Die Kontinuität des konventionellen „Ich“
Laut der indo-tibetischen buddhistischen Tradition ein konventionelles „Ich“ gibt, das eigentlich eine Abstraktion ist und dem sich fortwährend ändernden Strom der Kontinuität der fünf Aggregatsbestandteile zugeschrieben wird, die jeden Moment unserer individuellen subjektiven Erfahrung ausmachen. Wir sahen, dass dieses konventionelle „Ich“ zu dem umfangreichen Aggregat gehört, das alles beinhaltet, was nicht statisch und nicht in den anderen Aggregaten enthalten ist – all die Emotionen usw. Das konventionelle „Ich“ ist etwas, das sich von Moment zu Moment ändert, es ist nicht statisch. „Jetzt tue ich dies, jetzt tue ich das“ – ganz offensichtlich ändert es sich jeden Augenblick. Es kann auch Wirkungen erzeugen: Ich kann meine Kleider waschen. Ich kann jemanden glücklich machen. Ich kann jemanden unglücklich machen.
Etwas entweder für immer oder für eine kurze Zeit andauern kann. Gemäß dem Mahayana-Standpunkt währt jedes individuelle konventionelle „Ich“ für immer, es hat weder Anfang noch Ende. Obwohl sich die fünf Aggregate eines Individuums auf ein Leben erstrecken können und dann im Bardo zwischen den Leben hauptsächlich in potenzieller Form existieren, setzt sich die Kontinuität eines jeden individuellen Geistes bzw. die geistige Aktivität ebenfalls ohne Anfang und ohne Ende fort. Und sie dauert auch bis zur Erleuchtung an. Verschiedene indisch-buddhistische Lehrsysteme nehmen verschiedene Ebenen bzw. Aspekte des Geistes als eine ununterbrochene, ewig währende Kontinuität an. Aber ganz gleich, welchem System wir folgen, es gibt immer irgendeinen Aspekt geistiger Aktivität, der als Basis für die Bezeichnung „ich“ dienen kann, und aufgrund dessen können wir sagen, dass das konventionelle „Ich“ für immer andauert.
Ich dachte, dass eine Person zu existieren aufhört, wenn sie Nirvana erreicht.
Deshalb habe ich gesagt: „Gemäß dem Mahayana-Standpunkt“. Gemäß dem Theravada und wohl auch anderen Schulen des Hinayana endet das geistige Kontinuum mit dem Parinirvana, also nachdem jemand ein Buddha oder ein Arhat geworden ist und dann stirbt. Es gibt diesbezüglich verschiedene Theorien. Auf jeden Fall ist das Erreichen dieses Zustands für die meisten von uns vermutlich noch weit entfernt – unsere Geistes-Kontinua werden also noch lange Zeit andauern.
Heißt das, dass Karma für immer währt?
Gemäß dem Mahayana kann Karma geläutert werden, in dem Sinne, dass es bereinigt wird, ohne dass es zur Reife kommen muss. Gemäß dem Theravada wird jedes Karma vor Erreichen des Parinirvana reifen, selbst in den trivialsten Formen. Kein buddhistisches System behauptet, dass Karma für immer andauert.
Es ist ein großer Unterschied, ob ich denke, dass mein Geistesstrom enden wird, wenn ich ein Arhat werde, oder ob ich denke, dass er für immer andauert.
Buddha lehrte viele verschiedene Erklärungen, um unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlicher Mentalität gerecht zu werden. Sie müssen nicht einmal für verschiedene Leute gedacht sein, sie können auch für dieselbe Person in verschiedenen Abschnitten ihres Lebens angemessen sein. An diesem Wochenende gebe ich einen Kurs aus der Sicht der indo-tibetischen Mahayana-Tradition. In diesem System lautet die Aussage, dass jedes individuelle geistige Kontinuum für immer andauert. Natürlich müssen wir, wenn wir die Möglichkeit haben, viele verschiedenen buddhistischen Schulen zu studieren, selbst herausfinden, welches System für uns jetzt auf unserer derzeitigen Ebene der Entwicklung passend ist.
