezieht sich auf nichts Reales oder entspricht nichts Realem. Wir durchtrennen es und sind dann völlig in „so etwas gibt es nicht“ versunken, jedoch ohne die Kategorie „so etwas gibt es nicht“. Auf der subtilsten Ebene des Geistes gibt es von Natur aus kein Hervorbringen von Erscheinungen unmöglicher Existenz und kein Greifen danach. Dennoch muss sie als der Geist genutzt werden, der Leerheit mit einem verbundenen Paar von Shamatha und Vipashyana wahrnimmt.
Gehen wir zurück zu unserem Beispiel von gestern. Fokussieren wir uns darauf, dass es keine Schokolade im Haus gibt, was erscheint dann in unserem Geist? Nichts; es erscheint nichts. Zuerst dachten wir „Schokolade“, dann „es gibt keine Schokolade“ und schließlich erscheint nichts. Darum geht es hier, doch es ist nicht nur ein allgemeines „Nichts“, das erscheint, sondern eine Abwesenheit von Schokolade. Das verstehen wir. Diese Art der Meditation führen wir mit der Meditation der Selbstleerheit aus. Es ist wichtig zu verstehen und einfach eine allgemeine Vorstellung davon zu haben, um was es hier geht, wenn wir über die Meditation der Selbstleerheit reden.
Völlige Vertiefung in Leerheit und nachfolgende Erlangung
Wenn wir uns in der Meditation auf dieser gröberen Ebene des Geistes nicht-konzeptuell auf Leerheit richten und diese Phase der völligen Vertiefung (tib. mnyam-bzhag) unserer Meditation endet, setzen wir unsere Meditation mit einer nachfolgenden Phase des Erlangens (tib. rjes-thob) fort. Nach dieser völligen Vertiefung, wenn unsere Gewohnheiten des Greifens erneut Erscheinungen unmöglicher Existenzweisen hervorbringen und konventionelle Objekte auf diese falsche Weise zu existieren scheinen, ist das, was wir erlangen, ein nicht-konzeptueller Fokus auf diese Erscheinungen, weiterhin mit einem verbundenen Paar von Shamatha und Vipashyana, während wir implizit deren Leerheit wahrnehmen. Wir verstehen, dass sie wie eine Illusion sind. Diese Erkenntnis können wir unmittelbar nach dieser Phase bewahren, während wir noch meditieren und vielleicht sogar, wenn wir gerade aufstehen, doch sie wird nicht mehr mit yogischer nicht-konzeptueller Wahrnehmung stattfinden.
Für gewöhnlich wird dieser Begriff „nachfolgende Erlangung“ mit „Nachmeditation“ übersetzt, doch das kann etwas irreführend sein. Das Wort „nach“ bezieht sich auf die Zeit nach dieser völligen Vertiefung. Es findet nur direkt nach der völligen Vertiefung statt. Wir können diesen Geisteszustand der nachfolgenden Erlangung nicht einfach für sich erzeugen; ihm muss unmittelbar eine Phase nicht-konzeptueller völliger Vertiefung in Leerheit mit einem verbundenen Paar von Shamatha und Vipashyana vorangehen. Bevor wir jemals diese völlige Vertiefung erlangt haben, können wir uns natürlich auf die Erscheinungen unmöglicher Existenz als illusionsgleich fokussieren, doch solch ein Fokus kann nicht gültig als „nachfolgende Erlangung“ bezeichnet werden.
Mit dieser nachfolgenden Erlangung oder nachfolgenden Erkenntnis erkennen wir, dass, obwohl sich diese unmöglichen Existenzweisen und Erscheinungen von ihnen auf nichts Reales beziehen, trotz allem, und eigentlich gerade deswegen, Ursache und Wirkung funktionieren. Die Weise, wie Phänomene zu existieren scheinen, ist eine Illusion, weil sie nichts Realem entspricht. Doch im Gelug wird vertreten, dass konventionelle Phänomene selbst nur wie eine Illusion sind. Obgleich Phänomene wie eine Illusion sind, sind Ursache und Wirkung dennoch aktiv. In den Nicht-Gelug-Systemen wird vertreten, dass konventionelle Phänomene selbst wie eine Illusion sind, doch Ursache und Wirkung trotz allem und gerade deswegen aktiv sind.
