Teilnahme an einer Kalachakra-Initiation für den Weltfrieden

Wir haben hier in Graz im nächsten Jahr die wunderbare Möglichkeit die Kalachakra-Initiation für den Weltfrieden von Seiner Heiligkeit dem 14. Dalai Lama zu erhalten. Es ist von großer Bedeutung diese Ermächtigung zu erhalten, insbesondere in Bezug darauf, den Weltfrieden zu fördern. Damit wir diese Gelegenheit sinnvoll nutzen können und damit wir soviel wie möglich von dieser Erfahrung profitieren können, ist es hilfreich, etwas über den Hintergrund von Kalachakra und die Ermächtigung zum Ausüben seiner speziellen Meditationspraktiken in Erfahrung zu bringen.

Äußere, innere und alternative Zeitzyklen

Kalachakra ist ein Sanskritwort und bedeutet „Zeitzyklen”. Hier werden wir drei Zyklen erörtern: den äußeren, den inneren und den alternativen Zyklus.

Auf der äußeren Stufe bewegt sich das Universum durch Zyklen. Zeit ist nach der buddhistischen Definition letztendlich ein Maß für Veränderung. Wir können die Zeit z. B. anhand der Bewegung der Planeten messen oder auch mithilfe von astrologischen Zyklen oder geschichtlichen Zeitabläufen. Das sind alles äußere Zyklen.

Es gibt auch innere Zyklen, mit deren Hilfe wir die Zeit messen können. Auf einer allgemeinen Ebene gibt es die Zyklen von Geburt, Alter, Tod und Wiedergeburt. Wenn wir nicht gerade sehr jung sterben, dann erstreckt sich jeder Lebenszyklus über die Phasen von Kindheit, Erreichen des Erwachsenenalters, Altern und Sterben. Wir nehmen auch Atemzyklen in unserem Körper wahr. Wir können die Länge eines Tages anhand der Atemzüge messen oder auch durch die Bewegung der Sonne. In unserem Inneren gibt es zudem Abfolgen unterschiedlicher Stimmungen, die wir durchlaufen.

All diese Zyklen, die inneren und äußeren, finden unter dem Einfluss von Karma statt. Karma bedeutet im Buddhismus „Energieimpuls“ oder „Drang“. Energieimpulse beeinflussen äußere Vorgänge, d. h. nicht nur die Bewegung der Planeten, sondern auch die Entwicklung der Geschichte und der Gesellschaft. In unserem Inneren beeinflussen die Energieimpulse unsere Stimmungen und unsere Handlungen. Im Westen sprechen wir von „historischen Einflussfaktoren“, „wirtschaftlichen Kräften“, „sozialen Kräften“, „psychische Einflussfaktoren“ und so weiter. Bei all diesen Faktoren handelt es sich um karmische Kräfte, sofern wir sie aus der buddhistischen Perspektive beschreiben. Sogar die Erfahrung, dass wir krank werden und uns dann wieder von der Krankheit erholen, kommt dadurch zustande, dass es Veränderungen auf der Ebene der Energieimpulse gibt.

Normalerweise erleben wir die Energieimpulse in einer uns überwältigenden, zwingenden Art und Weise. Wir agieren diese Impulse dann zwanghaft aus, dass heißt wir folgen einem inneren Drang und handeln impulsiv. Denken Sie etwa an das Beispiel, dass wir auf eine bestimmte Situation mit einer Depression reagieren. Oder denken Sie an den zwanghaften Impuls des Körpers zu altern. Wir haben über solche Prozesse sehr wenig Kontrolle. Unsere Stimmung verändert sich ständig. Viele von uns werden durch die Veränderungen der Jahreszeiten beeinflusst: Die Tage werden kürzer, es wird kälter. Viele Menschen fühlen sich dann depressiv, ohne das sie diese Gefühle kontrollieren können. Viele Frauen erleben zudem während ihres Menstruationszyklus nicht kontrollierbare Veränderungen in ihrer Stimmung. Dadurch, dass wir unter dem Einfluss äußerer und innerer Zyklen stehen, erleben wir unzählige Schwierigkeiten.