Vom Mahayana-Blickwinkel ist die Hinayana-Darlegung für Menschen gedacht, für die es sehr entmutigend wäre, wenn sie dächten, dass der Geistesstrom für immer währt. Wenn sie denken, dass es ein sicheres Ende gibt, gibt ihnen das mehr Mut. Die Theravadins selbst würden das nicht so sagen. Innerhalb der verschiedenen Schulen des Hinayana behaupten auch nicht alle Theravadins, dass der Geistesstrom mit dem Parinirvana endet. Einige sagen, wenn man ein Arhat oder Buddha wird, ändert sich die Qualität des geistigen Kontinuums und dessen alte Qualität endet. Das ist gewiss. Dem würde jeder zustimmen.
Ob wir nun eine Hinayana- oder Mahayana-Ansicht annehmen, auf jeden Fall wollen wir einen Punkt erreichen, an dem die Kontinuität unseres alltäglichen, verwirrten, verrückten Geistes aufhört. Ob wir denken, dass dem etwas folgt oder nicht, ist nicht so wichtig. Wichtig ist, den verstörenden Aspekt des Geistes loszuwerden. Wie gesagt, liegt das zeitlich so weit entfernt, dass es uns im Moment keine großen Sorgen zu bereiten braucht.
Das falsche „Ich“ identifizieren
Vom Mahayana-Standpunkt aus gesehen gibt es in gewissem Sinne an jedem Individuum etwas, das ewig ist; es ist jedoch nicht etwas Beständiges, es ist nicht statisch. Wir müssen wirklich verstehen, worum es hier geht. Wenn wir von Anatma oder „Nicht-Selbst“ sprechen, so geht es um ein ganz spezielles Selbst, nicht um irgendein Selbst. Dieses Selbst ist in einer ganz bestimmten Weise definiert, es hat bestimmte Eigenschaften.
Die erste Ebene dessen, was wir widerlegen, ist ein Selbst, ein falsches „Ich“, ein Atman, das drei Charakteristika hat. Das erste Charakteristikum ist, dass es statisch ist. Statisch ist nicht das gleiche wie ewig. Für gewöhnlich wird es als „beständig“ übersetzt, aber dieser Begriff ist irreführend und verwirrend, besonders hier. Statisch heißt, dass es sich nicht von Moment zu Moment ändert, dass es von nichts beeinflusst wird und keine Wirkung hervorbringen kann. „Eins plus eins gleich zwei“ ist etwas, das sich nicht ändert; es bleibt immer gleich. Es kann nichts tun. Das „Ich“ ändert sich von Moment zu Moment, es tut in verschiedenen Momenten verschiedene Dinge. Es ist nichts Statisches.
Das zweite Charakteristikum, das wir widerlegen, ist, dass das Selbst ein einziges Ding ist, d.h., eine monolithische Einheit ohne irgendwelche Teile bzw. ohne irgendwelche Aspekte, die Bestandteil von ihm sind – was in gewisser Weise bedeutet, dass das Selbst demnach ein und dasselbe wäre. Das „Ich“ in diesem Leben wäre ein und dasselbe wie das „Ich“ in meinen vergangenen und in künftigen Leben und das „Ich“, das Vater ist, wäre ein und dasselbe wie das „Ich“, das Sohn ist.
Das dritte Charakteristikum, das es zu widerlegen gilt, ist, dass das Selbst völlig getrennt und daher abgesondert von irgendeiner Gruppe von Aggregaten ist, und somit nach dem Tod oder Nirvana davonfliegen und aus sich selbst heraus existieren kann. Dadurch, dass wir fälschlicherweise meinen, wir würden in solcher Weise existieren, fühlen wir uns oft unserem Körper und unseren Gefühlen fremd. Ich bin einmal gestürzt und brach mir die Rippen, und das Gefühl, das ich dabei hatte, war, dass da dieses kleine „Ich“ wahr, das von dieser ganzen Erfahrung getrennt war und eigentlich mit dem, was da passierte, nichts zu tun haben wollte. Ich dachte: „O nein, ich will diesen ganzem Schlamassel nicht“. Leuten, die krank sind, geht das oft so.