Obwohl wir auf einer Ebene denken mögen: „alles ist wie eine Illusion und diese falsche Erscheinung ist eine Illusion“, ist das keineswegs tiefgründig genug. Diese Sicht könnte ziemlich oberflächlich sein und auf einem recht merkwürdigen Verständnis basieren. Schließlich gibt es in vielen Formen des Vedanta, einer Hindu-Philosophie, eine ähnliche Vorstellung, dass alles Maya, eine Illusion, ist und wir im Grunde alle eins mit Brahman sind.
Nur zu denken, alles wäre eine Illusion oder wie eine Illusion, ist nicht unbedingt ein buddhistisches Verständnis. Für ein buddhistisches Verständnis muss es damit verbunden sein, dass abhängiges Entstehen sowie Ursache und Wirkung dennoch aktiv sind. Verwechselt bitte nicht die Lehren der Illusion des Vedanta mit den buddhistischen Lehren der Illusion; man kann sie nicht miteinander vergleichen. Dies ist ein häufiger Fehler, den viele Leute machen, in erster Linie, weil sie nicht die Definitionen der Begriffe kennen. Laut dem Buddhismus sind wir alle kein großer Einheitsbrei; sogar wenn man das Verständnis eines Buddhas in der Erleuchtung in Betracht zieht, so behält alles seine Individualität, jedoch nicht wie in Plastik gehüllt.
Wisst ihr, worin der große Einwand gegenüber der Behauptung besteht, wir wären alle ein großer Einheitsbrei? Der Einwand ist, dass wir dann keine individuelle Verantwortung gegenüber unseren karmischen Handlungen mehr haben würden, weil es dann egal wäre, wenn wir alle eins sind, was ziemlich gefährlich ist.
Anderesleerheit: Sich mit einem Geist des klaren Lichts ausrichten
Diese nicht-konzeptuelle völlige Vertiefung in Leerheit mit dem gröberen Geisteszustand bringt, wie gesagt, keine Erscheinung einer unmöglichen Existenz hervor oder lässt keine Erscheinung konventioneller Objekte auf unmögliche Weise existieren. Mit ihr glauben wir nicht daran, greifen nicht danach und haben keine störenden Emotionen. Doch da dessen physische Grundlage die Elemente unseres groben Körpers sind, die sich nicht fortsetzen, wenn wir sterben und auch nicht, wenn wir ein Buddha werden, kann diese völlige Vertiefung mit der gröberen Ebene des Geistes nicht die unmittelbar vorangehende Ursache für den Geist eines Buddhas sein.
Die Frage ist dann: Gibt es eine subtilere Ebene des Geistes, auf der wir diese völlige Vertiefung haben könnten, die von Leben zu Leben eine ungebrochene Kontinuität hat und sich sogar in der Buddhaschaft fortsetzt? Es gibt sie; das ist der subtilste Geist klaren Lichts. Er hat eine ungebrochene Kontinuität, ohne Anfang und Ende. In jedem Leben liegt er jedem Moment der Erfahrung zugrunde; er manifestiert sich zum Zeitpunkt des Todes und ist die Art von Geist, die Ebene des Geistes, die wir als ein Buddha haben.
Wenn wir manche buddhistischen Systeme über den ungeborenen, ursprünglichen Geist reden hören, handelt es sich dabei um diese Ebene des klaren Lichts des Geistes. Im Allgemeinen hat der Geist weder Anfang noch Ende; niemand hat ihn erschaffen. Er ändert sich insofern von einem Augenblick zum nächsten, dass er sich von einem Augenblick zum nächsten verschiedener Dinge gewahr ist, doch dessen konventionelle und tiefste Natur ändert sich nie.
Was sind also die einzigartigen Eigenschaften dieses Geistes des klaren Lichts, ob mit oder ohne völliger Vertiefung in Leerheit?
- Er ist nicht-konzeptuell – er hat keine gröberen Ebenen des Geistes, ob konzeptuell oder nicht-konzeptuell, wie nicht-konzeptuelle Sinneswahrnehmung, die auf groben Augensensoren beruht.
- Er bringt keine Erscheinungen unmöglicher Existenzweisen hervor und hat somit kein Greifen nach unmöglicher Existenz, kein mangelndes Gewahrsein oder keine Unwissenheit, und keine störenden Emotionen.
- Er bringt keine unreinen Erscheinungen konventioneller Objekte hervor, die auf unmögliche Weise existieren, oder nimmt sie wahr.