Der alternative Kalachakra-Zyklus bezieht sich auf ein System von Praktiken, die uns dabei helfen, die Zwangsläufigkeit zu überwinden, von diesen äußeren und inneren Zyklen kontrolliert zu werden. Es handelt sich um eine äußerst komplexe Praxis. Das Kalachakra-Tantra ist eines der komplexesten Systeme, welches der Buddha gelehrt hat. Es ist primär deshalb so komplex, weil das Leben selbst so komplex ist. Es gibt verschiedene Aspekte der Praxis, um mit diesen verschiedenen Aspekten des Lebens umzugehen – sowohl auf der äußeren als auch auf der inneren Ebene.

Die parallele Struktur der drei Zeitzyklen

Der äußere und innere Zyklus laufen parallel zueinander. Wir finden diese Parallele zwischen dem Mikro- und dem Makrokosmos in vielen Denksystemen. Im Kalachakra wird diese Parallelität besonders betont. Die alternativen Zyklen sind auf die gleiche Weise, wie die äußeren und inneren Zyklen strukturiert, um uns in dieser Weise spezielle Methoden zur Verfügung zu stellen, die es uns ermöglichen, die äußeren und inneren Kräfte zu überwinden.

Stellen Sie sich zum Beispiel vor, dass ein Zug entlang einer Reihe von komplex miteinander verwobenen Schienensträngen außer Kontrolle gerät, und wir möchten diesen Zug nun anhalten. Wir müssten dem Zug also ebenfalls genau entlang dieses komplexen Schienenverlaufs folgen, um dann auf den fahrenden Zug aufzuspringen und ihn zum Stillstand zu bringen. Genauso verhält sich in Bezug auf die Kalachakra-Meditationspraxis. Die Meditationspraxis läuft parallel zu den äußeren und inneren Zyklen, denen wir unterworfen sind; und die Praxis folgt diesen Zyklen in all ihrer Komplexität.

Eine kurzer geschichtlicher Abriss

Der Tradition nach hat der Buddha das Kalachakra-Tantra selbst gelehrt. Ganz weit vorne in der Zuhörerschaft befand sich damals der König Suchandra, ein König des nördlichen Reiches von Shambhala. Wir werden über Shambhala etwas später noch zu sprechen kommen. Der König kam einst mit 96 seiner Anführer aus der Ferne angereist, um die Lehren des Buddha zu hören. Er brachte diese Lehren dann in sein Land zurück und schrieb sie nieder. Den Text, den er damals niedergeschrieben hat, wird als das Karachakra-Wurzel-Tantra bezeichnet.

Sieben Generationen von Herrschern später, gelangte ein weiterer großer Anführer, der Manjushri Yashas genannt wurde, in Shambhala an die Macht. Er lebte in sehr schwierigen Zeiten, da Invasoren sein Land bedrohten. Er verkürzte den Tantra-Text, den seine Vorfahren zusammengestellt hatten, weil dieses Tantra für die Menschen sonst viel zu umfangreich gewesen wäre. Das gekürzte Kalachakra-Tantra war viel einfacher zu verstehen. Sein Sohn Pundarika schrieb einen Kommentar zur Arbeit seines Vaters. Den Text nannte er Das makellose Licht. Dadurch wurde der tantrische Text noch leichter verständlich – auch wenn er für die meisten Menschen noch immer nicht leicht zu verstehen ist! Lediglich diese beiden letzten Texte haben bis zum heutigen Tag überdauert – also nur Fragmente des gesamten Kalachakra- Wurzel-Tantra.

Die Kalachakra-Lehren überdauerten die Zeit in Shambhala und gelangten schließlich im zehnten Jahrhundert nach Indien, was eigentlich ziemlich spät für das Erscheinen eines buddhistischen Textes ist. Tatsächlich waren es die letzten Texte, die nach Indien gelangt sind. Zwei Meister brachten sie mit sich nach Indien. Diese Meister hatten irgendwie von Shambhala gehört und dann versucht, nach Shambhala zu reisen, um dort die Lehren zu erhalten.

Doch keiner der beiden Meister kam bis nach Shambhala. Beide erhielten die Übertragung der Lehren aber durch Visionen, die sie dann niederschrieben. Natürlich gab es leichte Abweichungen in Bezug darauf, was sie jeweils aus ihren Visionen heraus aufgeschrieben hatten. Daraus entwickelten sich schließlich, wie es ja häufig der Fall ist, unterschiedliche Interpretationen der Lehren. Aus diesen unterschiedlichen Interpretationen entstanden schließlich in Indien vier Stile bzw. Ausführungsformen der Kalachakra-Praxis. Sie unterschieden sich vor allem in kleinen Details.

