Grundlegende Merkmale von Karma

Die Bedeutung von Karma

In den verschiedenen indisch-buddhistischen Lehrsystemen existieren viele verschiedene Beschreibungen von Karma. Lassen Sie uns hier die am wenigsten komplizierte Erklärung verwenden, nämlich die Erklärung der tibetischen Nicht-Gelug-Traditionen. Wir finden diese Erklärung auch innerhalb der Gelug-Tradition, und zwar in den Ausführungen der Gelug-Tradition zu allen indisch-buddhistischen Lehrsysteme mit Ausnahme der Prasangika-Schule und der Vaibhashika-Schule. Den einfacheren Erklärungen entsprechend ist Karma wörtlich übersetzt ein geistiger Drang, der uns in die Richtung einer Handlung oder Erfahrung bringt (oder treibt). Karma meint in diesen Systemen also nicht die Handlung selbst. Karma ist demnach der Drang oder Antrieb, der uns dazu bringt, in bestimmter Weise zu handeln. Wenn wir den Drang verspüren, zum Kühlschrank zu gehen, dann ist das eigentliche Karma nicht, dass wir zum Kühlschrank gehen, sondern dass wir einen Drang danach haben, etwas zu essen zu suchen. Karma kann der Drang sein, konstruktiv oder destruktiv zu handeln.

Das ist natürlich ein sehr komplexer Vorgang, aber im folgenden möchte ich sehr vereinfacht erläutern, was passiert: In jedem Augenblick unseres Lebens betrachten wir die Welt wie durch ein Periskop, wie durch das Sehrohr eines U-Bootes. Wir nehmen die Welt also in etwa so wahr, als würden wir in einem Unterseeboot sitzen und durch den kleinen Sucher des Periskop bzw. Sehrohrs schauen, wobei wir nur einen kleinen Ausschnitt davon sehen, was alles auf dem Meer draußen passiert. Wir sehen nur das, was direkt vor unseren Augen passiert. Wir sind „begrenzte Wesen“. Der Begriff „fühlendes Wesen“ (im Englischen „sentient beings“) gibt die ursprüngliche Bedeutung nur sehr eingeschränkt wieder. Der ursprüngliche Ausdruck bedeutet, dass wir eine begrenztes Gewahrsein haben, weil wir beschränkte Körper haben. Wir sind nicht auf dem neusten Stand der Technik; wir haben noch nicht die höchste Entwicklungsstufe erreicht. Unsere Hardware ist unzureichend. Buddhas haben auf der anderen Seite ein allumfassendes Gewahrsein und sind hypermodern ausgestattet – auf dem neusten Stand der Technik. Sie haben Lichtkörper, die alles wahrnehmen. Wir erkennen die Welt durch unsere Augen, Ohren, die Nase usw., und wir haben eine Gehirnstruktur, die uns nur einen Tunnelblick erlaubt. Diese Beschränkungen von Körper und Bewusstheit bezeichnet man als Samsara. Es ist nicht unsere Schuld, dass wir so beschränkt sind. Es ist eben einfach so, dass wir uns in diesem schrecklichen und sehr begrenzten Seinszustand befinden. Das ist ein sehr grundlegender Punkt: Die tiefere Bedeutung des alles-durchdringenden und alles-umfassenden Problems ist, dass wir immer wieder mit einem beschränkten Geist und beschränkten Körpern wiedergeboren werden, die wiederum als Grundlage für das karmische Bingo-Spiel und das Leiden am Auf-und-Ab des samsarischen Lebens fungieren.

Es spielt keine Rolle, wie schön unser Unterseeboot ist, wir blicken nach wie vor durch ein Periskop mit einem sehr eingeschränkten Sichtfeld. Es spielt keine Rolle, wie schön unser Körper ist. Wir sind immer noch „beschränkt“. Diese Überlegungen können uns helfen, Entsagung zu entwickeln – also eine starke Abneigung dagegen, in einem Unterseeboot mit diesem Periskop-Blick gefangen zu sein. Aber bitte beachten sie: Diese Analogie soll uns nicht in die Irre führen und die falsche Vorstellung vermitteln, dass es ein solides „Ich“ außerhalb unseres Körpers und Geistes gäbe. Es ist nur eine Analogie, die uns dabei helfen kann, das allumfassende Problem von Samsara zu verstehen. Diese ganze Situation ist irrwitzig: Sich nur darum zu kümmern, dass wir einen schönen Körper haben, ist so trivial! Auch wenn es toll ist, einen schönen Körper zu haben, wird uns das nirgendwo hinbringen. Wenn man seine Haare toll gestylt hat, seine Muskeln gut trainiert hat, und wenn man sich Make-up im Gesicht aufgetragen hat usw., ändert das nichts an der Tatsache, dass wir beschränkte Wesen sind.

Als Ergebnis dieses Periskop-Blickes, entsteht die Wahrnehmung, dass wir im Inneren unseres Körpers und Bewusstseins ein solides „Ich“ haben, und dass die anderen Menschen da draußen ein solides „Du“ haben. Warum ist das so? Weil diese beschränkte Hardware auf der Basis eines konzeptionellen Systems arbeitet. Ein Buddha hat kein solches System. Der Geist eines Buddhas ist gänzlich nicht-konzeptionell. Computer stellen die Welt als Zahlen dar, nämlich in Kombinationen von „null“ und „eins“, „an“ und „aus“. Kombinationen aus diesen Basisziffern werden dann als Zahlen und Buchstaben auf dem Monitor dargestellt usw. Die Schrift auf dem Monitor ist nicht die tatsächliche Welt; die Monitorschrift ist lediglich eine Repräsentation bzw. Stellvertretung der Welt. Das ist konzeptionelles Denken. Wir erleben eine virtuelle Welt als Stimme in unserem Kopf, die zu uns in Worten spricht: „Oh mein Gott, was soll ich jetzt tun? Es ist so heiß draußen, blah, blah, blah.“ Das ist das System, das bei fühlenden Wesen läuft.

Weil diese Stimme in unserm Kopf plappert, glauben wir, dass es ein solides „Ich“ dort drinnen gibt. Das ist unheimlich, nicht wahr? Nicht, dass wir nur so denken, es fühlt sich auch so an, als wären die Dinge wirklich so. Dieser ignorante Glaube, diese irrige Vorstellung wie die Welt ist, ist das, was den Startknopf für das karmische Bingo-Spiel drückt – und nicht das unmögliche „Ich“, das denkt, es würde existieren. Das führt dann zum Heranreifen von Karma.