Diese Art „Ich“ mit diesen drei Charakteristika bezieht sich nicht auf etwas Wirkliches. Es wird beim Üben der Meditation über Leerheit sehr wichtig sein, in unserer eigenen Erfahrung zu identifizieren, wie wir diese Ansicht von uns selbst hegen. Wir können mit der Übung nicht weiterkommen, solange wir nicht in uns selbst identifizieren, was das für uns in unserer eigenen Erfahrung bedeutet. Wir müssen das falsche „Ich“ identifizieren – das „Ich“, das es zu widerlegen gilt.
Fragen und Gespräch über das statische „Ich“
Lassen Sie uns einmal laut denken, während wir versuchen, das falsche „Ich“ zu identifizieren. Ich werde einfach darüber reden, denke aber über das nach, was ich gerade sage. Lassen Sie uns ganz ungezwungen sein.
Ich glaube, die meisten Leute haben das Gefühl, dass sie ihr ganzes Leben lang die Gleichen bleiben. Lassen Sie uns nur über dieses Leben sprechen. Für die meisten Menschen im Abendland ist es etwas schwierig, von vornherein mit der Vorstellung von künftigen Leben zu beginnen.
Was meinen Sie mit Identifizieren dieser Art von Selbst in unserer Meditation?
Der erste Schritt in der Meditation über die Leerheit besteht darin, zu identifizieren, was widerlegt werden soll. Der große indische Meister Shantideva schrieb: Wenn man das Ziel nicht sehen kann, kann man es nicht mit einem Pfeil treffen. Wenn wir sehen wollen, dass die Fantasievorstellung, die wir auf uns selbst projizieren, sich auf nichts Wirkliches bezieht, müssen wir zuerst sehen können, was diese Fantasievorstellung ist – und zwar nicht nur theoretisch und intellektuell.
Denken Sie darüber nach. Meinen Sie – wie wohl die meisten Menschen – dass Sie derselbe sind, der Sie waren, als Sie zehn Jahre alt waren ? Etwa so: „Ich war Alex, als ich zehn war, und nun bin ich eben der 50jährige Alex – ich bin dieselbe Person“?
Es ist wie ein Fluss. Ein Fluss führt viel Wasser von überall her. Aber innerhalb des Flusses befindet sich das Wasser der ursprünglichen Quelle.
Das wäre etwa so wie: „Gut, ich habe viele Lektionen gelernt – ich habe eine Menge Wasser angesammelt – aber ich bin immer noch ‚Alex‘, der ältere ‚Alex‘ eben – derselbe ursprüngliche Fluss – der diese Lektionen gelernt und diese Erfahrungen gemacht hat“. Es ist beinahe so, als ob wir während unseres Lebens auf einer interessanten Vergnügungsfahrt gewesen wären und es da so ein „Ich“ gäbe, das die Fahrt unternommen hätte. Haben Sie dieses Gefühl von sich selbst?
Natürlich ist das für jeden verschieden. Sie müssen aus ihrer eigenen Erfahrung heraus identifizieren, was das bedeutet. Für mich zumindest ist es so, dass es mir vorkommt, als ob ich mich in einigen Aspekten verändert habe, aber in anderen Aspekten immer noch dieselbe Person sei.
Wir müssen hier einen Unterschied machen: Gemäß buddhistischer Ansicht sind wir bestimmte Personen. Ich habe mich nicht in jemand anderen verwandelt. Manchmal meinen wir, wir hätten uns verändert, etwa wenn wir sagen: „Seit ich das Kind bekommen habe, bin ich ein anderer Mensch geworden“. Aber ist das wirklich so? Das ist die Art von Frage, die wir uns stellen sollten. Was heißt es, zu sagen, wir hätten uns verändert?