Ungefähr hundert Jahre später, also im elften Jahrhundert, wurden die Kalachakra-Lehren nach Tibet gebracht. Dies geschah in drei verschiedenen Zeiträumen, an drei verschiedene Orten und durch drei verschiedene Meister, welche die Lehren übermittelten. Durch den Einsatz anderer Lehrer gelangten in weiteren Ausbreitungswellen weitere kleine Teile der Lehren nach Tibet. Die Tibeter fertigten von den Texten drei einzelne Übersetzungen an, die sich dann wiederum auch voneinander unterschieden. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie viele Veränderungen und leicht abweichende Variationen es von diesen Lehren gibt.

Wenn wir nun all diese verschiedenen tibetischen Kommentare und tibetischen Kalachakra-Praktiken, die sich im Laufe der Zeit entwickelt haben, betrachten, dann erkennen wir viele kleine Unterschiede. Man kann also nicht sagen: „Das ist genau die Art und Weise wie Kalachakra praktiziert werden muss!“ So ist es überhaupt nicht! Wenn wir gleichwohl die verschiedenen tibetischen Traditionen untersuchen, und innerhalb jeder Tradition die Arbeit der verschiedenen Autoren betrachten, die an den Kalachakra-Texten gearbeitet haben, dann können wir feststellen, dass immerhin ungefähr 80 Prozent der Texte miteinander identisch sind.

Im 17. Jahrhundert verbreiteten sich die Kalachakra-Lehren dann von Zentral-Tibet aus in eine Region, welche die Mandschuren als die „innere Mongolei” bezeichneten. Von dort verbreiteten sich die Lehren weiter nach Beijing, der Hauptstadt der Mandschuren im nördlichen China, und von dort aus weiter ins nordöstliche Tibet (Amdo). Und schließlich verbreiteten sich die Lehren im 19. Jahrhundert von Tibet aus in das Land, das die Mandschuren als die „äußere Mongolei“ bezeichneten, und von dort aus nach Burjatien, einem in Sibirien gelegenen mongolischen Gebiet, das sich in der Nähe des Baikalsees befindet. Im frühen 20. Jahrhundert erreichten die Lehren dann die Region Tuwa, ein türkisches Gebiet im Nordwesten der Mongolei, und Kalmückien, ein mongolisches Gebiet, das sich in der Nähe der Wolga im europäischen Teil Russlands in der Nähe des kaspischen Meeres befindet. 1915 errichtete der russische Zar sogar einen Kalachakra-Tempel in St. Petersburg. Es ist also nichts Neues, wenn Kalachakra im Westen gelehrt wird. Die Lehren kamen schon vor langer Zeit nach Europa.

Kalachakra und Weltfrieden

Seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama sagt auf seine zurückhaltende Art, dass er keine spezielle Verbindung mit Kalachakra habe, und dass es keinen bestimmten Grund gäbe, weshalb er diese Ermächtigung (Initiation) gibt. Er sagt dies häufig. Wir sollen nicht glauben, dass er eine Art „Master-Plan“ hätte, und dass er beabsichtigt, Kraftzentren auf dem ganzen Planeten verteilt zu errichten, um dann von Shambhala aus über das Universum zu herrschen. Das wäre töricht. Wie Seine Heiligkeit selbst erklärt, gab es in der Reinkarnationslinie der Dalai Lamas mehrere Kalachakra-Praktizierende, die Kalachakra sehr mochten. Er ist einer dieser Dalai Lamas. Deshalb gibt er diese Einweihung, wenn Menschen ihn darum bitten und wenn die Bedingungen zum Geben einer solchen Initiation unterstützend sind.

Traditionell steht das Gewähren der Kalachakra-Ermächtigung jedoch im Zusammenhang mit dem Weltfrieden. Seine Heiligkeit betont diesen Aspekt stets, wenn er die Initiation gibt. Die Assoziation mit Frieden stammt noch aus der Zeit als der König Manjushri Yashas diese Initiation der gesamten Bevölkerung von Shambhala angeboten hat. Seine Absicht war es, sein Volk im Angesicht einer drohenden Invasion zu einen.

