Die Beschreibung dieser Phänomene gemäß der klassischen Psychoanalyse
Die Phänomene von Übertragung und Regression kommen in den meisten menschlichen Beziehungen vor. In der klassischen Psychoanalyse nach Freud, beschrieben von Menninger in „Theorie der psychoanalytischen Technik“, werden sie als Werkzeuge genutzt. Der Patient liegt auf einer Couch, der Analytiker sitzt hinter ihm, außerhalb seines Blickfeldes, ein wenig wie ein Elternteil, der für ein Baby in der Wiege unsichtbar ist. Der Patient öffnet sich dem Analytiker, der aber seinerseits die meiste Zeit still bleibt und nicht reagiert. Der Patient fühlt sich frustriert und überträgt oder projiziert auf den Analytiker, der wie eine leere Schiefertafel ist, irrationalerweise das Bild eines Elternteils oder sonst einer schwierigen Figur aus seiner Kindheit, die ihm nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt hat. Der Patient wünscht sich Hilfe, da er diese Hilfe aber nicht bekommt, regrediert er in kindliche Verhaltensmuster.
Die Regression verläuft gewöhnlich in Stufen. Der Patient hat gehorsam den Anweisungen des Analytikers entsprochen und seine innersten Gedanken und Gefühle enthüllt. Dennoch hat er es scheinbar nicht geschafft, den Analytiker zufrieden zu stellen. Er hat keine Belohnung dafür erhalten, dass er ein „braver“ Patient war. Das dem Patienten scheinbar verweigerte Objekt regrediert von Hilfe zu Aufmerksamkeit, zu Anerkennung, zu Zustimmung, zu Liebe, zu Zuneigung. Das Gefühl regrediert von Wollen zu Begehren, zu absoluter Forderung, zu Verlangen. Die Frustration darüber, das begehrte Objekt nicht zu erhalten, regrediert auf ähnliche Weise von Ärger bis hin zu blinder Wut.
Die Wut des Patienten kann überkochen und zu einer Art infantilem wütenden Trotzanfall werden. Offensichtlich wird er vom Analytiker nicht geliebt. Der Patient wünscht die Schwachstelle des Analytikers zu finden, um ihn zu verletzen. Es ist möglich, dass er nicht nur das Bild eines lieblosen Elternteils auf den Analytiker überträgt, sondern auch das Bild eines teilnahmslosen Partners. Folglich versucht der Patient, mit dem Analytiker zu flirten, ihn zu verführen. Wenn er zurückgewiesen wird, verursacht er einen Skandal, indem er behauptet, der Analytiker habe versucht ihn zu verführen. Übertragung und Regression können äußerst facettenreich sein.
Optimaler Weise gerät der Patient irgendwann in eine Krise und lässt dem kindischen Zorn freien Lauf. Er erkennt, dass der Ausdruck seines Schmerzes und seiner Wut nicht automatisch dazu führt, als „böses“ Kind gebrandmarkt und verlassen zu werden. Der Analytiker agiert stets mit der gleichen Stabilität und Ruhe, die die gesamte Beziehung auszeichnen. Langsam aber sicher lernt der Patient, vernünftige Erwartungen zu haben und er erkennt, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, wie angemessene Erwartungen erfüllt werden können, so dass andere Menschen sich dabei ganz wohl fühlen. Der Patient wird zu einem reifen Erwachsenen.
Übertragung und Regression in der Schüler-Mentor-Beziehung
Im Sinne des post-freudianischen Gebrauchs stellt die Regression in eine frühere Lebensphase nicht in jedem Falle eine Verschlechterung des Zustandes dar; sie kann auch eine Verbesserung darstellen. Jemand mag zwar in ein kindisches, unreifes Verhaltensmuster regredieren, so wie Freud es beschrieben hat. Bei dieser Form der Regression kann es sich aber auch um eine aufgeschlossene und unschuldige kindliche Art des spielerischen Umgangs mit der Welt handeln. Eine hilfreiche Form der Regression ereignet sich idealer Weise dann in einer gesunden Schüler-Lehrer-Beziehung, wenn das Vorbild des Lehrers den Schüler dazu inspiriert, rigide Denk- und Verhaltensmuster abzulegen, die ihm ohnehin nur Leiden bereiten würden. Schädliche Formen von Regression und Übertragung kommen jedoch besonders häufig in ungesunden Schüler-Mentor-Beziehungen vor, und zwar besonders dann, wenn der Mentor nicht so reagiert, wie es der Schüler gerne hätte.