Karmisches Bingo ist ein vieldimensionales Spiel. Die Gefühle von Glücklichsein, Unglücklichsein und Neutralität sind eine Art von Ping-Pong-Bällen. Eine weitere Art von hochschießendem Ping-Pong-Ball, ist das Gefühl, dass wir etwas bestimmtes tun wollen. Auf diesem Gefühl basierend entsteht ein Impuls, und dieser Impuls ist das nächste Karma. Aufgrund unserer Verwirrung tun wir immer das, was wir tun möchten. Das passiert so schnell, dass wir uns dessen noch nicht einmal bewusst sind. Wir glauben: „Selbstverständlich kann ich tun, was ich tun möchte. Das ist ganz normal, dass das so ist.“ Wir haben das Gefühl, etwas bestimmtes tun zu wollen, und dieses Gefühl ist uns oft schon beinahe heilig. Dann geben wir dem Impuls nach. Tatsächlich ist es so, dass die Handlung bzw. auch das Denken, etwas tun zu wollen, einen weiteren Ping-Pong-Ball ins Spiel bringt.

Woher stammt dieser Prozess? Nicht vom Teufel oder von Dämonen. Der Vorgang kommt dadurch zustande, dass wir die Welt mit diesem beschränkten Körper und diesem beschränkten Bewusstsein wahrnehmen. Wir sehen alles durch ein Periskop. Es gibt diese alberne Stimme in unserem Kopf und sie vermittelt uns den Eindruck, dass es ein solides „Ich“ und ein solides „Du“ gibt. Sehr langweilig. Sehr dumm.

Wenn wir sterben, und wir uns dann gewissermaßen außerhalb des Unterseeboots befinden, dann fühlen wir uns, als würden wir im Ozean von Visionen des klaren Lichts und in anderen Visionen, die uns erscheinen, ertrinken. Wir können mit den auftretenden Visionen nicht umgehen. Wir geraten in Panik. Und der Impuls kommt auf, nach dem nächsten Unterseeboot zu greifen. Das ist Wiedergeburt. Wir möchten dann gerne in ein enges, fest umgrenztes U-Boot zurückkehren. Wir drücken einen weiteren Knopf und ein weiterer Ping-Pong-Ball springt in Form eines weiteren beschränkten Körpers aus dem Automaten heraus. Wir handeln aus der Verwirrung heraus. Diese Verwirrung ist kein Fluch Gottes. Diese Verwirrung wurde uns auch nicht von irgendjemandem als eine Lebensaufgabe gestellt oder als eine Herausforderung mit auf unseren Weg mitgegeben, um zu sehen, ob wir aus dem Spiel herausfinden. Die Verwirrung existiert da nicht irgendwo inhärent – wie etwa die Ursünde existiert, weil wir böse waren oder weil Adam es vermasselt hat. Die Verwirrung ist nicht Teil unserer angeborenen Natur, auch wenn sie seit anfangslosen Zeiten existiert. Die Verwirrung ist etwas, was beseitigt werden kann. Das ist die grundlegende Tatsache, die wir begreifen müssen.

So furchteinflößend die wechselseitig verbundene vieldimensionale Wirklichkeit auch sein mag, wir können mit ihr umgehen. Es gibt eine Möglichkeit aus Samsara herauszukommen. Wenn wir die Verwirrung beseitigt haben, sind wir nicht nur das Leiden endgültig los, sondern wir werden dadurch in die Lage versetzt, anderen so gut als möglich zu helfen. Wir können nicht anderen Lebewesen helfen, die in ihren eignen Unterseebooten sitzen, wenn wir auch in einem U-Boot sitzen. Wenn wir aus dem U-Boot raus sind, und wenn wir mit dem ganzen Ozean gut zurechtkommen, dann können wir anderen viel besser helfen. Das ist die Lösung: Beende das Spiel „karmisches Bingo“ und verlasse das U-Boot. Lassen Sie uns darüber einen Moment lang nachdenken.

Wir befinden uns alle in Unterseebooten, schauen durch das Sehrohr des U-Boots, durch das Periskop, und haben dabei ständig ein sehr eingeschränktes Blickfeld. Zudem hören wir auch ständig all die Geräusche, der über die Lautsprecher zu uns ins U-Boot hereinkommt. Deshalb versuchen wir, wenn wir sterben, alle ein neues Unterseeboot zu bekommen, weil wir glauben, dass uns das glücklich machen wird. Und niemand von uns weiß, was als nächstes passieren wird. Wenn wir sterben, werden wir aus unserer Panik heraus einfach in ein anderes Unterseeboot springen. Alle Lebewesen tun das. Das ist ein erbärmlicher Zustand. Das ist die Schreckensvision der samsarischen Existenz, wie wir sie in einem sehr vereinfachenden Bild darstellen können.

Karmische Kräfte

Entsprechend der Erklärung, die wir hier verwenden, ist Karma ein geistiger Drang, der uns in die Richtung einer bestimmten Erfahrung treibt. Wir haben natürlich eine Wahl, ob wir auf den Drang hin handeln wollen oder nicht. Wir haben beispielsweise den Drang, etwas Unschönes zu jemandem zu sagen wie etwa: „Was für ein schreckliches Kleid du heute anhast.“ Wenn wir geistesgegenwärtig sind, wenn der Drang in uns aufkommt, dann können wir den Drang kontrollieren, ihm nicht nachgeben und nicht ausagieren. Häufig geben wir allerdings dem Drang nach. Die Handlung selbst ist eine karmische Kraft, die entweder positiv oder negativ sein kann. Diese werden gewöhnlich als „Verdienst“ oder „Sünde“ übersetzt, was ich allerdings irreführend finde. Präziser ausgedrückt sind karmische Handlungen positive oder negative karmische Kräfte.

Wenn eine Handlung abgeschlossen ist, setzt sich die karmische Kraft fort, allerdings jetzt als karmisches Potenzial in unserem Geisteskontinuum. Das Konzept der Netzwerke kann uns hier vielleicht helfen, allerdings ist dieser Begriff als solches nicht unter den buddhistischen Fachausdrücken zu finden. Es handelt sich bei dem Begriff um eine Ergänzung der Dharma-Lehren aus der westlichen Hemisphäre. Wir können es so ausdrücken: Immer wenn wir in positiver oder negativer Weise handeln, verbinden sich die karmische Kraft der gerade ausgeführten Handlung und auch das karmische Potenzial, das nach der Handlung übrig bleibt, mit den anderen positiven und negativen Kräften aus vorangegangenen Handlungen und deren karmisches Potenzial in unserem Geisteskontinuum. Wir sprechen hier von Samsara-bildenden Kräften. Wir erschaffen uns Samsara selber; negative oder gewöhnliche positive Kräfte resultieren in samsarischen Erfahrungen.

Wenn wir die positive Kraft einer konstruktiven Handlung nicht einem Handeln widmen, das der Befreiung oder der Erleuchtung dient, wirkt diese Handlung auch nicht als Ursache für Befreiung oder Erleuchtung. Die Texte sprechen nicht so sehr davon, dass wir unsere positiven Kräfte der Befreiung widmen. Eine konstruktive Handlung wird nur dann zu einer positiven Kraft, die dem Weg der Erleuchtung dient, wenn wir sie mit einer Bodhichitta-Ausrichtung dem Erlangen der Erleuchtung widmen. Dann erst ist diese Handlung auch ein Teil der positiven Kräfte, die zum Aufbau des Netzwerks der positiver Kräfte führt, die zur Erleuchtung führen – die so genannte „Ansammlung von Verdienst“ (engl. „collection of merit“).

