Die Bedeutung von Karma
In den verschiedenen indisch-buddhistischen Lehrsystemen existieren viele verschiedene Beschreibungen von Karma. Lassen Sie uns hier die am wenigsten komplizierte Erklärung verwenden, nämlich die Erklärung der tibetischen Nicht-Gelug-Traditionen. Wir finden diese Erklärung auch innerhalb der Gelug-Tradition, und zwar in den Ausführungen der Gelug-Tradition zu allen indisch-buddhistischen Lehrsysteme mit Ausnahme der Prasangika-Schule und der Vaibhashika-Schule. Den einfacheren Erklärungen entsprechend ist Karma wörtlich übersetzt ein geistiger Drang, der uns in die Richtung einer Handlung oder Erfahrung bringt (oder treibt). Karma meint in diesen Systemen also nicht die Handlung selbst. Karma ist demnach der Drang oder Antrieb, der uns dazu bringt, in bestimmter Weise zu handeln. Wenn wir den Drang verspüren, zum Kühlschrank zu gehen, dann ist das eigentliche Karma nicht, dass wir zum Kühlschrank gehen, sondern dass wir einen Drang danach haben, etwas zu essen zu suchen. Karma kann der Drang sein, konstruktiv oder destruktiv zu handeln.
Das ist natürlich ein sehr komplexer Vorgang, aber im folgenden möchte ich sehr vereinfacht erläutern, was passiert: In jedem Augenblick unseres Lebens betrachten wir die Welt wie durch ein Periskop, wie durch das Sehrohr eines U-Bootes. Wir nehmen die Welt also in etwa so wahr, als würden wir in einem Unterseeboot sitzen und durch den kleinen Sucher des Periskop bzw. Sehrohrs schauen, wobei wir nur einen kleinen Ausschnitt davon sehen, was alles auf dem Meer draußen passiert. Wir sehen nur das, was direkt vor unseren Augen passiert. Wir sind „begrenzte Wesen“. Der Begriff „fühlendes Wesen“ (im Englischen „sentient beings“) gibt die ursprüngliche Bedeutung nur sehr eingeschränkt wieder. Der ursprüngliche Ausdruck bedeutet, dass wir eine begrenztes Gewahrsein haben, weil wir beschränkte Körper haben. Wir sind nicht auf dem neusten Stand der Technik; wir haben noch nicht die höchste Entwicklungsstufe erreicht. Unsere Hardware ist unzureichend. Buddhas haben auf der anderen Seite ein allumfassendes Gewahrsein und sind hypermodern ausgestattet – auf dem neusten Stand der Technik. Sie haben Lichtkörper, die alles wahrnehmen. Wir erkennen die Welt durch unsere Augen, Ohren, die Nase usw., und wir haben eine Gehirnstruktur, die uns nur einen Tunnelblick erlaubt. Diese Beschränkungen von Körper und Bewusstheit bezeichnet man als Samsara. Es ist nicht unsere Schuld, dass wir so beschränkt sind. Es ist eben einfach so, dass wir uns in diesem schrecklichen und sehr begrenzten Seinszustand befinden. Das ist ein sehr grundlegender Punkt: Die tiefere Bedeutung des alles-durchdringenden und alles-umfassenden Problems ist, dass wir immer wieder mit einem beschränkten Geist und beschränkten Körpern wiedergeboren werden, die wiederum als Grundlage für das karmische Bingo-Spiel und das Leiden am Auf-und-Ab des samsarischen Lebens fungieren.
Es spielt keine Rolle, wie schön unser Unterseeboot ist, wir blicken nach wie vor durch ein Periskop mit einem sehr eingeschränkten Sichtfeld. Es spielt keine Rolle, wie schön unser Körper ist. Wir sind immer noch „beschränkt“. Diese Überlegungen können uns helfen, Entsagung zu entwickeln – also eine starke Abneigung dagegen, in einem Unterseeboot mit diesem Periskop-Blick gefangen zu sein. Aber bitte beachten sie: Diese Analogie soll uns nicht in die Irre führen und die falsche Vorstellung vermitteln, dass es ein solides „Ich“ außerhalb unseres Körpers und Geistes gäbe. Es ist nur eine Analogie, die uns dabei helfen kann, das allumfassende Problem von Samsara zu verstehen. Diese ganze Situation ist irrwitzig: Sich nur darum zu kümmern, dass wir einen schönen Körper haben, ist so trivial! Auch wenn es toll ist, einen schönen Körper zu haben, wird uns das nirgendwo hinbringen. Wenn man seine Haare toll gestylt hat, seine Muskeln gut trainiert hat, und wenn man sich Make-up im Gesicht aufgetragen hat usw., ändert das nichts an der Tatsache, dass wir beschränkte Wesen sind.
Als Ergebnis dieses Periskop-Blickes, entsteht die Wahrnehmung, dass wir im Inneren unseres Körpers und Bewusstseins ein solides „Ich“ haben, und dass die anderen Menschen da draußen ein solides „Du“ haben. Warum ist das so? Weil diese beschränkte Hardware auf der Basis eines konzeptionellen Systems arbeitet. Ein Buddha hat kein solches System. Der Geist eines Buddhas ist gänzlich nicht-konzeptionell. Computer stellen die Welt als Zahlen dar, nämlich in Kombinationen von „null“ und „eins“, „an“ und „aus“. Kombinationen aus diesen Basisziffern werden dann als Zahlen und Buchstaben auf dem Monitor dargestellt usw. Die Schrift auf dem Monitor ist nicht die tatsächliche Welt; die Monitorschrift ist lediglich eine Repräsentation bzw. Stellvertretung der Welt. Das ist konzeptionelles Denken. Wir erleben eine virtuelle Welt als Stimme in unserem Kopf, die zu uns in Worten spricht: „Oh mein Gott, was soll ich jetzt tun? Es ist so heiß draußen, blah, blah, blah.“ Das ist das System, das bei fühlenden Wesen läuft.
