Falsche Vorstellungen durch Glauben an ein falsches "Ich"

Rückblick

Wir haben die Ursache unserer Probleme im Leben erörtert, unsere Ignoranz bzw.nd unser fehlendes Gewahrsein in Bezug auf Ursache und Wirkung unseres Verhaltens sowie auf die Natur der Wirklichkeit. Entweder verstehen wir sie nicht oder wir verstehen sie falsch. Wegen unseres fehlenden Gewahrseins bezüglich der Natur der Wirklichkeit greifen wir nach wahrer Existenz. Was wahre Existenz ist, kann man auf verschiedene Weise definieren, aber einfach ausgedrückt geht es darum, dass Dinge als etwas Gegenständliches zu existieren scheinen und wir glauben, dass das wahrhaftig die Art ist, wie sie existieren. Unser Körper erscheint fest und gegenständlich, während er in Wirklichkeit aus Atomen und Energiefeldern besteht. Er ist keineswegs fest. Ebenso scheinen unsere Probleme etwas Gegenständliches zu sein, setzen sich aber aus aufeinander folgenden Momenten zusammen. Es ist nichts Gegenständliches da.

Wir können nach der wahren Existenz von Personen oder Phänomenen greifen. Die „Personen“ können wir selbst oder andere sein. Wir haben in erster Linie die Probleme ins Blickfeld gerückt, die sich im Zusammenhang mit der Sichtweise unserer selbst ergeben – damit, wer wir sind. Wir haben das im Hinblick auf die fünf Aggregate erörtert. Jeder Moment unserer Erfahrung wird aus einer oder mehreren Komponenten gebildet, die in fünf Säcken bzw. Anhäufungen zusammengefasst sind. In jedem Moment ist stets irgendeine Art physischer Phänomene beteiligt – unser Körper, unser Gehirn, die fotosensitiven Zellen unserer Augen usw. Der Begriff „Form“ schließt hier auch Aussehen, Klang, Geruch usw. mit ein – zum Beispiel den Anblick des Körpers von jemandem. Des Weiteren ist auch das Primärbewusstsein beteiligt: der Kanal, den wir eingestellt haben, d.h. ob wir sehen, hören, tasten, riechen, eine körperliche Empfindung erleben oder denken. Eine weitere Komponente ist das Unterscheiden. Innerhalb des jeweiligen Gewahrseinsbereiches – des Sichtbaren, Hörbaren oder anderem – unterscheiden wir ein Objekt vom Hintergrund. Dazu kommt auch noch eine Ebene des subjektiven Glücklich- oder Unglücklichseins. Und darüber hinaus gibt es noch den großen Sack mit allem anderen, was unsere Erfahrung beeinflusst: all unsere positiven und negativen Emotionen, all unsere Bedürfnisse und Impulse, etwas zu tun (Karma), Interesse, Aufmerksamkeit und Konzentration – Aspekte, die dabei mitwirken, uns auf etwas auszurichten. In diesem großen Sack befinden sich auch Phänomene der dritten grundlegenden Kategorie, nämlich derjenigen der nicht-statischen Phänomene: nicht-statische Phänomene, die weder eine Form physischer Erscheinungen sind noch eine Art und Weise, sich einer Sache gewahr zu sein. Darin mit inbegriffen sind unsere Gewohnheiten, unser Alter und das konventionelle „Ich“.

Das konventionelle „Ich“ ist eigentlich eine Zuschreibung, die nur durch geistiges Bezeichnen existiert. Wir haben in jedem Augenblick die fünf veränderlichen Aggregate, von denen sich jedes in unterschiedlicher Geschwindigkeit ändert. Wenn wir die Achtsamkeits-Meditation der Theravada-Tradition üben, versuchen wir uns der ständigen Veränderung des Geschehens gewahr zu sein, sodass wir schließlich sehen, dass es in all diesen Veränderungen kein festes „Ich“ gibt. Wie dem auch sei – wenn im Mahayana vom konventionellen „Ich“ die Rede ist, ist es bloß eine Abstraktion, die zugeschrieben wird, um auf diese Weise eine bestimmte Kontinuität sich ständig ändernder Faktoren der subjektiven Erfahrung zusammenzufassen.