- Er bringt reine Erscheinungen hervor oder nimmt sie wahr – Erscheinungen von Phänomenen, die nicht auf unmögliche Weise existieren – und kann dies sogar tun, wenn er sich in völliger Vertiefung in Leerheit befindet.
- Er kann großes glückseliges Gewahrsein (tib. bde-ba chen-po) der Leerheit haben.
- Er kann die zwei Wahrheiten gleichzeitig wahrnehmen – was im Gelug bedeutet, die Leerheit der zwei Wahrheiten gleichzeitig wahrzunehmen – und er kann allwissend sein.
- Er braucht keine drei Zillionen von Zeitaltern des Aufbauens positiver Kraft, um Erleuchtung zu erlangen. Hat er sich einmal manifestiert, kann er genügend positive Kraft sogar in einem Leben aufbauen.
Das sind ziemlich bemerkenswerte Eigenschaften, nicht wahr? Es gibt alle möglichen Adjektive für diesen Geist des klaren Lichts: er ist unbefleckt, makellos, rein usw. Gemäß der Gelug-Darstellung hat dieser Geist des klaren Lichts jedoch nicht unbedingt ein Verständnis oder eine Wahrnehmung der Leerheit. Er versteht nicht unbedingt seine eigene leere Natur. Wäre es so, würden wir niemals eine Wiedergeburt haben, denn wir müssten nur sterben, da er sich ja im sogenannten „klaren Licht des Todes“ manifestiert. Auch ist er von Natur aus kein glückseliges Gewahrsein, denn dann wäre das klare Licht des Todes glückselig. Der allwissende Geist eines Buddha ist glückselig und keine neutrale Empfindung.
Im Gelug behauptet man, dass der Geist des klaren Lichts als großes glückseliges Gewahrsein der Leerheit entstehen kann, wenn die Meditationspraktiken zum Manifestieren des Geistes klaren Lichts mit glückseligem Gewahrsein der Leerheit ausgeführt werden, auch wenn er von Natur aus keine Wahrnehmung der Leerheit mit glückseligem Gewahrsein hat. In anderen tibetischen Traditionen, wie dem Jonang, wird jedoch vertreten, dass der Geist des klaren Lichts von Natur aus ein glückseliges Gewahrsein der Leerheit hat und diese Natur durch die Meditationspraktiken nur enthüllt wird. Er war als Buddha-Natur schon immer auf der grundlegenden Ebene des täglichen Lebens da. Allerdings wird er nicht während dem klaren Licht des Todes enthüllt.
Die Dzogchen-Tradition, die wir im Nyingma und vielen anderen Kagyü-Systemen finden, spricht vom Rigpa, dem reinen Gewahrsein. „Rigpa“ bezieht sich auf die grundlegende Natur des Geistes klaren Lichts, die unbefleckt von den Gewohnheiten des Greifens nach dem Unmöglichen ist. Das ist der Unterschied zwischen dem Geist des klaren Lichts und „Rigpa“. „Rigpa“ ist somit eine Unterklasse des Geistes klaren Lichts. Dennoch sind Meditationspraktiken notwendig, um die flüchtigen Makel der Benommenheit (tib. rmongs-pa) zu beseitigen, die „Rigpa“ bedecken. Diese flüchtigen Makel hindern Rigpas Natur des reflexiven tiefen Gewahrseins (tib. rang-rig ye-shes) daran, sich zu manifestieren, das tiefe Gewahrsein, das „ihr eigenes Angesicht erkennt.
Sprechen wir über Anderesleerheit, geht es um den Geist des klaren Lichts oder Rigpa. Sie kann auf beide zutreffen, aber belassen wir es bei einer allgemeineren Darstellung des Geistes klaren Lichts, damit wir nicht jedes Mal „Geist des klaren Lichts“ und „Rigpa“ wiederholen müssen, wenn wir davon reden.
Wie erwähnt, manifestiert sich die Ebene des Geistes klaren Lichts automatisch zum Zeitpunkt des Todes, aber wir können sie auch in der Meditation manifestieren, indem wir besondere Methoden einsetzen. Wir werden diese verschiedenen Methoden, die genutzt werden, nicht im Einzelnen durchgehen. Im Sakya, Kagyü und Gelug werden diese Methoden in der höchsten Tantra-Klasse, dem Anuttarayoga, gelehrt und im Nyingma findet man sie im Dzogchen-System im Atiyoga, der fortgeschrittensten Ebene innerhalb der allgemeinen Kategorie des Tantra.