Zu dieser Zeit war Shambhala ein Land, das von Menschen aus vielerlei unterschiedlichen Kulturen, Familienverhältnissen und Religionen bevölkert war. Die meisten Bewohner von Shambhala waren Hindus. Das Kastendenken war weit verbreitet und verschiedene gesellschaftliche Gruppen weigerten sich sogar miteinander an einem Tisch zu sitzen. Da die Gesellschaft so entzweit war, besaß das Königreich Shambhala wenig Kraft.

Der König hatte nicht die Absicht, dass jeder Bürger Shambhalas nun ein Buddhist werden sollte. Er hat die Kalachakra-Initiation nicht deshalb gegeben, um die Menschen seines Landes zum Buddhismus zu konvertieren. Ein solches Vorgehen hätte auch nicht zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme beigetragen. Vielmehr hatte der König begriffen, dass die meisten Menschen hauptsächlich als Beobachter zu einer solchen Initiation erscheinen würden. Genauso ist es auch noch heutzutage. Das ist sogar dann so, wenn Seine Heiligkeit und andere tibetische Meister die Initiation einer großen Gruppe von Tibetern geben – und es ist selbst dann so, wenn diese Tibeter vornehmlich Buddhisten sind. Und natürlich sind die aller meisten Teilnehmer erst recht lediglich Zuschauer eines solchen Rituals, wenn solche Ermächtigung vor einem großen westlichen Publikum geben wird, in dem sich nur wenige Buddhisten befinden. Auch unter den Buddhisten praktizieren nur wenige das Kalachakra-Tantra, weil das System und die Praktiken sehr komplex und fortgeschritten sind. Für diejenigen Praktizierenden jedoch, die das Kalachakra-System für sich selbst als passend empfinden, und die auch die Kapazität haben, das Kalachakra-Tantra zu praktizieren, ist es eine wunderbare Praxis und ein wunderbares System.

Der König von Shambhala hatte seinerzeit gesagt, dass er sein Volk im Kalachakra-Mandala-Palast versammeln wolle, um den Menschen dort gegenübertreten und sie dann davon überzeugen zu können, ihre eigenen Bräuche und Religionen noch einmal zu überdenken. Er hoffte, dass er durch die Ermächtigung förderliche Bedingungen für seine Untertanen schaffen könne, so dass diese dann selbsttätig über Ethik nachdenken würden, und dass sie zudem für sich selbst untersuchen würden, ob sie wirklich den Ansprüchen ihrer eigenen Religionen gerecht werden. Es war dringend notwendig, dass die Bewohner von Shambhala ihr eigenes Verhalten überprüfen und korrigieren würden, weil das Königreich von einer schrecklichen Invasion durch eine Horde Barbaren bedroht war, die sonst wohl jegliche Art von spiritueller Praxis im Land auslöschen würden.

Der König sagte zu seinen Untertanen: „Untersucht eure Gewohnheiten. Wenn ihr feststellt, dass ihr euch selbst nicht besser als die Barbaren verhaltet, dann bedeutet das eine große Gefahr unser Land. Eure Kinder und deren Kinder werden dann später keinen Unterschied zwischen eurem Verhalten und dem Verhalten der barbarischen Eroberer erkennen können. Den einfallenden Horden wird es daher sonst später leicht möglich sein, Gefolgschaft im Volk zu finden, wenn sie Shambhala erst einmal erobert haben. Die jüngeren Generationen werden dann die Verhaltensweisen und Bräuche der Barbaren leichter Hand akzeptieren und ihnen folgen.“

Wir können hier Parallelen zur heutigen Zeit erkennen. Auch heute sind wir mit Invasionen barbarischer Kräfte konfrontiert, ganz gleich ob wir diese als reitende Volksstämme der zentralasiatischen Steppen identifizieren, oder aber als Drogenkartelle, oder als aggressiv-kriegerische Geschäftsleute und Händler in großen Unternehmen, die ihren Profit auf Kosten der Umwelt machen. Es ist wichtig, dass wir unsere religiösen und bürgerlichen Werte überdenken, ganz gleich um welche Werte es sich dabei handelt. Wir müssen unsere Werte wiederbeleben und bekräftigen, damit unsere Kinder und Enkel sich an eindeutigen Verhaltensstandards orientieren können, die sie inspirieren. Wir müssen unsere Werte auch deshalb neu festlegen und bekräftigen, damit unsere Kinder und Enkel nicht von den invasorischen Einflüssen übermannt werden, die unsere Gesellschaft bedrohen. Auch jene Teilnehmer, die lediglich als Beobachter zu einer Kalachakra-Initiation kommen, werden dazu aufgerufen, ihre eigenen ethischen Standpunkte und ihre Wertesysteme zu überdenken. Das war früher so, und so ist es auch heute noch.