Karmische Nachwirkungen

Es ist also ganz gleich, ob eine Handlung Samsara-bildend oder zur Erleuchtung führend ist, die Handlung selbst wirkt als karmische Kraft. Wenn die Handlung abgeschlossen ist, womit sind wir dann konfrontiert? Es ist nicht nur das karmische Potenzial der karmischen Kraft. Es gibt auch noch andere Dinge, die in unserem Geisteskontinuum zurückbleiben. Hier habe ich mir einen Ausdruck ausgedacht, der alles umfasst: „karmische Nachwirkung“ (bzw. Folgen/Auswirkungen). Wir können von zwei Arten karmischer Nachwirkung sprechen: von einem karmischen Vermächtnis (Tib. sa-bon, Same) und von karmischen ständigen Gewohnheiten (Tib. bag-chags). Der Unterschied zwischen den beiden ist, dass das karmische Vermächtnis zufällig heranreift, wohingegen sich eine karmische ständige Gewohnheit in jedem einzelnen Augenblick unserer Erfahrung auswirkt. Das karmische Vermächtnis beinhaltet beides: sowohl das karmische Potenzial der karmischen Kräfte ebenso wie die karmischen Tendenzen. Aber lassen Sie uns hier nicht auf die subtilen Unterschiede zwischen diesen beiden eingehen.

Karmische Vermächtnisse reifen heran und vergehen. Ein Aspekt ihrer Auswirkungen ist, dass wir verschiedene Grade von Glücklichsein oder Unglücklichsein empfinden, und dass es mit den Gefühlen auf und ab geht. Alle Arten von karmischen Vermächtnissen reifen zu unterschiedlichen Zeiten heran. Es beeinflusst jeden einzelnen Augenblick unseres Lebens und wir wissen nie, was wir im nächsten Augenblick erleben werden. Wir können uns gut oder schrecklich fühlen, auch wenn wir genau dasselbe tun. Ist das nicht schrecklich?

Ein weiteres Resultat dieser Vermächtnisse ist das Erfahren der Wiedergeburtszustände. Manchmal erleben wir eine schöne Wiedergeburt, manchmal eine schreckliche. Unsere Erfahrung ist überhaupt nicht konstant. Manchmal erhalten wir ein sehr komfortables Unterseeboot und manchmal bekommen wir ein sehr unbequemes.

Die Umwelt, in die wir geboren werden, wird „das dominierende Resultat“ genannt. „Sind wir in einem ruhigen Teil des Ozeans gelandet? Oder gibt es dort, wo wir geboren werden, heimtückische Strömungen?“

Das nächste Resultat, das heranreift ist, das wir gerne das tun möchten, wonach wir uns gerade fühlen. Was möchten wir jetzt gerne machen? Wir möchten Dinge tun, die den Sachen ähnlich sind, die wir zuvor getan haben. Nicht nur, dass wir keine Ahnung haben, ob wir uns im nächsten Moment glücklich oder unglücklich fühlen werden, wir haben auch keine Ahnung, was wir im nächsten Moment gerne tun möchten.

Das letzte Auswirkung, die vom karmischen Vermächtnis herrührt, ist, dass wir Dinge erleben, die dem ähnlich sind, was wir anderen angetan haben. Wenn wir auf andere U-Boote schießen möchten, die unseren Weg kreuzen, dann wird irgendwann ein anderes U-Boot auf uns schießen. Dass wir uns glücklich oder unglücklich fühlen, dass wir das tun möchten, wonach uns gerade der Sinn steht, und dass uns genau das widerfährt, was uns widerfährt – all das befindet sich die ganze Zeit über in einem ständigen Auf und Ab. Das alles ist schrecklich.

Karmische ständige Gewohnheiten bringen in jedem Moment Resultate in Form von Erfahrungen hervor, bei der wir die Welt ständig durch den begrenzten Blickwinkel eines Periskops wahrnehmen. Das enge Blickfeld ist das durchgehende Thema im Auf und Ab von Samsara. Abhängig davon, ob wir uns glücklich oder unglücklich fühlen, abhängig auch davon, was wir gerade Lust haben zu tun, und in Abhängigkeit davon, was uns im Leben widerfährt – entsteht dieser oder jener Drang in uns und wir handeln gemäß dieses Drangs. Das ist es, was es mit Samsara auf sich hat, um nur eine kurze Präsentation davon zu geben, wie Karma auf sehr vereinfachende Weise wirkt. Wir wollen das einige Minuten lang auf uns wirken lassen.

Wir können erkennen, dass das Karma ein Kreislauf ist. Wenn man diesen Kreislauf tiefer analysiert, dann gibt es das System der Zwölf Glieder des abhängigen Entstehens. Die Karma-Themen und die der Zwölf Glieder sind Teile desselben Puzzles.

Wie eine Widmung wirkt

Um zur Erleuchtung zu führen, muss eine positive Handlung mit der Bodhichitta-Haltung ausgeführt werden, auch wenn dieses Bodhichitta künstlich sein sollte. Es muss nicht echt sein. Es kann „erfunden“ bzw. künstlich erzeugt sein. Was bedeutet das? Es ist nicht so, dass wir kein solches Gefühl oder so etwas hätten. Bodhichitta basiert auf Liebe, Mitgefühl und universeller Verantwortlichkeit, was bedeutet, dass wir Buddhas werden wollen und wir uns wünschen, dass alle glücklich und frei von Leiden sein sollen, und dass wir die Verantwortung übernehmen, allen zu helfen – allen begrenzten Wesen, allen „fühlenden Wesen“ – nicht nur um die gewöhnlichen Leiden zu überwinden, sondern auch um Befreiung und Erleuchtung zu erlangen. Wir wollen uns das genauer anschauen.

„Alle fühlenden Wesen“ beinhaltet jedes Insekt auf der Welt. Müssen wir uns wirklich für jede Mücke auf dieser Welt einsetzen? Lassen Sie uns ehrlich sein. Zu allererst: Wovon wollen wir alle befreien? Wahrscheinlich wollen wir alle aus Samsara befreien, was bedeutet, dass wir alle Lebewesen aus dem Kreislauf der unkontrollierbar auftretenden Wiedergeburten befreien möchten. Wenn wir nicht einmal das Konzept der Wiedergeburt verstehen, ganz zu schweigen davon, dass wir an Wiedergeburt glauben, wie können wir ernsthaft daran arbeiten, alle Mücken der Welt von Wiedergeburt zu befreien? Wir denken nicht einmal über Wiedergeburt nach. Wir denken einfach so dahin. „La-di-da; mögen alle glücklich sein, genügend Nahrung haben, ein schönes Haus…“ Das ist sehr schön, aber es ist nicht das „große Mitgefühl“, dass hinter dem Konzept von Bodhichitta steht. Auch wenn wir ernsthaft in unserem Wunsch sind, anderen Menschen in dieser Lebensspanne zu helfen – und vielleicht unseren Schoßhunden und Katzen – , so reicht das für die positive Kraft unserer konstruktiven Handlungen nicht aus, um als eine positive Kraft zu wirken, die uns zur Erleuchtung führt. Es muss ein gewisses Maß an „großem Mitgefühl“ vorhanden sein, das sich auf alle begrenzten Wesen gleichermaßen bezieht.