Die buddhistische Methode besteht nicht darin, dass ein Lehrer oder ein Buch uns Antworten auf unsere Fragen gibt. Wir müssen die Dinge selbst erfahren. Sehen wir uns das Beispiel des Buddha selbst an – auf welche Weise lernte er? Er lernte, indem er einen Toten, einen alten Menschen, einen Kranken und einen Mönch sah. Das war für ihn von Bedeutung. Es können im Buddhismus Anregungen gegeben werden, doch dann müssen wir uns diese Fragen selbst stellen und versuchen wirklich ein Gefühl dafür zu bekommen, was sie eigentlich bedeuten, und nicht einfach sagen: „So denke ich nicht“ und es verwerfen. Selbst wenn wir ein gewisses Verständnis des Buddismus und einige Erfahrung damit haben, ist es wichtig, dass wir tiefer gehen und feiner nachspüren: „Denke ich auf einer subtileren Ebene wirklich so?“ Wir untersuchen in eigener Erfahrung: „Ein Selbst, das statisch ist – das verändert sich nicht, es wird durch nichts beeinflusst und beeinflusst nichts - habe ich so etwas schon mal von mir gedacht? Was könnte das bedeuten?“
Haben Sie je die Erfahrung gemacht, dass Sie mit anderen Menschen zusammen oder in einer Menschenmenge waren und nicht dort sein wollten? Dass Sie das alles ausblenden und sich in einen kleinen Teil in Ihrem Kopf zurückziehen, so als ob Sie irgendwie verschwinden könnten und dass ihre Gegenwart dort niemanden tangiert? Man spaltet sich einfach von der ganzen Situation ab. Ich erlebe das manchmal so. Die Vorstellung, dass wir statisch sind, verleitet uns dazu zu denken, dass wir uns aus Ursache und Wirkung heraushalten könnten, so als ob das, was wir tun und sagen, nichts mehr ausmacht, weil wir abgeschaltet haben. Wie wenn zum Beispiel das Baby schreit und wir müde sind und nicht aufstehen wollen und dann das Baby eine Minute lang nicht mehr hören, so als wäre gar nichts. Wir fangen an nachzuforschen, wo und wann wir so etwas erfahren haben könnten. Was bedeutet das in meinem Leben?
Ich kenne diese Erfahrung, aber es fühlt sich so an, als ob ich auf einer anderen Ebene als die Leute um mich herum existierte.
Genau, so ähnlich ist es. Oder wenn man in der Nacht eine dunkle Straße entlang geht und sich schützt, indem man sich nach innen zurückzieht – so, als ob man sich auf eine andere Ebene begeben würde und da ein kostbares kleines „Ich“ wäre, das man vor allem bewahren kann und dem nichts etwas anhaben kann. Wir denken „Ich werde es nicht dazu kommen lassen, dass ich mich fürchte“ – es ist wirklich sonderbar – als wären da zwei „Ichs“. Oder wir sind mit jemandem auf gefühlsmäßiger Ebene verbunden und diese Person bricht mit uns, es werden schlimme Dinge gesagt und wir gefrieren innerlich, so als seien wir auf eine andere Ebene gegangen und würden als statischen Selbst existieren, unbeeinträchtigt von dem, was gerade geschehen ist.
Damit die Meditation über Leerheit sich auf unser Leben auswirken kann, ist es notwendig, dass sie all dies mit unserer persönlichen Erfahrung in Verbindung bringen. Sonst ist es nur eine intellektuelle Übung, die zu nichts führt.
Es scheint, als ob es unterhalb dieser Ebene noch subtilere Schichten in uns gäbe, die man noch mehr schützen möchte, wie etwas Heiliges, über das wir nicht einmal sprechen mögen.
Das kommt dem näher, worum es hier geht. „Es gibt etwas ganz Besonderes hier drinnen, und ich möchte nicht, dass das verunreinigt wird.“ Oder: „Ich will nichts mit dir zu tun haben, weil ich nicht verletzt werden möchte.“ Ist es das, was es bedeutet, statisch zu sein?
Warum verwenden wir nicht ein paar Minuten darauf und denken darüber nach. Wir suchen im Innern nach Erfahrungen, in denen es uns so vorkommt, dass wir irgendwie vom Geschehen getrennt sind und von nichts beeinträchtigt werden. Ich bin mal von einem Hund gebissen worden, und da empfand ich das so. Es war, als gäbe es innen ein „Ich“, das von diesem Tier angegriffen wurde – wie konnte dieses Wesen tatsächlich „Mich“ beissen? Es war einfach unfassbar.