Welches Ziel hat das Gewähren der Kalachakra-Initiation und warum besuchen wir die Veranstaltung?

Seine Heiligkeit sagt, dass er die Kalachakra-Ermächtigung im Wesentlichen deshalb anbietet, weil diese Ermächtigung eine große, vielschichtige Gruppe von Menschen zusammenbringt, die eine Woche oder länger in einer friedlichen Atmosphäre miteinander Zeit verbringt. In dieser friedlichen Atmosphäre hält seine Heiligkeit einführende Vorträge – meist auf der Grundlage eines Textes, der sich mit Mitgefühl, Liebe oder Ethik befasst. Die Erörterung eines solchen Textes, so sagt er, sei der wichtigste Teil der Veranstaltung, weil es die Menschen dazu anregt, über diese Themen nachzudenken – er hat also die gleiche Absicht wie damals der König von Shambhala. Die Menschen nehmen an einem friedlichen Miteinander teil – zumindest während der Kalachakra-Veranstaltung. Das Ereignis hinterlässt bei den Teilnehmern einen starken Eindruck und das trägt auf einer höheren Ebene zum Weltfrieden bei.

Auf die vorbereitenden Unterweisungen über Liebe und Mitgefühl folgt die tatsächliche Ermächtigungszeremonie, die gewöhnlich drei Tage dauert. Wie Seine Heiligkeit sagt, sind nur einige wenige Menschen tatsächlich ausreichend darauf vorbereitet, die Ermächtigung in vollem Umfang zu empfangen. Schließlich ist es so, dass man beim Erhalten einer Ermächtigung wie dieser, Gelübde ablegt und sich zu einer täglichen Praxis verpflichtet: Das ist ein großer Schritt. Seine Heiligkeit erwartet nicht, dass dort viele Menschen Gelübde ablegen und sich zum Üben einer täglichen Praxis verpflichten. Es wird auch kein Druck auf irgendjemanden ausgeübt, dies zu tun. Jeder Teilnehmer trifft diese Entscheidung für sich selbst. Man muss auch niemandem erzählen, welche Entscheidung man für sich selbst getroffen hat. Wir können zwar der Ermächtigungszeremonie beiwohnen, ein rotes Band über unsere Stirn legen und einen Schluck Wasser nehmen, wenn dies herumgereicht wird, aber das bedeutet nicht, dass wir tatsächlich die Ermächtigung empfangen haben. Niemand muss sich unwohl fühlen, wenn man einer Ermächtigung beiwohnt, ohne sie tatsächlich zu nehmen. Seine Heiligkeit sagt jedoch auch, dass wir selbst dann von dem Ritual profitieren können, wenn wir nur Zuschauer sind – und die meisten Teilnehmer werden lediglich als Zuschauer zugegen sein. Das Ritual enthält viele einzelne Schritte, an denen die Zuschauer ohne Weiteres teilnehmen können und von denen sie auch profitieren können.

Das waren nun also ein paar wenige Hintergrundinformationen darüber, warum es die Tradition gibt, die Kalachakra-Ermächtigung vor einer großen Gruppe von Menschen zu geben. Es ist interessant zu beobachten, dass eine Kalachakra-Initiation mehr Menschen anzieht als jedes andere buddhistische Großereignis, und wie sich dies im Laufe der Geschichte aus bestimmten Gründen in dieser Weise entwickelt hat, sagen wir aus karmischen Gründen. Es ist also ein wunderbare Gelegenheit, zusammenzukommen und etwas zu lernen, ganz gleich wie stark unser Interesse an Kalachakra ist, ganz gleich wie groß unsere Motivation oder unsere Bereitschaft zur Selbstverpflichtung auch ausgeprägt sein mag.