Was ist, wenn sich eine störende Geisteshaltung mit unserer konstruktiven Handlung vermischt? Nun, bedenken Sie, dass wir ein Arhat sein müssen, um gänzlich frei zu sein von der Anhaftung an ein unmögliches „Ich“ und von all den störenden Gefühlen und Einstellungen. Heißt das, dass wir bis wir ein Arhat geworden sind, keine positiven Handlungen, die zur Erleuchtung führen ausführen können? Nein, das heißt es nicht. Wir können solche Handlungen ausführen bevor wir ein Arhat geworden sind. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Seine Heiligkeit der Dalai Lama bringt das auf eine sehr schöne Art zum Ausdruck. Er sagt: „Bis du ein Arhat bist, wird keine Handlung, die du ausführst, zu 100% selbstlos und frei von nicht-korrekten Sichtweisen, störenden Einstellungen usw. sein. Was wir also versuchen müssen, ist die Selbstbezogenheit zu minimieren.“

Wir dürfen uns nicht selbst belügen. Bis wir befreit sind, wird es Anteile in uns geben, die möchten, dass wir glücklich sind oder gebraucht werden, was im Grunde genommen eine Sache des Egos ist. Es gibt keinen Grund sich deshalb schuldig zu fühlen. Wir müssen damit auf der Stufe arbeiten, auf der wir stehen. Wir mögen vielleicht denken: „Obwohl ich auch glücklich sein möchte, bin ich mir ganz sicher mit meinem Wunsch, dass andere glücklich sein sollen. Möge diese positive Handlung mich dazu befähigen, den anderen so gut als möglich zu helfen, damit sie erleuchtet werden.“ Das ist sehr nützlich.

Lassen Sie das bitte für einen Augenblick auf sich wirken.

Diese Überlegungen können unser Selbstvertrauen stärken, dass wir tatsächlich fähig sind, positive Kräfte aufzubauen, die zur Erleuchtung führen. Wie es in den Lehren steht. Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt wiederholt: „Die Erleuchtung liegt in unseren eigenen Händen.“

Wenn eine positive Handlung von der Kraft der Entsagung oder des Bodhichitta getragen wird, dann wirkt sie schließlich als Ursache für das Erlangen von Befreiung und Erleuchtung. Wenn die positive Handlung weder von Entsagung noch von Bodhichitta getragen ist, wird sie in eine glücklichere Erfahrung innerhalb des Samsara münden. Die Handlung selbst kann exakt die gleiche sein. Es ist lediglich eine Frage, wie die positive Handlung gewidmet wird. Wenn wir sie überhaupt nicht widmen, wird sie automatisch in dem Samsara-bildenden Ordner unserer geistigen Hardware gespeichert und wirkt als angenehme Samsara-bildende Kraft. Wir müssen die positive Kraft aus einer positiven Handlung durch entsprechende Widmung bewusst in den zur Erleuchtung führenden Ordner speichern.

Was ist, wenn wir vergessen, die positive Kraft entsprechend zu widmen, uns aber einige Minuten später daran erinnern? Zählt das? Es zählt so lange wie wir dazwischen nicht ärgerlich geworden sind. Wenn wir ärgerlich werden, zerstört oder schwächt das die positive Kraft. Deshalb heißt es in den Schriften, dass Ärger eine so negative Wirkung hat, im Speziellen Ärger, der sich gegen einen Bodhisattva richtet. Solange wir uns nicht ärgern, können wir die positive Kraft aus dem samsara-bildenden Ordner in den zur Erleuchtung führenden Ordner speichern. Wenn wir ärgerlich geworden sind, haben wir die positive Kraft jedoch gelöscht. Die Chance einer anderweitigen Zuordnung ist dann vertan. Wenn wir unsere positiven Handlungen mittels einer Bodhichitta-Widmung gespeichert haben, dann zerstören wir die positive Kraft auch dann nicht, wenn wir uns später ärgern. Es werden sich dann zwar negative Konsequenzen aus dem Ärger ergeben, aber das ist ein anderer Punkt.

Welche Art von Handlungen können gewidmet werden?

Alles was konstruktiv ist, also jede Handlung, die wir aus dem Wunsch heraus zu helfen ausführen, also Handlungen, die wir nicht aus Gier, Anhaftung, Ärger oder Naivität ausführen. Wir können auch jede Handlung des Unterlassens einer negativen Handlung als etwas Konstruktives widmen, selbst wenn in uns der Impuls etwas bestimmtes zu tun. Wir unterlassen es, weil wir wissen, dass dies Probleme verursachen wird. Ein Unterlassen aus dem Wunsch heraus eine Bestrafung zu vermeiden, wirkt auch ein wenig konstruktiv. Die Wirkung ist jedoch stärker, wenn wir negatives Verhalten unterlassen, weil wir die Gesetzmäßigkeit von karmischen Ursachen und Wirkungen verstehen. Um eine Widmung zu machen, müssen wir denken: „Möge die positive Kraft dieser Handlung als Ursache für meine Erleuchtung wirken, damit ich fähig werde, allen zu helfen.“

Wenn wir keine Vorstellung davon haben, dass alle Handlungen in einem Netzwerk miteinander verwoben sind, tendieren wir dazu zu glauben, dass es sich bei allem, was wir tun, um isolierte Handlungen handelt. Das wäre so, als wenn man gute Taten einzeln in einer Büchse sammelt. Deshalb finde ich, dass es sehr hilfreich ist zu denken, dass unsere positiven Handlungen und unser Verständnis tiefer gehen, einen stärkeren Eindruck hinterlassen, und sich mit all unseren anderen positiven Handlungen und unseren verschieden Arten von Verständnis weiter vernetzen. Die Kraft wird stärker und stärker und auf diese Weise wirkt sie als Ursache für die Erleuchtung.