Ein Schüler mag den Lehren seines Mentors gehorsam folgen und versuchen, ihn mit Geschenken, Dienstleistungen und seiner Meditationspraxis zufrieden zu stellen. Der Mentor bleibt jedoch völlig ungerührt – nach den Worten des Kadam-Geshes Sharawa gleicht er einem Tiger, der Gras anschaut. Der Mentor ist vielleicht mit vielen anderen Studenten beschäftigt oder häufig auf Reisen und hat nur wenig oder gar keine Zeit jedem seiner Schüler persönlich Aufmerksamkeit zu widmen. Ein Schüler, der zu übertriebener Abhängigkeit, Unterwerfung oder Rebellion neigt, kann von diesen Umständen psychologisch überfordert sein.
Wenn wir uns selbst in solch einer Situation befinden, können wir leicht in eine schädliche Form der Regression fallen. Vielleicht projizieren wir das Bild eines unaufmerksamen Elternteils oder eines teilnahmslosen Liebespartners auf unsere Lehrerin oder unseren Lehrer. Wir möchten, begehren, ja verlangen vielleicht sogar Anerkennung, Aufmerksamkeit, Hilfe, Liebe, Lob und Zuneigung. In unserer Erwartung frustriert, fühlen wir uns ärgerlich und wütend, vielleicht aber auch schuldig. Aufgrund unseres geringen Selbstwertgefühls trauen wir uns nicht, unseren Zorn zum Ausdruck zu bringen, um nicht als „schlechte“ Schüler gebrandmarkt und abgelehnt zu werden. Noch schlimmer ist es, wenn wir schreckliche Angst haben, dass unsere Gefühle einen „Bruch der Guru-Hingabe“ darstellen und wir folglich in der Hölle brennen werden, wie es in vielen buddhistischen Texten beschrieben wird. Tatsächlich schaffen wir aber gerade dadurch eine lebendige Hölle für uns selbst, dass wir damit ringen, unsere Frustration, unsere Wut und unsere Schuldgefühle zu unterdrücken. Buddhistisch gesprochen ist eine Hölle kein Ort, wo man für seinen Ungehorsam bestraft wird, sondern das Erleben von Qualen, die wir uns durch unsere eigenen verwirrten und destruktiven Gedanken und Handlungen selbst schaffen.
Wie die Probleme gelöst werden können, die durch Übertragung und schädliche Formen der Regression entstehen können
Die Unterweisungen des Fünften Dalai Lama zur Guru-Meditation können uns helfen, Probleme, die im Zusammenhang mit Regression und Übertragung entstehen, aufzulösen. Wenn wir in dem höllengleichen Geisteszustand gefangen sind, den diese Syndrome erschaffen, müssen wir zuerst einmal erkennen, dass es nicht nur erlaubt ist, sondern sogar essentiell notwendig ist, dass wir unsere Angst und unsere Schuldgefühle, die wir gegenüber unserem Lehrer empfinden, ablegen – obwohl das natürlich nicht einfach ist. Angst vor unseren eigenen Gefühlen und Schuldgefühle in Bezug darauf, was wir empfinden, helfen niemandem. Haben wir beispielsweise mit Hilfe der Meditationsmethoden zur Beruhigung des Geistes erst einmal unsere emotionalen Verspannungen gelöst, können wir die störenden Gefühle zulassen und versuchen, sie zu verstehen. Dann können wir uns fragen: „Woher kommen diese Gefühle? Was will ich eigentlich wirklich sagen?“ Die Situation bietet uns eine ausgezeichnete Gelegenheit, mehr über uns selbst zu erfahren.
Wenn wir das Phänomen der Übertragung und der schädlichen Form der Regression erkennen, müssen wir uns als Nächstes die Fehler ins Bewusstsein rufen, die wir in unserem Mentor erkennen. Dann müssen wir zwischen dem tatsächlichen Verhalten unseres Lehrers und den auf ihn projizierten Bildern von unbefriedigenden Eltern oder enttäuschenden Liebespartner unterscheiden. Wenn wir uns unsere Frustration eingestehen, können wir vielleicht begreifen, dass die Unzugänglichkeiten unseres Mentors von Ursachen und Umständen abhängen, wie etwa von der Tatsache, dass unser Mentor eine Vielzahl an Verantwortlichkeiten hat. Der Mangel an Aufmerksamkeit, den wir erfahren, bedeutet nicht, dass unser Mentor uns als Person ablehnt oder dass wir etwa schlechte Schülerinnen oder Schüler sind. Die Schuldgefühle, die wir möglicherweise empfinden, bestätigen nicht und beweisen auch nicht, dass irgendetwas inhärent nicht mit uns stimmt.