[Stille Kontemplation]
Weitere Diskussion über ein statisches „Ich“
Einige Leute hier haben miteinander geredet, während wir kontemplierten, und ich bemerkte, dass ein paar Leute sich umdrehten und sie ansahen. „Was geht da vor? Was ist da los?“ Der Gedanke ist: „Ich will nicht unterbrochen werden“ – so, als gäbe es da drinnen ein „Ich“, das nicht vom Geschehen berührt werden möchte. Wir möchten das „Ich“ als etwas Statisches in uns bewahren, das sich nicht ändert und seine Sache machen kann, ohne von allem anderen beeinträchtigt zu werden. Wir machen diese Erfahrung die ganze Zeit! Es gibt so viele Beispiele dafür, wenn wir einmal anfangen, wirklich darauf zu achten.
Gibt es denn überhaupt ein statisches „Ich“, das nicht von Moment zu Moment sich verändert?
Nein. Es gibt nichts Statisches, dass sich unter unserem konventionellen „Ich“ befindet. Unser konventionelles „Ich“ ist alles, was da ist, und es verändert sich in jedem Augenblick. Aber selbst wenn wir das wissen, wollen wir es nicht akzeptieren. Ein Weilchen können wir das vielleicht verstehen und denken im Sinne eines „Ich“ das sich fortwährend ändert, aber dann verlieren wir unser Geistesgegenwart und sehen die Dinge wieder anders.
Ist Leerheit jener Geisteszustand, in dem das, was in mir geschieht, immer im Einklang mit dem ist, was außen geschieht?
Lassen Sie mich zunächst etwas klarstellen. Leerheit bzw. Leere ist kein Geisteszustand. Aber ein Geist, der die Leerheit versteht, würde im Einklang sein, innerlich wie äußerlich, und zwar in dem Sinne, dass wir voll daran teilnehmen würden, was gerade geschieht. Wir würden zum Beispiel auf diejenigen, die während der Meditation redeten, mit dem Gedanken reagieren: „Da spricht jemand. Ich habe es gehört. Na und?“, und unsere Meditation fortsetzen. „Wenn andere hier in dieser Zeit nicht meditieren möchten, ist das ihr Pech. Vielleicht haben sie etwas nicht verstanden und haben ihren Nachbarn gefragt, um etwas zu klären. Wer weiß?“ So sind wir im Einklang mit dem, was geschieht und fahren mit unserer Meditation fort. In Schwierigkeiten geraten wir, wenn wir an dieses feste, statische „Ich“ denken: „Das ist meine besondere, geheiligte Zeit zum Meditieren und ich habe so viel Geld dafür bezahlt und jetzt will ich diese besondere Zeit haben! Wie könnt ihr es wagen zu reden und MICH in meiner Meditation zu unterbrechen!“
Dieser Wunsch, uns von allem abtrennen zu können und nur das zu tun, was wir wollen, ohne von irgendetwas beeinträchtigt zu werden, so, als ob wir etwas Statisches wären, ist die tiefer liegende Voraussetzung bzw. Denkweise, die die Grundlage dafür bildet, selbstsüchtig und eigennützig zu sein. Wenn wir selbstsüchtig sind, denken wir nur an uns selbst, um nicht von irgendetwas, das um uns herum vorgeht, beeinträchtigt zu werden, und wir kümmern uns nicht darum. Es ist uns egal. Wir sehen nur uns selbst: „Ich muss im Restaurant zuerst bedient werden. Ich muss das zuerst bekommen. ICH, ICH, ICH, ICH.“ Das ist ein „Ich“, das statisch ist und nicht in Zusammenhang mit dem steht, was um uns herum vorgeht.
Das heißt sicherlich nicht, dass man sich überhaupt nicht verhält oder auf das reagiert, was außen geschieht.
Das ist richtig. Deshalb sagen wir, dass es ein konventionelles „Ich“ gibt. Andernfalls könnten wir nicht funktionieren. Aber tatsächlich reagieren wir immer noch auf das, was geschieht.
Vielleicht ist das Wesentliche, dass man sich wirklich einbringt, wenn es erforderlich ist, aber darüber hinweggeht, wenn etwas nicht so vordringlich ist.
In gewissem Sinne. Man nimmt die Dinge nicht persönlich, fasst sie nicht als persönliche Beleidigung auf. Wir sind nicht das Zentrum der Welt.
Ich habe jemanden gesehen, der ärgerlich war, und ich dachte, dass er auf mich ärgerlich war. Das war vielleicht gar nicht der Fall. Vielleicht drückte ihn der Schuh.