Spezielle Merkmale der Kalachakra-Praxis

Wir mögen vielleicht glauben, dass das Kalachakra-Tantra die höchste aller buddhistischen Praktiken sei. Das Kalachakra-Tantra gehört zu der Klasse von Tantra-Praktiken, die als die fortgeschrittenste gilt – zum Anuttarayoga-Tantra. Aber in den Kommentaren wird ausdrücklich dargestellt, dass Kalachakra nicht besser ist als jede andere Praxis. Natürlich lassen sich immer Autoren und Lehrer finden, die eine „Fußballclub-Mentalität“ besitzen: „Das ist meine Lieblingspraxis und deshalb ist sie besser als jede andere!“ Die objektiveren Kommentare erklären jedoch, dass alle Bodhisattva-Methoden zur Erleuchtung führen. Es gibt keine spezielle Kalachakra-Erleuchtung, die sich von der Erleuchtung, die man durch andere Mittel erreichen kann, unterscheidet.

Das besondere an Kalachakra ist jedoch, dass es ein „eindeutiges Tantra“, ein „klares Tantra” ist. Die anderen Anuttarayoga-Tantras werden als „verborgene Tantras“ bezeichnet. Es gibt viele Erklärungen zu den Unterschieden zwischen den verborgenen Tantras und dem klaren Tantra. Eine Erklärung ist, dass die anderen Tantras die Dinge auf eine undurchsichtige und verborgene Weise erklären und dabei eine symbolische Sprache benutzen. Es ist unmöglich so eine Sprache zu verstehen, ohne dass man eine große Anzahl von Kommentaren und Erklärungen zum Verständnis eines solchen Textes heranzieht. Im Kalachakra-Tantra wird hingegen eine sehr eindeutige und klare Sprache verwendet. Es erklärt alle Sachverhalte in sehr expliziter Weise.

Der spirituelle Pfad als Schlacht

Die klassischen Texte stellen den spirituellen Pfad des Kalachakra-Tantra als eine Schlacht dar. Viele Abendländer finden das etwas seltsam. Da wird eine Veranstaltung mit Frieden in Verbindung gebracht und dann wird über den spirituellen Pfad gesprochen, als wenn es sich dabei um einen Krieg handeln würde. Aber das ist geschichtlich betrachtet nichts Neues. Wir müssen uns daran erinnern, dass der Buddha selbst aus einer Herrscherfamilie in Indien stammte, und dass Regenten zu dieser Zeit aus der Kriegerkaste kamen. Von Anfang an spielte die kriegerische Darstellung eine vorrangige Rolle in der buddhistischen Sprache. Der Buddha ist „der Triumphator (- der feierlich einziehende Sieger)“, „der Triumphierende“, „derjenige, der die Feinde besiegt hat“ und so weiter.

In der ganzen Geschichte des Buddhismus, haben Autoren diese Art der Sprache und Darstellung verwendet – so z. B. Shantideva, der im achten Jahrhundert lebende große indische Meister, der den klassischen Text über die Bodhisattva-Praxis geschrieben hat, nämlich „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattva“ (Skt. Bodhicaryavatara). Dort heißt es, dass die zentrale Schlacht, der Kampf gegen die eigene Verwirrung und die eigenen störenden Emotionen sei. Die militärische Sprache und die bildhafte Darstellung von Schlachten sind demnach als Symbole einer inneren Schlacht zu betrachten, die sich gegen die inneren Kräfte des Karma und dessen Kontrolle über uns richtet. In den Worten des Kalachakra-Tantra ausgedrückt, müssen wir gegen den Einfluss von inneren und äußeren Kräften kämpfen, d. h. wir müssen gegen die inneren und äußeren Zeitzyklen angehen.

Der Buddha als Urheber der Kalachakra-Lehren

Verschiedene westliche Lehrer haben darüber diskutiert, wo und wann die Kalachakra-Lehren entstanden sein könnten. Sie haben sich gefragt, ob Buddha Shakyamuni die Inhalte tatsächlich persönlich gelehrt habe oder ob die Texte ein paar Jahrhunderte später von buddhistischen Meistern niedergeschrieben worden seien. Wie wir diese Situation beurteilen, hängt davon ab, was wir unter einem Buddha verstehen.

Die Tradition des Annutarayoga-Tantra betrachtet den Buddha nicht ausschließlich als eine historische Persönlichkeit, wie das die westlichen Gelehrten tun würden. Aus der Perspektive der Tradition des Anuttarayoga-Tantra ist der Buddha der Geist des klaren Lichts. Der Buddha ist demnach also die subtilste Ebene von geistiger Aktivität, über die jedes Lebewesen verfügt, sofern diese subtilste Ebene, also der Geist des klaren Lichts, vollständig gereinigt ist und sofern das Lebewesen alle Potenziale seiner Buddha-Natur vollkommen verwirklicht hat. Solch ein Geist des klaren Lichts ist der erleuchtende Geist eines Buddha.