Sprechen wir in Bezug zum Geist des klaren Lichts von Anderesleerheit, bezieht sich „Leerheit“ hier auf die Tatsache, dass er, ungeachtet vieler anderer Dinge, von denen er in vielen Systemen frei sein mag, frei von den anderen gröberen Ebenen des Geistes in all den Systemen ist. Im Gelug spricht man beispielsweise vom Geist des klaren Lichts als der vierten von vier Arten der Leerheit, auch wenn man nicht den Begriff „Anderesleerheit“ dafür benutzt, wobei die anderen drei die drei subtilen Arten des Erscheinungen hervorbringenden konzeptuellen Geistes sind, die oft als die weiße Erscheinung, die rote Erscheinung und die schwarze Erscheinung bezeichnet werden.
Weil der Geist des klaren Lichts frei von diesen gröberen Ebenen des Geistes ist, ist er frei von den Ebenen und Arten des Geistes, in dem störende Emotionen auftreten. Er ist auch frei von den Ebenen des Geistes, in dem Erscheinungen unmöglicher Existenz und Greifen auftreten. Und er ist frei von der Ebene des Geistes, der Dinge konzeptuell durch Kategorien wahrnimmt. Er ist frei von all diesen Arten des Geistes; er ist eine Abwesenheit all dieser anderen Dinge, ob er nun „Anderesleerheit“ genannt wird oder nicht.
Der Gebrauch der Begriffe „Anderesleerheit“ und „Selbstleerheit“
Ein wichtiger Punkt, den es zu beachten gilt, ist, dass zwar all die tibetischen Traditionen von dieser Ebene des klaren Lichts des Geistes reden und Methoden lehren, sie in der Meditation zu manifestieren, aber nicht alle diesen Geist des klaren Lichts „Anderesleerheit“ nennen.
- Viele, aber nicht alle Kagyü-, Sakya- und Nyingma-Meister nennen ihn so,
- alle Jonang- und Rime-Meister tun es,
- die Gelug jedoch nicht.
In ähnlicher Weise lehren alle tibetischen Traditionen die Madhyamaka-Sicht der Leerheit dessen, was unmöglich ist, sowie dass konventionelle Wahrheit, die stets auf unmögliche Weise zu existieren scheint, falsch ist und dass Ursache und Wirkung funktionieren, obwohl die konventionelle Wahrheit keiner konventionellen oder letztendlichen Analyse standhalten kann. Bezüglich der Realität konventioneller Objekte gehen die Meinungen jedoch auseinander. Zum Beispiel:
- Im Gelug wird vertreten, dass konventionelle Objekte ohne das Analysieren konventioneller oder tiefster Wahrheit als bloße Konventionalitäten funktionieren.
- Im Nicht-Gelug wird vertreten, dass es genau genommen keine konventionellen Objekte gibt und sie lediglich konzeptuelle Fabrikationen (tib. spros-pa) sind.
In allen tibetischen Traditionen vertritt man eine konzeptuelle und eine nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit.
- Im Gelug vertritt man, dass die konzeptuell und die nicht-konzeptuell erfasste Leerheit dieselbe ist. Da man im Gelug den Geist des klaren Lichts nicht als „Anderesleerheit“ bezeichnet, nennt man diese Leerheit der unmöglichen Existenz nicht „Selbstleerheit“.
- Viele vertreten, dass die konzeptuell und nicht-konzeptuell erfasste Leerheit nicht dieselbe ist. Vertreten sie Anderesleerheit, beschränken sie den Begriff „Selbstleerheit“ lediglich auf die konzeptuell wahrgenommene Leerheit unmöglicher Existenzweisen.
- Von jenen, die vertreten, dass konzeptuell und nicht-konzeptuell erfasste Leerheit verschieden sind, bezeichnen einige, wie die Nyingma, die nicht-konzeptuell erfasste Leerheit unmöglicher Existenz als „jenseits von Worten und Konzepten“. Im Jonang wird sie beispielsweise als „weder existent noch nicht-existent“ bezeichnet.
- Im Nyingma geht man davon aus, dass die durch „Rigpa“ nicht-konzeptuell erfasste Leerheit unmöglicher Existenz und jene durch die yogische nicht-konzeptuelle Wahrnehmung einer gröberen Ebene des Geistes erfasste dieselbe ist. Sie beide sind eine Leerheit jenseits von Worten und Konzepten.