Dieser Prozess der Veränderung verläuft in einer individuellen Abfolge, etwa so wie ein Film, und die Abfolge wird durch Karma, Ursache und Wirkung des eigenen Verhaltens sowie durch all die äußeren Faktoren bestimmt, mit denen wir in Wechselwirkung stehen. Wie in einem Film, der abgespielt wird, gibt es eine Kontinuität, obwohl es nichts Festes gibt, das sich von einem Bild zum nächsten fortsetzt. Genauso gibt es nichts Festes, das im Film unseres Lebens von einem Moment zum nächsten weiterläuft. Trotzdem gibt es eine Kontinuität. Seien Sie aber hier vorsichtig mit der Analogie des Films. Es geht nicht um die fortlaufenden Plastikstreifen, denen die Bilder des Films aufgeprägt sind, oder um die leere Leinwand, auf die der Film projiziert wird. Es geht hier nur um den Film selbst, während er abgespielt wird.

So wie der Film selbst nicht dasselbe wie der Titel des Films ist, ähnlich besteht auch das konventionelle „Ich“ nicht bloß darin, dass ein Wort auf diesen Strom von Aggregaten bezogen wird. Das konventionelle „Ich“ ist kein Wort. Es ist das, was das Wort bedeutet: Es ist die Bedeutung des Wortes auf der Grundlage eines Kontinuums sich fortwährend ändernder Faktoren. Das konventionelle „Ich“ ist wie eine Illusion, weil nichts Gegenständliches da ist. Das Problem ist, dass es so nicht erscheint. Es erscheint uns vielmehr so, als gäbe es da etwas Gegenständliches, und wir glauben, dass das wahr ist.

Die gröbste Ebene dessen, was erscheint, ist dasjenige, woran laut Aussage der Buddhisten die Hindus glauben. Ich formuliere das hier so, um den Hindus gerecht zu werden. In diesem Kontext spielt es keine Rolle, woran die jetzigen Hindus tatsächlich glauben. Im Buddhismus bezieht man sich hier auf eine bestimmte falsche Ansicht, die uns als wahr erscheint. Was uns erscheint, ist nicht so wie in der Analogie des Films, sondern eher ein festes „Ich“, das sich wie eine Statue auf einem Förderband durchs Leben bewegt.

Dieses falsche „Ich“ hat drei Eigenschaften. Erstens ist es statisch, das heißt, dass es sich nicht nur nicht verändert, sondern von nichts beeinflusst wird und auch selbst nichts anderes beeinflusst. Es scheint abgesondert vom Prozess der Ursachen und Wirkungen zu sein, so, als könnten wir uns innerlich auf ein bestimmtes kleines „Ich“ zurückziehen und alles vermeiden. Zweitens erscheint es auch so, als ob dieses „Ich“ monolithisch wäre, d.h. ohne irgendwelche Teile und immer gleich bleibend ein und dasselbe. Die dritte Eigenschaft ist, dass es scheinbar von den Aggregaten getrennt existieren kann, statt Teil davon zu sein, so, als wäre es etwas, das sich davon lösen und in einen anderen Körper und Geist davonfliegen könnte.

Wenn wir über die Leerheit des „Ich“ sprechen, verneinen bzw. widerlegen wir nicht das konventionelle „Ich“, noch verneinen wir, dass die Projektion eines falschen „Ich“ existiert. Wir widerlegen, dass das konventionelle „Ich“ in der Art und Weise dieses falschen „Ich“ existiert. Das Wort Leerheit bedeutet „eine Abwesenheit“. Das, was nicht da ist bzw. was es nicht gibt, ist, dass unsere Projektion eines falschen „Ich“ sich auf etwas Wirkliches bezieht – ein wirklicher Bezugspunkt unserer Projektion ist nicht da. Es ist keine Abwesenheit in dem Sinne, wie etwa ein Elefant in diesem Raum abwesend ist, weil er in einem anderen Raum ist. Es ist vielmehr Abwesenheit in dem Sinne, wie im Raum kein rosa Elefant ist – den es nämlich überhaupt nicht gibt. Doch es ist mehr als das. Es handelt sich um eine Abwesenheit in dem Sinne, dass dieser Raum nicht so existiert, als gäbe es darin ein Monster. „Leerheit“ bezieht sich auf die Abwesenheit einer unmöglichen Art zu existieren, die niemals existierte. Die Art des Existierens, die hier widerlegt wird, ist, dass das konventionelle „Ich“ so existiert, wie das falsche „Ich“ zu existieren scheint.