Etymologisch bedeutet das Wort Shambhala (Tib. bde-‘byung) „die Quelle der Glückseligkeit”. Die Tatsache, dass die Kalachakra-Lehren des Buddha mit einer Quelle der Glückseligkeit assoziiert werden, zeigt, dass die Lehren von einem erleuchtenden Geist stammen, der über eine vollständig gereinigtes glückseliges Gewahrsein von Leerheit verfügt. Solche Unterweisungen zielen auf den Geist des klaren Lichts von geeigneten Schülern ab – also auf jene Schüler, bei denen die Buddha-Natur-Potenziale, ein ähnliches glückseliges Gewahrsein zu entwickeln, bereits durch eine Initiation geweckt wurden.

Ob die Kalachakra-Texte bereits vom historischen Buddha gelehrt wurden, ob sie tatsächlich von den Königen von Shambhala niedergeschrieben wurden, oder ob die Texte von einem Autor niedergeschrieben wurde, der erst Jahrhunderte später in Zentralasien gelebt hat, oder ob die Lehren aus dem erweiterten Bewusstsein zweier indischer Meistern herrühren, die diese Lehren durch Visionen empfingen – all diese Fragen sind letztendlich für einen Tantra-Praktizierenden nicht bedeutsam. Aus der Sicht des Anuttarayoga-Tantra liegt der Ursprung des Kalachakra-Tantra in jedem Fall beim Buddha. Für unsere westlich geschulte Betrachtungsweise ist es wichtig, dass wir uns nicht daran aufhängen, woher dieses Tantra tatsächlich stammt. Genauer gesagt, ist es wichtig, dass wir uns nicht in Gedanken verfangen wie: „Vielleicht hat der historische Buddha das Kalachakra-Tantra gar nicht persönlich gelehrt. Vielleicht handelt es sich daher beim Kalachakra-Tantra nur um ein wahnverzerrtes Fantasiegebilde irgendeines Menschen.“

Westliche Forschungsergebnisse in Bezug auf die Herkunft der Kalachakra-Lehren

Wenn wir untersuchen, wo und wann die Kalachakra-Lehren zuerst aufgetaucht sind, dann möchte ich hier eine wissenschaftliche These anführen, die auf der Erforschung der mittelalterlichen Geschichte Zentralasiens basiert. Demnach sind die Lehren im Gebiet von Kabul in Afghanistan entweder zwischen dem späten achten und dem frühen neunten Jahrhundert oder aber im mittleren bis späten zehnten Jahrhundert aufgetaucht. Der einzige Aspekt der Kalachakra-Lehren, über die wir eine wohlbegründete Vermutung machen können, ist die Information über eine Invasion, die in den Kapiteln über die äußeren Zeitzyklen beschrieben ist. Wahrscheinlich entstanden verschiedene Teile der Darstellung über die vorhergesagte Invasion in einer dieser Zeitabschnitte.

Zwischen dem späten achten und dem frühen neunten Jahrhundert, war das Gebiet um Kabul das Zentrum des Königreichs der Turki-Shahi. Kabul selbst verfügte über zahlreiche große buddhistische Klöster, und eines davon hatte astrologische Symbole an der Decke der Haupthalle, die an das astrologische Motiv des Kalachakra-Mandalas erinnern. Die Regenten bevorzugten den Buddhismus als Religion, aber in der Bevölkerung gab es eine große Anzahl von Hindus und einige Anhänger des Zoroastrismus und des Manichäismus.

Die arabische Dynastie der Abbasiden wurde in der Mitte des achten Jahrhunderts durch die Nachfolger der Umayyaden-Dynastie gegründet und hatte seine Hauptstadt in Bagdad. Aus den Reihen der verschiedenen islamischen Gruppen in diesem Gebiet, wurde den neuen Gesetzen viel Widerstand entgegengebracht. Die islamischen Gruppierungen folgten heterodoxen Sekten des Islam. Sie wurden von der orthodoxen Abbasiden-Dynastie als Häretiker gebrandmarkt und als rebellische „Terroristen“ verfolgt. Viele dieser andersgläubigen Muslime flohen darauf in die Region von Kabul.