- Im Jonang und Sakya vertritt man, dass die Leerheit, die weder existent noch nicht-existent und gleichbedeutend mit Anderesleerheit ist, nicht durch gröbere Ebenen des Geistes wahrgenommen werden kann.
Wir können also sehen, dass es eine enorme Vielfalt von Behauptungen bezüglich der Selbstleerheit und der Anderesleerheit gibt, und wie diese beiden Begriffe benutzt werden.
Methoden zum Erfassen der Leerheit mit dem Geist des klaren Lichts
Wie wir gesehen haben, verfügt der Geist des klaren Lichts nicht unbedingt über das Verständnis der Leerheit, denn sonst würden wir es auch zum Zeitpunkt des klaren Lichts des Todes haben. Die Frage ist, wie wir die nicht-konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit mit diesem Geist des klaren Lichts und wie wir sie mit einem glückseliges Gewahrsein erlangen. Es gibt mehrere Methoden, doch sie alle erfordern ein Sutra-Studium und eine Leerheitsmeditation beruhend auf den Werken der großen Nalanda-Meister, wie Nagarjuna, sowie anspruchsvolle Anuttarayoga-Praktiken der Vollendungsstufe oder Anuyoga-Praktiken mit den subtilen Energiesystemen des subtilen Körpers – den Chakren und Kanälen. Es ist jedoch nicht notwendig, zuerst yogische nicht-konzeptuelle Wahrnehmung zu erlangen, bevor man sich den tantrischen Anuttarayoga- oder Dzogchen-Methoden zuwendet. Es ist nicht einmal notwendig, die Vereinigung von Shamatha und Vipashyana erlangt zu haben, mit denen man sich konzeptuell auf die Leerheit ausrichtet. Lediglich eine gültige konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit ist ausreichend.
Im Anuttarayoga-Tantra gibt es zwei Methoden, eine im Vater- und eine im Mutter-Tantra. Im Vater-Tantra arbeiten wir damit, die gröberen Ebenen der Energiewinde und des Bewusstseins durch äußerst schwierige und komplexe Yoga-Übungen aufzulösen. Haben wir einmal den Geist des klaren Lichts manifestiert, indem wir mit anderen yogischen Methoden auch einen großen glückseligen Geisteszustand erzeugt haben, nutzen wir den glückseligen Geisteszustand des klaren Lichts für das Verständnis der Leerheit, die wir zuvor erlangt haben. Alternativ beginnen wir im Mutter-Tantra mit einem Verständnis der Leerheit in unserer Meditation, und indem wir dieses Gewahrsein der Leerheit bewahren, nutzen wir wiederum höchst schwierige, komplexe Yoga-Methoden, um immer intensivere Ebenen des glückseligen Gewahrseins mit dem Geist zu erzeugen, sodass er immer subtiler wird, bis wir eine Ebene des klaren Lichts des Geistes mit einem großen glückseligen Gewahrsein der Leerheit manifestieren.
In den Dzogchen-Systemen müssen wir zunächst Leerheit studieren und über sie meditieren, sowie die Anuyoga-Methoden zum Arbeiten mit dem subtilen Energiesystem üben. Dadurch wird unser Energiesystem gewissermaßen „geölt“, damit wir, wenn wir uns dann mit den Dzogchen-Meditationen befassen, nicht bewusst daran arbeiten müssen, die gröberen Ebenen des Geistes und der Energie aufzulösen und ein glückseliges Gewahrsein zu erzeugen. Sie werden sich automatisch auflösen und unser Geisteszustand wird glückselig sein, wenn wir „Rigpa“ manifestieren.
Die Methode, die wir nutzen, um „Rigpa“ zu manifestieren, wird für gewöhnlich mit „den Geist selbst erkennen“, „Rigpa erkennen“ übersetzt. Wie wir jedoch gestern gesehen haben, bedeutet das westliche Wort „erkennen“, etwas schon zu kennen, sich nun daran zu erinnern und es wiederzuerkennen. Das ist die Bedeutung. Der dafür benutzte Begriff ist ngoshe (ngo-shes), wörtlich „das Angesicht zu kennen“, also etwas als das zu erkennen, was es ist. Es ist nicht so, dass wir uns daran erinnern und es wiedererkennen. Die Frage ist natürlich, wie wir das Angesicht von „Rigpa“ als das erkennen, was es ist.