Auf diese Weise können wir uns zu den Wurzeln unserer zornigen Frustration voran graben und die Verwirrung beseitigen, die diese Frustration erzeugt. Anders gesagt: Um die Verwirrung zu beseitigen, meditieren wir über Leerheit und abhängiges Entstehen. Auf diese Weise kommen wir zu tragfähigeren Ergebnissen, als wenn wir uns dadurch von unserem Zorn befreien wollten, indem wir ihm einfach freien Lauf lassen würden. Dem unterdrückten Zorn einfach freien Lauf zu lassen, verstärkt möglicherweise einfach die Gewohnheit, zornig zu werden. Die Meditation über die Leerheit der zornigen Frustration, muss in den meisten Fällen etliche Male wiederholt werden und bedarf der Vertiefung, bevor sie die Intensität und die Häufigkeit des Auftretens des Problems vermindern kann. Resultate erfolgen stets nur in nicht-lineare Weise und Wunderheilungen sind äußerst selten.
Weitere Schritte im Prozess der Auflösung von Problemen, wie sie von der kontextuellen Therapie vorgeschlagen werden
Ein weiterer Grund, der dazu beiträgt, dass sich Übertragung und die schädliche Form der Regression ereignen, ist möglicherweise kulturspezifisch. Vom Standpunkt der westlichen Kultur aus betrachtet, ist das Universum gerecht und fair, und das kommt daher, weil wir entweder Gott als Schöpfer und Herrscher des Universums sehen, oder weil wir an die Regelungen einer Gesetz gebenden Rechtsordnung gewöhnt sind. Wenn wir also den Anweisungen unserer Mentoren gefolgt sind und gewissenhaft praktiziert haben, glauben wir, uns das Recht auf Anerkennung und Lob verdient zu haben. Wenn unsere Mentoren uns dann aber nicht geben, was wir gerechterweise verdient zu haben glauben, finden wir, dass sie uns unfair behandeln. Das kann dazu führen, dass wir uns frustriert und verletzt fühlen und sogar in Zorn geraten. Vielleicht regredieren wir zu den Gefühlen eines kleinen Kindes, das schreit, wie unfair es sei, dass es jetzt nicht länger aufbleiben dürfe, obwohl es seine Hausaufgaben alle erledigt hat.
Nach dem Ansatz der kontextuellen (kontextabhängigen) Therapie haben wir auch das Recht darauf, uns schlecht zu fühlen, wenn unsere Mentoren uns nur scheinbar unfair behandeln. Allerdings haben wir nicht das Recht, uns zu rächen. Um den Schmerz zu überwinden, müssen wir anerkennen, dass wir ein Recht darauf haben, uns glücklich zu fühlen, weil wir uns in unserer Dharma-Praxis ernsthaft bemüht haben. Selbst wenn niemand sonst unser Recht auf Glück anerkennt, kann uns die Anerkennung, die wir uns selbst geben, die Selbstbestätigung und die Kraft verschaffen, die uns dazu befähigt zu verstehen, dass unsere Mentoren ihre Grenzen haben, und diese Tatsache zu vergeben. Wenn wir unser Recht darauf, selber glücklich zu sein, anerkennen, gestattet uns das dann auch anzuerkennen, dass unseren Mentoren Respekt und Wertschätzung gebührt, und zwar aufgrund der guten Charaktereigenschaften und der Güte, die wir bei ihnen erkennen können. Die Bestätigung und innere Ruhe, die wir dadurch erlangt haben, dass wir uns unser Recht auf ein glückliches Leben selbst eingestanden haben, kann uns darüber hinaus eine Klarheit und Offenheit des Geistes verleihen, mit der wir erkennen können, dass unsere Mentoren in Wirklichkeit unsere Bemühungen würdigen, nur eben anders, als wir es erwartet haben.