Darüber hinaus hatten Generäle der Umayyaden und Abbasiden vor kurzem die Königreiche im Norden und Süden des Gebietes um Kabul militärisch angegriffen, um so politische und wirtschaftliche Ziele durchzusetzen. Sie hatten dabei viele buddhistische Klöster geplündert, die Widerstand geleistet hatten. Vor allem die Klöster im nördlichen Afghanistan hatten sich schnell davon erholt. In dieser Zeit gab es viele militärische Feldzüge, weil die Araber, Türken, Chinesen und die Tibeter um die Herrschaft in Zentralasien kämpften. Die Angst vor weiteren Invasionen war zu dieser Zeit sehr groß.

Einige buddhistische Gelehrte aus Kabul und Nord-Afghanistan dienten als Übersetzer im Haus des Wissens der Abbasiden in Bagdad. Die offizielle islamisch-orthodoxe Kirche war nicht nur tolerant gegenüber anderen Religionen – von den häretischen Sekten des Islam einmal abgesehen – sondern sie wollte auch von anderen Kulturen lernen. Viele Intellektuelle in den Reihen des Abbasiden-Hofstaates gehörten jedoch der häretischen Manichäismus-Sekte an und wurden von den Regenten als eine Bedrohung ihrer Macht angesehen. Es ist aus den Kalachakra-Texten eindeutig herauszulesen, dass die barbarischen Horden sowohl Merkmale des Islam als auch des Manichäismus aufwiesen, die miteinander kombiniert waren. Darüber hinaus ist es plausibel, dass die buddhistischen Gelehrten, die in Bagdad arbeiteten, von der offiziellen Politik der Abbasiden beeinflusst wurden und deshalb alle oppositionellen heterodoxen islamischen Gruppen ebenso als Extremisten und Terroristen betrachteten – also als barbarische Horden.

Die andere Möglichkeit, wann einzelne Darstellungen über eine Invasion in den Kalachakra-Texten entstanden sein könnten, ist während der Zeit von der Mitte bis zum späten zehnten Jahrhundert, und zwar auch im Gebiet um Kabul. Das war die Zeit der Dynastien der Samaniden und Ghaznawiden, die beide Vasallenstaaten der Abbasiden waren. Die buddhistischen Klöster waren noch vorhanden. Die Regenten dieser beiden Dynastien waren sunnitische Moslems, die eine Invasion aus dem Königreich der ismailitischen Schiiten (Schia) befürchteten, die in der Region um Multan in Zentral-Pakistan lebten. Viele Menschen hatten auch Angst vor einer nahenden Vernichtung und dem Ende der Welt. Es ist möglich, dass die buddhistischen Gelehrten zu dieser Zeit die manichäisch-islamischen Häretiker mit den ismailitischen Schiiten aus Multan verglichen haben und daher ihre Beschreibung der barbarischen Horden abgeleitet haben. Diese Vermutung wird durch die Einbeziehung von Mani in die Standard-Liste der ismailitischen Propheten, die in den Kalachakra-Texten genannt werden, gestützt.

Es ist also wichtig, dass die barbarischen Horden, die in den Kalachakra-Texten erwähnt werden, nicht mit den Gefolgsleuten einer bestimmten großen Religion identifiziert werden. Manche interpretieren beispielsweise die Kalachakra-Lehren als einen Hinweis darauf, dass der Buddhismus gegen den Islam im Allgemeinen eingestellt sei, weil die Texte einige Bezüge zu islamischen Elementen in Bräuchen der Barbaren herstellen. Diese Schlussfolgerung ist nicht korrekt und sogar unverantwortlich. Die Bezugnahme auf die schrecklichen barbarischen Horden, genau zu diesem Zeitpunkt der Geschichte, war ohne Zweifel auf die militanten rebellischen Fraktionen innerhalb der heterodoxen islamischen Sekten gemünzt – also auf jene, die jede Art von Spiritualität zerstören wollten, inklusive die des orthodoxen Islam. Die wesentlichen Aussagen, die in den Kalachakra-Schriften angesichts solcher Bedrohungen gemacht werden, haben eine allgemeine Gültigkeit für alle Religionen, einschließlich des Islam: Es werden die eigenen spirituellen und ethischen Werte bekräftigt, um alle Menschen darin zu vereinen, in Frieden und Harmonie zusammen zu leben.

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