Eliminieren wir diese völlig eingebildete, unmögliche Art des Existierens – Existenz als ein statisches, monolithisches „Ich“, getrennt von den Aggregaten – dann sehen wir, was übrig bleibt. Was übrig bleibt, ist ein „Ich“, das sich fortwährend ändert usw., aber wir projizieren es so, als wäre es der Chef, der die Dinge im Griff hat, die Hebel in Bewegung setzt und entscheidet was zu tun ist. Es macht sich Sorgen und ist der Autor der Stimme in unserem Kopf. Es erscheint uns allen so, als wäre es das, was wir wirklich sind.

Wenn wir erkennen, dass auch das sich auf nichts Wirkliches bezieht und dass es nur eine Projektion ist, die sich auf Erscheinungen beruht, dann bleibt immer noch übrig, dass wir ein „Ich“ projizieren, welches trotzdem für sich genommen erkannt werden kann. Wenn wir wünschen, dass jemand „mich“ liebt, nur „mich“ um meiner selbst willen und wegen nichts sonst, meinen wir dann nicht, dass jemand uns lieben kann, ohne gleichzeitig etwas an uns zu lieben, wie unseren Körper, unseren Verstand, unsere Persönlichkeit, unseren Humor, unsere Art, etwas zu tun, das, was zu uns gehört usw.? Doch das ist unmöglich.

Was dann noch übrig bleibt, ist die geistige Zuschreibung. Wir denken aber immer noch – und unser Geist lässt es so erscheinen – dass es irgendein individuelles, bestimmendes, charakteristisches Merkmal gibt, das in mir zu finden sein müsste, das mich zum „Ich“ macht und nicht zum „Du“ und es mir ermöglicht, mich korrekt als „Ich“ und nicht als „Du“ zu bezeichnen. Es fällt uns schwer zu sagen, was es denn ist, das mich zu „mir“ macht, doch wir denken, dass da irgendetwas sein muss. Wenn wir aber untersuchen, ob es etwas gibt, das uns zu dem macht, was wir sind, und eine korrekte Bezeichnung ermöglicht, entdecken wir, dass da nichts zu finden ist. Übrig bleibt die Tatsache, dass unsere Existenz als „Ich“ einzig und allein im Sinne einer geistigen Zuschreibung erwiesen ist.

Die drei Faktoren, die die Gültigkeit einer geistigen Zuschreibung bestimmen

Sind alle geistigen Bezeichnungen korrekt, einfach von alleine? Wenn jemand denkt, ich wäre ein Fenster, und mich Fenster nennt, heißt das, dass ich ein Fenster bin? Ganz offensichtlich nicht. Geistiges Bezeichnen hängt von drei Faktoren ab, um gültig zu sein. Der erste ist, dass es sich bei der Bezeichnung um eine allgemeine Übereinkunft handeln muss, die von einer bestimmten Gruppe von Menschen verwendet wird, und dass das so Bezeichnete entsprechend dem funktionieren muss, als was es bezeichnet wird. Wir können von unseren Schülern als „Lehrer“ bezeichnet werden, von unserer Familie als „Verwandter“ und von der Mücke als „Futter“. Jede dieser Bezeichnungen ist gültig, weil wir für diese Gruppe von Lebewesen diese Funktion erfüllen. Dadurch wird unsere konventionelle Existenz als Lehrer, als Verwandter und als Futter für die jeweilige Gruppen erwiesen.

Die zweite Bedingung ist, dass die Bezeichnung nicht einem Geisteszustand widerspricht, der konventionelle Wahrheit gültig erkennt. Wenn eine Gruppe kurzsichtiger Menschen uns aus der Entfernung ohne Brillen betrachtet und uns als etwas Verschwommenes sieht, macht uns das nicht verschwommen. Wir sind nicht verschwommen. Es wird widerlegt, wenn sie ihre Brillen wieder aufsetzen.

Der dritte Faktor ist, dass die Bezeichnung nicht einem Geisteszustand widerspricht, der die tiefste Wahrheit gültig erkennt. Wenn eine Gruppe von Menschen denkt, dass in mir etwas zu finden ist, das mich zu „mir“ macht oder dass etwas in mir zu finden ist, das mich wirklich zu einem Monster macht, dann wird das dadurch nicht wahr. Wenn wir die Wirklichkeit erkennen, erkennen wir, dass niemand so existiert. Eine Person kann sich in bestimmten Situationen wie ein Monster verhalten, das heißt aber nicht, dass sie für immer unveränderlich ist und dass sie jedem als Monster erscheint. Dann müsste sie auch für ihren Haushund ein Monster sein. Das „Ich“ existiert lediglich in Sinne geistiger Zuschreibung.