Einen spirituellen Mentor zufrieden stellen wollen
Das Thema, bei dem es darum geht, von einem spirituellen Mentor Anerkennung zu bekommen, ist für Westler besonders heikel, weil die klassischen Texte in Bezug auf die Schüler-Mentor-Beziehung wiederholt betonen, dass man seinen Mentor zufrieden stellen müsse. Die Ritualtexte enthalten typischerweise Gebete wie: „Möge ich meinen Guru zufrieden stellen. Mögen alle Buddhas mit mir zufrieden sein.“ Das Problem liegt darin, wie man herausfinden kann, wann der Mentor zufrieden ist. Unterschiedliche Kulturen konditionieren die Menschen dazu, ihr Wohlgefallen in unterschiedlicher Weise auszudrücken. Wenn die im Westen lebenden Schüler mit den tibetischen Bräuchen nicht vertraut sind, können sie vielleicht überhaupt nicht erkennen, wie ein traditioneller tibetischer Mentor zum Ausdruck bringt, dass er mit seinen Schülern zufrieden ist.
Ein schwaches Selbstwertgefühl ist für die meisten Tibeter kein Thema, wohingegen übersteigertes Selbstvertrauen und Arroganz typische Probleme sind. Daher wird ein traditioneller tibetischer Mentor es vermeiden, einen Schüler von Angesicht zu Angesicht zu loben, da dies sein übersteigertes Selbstwertgefühl nur noch verstärken würde. Ein Mentor würde einen Schüler höchstens gegenüber anderen loben, und auch das nur, wenn dieser Schüler nicht zugegen ist. Außerdem haben Tibeter im Gegensatz zu Westlern nie das Gefühl, dass eine Empfindung nur dann wirklich sei, wenn diese auch ausgesprochen wird. Die meisten tibetischen Paare würden niemals zueinander „Ich liebe dich” sagen und sie brauchen auch kein „Ich liebe dich“ zu hören, um sich geborgen und geliebt zu fühlen. Tibeterinnen und Tibeter bringen ihre Liebe dadurch zum Ausdruck, dass sie füreinander sorgen. Aus diesem Grund würde ein tibetischer Mentor die Bemühungen eines Schülers nur indirekt anerkennen und dem Schüler gegenüber auch nur indirekt zum Ausdruck bringen, dass er mit ihm zufrieden ist, indem er den Schüler beispielsweise ernst nimmt und ihm weiterführende Belehrungen erteilt.
Darüberhinaus empfinden die Tibeter keine Bedürfnis, andauernd oder auch nur häufig mit einem Menschen zusammen zu sein, um dadurch das Gefühl einer engen Beziehung aufrechtzuerhalten. Im traditionellen Tibet unternahmen die Menschen oft lange Karawanenreisen, bei denen sie oft für mehrere Jahre hintereinander von ihren Lieben getrennt waren. Wenn ein Lehrer nur wenig Zeit mit einem Schüler verbringt, so ist das also vollkommen normal und kein Zeichen von Missbehagen oder Ablehnung und auch kein Hinweis darauf, dass der Lehrer den Schüler auf sich allein gestellt im Stich gelassen und die Beziehung zu ihm abgebrochen hat.
Jemanden auf seine Fehler aufmerksam zu machen und ihn liebevoll auszuschimpfen ist in Tibet ein verbreitetes Verhalten, durch das man seine Fürsorge und sein Wohlwollen zum Ausdruck bringt. Ein Tibeter würde einen nahestehenden Menschen auf mögliches Fehlverhalten hinweisen und ihm ganz allgemein das Leben schwer machen, so dass dieser dadurch etwas lernt und daran wachsen kann. Wenn einem nicht viel am anderen läge, nähme man wohl kaum so viel Mühe auf sich. Dieses Verhaltensmuster ist nicht nur für traditionelle tibetische Mentoren typisch, sondern ebenso für die althergebrachten tibetischen Väter.
Die meisten Menschen aus dem Westen verstehen das traditionelle tibetische Verhalten gründlich falsch. Statt das Gefühl zu haben, dass ihr tibetischer Mentor mit ihnen zufrieden ist, glauben sie, sein Missfallen erregt und ihn enttäuscht zu haben. Häufig projizieren sie auch unangenehme Erfahrungen, die sie mit ihren Eltern gemacht haben, auf Situationen, die sie mit ihrem Mentor erlebt haben. Die Folge ist, dass sie in frühkindliche Verhaltensmuster zurückfallen und pubertär reagieren. So können sie zum Beispiel einen handfesten väterlichen Ratschlag, der einem in tibetischer Manier erteilt wird, als Ausdruck eines beurteilenden und bevormundenden Missfallens nach westlicher Art deuten. Vielleicht fassen sie den Ratschlag als harte Kritik auf und erleben ihn als Bedrohung ihrer Integrität, Individualität und Unabhängigkeit. Warnungen vor möglichen Fehlern deuten sie vielleicht als Zeichen, dass ihr Mentor ihnen weder traut noch sie respektiert. Statt den Schülern dabei zu helfen, sich weiter zu entwickeln, können die tibetischen Umgangsformen das geringe Selbstwertgefühl der Schüler noch weiter verringern. Die Folge ist, dass die Schüler entweder rebellieren oder sich noch miserabler fühlen. Sie sind dann überzeugt davon, dass ihr Mentor lieblos ist.