Die Vorstellung eines Netzwerks ist auch deshalb sehr hilfreich, weil es das Verständnis der Interdependenz, der wechselseitigen Abhängigkeit, und dem abhängigen Entstehen hervorbringt. Unsere guten Taten sind nicht isoliert. Damit vergleichbar wäre, wenn wir nur einzelne kleine Dharma-Aussage verstehen und wir diese nie mit anderen Aussagen in Verbindung bringen, und auch nie erkennen, wie all die Aussagen zusammenpassen. Wenn wir einzelne Aussagen und Argumente nicht miteinander verbinden, wird unser Verständnis nie sehr tief gehen. Dann sammeln wir einfach Fakten. Deshalb benötigen wir auch das Netzwerk tiefen Gewahrseins, das wir durch unsere Meditationserfahrungen erwerben, wobei wir die Meditationserfahrungen mit allem anderen verbinden, was wir gelernt haben. Ansonsten, um es noch einmal zu sagen, handelt es sich bei den Meditationserfahrungen lediglich um isolierte Erfahrungen, die nicht viel Bedeutung haben.

Die Grundlage der buddhistischen Ethik

Im Buddhismus behandeln wir das Thema der destruktiven Handlungen anhand einer Liste von zehndestruktiven Handlungen. Der Begriff wird häufig als „die zehn nicht-tugendhaften Handlungen“ übersetzt. Der Ausdruck „nicht-tugendhaft“ entstammt einem urteilenden religiösen Hintergrund. Hier gibt es allerdings kein Urteil und keine Wertung. Die Erörterung des Themas Karma ist stark mit der Diskussion über das Thema Ethik verbunden. Es gibt viele verschiedene ethische Systeme auf der Welt. Das wichtigste ethische System im Westen besteht aus einer Kombination von biblischem und altgriechischem Denken. Beide Wertsysteme basieren auf einem gesetzlichen Gehorsam: Bei der biblischen Ethik steht der Gehorsam gegenüber dem himmlischen Gesetz Gottes im Vordergrund, im altgriechischem Denken steht das weltliche Gesetz im Vordergrund, das von einer gewählten Gruppe von Volksvertretern erlassen wurde. In beiden Fällen ist es eine Frage des Gehorsams, ob man als eine ethische Person eingeschätzt wird. Gehorsam führt zu Belohnung, Ungehorsam bedeutet Bestrafung. Die westliche Ethik ist sehr eng mit moralischen Urteilen verbunden – gut, schlecht, unschuldig, schuldig. Es bringt gleich ein ganzes emotionales Paket von Schuldgefühlen, Angst vor Bestrafung und so weiter mit sich.

Die buddhistische Sicht der Welt kennt kein Verurteilen, keinen Richter und keine Schuld. Ethik ist keine Sache von Gehorsam oder Gesetzen. Es gibt bestimmte Beziehungen zwischen verhaltensbedingten Ursachen und deren Wirkungen. Wenn du mit deinem Fuß an einen Stuhl stößt, dann wird dir das weh tun. Die Tatsache, dass es schmerzt, ist keine Bestrafung; der Schmerz impliziert kein ethisches Urteilen. Wir sind keine schlechten Menschen, wir sind auch nicht schuldig oder voll Sünde: Wir haben uns einfach den Fuß an einem Stuhl angestoßen und das tut weh. Ähnlich ist es, wenn wir unter dem Einfluss störender Emotionen handeln, weil wir dann Schwierigkeiten erleben werden. Wir erleben aber nicht deshalb Probleme, weil wir böse sind, sondern weil wir verwirrt sind. Wenn wir nicht unter dem Einfluss störender Emotionen handeln, werden wir keine solchen Schwierigkeiten erleben. Im Allgemeinen werden wir Glück erleben. Das Glück wird nicht anhaltend sein, aber die Dinge werden gut laufen. Ethik basiert also anstatt auf Gehorsam auf unterscheidendem Gewahrsein.

Wenn wir in bestimmter Weise handeln, werden wir anschließend entsprechende Wirkungen erfahren. Wir haben die Wahl. Wenn wir uns nicht um die Folgen unserer Handlungen scheren und destruktiv handeln wollen, gut! Wir haben diese Wahl. Natürlich werden wir dadurch anderen schaden, sodass auch das noch zu bedenken ist. Grundsätzlich ist es aber so, dass, wenn jemand destruktiv handelt, dann deshalb, weil er hinsichtlich der Ursachen und Wirkungen verwirrt ist, und nicht weil er schlecht ist. Es wird viel einfacher, Mitgefühl für destruktive Menschen zu entwickeln, wenn wir wissen, dass sie so verwirrt sind, dass sie nicht wissen, dass sie sich selbst durch ihr Verhalten Leid zufügen.

Für uns selbst bedeutet das, dass wir nicht am Gehorsam arbeiten müssen, sondern am unterscheidenden Gewahrsein – der Begriff „unterscheidendes Gewahrsein“ wird gewöhnlich als „ Weisheit“ übersetzt. Wir müssen deshalb an unserem unterscheidenden Gewahrsein arbeiten, um unterscheiden zu können, was konstruktiv ist und was destruktiv ist. Und weil wir keine Schwierigkeiten erleben möchten, unterlassen wir destruktive Handlungen. Wenn wir begreifen, dass wir verletzt werden können, wenn wir mitten auf einer stark befahrenen, gefährlichen Straße stehen, dann verstehen wir, dass wir die Wahrscheinlichkeit, verletzt zu werden, dadurch verringern können, dass wir uns nicht mitten auf die Straße stellen. Das führt zur Erörterung des Themas, wie wir ethische Disziplin entwickeln können und wie wir Interesse dafür entwickeln können, was uns widerfährt.

Die zehn destruktiven Handlungen

Auch wenn es diese Standardliste der zehn destruktiven Handlungen gibt, ist es wichtig im Sinn zu behalten, dass es in Wirklichkeit nicht nur zehn destruktive Handlungen gibt. Wir können eine Torte zwar in zehn Stücke teilen, aber wir können auch ein einzelnes Tortenstück in zehn Teile schneiden. Genauso teilen wir hier nur einen Teil unserer destruktiven Handlungen in zehn Teile. Es gibt ganz offensichtlich mehr als zehn Arten destruktiver Handlungen. Trotzdem glaube ich, dass es sehr wichtig ist, diese zehn destruktiven Handlungen als allgemeine Kategorien zu betrachten. Viele andere Handlungen lassen sich in diese zehn einordnen. Zum Beispiel: Anderen Lebewesen das Leben zu nehmen kann auch beinhalten, dass wir jemand anderem den Arm brechen. Wir müssen hier etwas flexibel sein. Ich bin sicher, Sie haben bereits Unterweisungen über diese zehn destruktiven Handlungen erhalten, dennoch wollen wir sie hier kurz abhandeln.

Die drei destruktiven physischen Handlungen

Die zehn allgemeinen Kategorien von destruktiven Handlungen basieren auf geistigen, verbalen und physischen Handlungen. Destruktive physische Handlungen beinhalten: 1) das Leben von anderen zu nehmen – also zu töten, 2) nehmen, was nicht gegeben wurde – also zu stehlen, und 3) abträgliches sexuelles Verhalten – also sexuelles Verhalten, das uns davon abhält unsere störenden Emotionen loszuwerden. Ebenso wie das Töten beinhalten kann, andere zu verletzen, kann das Nehmen, was nicht gegeben wurde, beinhalten, ein Ferngespräch von einem fremden Anschluss aus zu führen, ohne vorher gefragt zu haben. Es bedeutet, etwas zu benutzen, dass nicht für unseren Gebrauch bestimmt war.