Ja, wenn wir auf diese Weise ärgerlich werden, nennt man das selbstbezogen. Es beruht auf dieser Fehleinschätzung, wie wir existieren. Indem wir die ganze Zeit an uns selbst denken, halten wir uns für das Zentrum der Welt und wenn jemand einen komischen Gesichtsausdruck hat, denken wir, das ist wegen uns. Oder ich denke vielleicht: „Vor ein paar Tagen kam ich nach Europa und das Wetter hier wurde vor ein paar Tagen kälter. Ich muss wohl das kalte Wetter mitgebracht haben.“ Das ist narzistische Selbstbezogenheit.
Oder die Kellnerin bringt alles Essen für meine Freunde am Tisch und hat meine Pizza nicht mitgebracht. Nun könnte ich sehr ärgerlich werden: „Ich will MEINE Pizza. Ich habe Hunger. Immer wird jeder bedient, aber ich kriege nie, was ich bestellt habe. Sie mag mich nicht.“ Das ist kindisch, oder? Andererseits müssen wir, wenn unsere Bestellung wirklich lang dauert, nicht bloß dasitzen und denken: „Nun gut, ob sie sie bringt oder nicht, bleibt sich gleich“. Wir können sie fragen, ob sie bitte nach unserer Pizza sehen kann, aber ohne ärgerlich zu werden und es persönlich zu nehmen. Darum geht es: die Dinge nicht persönlich zu nehmen.
Es ist ein ziemlicher Schock für die meisten Menschen, insbesondere junge Leute, dass sie nicht der Mittelpunkt der Welt sind. Junge Leute – und auch einige ältere Leute – sind sehr besorgt, wie sie aussehen, wenn sie ausgehen. „O weh, ich habe einen Pickel. Niemand wird mich mögen.“ In Wirklichkeit kümmert es niemanden. Niemand schaut. Jeder ist nur mit sich selbst beschäftigt. Sie überprüfen nicht, ob du einen Pickel hast oder nicht. Die anderen denken, dass sie das Zentrum der Welt sind und dass jeder sie ansieht. – Aber wir gehen natürlich auch nicht ins andere Extrem und laufen nackt herum. Was wir versuchen, ist, aus dieser Selbstbezogenheit herauszukommen, in der wir das Zentrum der Welt zu sein scheinen.
Für normale Alltagsangelegenheiten mag das zutreffen, aber ein anderes Beispiel ist ein Schwarzafrikaner in Deutschland, der beleidigt wird und vielleicht sogar aus der U-Bahn geworfen und verletzt wird. Dieser Mensch beginnt sich zu fürchten und wird paranoid. Hier ist es nicht die Person, die sich vorstellt, dass ihr etwas angetan wird, sondern es ist die Gesellschaft und die Leute darin, die dieser Person etwas antun. Was ist dazu zu sagen?
Nochmals – man würde versuchen, es nicht persönlich zu nehmen. Der Afrikaner in Ihrem Beispiel könnte denken: „Die Leute in der U-Bahn kennen mich gar nicht persönlich. Sie reagieren nur auf meine Hautfarbe. Ich bin jedoch nicht nur meine Hautfarbe. Ihr Verhalten betrifft mich nicht als Person. Es bedeutet nicht, dass ich eine minderwertige Person bin.“ Natürlich müssen wir mit den Vorurteilen anderer Menschen umgehen, in Erwägung ziehen, wie wir aussehen, wie wir handeln usw. Wenn wir aber nicht alles persönlich nehmen, verlieren wir durch die Erfahrung nicht unsere Würde. Wenn wir an einem Garten vorbeigehen müssen, wo ein aufgeregter Hund Passanten anbellt, können wir das persönlich nehmen – „Dieser Hund mag mich nicht!“ – oder wir können denken: „Das ist ein ganz verwirrter Hund, der jeden anbellt, und ich gehe nun mal gerade vorbei, also bellt er mich an.“ Wir passen auf, sind aber nicht persönlich beleidigt oder verletzt durch den Hund. Ich denke, das ist ähnlich.