Darum ist manchmal ein weiterer Schritt nötig, um die feste Überzeugung davon zu entwickeln, dass der Mentor gute Qualitäten besitzt, und um seine Güte wertschätzen zu können. Die Schüler müssen lernen die Anerkennung und Zuneigung, die ihnen entgegengebracht werden, auf eine andere als die kulturell gewohnte und für universell gehaltene Art und Weise zu verstehen. Erfolg bei diesen Schritten zu erlangen, befähigt sie dazu, um es mit den Worten von Bozormenyi-Nagy zu sagen, „das Gefühl zu überwinden, ausgenutzt worden zu sein und zu akzeptieren, dass die Danksagung, aus die sie einen berechtigten Anspruch haben, in einer anderen Währung erfolgt.“
Eine Guru-Meditation, die derlei durch die Herangehensweise der kontextuellen Therapie erweitert werden würde, könnte dann die folgenden Stufen umfassen: Zuerst müssen wir uns, ähnlich wie das bei der Phase des Erfreuens in der siebenfachen Anrufung geschieht, an unserer eigene Meditationspraxis erfreuen und uns mit unserer Praxis wohl fühlen. Wenn unsere Mentoren uns dann nicht die Art der Anerkennung geben, wie wir sie erwartet haben, und uns auch nicht wie erwartet signalisieren, dass sie mit unserer Praxis zufrieden sind, dann müssen wir uns diese Tatsache ganz bewusst eingestehen. Über diese Tatsache zu klagen oder zu glauben, dass unsere Mentoren unsere westlichen Gebräuche übernehmen müssten, wird uns nur deprimieren oder verärgern und nicht erhebend auf uns wirken. Schließlich waren unsere Erwartungen unrealistisch. Darum müssen wir als Nächstes erkennen, dass die kulturellen und persönlichen Grenzen unserer Mentoren in Abhängigkeit von einer Vielzahl von Ursachen und Bedingungen entstanden sind, aber keine inhärenten Makel im Charakter der Mentoren darstellen. Auf diese Weise richten wir unsere Aufmerksamkeit darauf, dass die Unzulänglichkeiten unserer Mentoren leer davon sind, inhärent existierend.
Wenn es sich bei unseren Mentoren um traditionelle Tibeter handelt, müssen wir vergegenwärtigen durch welche typischen Verhaltensweisen die Tibeter den Eifer ihrer Schüler anerkennen und wie sie ihre Zufriedenheit zum Ausdruck bringen. Und wenn wir uns dann das Verhalten noch einmal vor Augen führen, das unserer Mentoren uns gegenüber zeigen, sind wir vielleicht schon viel besser in der Lage, ihre guten Qualitäten und ihre Güte so zu erkennen, wie sie eben sind. Wenn wir in der Lage sind, die Verhaltensweisen richtig zu deuten, durch die die Mentoren ihren Schüler gegenüber Anerkennung zum Ausdruck bringen und ihnen zeigen, dass sie zufrieden mit ihnen sind – oder anders gesagt, wenn wir die kulturelle Sprache unserer Mentoren verstehen lernen – dann können wir unsere Aufmerksamkeit mit einer festen Überzeugung auf diese deutlichen Zeichen richten. Erst dann werden wir vielleicht in der Lage sein, die guten Qualitäten und die Güte unserer Mentoren wirklich wertschätzen zu können.