All diese Handlungen werden von störenden Emotionen begleitet. Wenn wir beispielsweise jemanden verletzen oder töten möchten, weil wir wütend sind oder weil wir jemanden nicht mögen. Oder wir sind gierig: Wir möchten schneller an unser Erbe kommen. Oder wir sind naiv: Wir opfern jemanden dem Sonnengott, sodass unser Getreide besser wächst. Es ist naiv zu glauben, dass wir uns etwas nehmen könnten, was jemand anderem gehört, und dass es diesem Menschen nichts ausmachen wird.

Abträgliches sexuelles Verhalten ist sexuelle Aktivität, die unserem Bemühen entgegengesetzt ist, uns von störenden Emotionen zu befreien. Gewöhnlicherweise handelt es sich dabei um Emotionen wie sehnsüchtiges Verlangen, Begierde oder Anhaftung. Wir sind nicht mit unserem Partner zufrieden, sodass wir auch noch den Partner eines anderen haben wollen. Wir sind nicht mit der sexuellen Stellung zufrieden, die wir gewöhnlich einnehmen und versuchen dann unser Sexualleben mit sexueller Akrobatik aufzupeppen. Unser sexuelles Verhalten kann auch auf Ärger basieren, wie es bei Vergewaltigungen von Frauen und Töchter unserer Feinde der Fall ist. Ein Beispiel für Naivität ist zu glauben, dass es nichts ausmachen würde, wenn wir unseren Partner zum Sex drängen, obwohl er gerade keinen Sex haben möchte. Es gibt auch die Naivität, mit der wir glauben, dass Sex ein Weg zur Befreiung ist. Das klingt lustig, aber es ist nicht so abwegig, dass wir so denken. Wir können uns selbst untersuchen: Haben wir nicht die Vorstellung, dass unser Sexualleben eine gesunde und gute Sache ist, und dass Sex dauerhaftes Glück hervorbringen wird? Es gibt westliche Glaubenssysteme, die davon ausgehen, dass alle unsere Probleme aus sexueller Frustration heraus entstehen, und dass wir lediglich nach dem perfekten Orgasmus suchen müssten, um alle Probleme zu lösen. Es ist auch naiv zu denken, dass wir uns, wenn wir älter werden, genauso verhalten müssten wie früher. Im Gegenteil: Ein solches sexuelles Verhalten erzeugt immer mehr Probleme und Unzufriedenheit.

Die vier destruktiven verbalen Handlungen

Dann gibt es noch die destruktiven verbalen Handlungen. Verbal bedeutet hier Kommunikation. Kommunikation ist allerdings nicht zwangsläufig an Worte gebunden. Wir können mit Worten, mit Gesten oder sogar durch Schweigen lügen. Die gravierendste Lüge ist sicherlich, wenn wir bezüglich unserer eigenen spirituellen Erfahrungen lügen. Andere in die Irre zu führen ist eine sehr gravierende destruktive Handlung – und das gilt insbesondere dann, wenn man ein spiritueller Lehrer ist. Man sagt beispielsweise: „Ich hatte diese und jene besondere Meditationserfahrung“ uns so weiter. Übertreiben ist auch eine Form der Lüge. Es ist sehr wichtig, insbesondere in Bezug darauf absolut ehrlich zu sein, was wir erreicht haben und auch in Bezug auf die Erfahrungen, die wir gemacht haben. Wir lügen vielleicht aus Anhaftung heraus, weil wir möchten, dass die Menschen uns respektieren. Oder wir lügen aus Naivität: Wir glauben vielleicht, dass wir kleine Notlügen oder Übertreibungen von uns geben könnten, und dass dies nichts ausmachen würde.

Dann gibt es die Uneinigkeit schaffende, entzweiende Sprache, die dazu führt, dass Freunde sich entzweien, voneinander trennen oder sich noch weiter voneinander entfernen. Es ist eine gute Übung zu versuchen, sich selbst darin zu üben, nicht über eine andere Person zu sprechen, solange sie nicht anwesend ist. Oftmals, wenn wir Dinge über andere Personen erzählen, schleicht sich Übertreibung in unsere Erzählung ein, und das führt zu einer Entzweiung, auch wenn wir das nicht beabsichtigt haben. Wir können vielleicht etwas Entzweiendes sagen, wenn unser Kind mit Drogendealern in Kontakt gekommen ist, aber wir müssen dabei aufpassen, dass keine störenden Emotionen hinter unseren Worten stecken. Wenn Menschen schlechte Dinge über andere sagen, um sie zu vertreiben, dann denken wir vielleicht, dass die anderen schrecklich sind, aber das ist urteilend, wertend. Wir sprechen hier jedoch nicht über das Urteilen. Vielmehr erkennen wir, dass diese Person die karmischen Konsequenzen dessen, was sie sagt, nicht versteht. Außerdem ist es auch so, wenn jemand immer darüber spricht, wie schrecklich andere Menschen sind, gehen wir dann nicht automatisch davon aus, dass diese Person hinter unserem Rücken auch schlecht über uns spricht? Wenn wir versuchen andere Menschen zu vertreiben oder auseinander zu dividieren, indem wir schlecht über sie reden, dann hat das zur Folge, dass wir selbst verlassen werden. Das ist sehr traurig. Wenn wir eine Uneinigkeit und Entzweiung stiftende Geschichte über jemanden weitererzählen, die wir woanders gehört haben, dann treibt das weitere Blüten, und macht das Weitererzählen auch für uns zu einer negativen Handlung. Am besten lässt man so etwas einfach sein. Wir können uns zwar überlegen, dass es traurig ist, wenn diese Person so spricht. Es gibt aber keinen Grund das zu wiederholen und die Geschichte weiterzuerzählen.

Dann gibt es noch den Gebrauch von rohen und gemeinen Worten. Das bedeutet, dass man Dinge sagt, die von störenden Emotionen begleitet sind, und dass man Dinge sagt, die die Gefühle von anderen Menschen verletzen. Dazu gehört beispielsweise, dass man jemanden anschreit, ihn beschimpft oder anpöbelt. Auch Süßholzraspeln gehört zu diesen Dingen. Und auch Sarkasmus schmerzt. Wir müssen sehr vorsichtig damit sein, was wir sagen, wie wir kommunizieren und so weiter. In diese Kategorie gehört zum Beispiel, dass wir keine beleidigenden Gesten oder Handzeichen gegenüber jemandem machen, der im nächsten Auto sitzt.