Natürlich können wir dabei noch weiter gehen. Wir könnten in Bezug auf den Hund denken: „Vielleicht wurde dieser Hund von seinem Besitzer schlecht behandelt und deshalb bellt er jeden, der vorbeigeht, so wütend an.“ Oder entsprechend: „Vielleicht leiden diese Leute in der U-Bahn unter wirtschaftlichem Druck und sind mit ihren Leben und den Folgen der Wiedervereinigung hier in Deutschland unzufrieden und lassen ihre Frustration an dunkelhäutigen Fremden wie mir aus.“ Indem wir auf diese Weise denken, entwickeln wir statt Angst und Paranoia Verständnis und Mitgefühl.
Fragen und Gespräch über ein „Ich“, das Eins ist
„Eins“ bedeutet wörtlich „dasselbe“ bzw. „identisch“. Denken wir nicht irgendwie von uns, dass wir immer dasselbe sind, egal, was passiert, wie ein Monolith, der nicht aus Teilen besteht? Ich muss sagen, ich denke ziemlich oft so. Alex war Anfang dieser Woche in Indien, dann war Alex in Prag und jetzt ist Alex in Berlin, aber es ist immer „Alex“ – dieses eine Ding. Es ist so, als ob eine Person in verschiedene Filme ginge oder ein anderes Fernsehprogramm ansehen würde. Ist das die Wirklichkeit? Ich denke, das ist es, worum es bei dieser Eigenschaft, „eins“ zu sein, geht: nämlich ein unteilbarer Monolith zu sein, der immer gleich bleibt.
Intuitiv habe ich gedacht, dass diese Eigenschaft, „eins“ zu sein, bedeutet, dass ich eins mit allem Geschehen bin, dass alles nur eins ist.
Nein, es geht darum, dass wir über uns selbst so denken, nicht über unsere Umgebung.
Heißt das, mit mir selbst eins zu sein oder im Einklang mit mir? Das ist doch etwas sehr Positives.
Darum geht es sicher nicht. Wir sollen hier überlegen, was es bedeuten könnte zu denken, dass das „Ich“ ein unteilbarer Monolith ist.
Denke ich, dass ich eins bin, dann wäre kein „Ich“ mehr da, wenn ein Teil – etwa eine Hand oder ein Fuß – fehlt.
Genau. Wenn ich meine Hand verliere, bin ich dann immer noch „ich“? Wenn ich Alzheimer bekomme und meine Erinnerung und meine Persönlichkeit verliere, bin ich dann immer noch „ich“? Das Problem hat damit zu tun, dass wir das „Ich“ mit bestimmten Aspekten unserer Erfahrung identifizieren – zum Beispiel mit unserem Körper als ein Ganzes oder unserem Geist als ein Ganzes. Dann denken wir, dass das „Ich“ mit diesem einen monolithischen Ding identisch ist. Schließlich kann das „Ich“ keine Teile verlieren, wenn es nicht aus Teilen besteht.
Sollten wir wirklich zwischen der Vorstellung von einer monolithischen Person – etwa wie von einer steinernen Statue – und auf der anderen Seite dieser Vorstellung, dasselbe wie meine Gefühle zu sein, unterscheiden? Beides sind Illusionen, warum müssen wir da einen Unterschied machen?
Es handelt sich um zwei verschiedene Angelegenheiten. Die Vorstellung, dasselbe zu sein wie unsere Gefühle, geht damit einher, sich nicht getrennt davon bzw. uneins damit zu fühlen. Das ist etwas anderes als die Vorstellung von einem teilelosen Monolithen, der eben einfach „eins“ ist.
Ich habe ein kleines Problem mit dem Wort „monolithisch“. Es klingt etwas statisch. Für mich geht es mehr um einen auf einen bestimmten Punkt gerichteten Fokus, eher einen Prozess. Es scheint etwas zu geben, dass die Zeit überdauert, aber all diese Erfahrungen beinhaltet. Ist es das was Sie unter „monolithisch“ verstehen? Ist es etwas, das sich wie ein Faden durch das Leben zieht?
Dazu kommen wir später. Es gibt eine Beweisführung, die in der Meditation über die Leerheit verwendet wird, welche „weder eins noch viele“ genannt wird. In dieser Beweisführung wird „eins“ folgendermaßen erklärt: „Alex“ und „Alex“ sind eins. „Alex“ und „Dr. Berzin“ sind zwei. Sie sind verschieden. Sie beziehen sich zwar auf dieselbe Person, sind aber nicht völlig identisch. Es sind verschiedene Worte. „Eins“ bedeutet immer: vollkommen identisch.