Wenn wir sehen, dass die Projektion eines falschen „Ich“, das beispielsweise als Monster existiert, sich auf nichts Wirkliches bezieht, hören wir auf, das falsche „Ich“ und „Monster“ zu projizieren. Hören wir auf, dies zu projizieren, so heißt das nicht, dass der Film vorbei ist. Der Film unserer Aggregate und des konventionellen „Ich“ geht weiter. Wenn ich zum Beispiel einen Horrorfilm sehe und aufhöre anzunehmen, dass da ein wirkliches Monster ist, das mich packen will, geht der Film dennoch weiter. Was als Nächstes im Film kommt, tritt abhängig von den Ursachen und Umständen auf, basierend auf den bisherigen Geschehnissen in dem Film.

Das Gleiche gilt für unser Leben. Das konventionelle „Ich“ besteht weiterhin, auch nachdem wir die Leerheit verstanden haben. Die Grundlage, der dieses „Ich“ zugeschrieben wird, ist die Kontinuität der Aggregatsbestandteile, die jeden Moment unserer individuellen subjektiven Erfahrung ausmachen, während diese Momente entsprechend Ursache und Wirkung unseres Verhaltens einander folgen.

Verblendete Anschauungen

Lassen Sie uns ein wenig darüber sprechen, was aus dem Greifen nach wahrer Existenz folgt. Dieses Greifen kann die wahre Existenz von Personen oder aller Erscheinungen betreffen; aber wir wollen hier nur über Personen sprechen. Das Greifen nach wahrer Existenz von Personen ist eine Geisteshaltung, die eine bestimmte Art von falschem „Ich“ auf das konventionelle „Ich“ projiziert und glaubt, dass dieses falsche „Ich“ wahr ist. Das kann in Bezug auf das eigene konventionelle „Ich“ geschehen oder auch in Bezug auf irgendeine andere Person jeglicher Lebensform: Menschen, Tiere, Geister usw. Einfach ausgedrückt: Es geht um das Greifen nach der wahren Existenz einer Person und den Glauben an eine Art festes, substanzielles „Ich“.

Was basierend auf einem solchen Greifen folgt, ist eine verblendete Anschauung in Bezug auf das vergängliche Netzwerk, das unsere Erfahrung ausmacht. Verblendete Anschauungen sind eine Art der störenden Emotionen oder Einstellungen. Störende Emotionen und Einstellungen sind geistige Faktoren. Wenn sie auftreten und Momente unserer Sinnes- oder geistigen Wahrnehmung begleiten, bewirken sie, dass wir unseren Geistesfrieden verlieren und außer Kontrolle geraten. Sie bewirken, dass uns und andere sich unwohl fühlten. Einige davon gehen nicht mit einer bestimmten Lebensanschauung einher und in abendländischer Begrifflichkeit würden wir sie verstörende Emotionen nennen, wie beispielsweise Wut und Anhaftung. Andere dieser geistigen Faktoren gehen mit einer bestimmten Lebensanschauung einher, und wir werden sie störende Einstellungen nennen. Es gibt fünf solcher Einstellungen. Die erste dieser störenden Einstellungen, die mit einer Lebensanschauung verbunden sind, ist die verblendete Anschauung bezüglich eines vergänglichen Netzwerks. „Vergängliches Netzwerk“ bezieht sich hier auf das Netzwerk unserer fünf vergänglichen, sich verändernden Aggregate.

Das Greifen nach wahrer Existenz einer Person kann sowohl auf uns selbst als auch auf andere Personen gerichtet sein; die verblendete Anschauung bezüglich des vergängliches Netzwerks ist jedoch so definiert, dass sie nur auf uns selbst gerichtet ist.