Dann gibt es noch nutzloses Geschwätz. Sinnloses Geschwätz kann sehr subtil sein. Wir tendieren dazu, es nicht besonders ernst zu nehmen, aber es ist wirklich sehr destruktiv. Einerseits stört es andere, wie etwa die vielen Telefonanrufe, die wir tätigen, nur um über irgendeine unwichtige Sache zu sprechen. Es beinhaltet auch, dass wir Geschichten oder Anekdoten häufiger wiederholen. Es gibt keinen Grund dafür. Das Wiederholen von Anekdoten ist eine unglaubliche Zeitverschwendung. Wir könnten genauso gut die ganze Zeit den Fernseher oder das Radio laufen lassen, und damit alle anderen um uns herum nerven. Wir müssen sehr darauf achten, wie wir mit anderen kommunizieren.

Die drei destruktiven geistigen Handlungen

Dann gibt es die destruktive Art des Denkens. An dieser Stelle ist es wichtig, dass wir hier nicht von störenden Emotionen sprechen. Genauso wie Karma und störende Emotionen verschieden voneinander sind, so sind auch karmische Handlungen und störende Emotionen etwas Unterschiedliches. Es gibt nichts, was beides wäre, ein karmischer Drang und eine störende Emotion. Was wir hier in dieser Liste beschreiben, sind Handlungen, Denkweisen, die – wie der karmische Antrieb, der sie hervorbringt – von störenden Emotionen begleitet sind.

Die erste destruktive geistige Handlung ist das begehrende Denken. Wenn jemand anderes ein neues Auto bekommt, dann möchten wir auch so ein schönes neues Auto haben oder sogar ein noch besseres. Und dann denken wir dauernd darüber nach, wie wir so ein tolles Auto bekommen könnten. Mit dem begehrenden Denken gehen viele störende Emotionen einher – Gier, Neid und diese Dinge. Die destruktive Handlung ist, darüber nachzudenken.

Dann gibt es da noch boshaftes Denken. Damit ist nicht nur gemeint, dass wir uns wünschen, jemand sei krank. Es handelt sich um ganze Gedankenketten: Wir sinnen auf einen Ausgleich und möchten jemanden verletzen oder Leid zufügen. Diese geistigen Handlungen können in Besessenheit ausarten. Sie zehren uns auf. Wir können sie nicht aus dem Kopf bekommen. Es gibt so viele subtile Ebenen davon.

Die letzte destruktive geistige Handlung, also die zehnte allgemeine Kategorie von destruktiven Handlungen bedeutet, dass wir mit einer verzerrten, feindseligen Geisteshaltung denken. Das wird manchmal als „falsche Ansicht“ oder „Sichtweise“ übersetzt, was auch „Ketzerei“ bzw. „Irrlehre“ beinhaltet. Das sind natürlich unpassende Übersetzungen. Wir sprechen hier nicht einmal von einer verdrehten Geisteshaltung. Wir sprechen hier über die ganze Art und Weise zu denken, die von einer verzerrten, feindseligen Geisteshaltung begleitet ist. Mit dieser Geisteshaltung verleugnen wir das, was wahr ist, was konstruktiv ist oder was ethisch neutral ist, und sind einer Sache gegenüber sehr feindselig eingestellt. Es ist ein Denken in etwa in diesem Stil: „Sie glauben an Wiedergeburt? Das ist totaler Müll! Jeder, der das glaubt, ist ein Idiot! Das werde ich denen auch sagen.” Das Denken muss nicht philosophisch ausgerichtet sein. Wir haben vielleicht eine verzerrte, feindselige Geisteshaltung gegenüber einem guten Freund, der gerade fernsieht, oder wir hegen eine feindselige Haltung in Bezug auf jemanden, der Kunstgeschichte studiert oder in Bezug auf jemanden, der in ein Dhama-Zentrum geht, in dem Dinge anders gemacht werden als in dem Zentrum in das wir gehen. Wir fahren selbst dann fort damit, negativ über Dinge zu denken, wenn diese Dinge neutral oder konstruktiv sind.

Mit einer verzerrten, feindseligen Geisteshaltung zu denken bedeutet nicht nur, die Drei Juwelen zu verleugnen. Wie häufig tun wir das? Nicht allzu oft. Eine Sache, die in diese Kategorie fällt, die uns allerdings sehr schnell passiert, ist, dass wir andere beurteilen. Das ist eigentlich eine sehr allgemein verbreitete destruktive Handlung. Wir sehen etwas, das wir nicht mögen, und versteifen uns darauf, es in unserem Geist zu kritisieren. Es gibt zwei allgemeine Kategorien von konstruktiven Handlungen. Eine Kategorie ist, einfach das destruktive Handeln zu unterlassen, weil wir begreifen, dass aus diesen destruktiven Handlungen heraus Probleme entstehen. Sich vorzunehmen etwas zu unterlassen bedeutet nicht einfach nur, dass wir sagen: „Ich gehe nicht mehr zur Jagd; ich fange keine Fische und erschieße keine Menschen.“ Es ist jedoch recht häufig der Fall, dass eine Mücke um unseren Kopf herumschwirrt und in uns der Drang entsteht, die Mücken einfach tot zu schlagen. Dann entscheiden wir uns bewusst dafür, die Mücke nicht zu töten, weil wir erkennen, dass dies destruktiv wäre. Wenn wir alle Lebewesen umbringen würden, die uns ärgern, wo würden wir da hinkommen? Eine andere Stufe konstruktiven Handelns ist, wenn wir das Gegenteil der entsprechenden destruktiven Handlung zu tun. Ein Beispiel dafür wäre, das Leben der Mücke zu retten, sie in einer Tasse einzufangen und sie dann ins Freie hinauszutragen, statt sie zu töten.

Das Verständnis für die Notwendigkeit der Allwissenheit erlangen

Wenn wir darüber sprechen, wie man nach solider Existenz greift, dann sprechen wir zu allererst davon, dass wir einen sehr eingeschränkten Bereich der Realität wahrnehmen. Unser begrenzter Geist vermittelt uns den Eindruck, als ob das, was wir sehen, eine solide, unabhängige Existenz hätte, die von allem andern getrennt ist. Es erscheint uns nicht nur so, es fühlt sich auch so an. Wenn ich mir die Person anschaue, die hier direkt vor mir im Raum sitzt, dann erscheint es mir so und fühlt sich auch so an, als säße da eine junge mexikanische Frau vor mir. Die Wahrnehmung vermittelt mir nicht den Eindruck, als sei die Erscheinung der jungen Frau vor mir lediglich eine kurze Momentaufnahme aus einer langen, kontinuierlichen Zeitlinie von der Kindheit bis ins hohe Alter. Und die junge Frau vor mir erscheint mir sicher auch nicht als ein Geisteskontinuum, das in diesem speziellen Augenblick einen weiblichen mexikanischen Körper hervorbringt und sich in einem vorherigen Leben als eine Mücke manifestierte, und davor als ein afrikanischer Mann oder ein Geist. Ich habe lediglich eine eng begrenzte Periskop-Wahrnehmung. Das ist es, was wir jeden einzelnen Augenblick unserer Existenz wahrnehmen – einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit. Es fühlt sich an, dass das, was wir von der anderen Person wahrnehmen, alles sei, was diese Person ausmachen würde.