Weil diese Stimme in unserm Kopf plappert, glauben wir, dass es ein solides „Ich“ dort drinnen gibt. Das ist unheimlich, nicht wahr? Nicht, dass wir nur so denken, es fühlt sich auch so an, als wären die Dinge wirklich so. Dieser ignorante Glaube, diese irrige Vorstellung wie die Welt ist, ist das, was den Startknopf für das karmische Bingo-Spiel drückt – und nicht das unmögliche „Ich“, das denkt, es würde existieren. Das führt dann zum Heranreifen von Karma.
Karmisches Bingo ist ein vieldimensionales Spiel. Die Gefühle von Glücklichsein, Unglücklichsein und Neutralität sind eine Art von Ping-Pong-Bällen. Eine weitere Art von hochschießendem Ping-Pong-Ball, ist das Gefühl, dass wir etwas bestimmtes tun wollen. Auf diesem Gefühl basierend entsteht ein Impuls, und dieser Impuls ist das nächste Karma. Aufgrund unserer Verwirrung tun wir immer das, was wir tun möchten. Das passiert so schnell, dass wir uns dessen noch nicht einmal bewusst sind. Wir glauben: „Selbstverständlich kann ich tun, was ich tun möchte. Das ist ganz normal, dass das so ist.“ Wir haben das Gefühl, etwas bestimmtes tun zu wollen, und dieses Gefühl ist uns oft schon beinahe heilig. Dann geben wir dem Impuls nach. Tatsächlich ist es so, dass die Handlung bzw. auch das Denken, etwas tun zu wollen, einen weiteren Ping-Pong-Ball ins Spiel bringt.
Woher stammt dieser Prozess? Nicht vom Teufel oder von Dämonen. Der Vorgang kommt dadurch zustande, dass wir die Welt mit diesem beschränkten Körper und diesem beschränkten Bewusstsein wahrnehmen. Wir sehen alles durch ein Periskop. Es gibt diese alberne Stimme in unserem Kopf und sie vermittelt uns den Eindruck, dass es ein solides „Ich“ und ein solides „Du“ gibt. Sehr langweilig. Sehr dumm.
Wenn wir sterben, und wir uns dann gewissermaßen außerhalb des Unterseeboots befinden, dann fühlen wir uns, als würden wir im Ozean von Visionen des klaren Lichts und in anderen Visionen, die uns erscheinen, ertrinken. Wir können mit den auftretenden Visionen nicht umgehen. Wir geraten in Panik. Und der Impuls kommt auf, nach dem nächsten Unterseeboot zu greifen. Das ist Wiedergeburt. Wir möchten dann gerne in ein enges, fest umgrenztes U-Boot zurückkehren. Wir drücken einen weiteren Knopf und ein weiterer Ping-Pong-Ball springt in Form eines weiteren beschränkten Körpers aus dem Automaten heraus. Wir handeln aus der Verwirrung heraus. Diese Verwirrung ist kein Fluch Gottes. Diese Verwirrung wurde uns auch nicht von irgendjemandem als eine Lebensaufgabe gestellt oder als eine Herausforderung mit auf unseren Weg mitgegeben, um zu sehen, ob wir aus dem Spiel herausfinden. Die Verwirrung existiert da nicht irgendwo inhärent – wie etwa die Ursünde existiert, weil wir böse waren oder weil Adam es vermasselt hat. Die Verwirrung ist nicht Teil unserer angeborenen Natur, auch wenn sie seit anfangslosen Zeiten existiert. Die Verwirrung ist etwas, was beseitigt werden kann. Das ist die grundlegende Tatsache, die wir begreifen müssen.
So furchteinflößend die wechselseitig verbundene vieldimensionale Wirklichkeit auch sein mag, wir können mit ihr umgehen. Es gibt eine Möglichkeit aus Samsara herauszukommen. Wenn wir die Verwirrung beseitigt haben, sind wir nicht nur das Leiden endgültig los, sondern wir werden dadurch in die Lage versetzt, anderen so gut als möglich zu helfen. Wir können nicht anderen Lebewesen helfen, die in ihren eignen Unterseebooten sitzen, wenn wir auch in einem U-Boot sitzen. Wenn wir aus dem U-Boot raus sind, und wenn wir mit dem ganzen Ozean gut zurechtkommen, dann können wir anderen viel besser helfen. Das ist die Lösung: Beende das Spiel „karmisches Bingo“ und verlasse das U-Boot. Lassen Sie uns darüber einen Moment lang nachdenken.
Wir befinden uns alle in Unterseebooten, schauen durch das Sehrohr des U-Boots, durch das Periskop, und haben dabei ständig ein sehr eingeschränktes Blickfeld. Zudem hören wir auch ständig all die Geräusche, der über die Lautsprecher zu uns ins U-Boot hereinkommt. Deshalb versuchen wir, wenn wir sterben, alle ein neues Unterseeboot zu bekommen, weil wir glauben, dass uns das glücklich machen wird. Und niemand von uns weiß, was als nächstes passieren wird. Wenn wir sterben, werden wir aus unserer Panik heraus einfach in ein anderes Unterseeboot springen. Alle Lebewesen tun das. Das ist ein erbärmlicher Zustand. Das ist die Schreckensvision der samsarischen Existenz, wie wir sie in einem sehr vereinfachenden Bild darstellen können.