Die Erläuterung dieser verblendeten Anschauung ist ziemlich komplex. Viele buddhistische Systeme nehmen an, dass sie auf ein Netzwerk unserer Aggregate gerichtet ist und dieses nicht korrekt erfasst, sondern im Sinne eines falschen „Ich“ entweder als „mich“ oder „mein“ betrachtet. Gemäß der Darstellung des Prasangika-Systems, die in der Gelug-Tradition gelehrt wird, richtet sich diese verblendete Anschauung auf das Netzwerk von Aspekten unseres konventionellen „Ich“, und indem sie darauf das falsche „Ich“ projiziert, hält sie dieses falsche „Ich“ entweder für identisch mit den Aggregaten oder für „mich selbst, deren Besitzer“. Um die Erläuterung zu vereinfachen, wollen wir hier vom Standpunkt der ersteren Position sprechen.

Die verblendete Anschauung bezüglich eines vergänglichen Netzwerks hat mehrere Ausprägungen: einen, der das „Ich“ betrifft, und drei Aspekte, die das „das Meinige“ betreffen. Da jeder dieser vier Aspekte auf jedes dieser fünf Aggregate bezogen werden kann, ergeben sich somit zwanzig verblendete Anschauungen bezüglich des vergänglichen Netzwerks. Wir wollen hier nur über die verblendete Anschauung in Bezug auf den Körper sprechen.

Die erste Ausprägung davon ist: „Ich bin dieser Körper“. Das ist eine Vorstellung von einem festen „Ich“, das identisch mit diesem Körper ist. Wir sehen uns selbst in einem Spiegel und denken: „Ich bin ein alter Mensch“, „Ich bin eine dicke Person“, „Ich bin eine dürre Person“ usw. Wir können uns aber auch mit dem Geist identifizieren: „Ich bin klug. Ich bin mein Verstand“. Wieder ist die Art des falschen „Ich“, die hier beteiligt ist, ein statisches, monolithisches, durch nichts beeinflusstes „Ich“. Für eine Person, die meint, dass sie dick ist, ist es nicht ihr tatsächliches Gewicht von Belang; in ihrem Geist ist sie „dick“. Für jemanden, der meint, dass er hässlich ist, spielt es keine Rolle, wie schön er nach Aussage anderer Leute ist; in seinem Geist denkt er: „Das meint ihr in Wirklichkeit gar nicht. Ich bin hässlich“.

Die drei anderen Arten der verblendeten Anschauung betrachten die Aggregate – den Körper zum Beispiel – als „mein“ im Sinne von etwas, das das falsche „Ich“ besitzt, beherrscht oder bewohnt. Im ersteren Fall sieht man die Aggregate als etwas an, das ich als „meins“ besitze. Die Formulierung „das ist mein, ich besitze es, ich habe es“, können wir in zweierlei Hinsicht verwenden: beispielsweise „dieser Körper ist meiner“ oder „dieses Huhn ist meines“. Hier gibt es einen Unterschied: Der Körper ist immer bei uns, das Huhn nicht. Allgemein kann diese Art Anschauung beispielsweise bei Männern folgende Form annehmen: „Ich habe ein Sexualorgan. Ich habe einen muskulösen Körper“, oder bei einer Frau: „ Ich habe eine Gebärmutter. Ich kann Kinder bekommen“. Entsprechend der der Analogie gemäß der Formulierung: „Ich habe ein Huhn“ könnte sie lauten: „Ich habe Geld (oder: ein wunderschönes Haus, oder: ein schnelles Auto) – es sind ‚mein‘ “. Wir erfassen fälschlich ein festes „Ich“, dem irgendein Teil der Aggregate als Besitz, als „meins“ gehört.

Über die zweite Art dieser verblendeten Anschauung bezüglich des vergänglichen Netzwerks als „meins“ haben wir schon gesprochen, nämlich im Zusammenhang mit der falschen Auffassung, dass unsere Aggregate, wie etwa unser Körper oder Leib etwas wären, das dieses feste „Ich“ beherrscht und beliebig verwendet. Die dritte Art betrachtet beispielsweise unseren Kopf oder Gehirn als den Ort, wo das feste „Ich“ ansässig ist. Wir denken: „Mir geht da eine Stimme im Kopf herum, also muss ‚ich’ mich in meinem Kopf befinden.