Eine tiefgründigere Lösung der Probleme durch Leerheitsmeditation
Die Herangehensweise der kontextuellen Therapie mag hilfreich dabei sein, sich mit den Problemen zu befassen, die auftreten, wenn wir uns danach sehnen, unserem Mentor zu gefallen oder wenn wir nicht in der Lage sind, die fremdartigen Verhaltensweisen, wie tibetische Lehrer ihre Anerkennung und Zufriedenheit zum Ausdruck bringen, als solche zu erkennen. Nichtsdestotrotz kann es sein, dass selbst wenn wir die kulturellen und persönlichen Gebräuche unserer tibetischen Mentoren akzeptieren können, uns trotzdem noch nach emotionalen Streicheleinheiten dafür sehnen, dass wir unsere Praxis gut geübt haben. Wenn wir diese Streicheleinheiten nicht in der uns vertrauten Form von unseren tibetischen Mentoren bekommen können, glauben wir vielleicht, dass wir lediglich eine westliche Lehrerin oder einen westlichen Lehrer zufrieden stellen müssten, um endlich genug Aufmerksamkeit und Lob zu bekommen. Eine solche Einstellung führt unausweichlich zu Frustration und Leiden. Wir müssen begreifen, dass hinter unserem Wunsch nach Anerkennung und unserem Wunsch zu gefallen, eine unbewusste Besessenheit danach steckt, akzeptiert zu werden und Bestätigung zu erfahren. Wenn wir nicht bereit sind, genauer hinzuschauen und die Meditation über Leerheit anzuwenden, wird dieses gravierende Problem möglicherweise ungelöst bleiben.
Wie bereits erwähnt, können zwei typisch Annahmen, wie sie im westlichen Kulturkreis getroffen werden, das Problem noch verschärfen: Die Annahme, dass das Universum gerecht sei, und der unbewusste Glaube, dass wir aufgrund der Erbsünde grundsätzlich schuldig oder sündig seien. Die Vertreter des Buddhismus stimmen mit der im Westen gehaltenen Ansicht, dass das Universum gerecht oder fair sei, nicht überein. Ebenso wenig wird im Buddhismus behauptet, dass das Universum ungerecht sei und alles nur per Zufall geschehe. Alle Phänomene erscheinen als Ergebnis eines äußerst komplexen Netzwerks von miteinander verbundenen Ursachen und Umständen, aber ohne dass es dabei eine unparteiische Quelle gerechter Gesetze oder einen gerechten Richter gäbe, der eine faire Anwendung dieser Gesetzte überwachen würde. Außerdem lautet die vom Buddha gelehrte erste edle Wahrheit, dass das Leben Leiden beinhaltet. So folgen wir den Anweisungen unserer Mentoren vielleicht aufrichtig, erhalten aber – aus vielerlei Gründen – niemals Anerkennung für unseren Eifer. Wenn wir dann – aufgrund unseres Glaubens, das Universum müsse fair sein – Anerkennung oder ein Zeichen der Zufriedenheit erwarten, begehren oder gar fordern, schaffen wir nur zusätzliches Leiden.
Der Wunsch nach Anerkennung wird häufig durch einen Wunsch nach Gegenliebe und Akzeptanz verschleiert, der häufig ein geringes Selbstwertgefühl überdeckt, das in dem unbewussten Glauben gründet, inhärent sündig zu sein. Schmerzvolle emotionale Erfahrungen bestätigen und verstärken diesen Glauben häufig. Die Hoffnung darauf, dass die Anerkennung unseren Wert beweisen werde, bedeutet darüber hinausgehend, dass wir unseren Wert letztlich darauf aufbauen, als unabhängige Individuen zu existieren. Diese Zwangsvorstellung entsteht aus einer Täuschung in Bezug auf darauf, wie wir existieren. Anerkennung, ob sie nun von uns selber kommt oder von anderen, kann kurzzeitig dazu führen, dass wir uns besser fühlen. Dieses Glücksgefühl wird jedoch schon bald wieder verschwinden, wenn es nicht von einem Verständnis der Realität begleitet wird.
Letztlich müssen wir begreifen, dass es, obwohl wir als Individuen existieren, kein solides „Ich“ in uns gibt, das inhärent unzulänglich ist und das Bestätigung braucht oder andere zufrieden stellen muss, um sich würdig oder real fühlen zu können. Obwohl Anerkennung letztlich bedeutungslos ist, dürfen wir uns keinesfalls dafür verurteilen, wenn wir sie trotzdem brauchen. Solange wir uns noch innerhalb der Beschränkungen kulturspezifischen Denkens und Glaubens bewegen, ist Anerkennung durchaus notwendig. Ohne die entsprechende Anerkennung zu erhalten, dürfte der Ausbruch aus diesen engen Grenzen für die meisten Menschen schlicht zu schwierig sein.