Verwechselt hier bitte nicht den Buddhismus mit den abrahamitischen Traditionen des Judentums, des Christentums und des Islams. Es ist nicht so, dass wir uns im Garten Eden befanden, „Rigpa“ mit dem reinen glückseligen Gewahrsein der Leerheit hatten und dann in Ungnade gefallen sind und wiedererkennen müssen, was wir am Anfang bereits hatten. Das ist kein Buddhismus und viele Menschen machen unbewusst diesen Fehler. Diese Begriffe „rein seit Anbeginn“ bedeuten nicht wörtlich, dass es einen Anfang gab, an dem wir rein waren. „Anbeginn“ bezieht sich hier auf die Basis, die Grundlage. Sogar die Jonang-Behauptung, dass Anderesleerheit, wie die Buddha-Natur, die zwar auf der grundlegenden und resultierenden Ebene identisch, aber auf der gegenwärtigen grundlegenden Ebene verschleiert ist, bezieht sich nicht darauf, vorübergehend am Anfang rein gewesen und dann bedeckt worden zu sein.
Wie erlangen wir nun einen Zustand von „Rigpa“, mit dem wir dessen eigenes Angesicht kennen? Nun, normalerweise wird es so ausgedrückt, dass wir von unserem eigenen spirituellen Lehrer zu ihm herangeführt werden. „Also Sascha, das ist dein reiner Geist; reiner Geist, das ist Sascha.“ So natürlich nicht. „Herangeführt“ oder „vorgestellt“, ngotrö (ngo-sprod) auf Tibetisch bedeutet wörtlich, anderen zu helfen, ihr eigenes Angesicht zu sehen.
Kehren wir nun zurück zu dem, was wir in unserem ersten Vortrag besprochen haben, und zwar, dass wir durch den Einfluss eines Lehrers, eines wirklich qualifizierten spirituellen Lehrers, und unserer gesunden Beziehung mit diesem spirituellen Lehrer ein hohes Maß an Inspiration bekommen. Das baut darauf auf, den Geist ausreichend zu öffnen, um in der Lage zu sein, tatsächlich die Natur des reinen Gewahrseins zu sehen. Wie werden wir denn empfänglich und aufgeschlossen? Indem wir die zwei erleuchtungsbildenden Netzwerke – die zwei Ansammlungen – der positiven Kraft und des tiefen Gewahrseins aufbauen.
All die Dzogchen-Systeme legen großen Wert darauf, das Ngöndro (tib. sngon-’gro), die vorbereitenden Übungen auszuführen. Das umfasst die allgemeinen Vorbereitungen – die Meditation über die kostbare menschliche Wiedergeburt, Tod und Vergänglichkeit usw. – die grundlegenden Lam-rim-Themen – und die außergewöhnlichen Vorbereitungen, wie die Niederwerfungen mit der Zufluchtnahme und dem Entwickeln von Bodhichitta und so weiter. Indem wir all das tun, bauen wir ein hohes Maß an positiver Kraft auf. Um ein enormes Netzwerk tiefen Gewahrseins der Leerheit aufzubauen, führen wir viele Meditationen auf der Grundlage der indischen Madhyamaka-Texte aus. Es ist nicht möglich, das zu vermeiden.
Es wird so beschrieben, dass wir durch die Inspiration unseres spirituellen Lehrers und mit einer Grundlage eines hohen Maßes zuvor angesammelter positiver Kraft und tiefen Gewahrseins an das Angesicht von „Rigpa“ herangeführt werden und es erkennen. Haben wir „Rigpa“ auf diese Weise manifestiert, haben wir mit „Rigpa“ automatisch ein tiefes Gewahrsein seiner eigenen Natur, seiner Leerheit, seiner Reinheit seit Anbeginn, kadag (ka-dag) auf Tibetisch.
Mit den Anuttarayoga-Methoden gilt es dann, sich zu bemühen, damit der Geist des klaren Lichts die glückselige Wahrnehmung der Leerheit hat. Im Dzogchen baut es auf unseren früheren Bemühungen auf, obgleich es am Ende mühelos ist. Am Ende erlangen wir dasselbe; es ist nur eine Frage, wie wir uns dem in der Meditation nähern und wie wir es erklären.