Die drei giftigen Geisteshaltungen

Diese Unterarten der verblendeten Anschauung in Bezug auf das vergängliche Netzwerk bieten viel Anlass, darüber nachzudenken. Wir müssen sie in uns selbst wiederfinden und erkennen, dass es uns wirklich so erscheint. Zum Beispiel denken wir: „Ich habe einen guten Verstand“, und zwar so, als ob da ein festes „Ich“ wäre, das einen Verstand besitzen könnte. Beruhend auf einer solchen Ansicht über uns entwickeln wir störende Emotionen. Wir sind unsicher im Hinblick auf dieses scheinbar feste „Ich“ und diesen guten Verstand, den es besitzt, und meinen deshalb, wir müssen beispielsweise mit Arroganz beweisen, wie klug wir sind, indem wir in der Schule alle Fragen beantworten und niemand anderem die Möglichkeit dazu lassen.

Die am häufigsten auftretenden störenden Emotionen sind die so genannten drei giftigen Emotionen und Einstellungen – Naivität, sehnsüchtiges Verlangen und Feindseligkeit. Der Begriff, den wir hier als „Naivität“ wiedergeben – auf Sanskrit moha – ist nicht einfach zu übersetzen. Früher habe ich ihn als „engstirnige Ignoranz“ oder als „törichte Verwirrung“ übersetzt. Es handelt sich um eine Unterart der Ignoranz bzw. Unwissenheit hinsichtlich Ursache und Wirkung unseres Verhaltens oder hinsichtlich der Wirklichkeit. Unwissenheit hinsichtlich Ursache und Wirkung unseres Verhaltens begleitet nur zerstörerische Zustände des Geistes, während Unwissenheit hinsichtlich der Realität nicht nur zerstörerische, sondern auch konstruktive und ethisch neutrale Zustände des Geistes begleiten kann. Der Ausdruck „Naivität“, wie er hier verwendet wird, bezieht sich ausschließlich auf diejenige Unwissenheit – sei es hinsichtlich Ursache und Wirkung oder der Realität -, welche zerstörerische Zustände des Geistes begleitet.

Mit der verblendeten Anschauung in Bezug auf das vergängliche Netzwerk könnten wir zum Beispiel ein festes „Ich“ mit unserem Geschlecht identifizieren – etwa ein Mann zu sein. Ein Beispiel darauf beruhender Naivität wäre die Unwissenheit, die das Töten von jemandem in einem Duell begleitet, der uns beleidigt hat, wobei wir meinen, uns dadurch als Mann zu beweisen. Wenn wir hingegen jemandem bei einer schweren körperlichen Arbeit helfen und meinen, uns dadurch als Mann zu beweisen, so ist diese Einstellung zwar ein Beispiel für Unwissenheit bzw. Ignoranz, aber nicht für Naivität in dem Sinne des Wortes, wie wir es hier verwenden. Eine Bierflasche mit unseren Zähnen zu öffnen und zu meinen, dass das uns als Mann beweist, ist ebenfalls Ignoranz, aber nicht Naivität. Offensichtlich ist „Naivität“ auch keine sehr gute Übersetzung für diese giftige Einstellung, aber mir fällt keine bessere Möglichkeit ein, wie man diesen Begriff übersetzen könnte.

Die zweite giftige Emotion ist sehnsüchtiges Verlangen. Mit dieser störenden Einstellung übertreiben wir die guten Eigenschaften von jemandem oder etwas, der oder das uns nicht gehört, und meinen, dies haben zu müssen. Gemäß einer anderen Definition ist diese störende Einstellung „Anhaftung“. Auch sie übertreibt die guten Eigenschaften von jemandem oder etwas, in dem Fall jedoch von jemandem oder etwas, den oder das wir haben und nicht loslassen wollen. Wir könnten uns zum Beispiel als solides „Ich“ betrachten und unseren Geist und die Bücher in unserem Haus als “mein“. Mit sehnsüchtigem Verlangen übertreiben wir die guten Eigenschaften von Büchern, betrachten sie als von sich aus begehrenswert und meinen, immer mehr davon kaufen zu müssen – auch wenn wir gar keine Zeit haben sie zu lesen – um zu zeigen, dass wir „ein Intellektueller“ sind. Ebenso kann das in Bezug auf Freunde, Aufmerksamkeit oder irgendetwas anderes der Fall sein, in der Hoffnung, unsere Identität dadurch abzusichern.