Bekommen wir keine Anerkennung von unseren Mentoren, Eltern, Liebespartnern oder Freunden, ist Selbstanerkennung definitiv eine große Hilfe. Aber wir müssen vorsichtig sein, wenn wir diese Form der Selbstbestätigung anwenden. Wenn wir beim Überschreiten kultureller Grenzen zu früh damit aufhören, uns selbst zu ermutigen und zu unterstützen, bleiben wir möglicherweise bei einem geringen Selbstwertgefühl hängen. Und wenn wir uns für das, was wir zu einem früheren Zeitpunkt empfunden haben, schämen oder dumm fühlen, wird das unsere geringe Meinung, die wir ohnehin von uns selbst haben, nur noch weiter verstärken. Wenn wir ein tiefgründiges Verständnis von Leerheit erlangt haben, müssen wir uns nicht einmal mehr selbst dafür vergeben, dass wir dumm gehandelt haben.
In einer gesunden Beziehung zu einem spirituellen Mentor folgen die Schüler den Anweisungen ihrer Lehrer, praktizieren eifrig und unterstützen ihn sogar finanziell und sonst wie in ihrem Alltag, ohne dabei ein Bedürfnis nach Anerkennung oder Lob zu haben. Schließlich tun die Schüler all dies, um sich selbst und anderen langfristig zu nutzen, und nicht um ein paar Streicheleinheiten zu bekommen. Wenn wir also versuchen, unsere Mentoren zufrieden zu stellen, so geht es uns dabei nicht um Selbstbestätigung durch Anerkennung, ein Dankeschön oder darum, irgendein Signal zu bekommen, dass unser Tun ihnen gefällt. Unsere Mentoren zu erfreuen, dient dazu, unsere Geschicklichkeit darin zu vergrößern, anderen zu helfen.
Gegenübertragung
In der Psychoanalyse kann ein Analytiker auf die Übertragung und die schädliche Form der Regression eines Patienten mit einer Gegenübertragung reagieren. Nehmen wir an, ein Patient überträgt das Bild eines stets beschäftigten Vaters und regrediert in die Forderung nach Aufmerksamkeit. In seiner Gegenübertragung kann der Analytiker nun das Bild eines fordernden Vaters projizieren und sich defensiv oder genervt verhalten. Dabei muss man berücksichtigen, dass sowohl die Übertragung als auch die Gegenübertragung, wie Freud sie definiert hat, unbewusste Prozesse sind. Andere Ergebnisse der Gegenübertragung können darin bestehen, dass Schützerinstinkte geweckt werden, dass man berechnend, geschmeichelt oder enttäuscht reagiert oder ein romantisches Interesse am Gegenüber entwickelt. Analytiker lernen in ihrer Ausbildung jedes Anzeichen einer möglichen unbewussten Gegenübertragung zu erkennen, um sie nicht ausagieren zu müssen.
Wenn spirituelle Schülerinnen und Schüler das Abbild eines Vaters, einer Mutter oder eines Liebespartnern auf den Mentor übertragen und in pubertäre Verhaltensmuster regredieren, reagieren qualifizierte Mentorinnen und Mentoren ohne Gegenübertragung. Selbst wenn die Schüler unvernünftige Forderungen stellen oder sogar ihre Liebe erklären, lassen qualifizierte Mentoren ihre Worte einfach durch sich hindurchgehen, ohne die Situation zu konkret und unabhängig existierenden Zwischenfällen aufzublasen. Indem sie Ruhe, Gleichmut und warmherzige Fürsorge aufrechterhalten, werden qualifizierte Mentoren für ihre Schüler zu einem sanften Spiegel. Ein Spiegel wirft uns einen realistischen Eindruck von uns selbst zurück; aber niemals nimmt er die Merkmale dessen an, der sich in ihm spiegelt.
Gewöhnlich konfrontieren Mentoren die Schülerinnen und Schüler nicht mit ihren Projektionen oder tadeln sie wegen ihres unangebrachten Verhaltens. Tibetische Mentoren tadeln ihre Schüler nur, wenn sie sich anderen gegenüber unangemessen verhalten haben, denn aufgrund ihrer Bescheidenheit können sie nicht für sich selbst einfordern, angemessen behandelt zu werden. Mit ihrem konsequent makellosen Verhalten schaffen sie die förderlichen Umstände, die es den Schülern ermöglichen, achtsame Einsicht in die gegenwärtige Situation zu gewinnen. Schließlich können die Schüler sogar ihre projizierten Fantasien erkennen. Im Unterschied zu Psychoanalytikern ermutigen die spirituellen Mentoren ihre Schüler demnach nicht, sich in einen Prozess der Übertragung und Regression zu begeben. In Übereinstimmung mit guten Analytikern aber reagieren sie weise und mitfühlend auf den Prozess, sollte er dennoch eintreten.