Ist da nun ein bestimmtes Etwas in mir, das heilig ist, und das das wirkliche „Ich“ und immer dasselbe ist? Die Menschen können mich „Dr. Berzin“ oder „Alexander“ nennen, sie können mich irgendetwas nennen. Für mich selbst aber bin ich wirklich „Alex“. Das ist interessant. Hattet ihr je diese Erfahrung? Ich habe verschiedene Namen. Beruflich nennen die Menschen mich so und so, meine Freunde nennen mich anders – wer also bin ich wirklich? Für mich bin ich wirklich „Alex“. Der Punkt ist, dass die Vorstellung nicht korrekt ist. Vielleicht hat sie mit dem Gefühl zu tun, dass es all diese verschiedenen Ebenen des „Ich“ gibt, jede mit einem unterschiedlichen Namen, aber irgendwo da drinnen ist dieses wirkliche „Ich“, ein heiliges Ding ohne all diese Teile mit den verschiedenen Namen. Vermutlich ist es eher so. Ich glaube, die meisten Leute denken so. Ist es etwas, das Sie in sich selbst erkennen können?
Die ganze Übung der Meditation über die Leerheit ist, wie gesagt, ein Prozess. Es reicht nicht, wenn jemand uns einfach bloß in einem Satz sagt, was Leerheit ist, und wir das dann aufschreiben und es dabei bewenden lassen.
Solange wir nicht den befreiten Zustand eines Arhat erreicht haben, scheint dieses Gefühl eines „Ich“ immer vorhanden zu sein. Das „Ich“ mag sich ändern, aber das Gefühl eines „Ich“ ist immer da.
Das konventionelle „Ich“ ist immer da, klar. Aber wir fügen dem etwas hinzu und übertreiben es. Das ist das Problem. Wir projizieren darauf irgendein besonderes innerliches „Ich“, das immer ein und dasselbe ist, ohne irgendwelche Teile.
Wie sieht es mit dieser Erfahrung aus: Wir sagen: „Du hast mich wirklich verletzt“, so als wenn jemand diesen wirklich tiefen Ort in mir getroffen hätte, an dem es schmerzt. Alles andere, was du gesagt hast, war schon schlimm genug, aber nun „hast du MICH wirklich getroffen“. Das ist es, worum es hier geht. Wir sind ganz entrüstet. „Das ist MEIN persönliches besonderes ICH!“
Ist das, was in einer solchen Situation wirklich verletzt wird, nicht vielleicht etwas, das wir nie anzusehen wagten, etwas wie unsere neurotische Seite, unser Schatten? Ist es etwas, das sich von selbst auflösen würde, wenn wir fähig wären, es genau anzusehen?
Wir müssen hier vorsichtig sein. Wenn in der Jung‘sche Psychologie von unserer Schattenseite die Rede ist, einer negativen Seite, die für gewöhnlich unbewusst bleibt, so wird dabei immer noch angenommen, dass diese Schattenseite real ist. Im Buddhismus ist das falsche „Ich“ nichts, was real ist. Darin besteht also ein großer Unterschied. Und um diese Fehleinschätzung in Bezug auf uns selbst und darüber, wie wir existieren, loszuwerden, reicht es auch nicht aus, uns nur dieser Fehleinschätzung bewusst zu werden, auch wenn das immerhin ein Anfang ist. Wir müssen erkennen, dass diese Fehleinschätzung sich nicht auf etwas Wirkliches bezieht.
Sobald wir unser persönliches besonderes „Ich“ anschauen, ist es nicht mehr heilig.
Die Frage ist: Wenn wir versuchen, es anzuschauen – gibt es da etwas, was wir finden können?
Veränderung.
Was bleibt übrig, wenn wir uns von dem falschen „Ich“ befreit haben? Es bleibt ein Selbst, das sich immerzu verändert. Nun gut, was ist das? Sie sagten „Veränderung“, aber kann es Veränderung geben ohne etwas, das veränderlich ist? Ist es ein festes, auffindbares Ding, das sich ändert, oder was? Bitte denken Sie darüber nach.