Und es erscheint uns nicht nur so und fühlt sich nicht nur so an, sondern wir gehen noch einen Schritt weiter und glauben, das dies die Realität sei. Das Greifen nach solider Existenz beinhaltet auch diesen zweiten Schritt. Der Begriff „Greifen“ ist nicht sehr präzise. Es ist etwas zu stark ausgedrückt. Wir denken so und glauben es. Es gibt zwei Gruppen von ständigen Gewohnheiten. Eine ist die karmische ständige Gewohnheit, welche die Ursache für die Periskop-Wahrnehmung ist. Die andere ständige Gewohnheit ist die der Verwirrung, die in jedem Augenblick die Erscheinung erzeugt, dass das, was wir durch das Periskop sehen, nämlich die Erscheinung einer soliden Existenz, alles ist, was es gibt. Wir können erkennen, dass diese beiden Arten von ständigen Gewohnheiten immer zusammenarbeiten. Sie sind bekannt als die Hindernisse, die der Allwissenheit im Weg stehen, und nur als Buddha werden wir diese beiden los. Das Karma selbst und die störenden Emotionen, die davon herrühren, dass wir glauben, was wir sehen, verhindern die Befreiung. Sie halten das Auf und Ab am Laufen. Wir werden also dieses Auf und Ab durch die Befreiung los. Und dann lassen wir mit der Erleuchtung auch die eingeschränkte Periskop-Wahrnehmung hinter uns. Wenn wir uns erst einmal davon befreit haben zu glauben, dass das, was wir durch das Periskop sehen, alles ist, was es gibt, dann müssen wir uns davon befreien, dass diese Wahrnehmung immer wieder erscheint, und es muss sich für uns auch so anfühlen, dass es diese begrenzte Periskop-Wahrnehmung nicht mehr gibt.

Tsongkhapa hob hervor, dass der Prozess des Denkens und Glaubens an solide Existenz jeden einzelnen Moment vorhanden ist, und nicht nur wenn wir emotional aufgebracht sind. Er drückte es so aus: Das Objekt der Widerlegung ist jeden Moment unseres Denkens vorhanden, nicht nur in unseren verrückten Momenten der Wahrnehmung. Das passiert auch nicht nur während wir die Dinge konzeptuell wahrnehmen. Das bedeutet, dass wir damit anfangen müssen, jeden einzelnen Moment des Denkens in Frage zu stellen. Das ist ein sehr tiefgründiger Punkt. Wenn wir uns im Zimmer umschauen, was sehen wir dann? Alles, was wir sehen, ist falsch, unrichtig, unwahr. Auf einer bestimmten Stufe kann man natürlich sagen, dass es stimmt, dass hier all diese Menschen anwesend sind. Aber jede Person ist ein Geisteskontinuum, welches mit jedem anderen Geisteskontinuum in Beziehung steht und zwar seit anfangsloser Zeit. Es ist unglaublich. Wir sehen das nicht so, nicht wahr? Wir fassen die Welt nicht in dieser Weise auf. Auch wenn wir nicht an Wiedergeburt denken, sondern an die Vorfahren jeder einzelnen Person, auch dann ist es unglaublich. Wir begreifen die Welt nicht in dieser Weise, und es fühlt sich auch nicht so an, als ob die Wirklichkeit so wäre, aber das ist es, was wir vor uns haben. Ein Buddha ist sich all dessen bewusst. Wir können anfangen zu erahnen, was Allwissenheit bedeutet. Wenn wir anderen wirklich helfen wollen, dann müssen wir all diese Beziehungen und Verbindungen usw. erkennen.

Wenn wir beginnen, ein stimmigeres Bild von einem allwissenden Geist zu entwickeln, und wenn wir anfangen, es wirklich wertzuschätzen, wie wichtig es ist, Allwissenheit zu erlangen, um dadurch wirklich allen Lebewesen helfen zu können, dann wird unser Ziel, Erleuchtung zu erlangen, viel bedeutungsvoller. Unsere Zuflucht und unsere sichere Ausrichtung im Leben werden dadurch viel stärker werden. Sie werden unerschütterlich. Wenn wir keine klare Vorstellung davon haben, was es bedeutet, ein Buddha zu sein, dann ist es sehr oberflächlich, wenn wir sagen, dass wir die Erleuchtung erlangen wollen. Deshalb ist es äußerst wichtig, die Qualitäten der Drei Juwelen im Detail zu studieren und sie nicht nur als eine Liste der 32 Punkten von diesem und 80 Aspekten von jenem zu sehen. Es ist vielmehr sehr wichtig, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was die Drei Juwelen wirklich bedeuten. Wenn wir glauben, dass die Erleuchtung lediglich ein Mythos oder eine Art von Märchen ist, dann ist es schwer, die tatsächliche Notwendigkeit zu erkennen, Erleuchtung zum Wohle aller Wesen erlangen zu müssen – was ein integraler Bestandteil von Bodhichitta ist. Natürlich gibt es traditionelle Erzählungen, bei denen die Qualitäten eines Buddha so dargestellt werden, wie wenn man einem Kind eine Geschichte erzählt, aber geben Sie sich bitte nicht mit dieser Ebene zufrieden. Es gibt viel tiefgründigere Ebenen der Erklärung.

Die Grundlage für alle Dharma-Praktiken ist eine starke Zuflucht, d. h. eine äußerst sichere Ausrichtung, die wir unserem eigenen Leben geben. Bitte schätzen sie das nicht zu gering ein! Es braucht dafür eine klare Vorstellung, was wir anstreben, was unser Ziel ist, und welches die Richtung ist, in die wir gehen wollen. Je klarer uns das Ziel und die Ausrichtung sind, desto wirkungsvoller wird unsere Dharma-Praxis.

Wenn wir die Klarheit bezüglich unseres Zieles mit dem Verständnis dessen, was die Buddha-Natur ist, vereinen, denn bekommen wir ein einheitliches, klares Verständnis und gewinnen die Überzeugung, dass es möglich ist, Erleuchtung zum Wohle anderer zu erreichen. Wenn wir glauben, dass es nicht möglich sei, oder wenn wir Zweifel haben, wie können wir dann ein so hohes Ziel erreichen wollen? Was wäre dann der Punkt? Wenn es sich lediglich um ein Märchen handelt, dass man ein Buddha werden kann, dann wäre unsere Praxis ein Witz. Der Buddhismus würde dann darauf reduziert werden, dass wir einfach nur „ein netter Mensch“ werden, was jede Religion lehrt.

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