Ein erwachsener Umgang mit Gegenübertragungen
Die meisten spirituellen Mentorinnen und Mentoren sind keine Erleuchteten und haben daher zumindest Reste störender Gewohnheitsmuster. Deshalb kann Gegenübertragung bei ihnen durchaus vorkommen. Wenn das geschieht, ergreifen Mentoren die gleichen Maßnahmen wie Analytiker. Sie versuchen, sich der Gefühle der Gegenübertragung bewusst zu werden, um sie nicht auszuagieren. Manchen spirituellen Lehrern mangelt es allerdings an bestimmten guten Qualitäten, weshalb sie die Impulse der Gegenübertragung gelegentlich doch ausagieren. So können spirituelle Lehrer sich als Reaktion auf Idealisierung, Schmeichelei oder romantische Annäherungsversuche durchaus gleichfalls romantisch und schmeichelnd verhalten.
Wenn wir mit Gegenübertragung konfrontiert werden, müssen wir die Ursachen des Problems sorgfältig untersuchen. Während der ersten Phase der Guru-Meditation der Sutra-Ebene müssen wir objektiv prüfen, ob der Fehler unserer Lehrerin oder unseres Lehrers eine Reaktion auf unsere eigene Übertragung und Regression ist oder ob er ganz und gar auf andere Ursachen zurückgeht. Wenn wir entdecken, dass unser eigenes Verhalten zumindest teilweise verantwortlich ist, müssen wir an der Überwindung dieses Verhaltens arbeiten. Wenn unsere Lehrer ihr unangemessenes oder sogar missbräuchliches Verhalten dann immer noch nicht einstellen, können wir Ashvaghoshas Rat folgen und unseren Lehrern unter vier Augen höflich mitteilen, dass ihr unangemessenes Verhalten uns unangenehm ist und wir sie freundlich bitten, uns zu erklären, warum sie auf diese Weise handeln. Alternativ können wir auch den Kalachakra-Lehren folgen und einen respektvollen Abstand halten.
Lehrer öffentlich in Verlegenheit zu bringen, so dass sie ihr Gesicht verlieren, darf nur ein letztes Mittel sein, um extrem missbräuchliches Handeln zu unterbinden. Gedenken wir, solch drastische Maßnahmen zu ergreifen, müssen wir ganz sicher sein, dass es unser ausschließliches Motiv ist, andere Schüler und die Lehrer selbst vor zukünftigem Leid zu bewahren. Ist die öffentliche Beschuldigung eines Lehrers ein persönlich motivierter Rachefeldzug, wird die Beschuldigung mehr schaden als nutzen. Sie kann die Schüler des Lehrers, die von seinen Unterweisungen profitiert haben, in große Verwirrung stürzen. Die anderen Schüler können in einen Zustand spiritueller Hoffnungslosigkeit geraten, und wir selbst können in einen verbitterten, negativen Geisteszustand fallen. Missbräuchliches Verhalten, ob von Gegenübertragung ausgelöst oder nicht, kann nur durch empfindsame, weise und mitfühlende Maßnahmen beendet werden.
Zusammenfassung
Eine gesunde Beziehung zu einem spirituellen Lehrer erfordert eine sichere Ausrichtung (Zuflucht) im Leben, eine Bodhichitta-Motivation und vor allem ein gutes Verständnis von Leerheit. Ohne diese Voraussetzungen kann jeder Versuch, eine Beziehung aufzubauen, in ungezügelter Übertragung und schädlicher Regression enden.
Die Beziehung zu einem spirituellen Mentor ist nicht dasselbe wie eine Beziehung zu einem Psychoanalytiker. Ein Mentor hält keine regelmäßigen Einzelsitzungen ab, um den Übertragungs- und Regressionsprozess zu überwachen und unter Kontrolle zu halten. Wenn also Übertragung und Regression auftreten, was häufig der Fall ist, kann die Guru-Meditation der Sutra-Ebene, ergänzt um Schritte aus der kontextuellen Therapie, helfen, das Problem zu beseitigen.