Die dritte giftige Emotion ist Ärger bzw. Feindseligkeit. Sie ist ein grober Zustand des Geistes, der die schlechten Eigenschaften von etwas oder jemandem übertreibt und ihm schaden oder es oder ihn loswerden will. Ärger kann sich auch auf eigenes Leiden beziehen oder auf Situationen, die Leiden verursachen könnten. Wir können auf eine Person ärgerlich sein oder auf unsere Krankheit oder auf Gefängnismauern. Es ist, als könne unsere Krankheit ausgesondert und abgeschlossen werden. Etwas bedroht uns, bedroht unsere Identität als festes „Ich“. Wir könnten zum Beispiel glauben: „Ich bin eine ordentliche und nette Person. Ich habe meine Gewohnheiten. Das ist die Art und Weise, wie ich meine Küche in Ordnung halte“. Dann kommt jemand herein, liegt etwas woanders hin, tut etwas auf andere Weise, und wir werden sehr feindselig und wollen, dass er aus „MEINER Küche“ verschwindet – „ich mache das so!“ Das ist Feindseligkeit.

Diese giftigen Emotionen und Einstellungen wirken als Umstände dafür, dass ein karmischer Impuls auftaucht. Es kann zum Beispiel das Bedürfnis sein, etwas Boshaftes zu sagen. „Hau ab aus meiner Küche, du Idiot!“ Oder wir sehen ein Buch im Laden und denken zwanghaft: „Das muss ich haben!“ Oder wir sehen eine Gruppe von Männern da stehen und eine Bierflasche und denken: „Ich muss Ihnen zeigen, was ich für ein Mann bin!“ Das Bedürfnis, etwas Boshaftes zu sagen, das Buch zu kaufen oder die Bierflasche mit den Zähnen zu öffnen, ist ein Beispiel für Karma. Wir agieren diesen Impuls aus und tun etwas, das dann Wirkungen erzeugt. Kann sein, dass die nächste Szene im Film nicht so angenehm ist.

Dies zeigt, sehr einfach dargestellt, wie das alles funktioniert. Deswegen wollen wir dieses Greifen nach wahrer Existenz loswerden. Es reicht nicht, nur unsere verblendete Anschauung in Bezug auf das vergängliche Netzwerk loszuwerden. Wenn wir uns damit identifizieren, dass wir eine hässliche, kleine, dicke, Person sind, die niemand liebt, können wir erkennen, dass das lächerlich ist. Es bezieht sich nicht auf etwas Wirkliches. Aber damit haben wir noch nicht unser Greifen nach wahrer Existenz beseitigt. Wir haben vielleicht einen relativ kleinen, dicken und hässlichen Körper und erkennen, dass das nicht unsere wahre Identität ist, greifen aber dennoch nach einem festen „Ich“ und handeln auf dieser Basis selbstsüchtig. Wir müssen bis zur Wurzel vordringen: zum Greifen nach wahrer Existenz.

Ich muss noch hinzufügen: Wenn wir nicht nach einem festen„Ich“ greifen, dann greifen wir nicht nach einer Identität dieses „Ich“ in unseren Aggregaten, beispielsweise unserem Körper; also meinen wir nicht, dass das feste „Ich“ etwas besitzen würde, z.B. einen attraktiven Körper. Ohne diese falsche Auffassung haben wir kein sehnsüchtiges Verlangen, mit dem wir unbewusst meinen, jede Nacht eine Affäre zu haben würde beweisen, dass wir einen attraktiven Körper haben und dass wir existieren. Wir sehen also an diesem Beispiel: Wenn wir die Wurzel unserer Probleme ausräumen, fällt alles Übrige auseinander.

Zuhören und nachdenken

Wie meditieren wir über das alles? Wie fangen wir das an? Lassen Sie mich zuerst ein wenig über die Theorie der Meditation erklären. „Meditation“ heißt: etwas als positive Gewohnheit aufbauen. Zuerst versuchen wir, einer korrekten Erklärung zuzuhören. Der zweite Schritt ist, darüber nachzudenken, um sie zu verstehen. Wenn wir unsere ganze Meditationszeit mit dem zweiten Schritt verbringen, zum Beispiel mit dem Versuch zu verstehen, was Leerheit bedeutet, dann ist das in Ordnung. Wir müssen uns Zeit dafür nehmen. Es ist nicht einfach. Wir müssen verstehen, was wir gehört oder gelesen haben, und die Überzeugung gewinnen, dass es korrekt ist. Denn warum sollten wir es akzeptieren, wenn wir nicht zu der Überzeugung gelangen, dass es korrekt ist? Die eigentliche Meditation bewirkt dann, dass wir das, was wir gehört und verstanden haben, zu einem Teil unserer selbst machen, es integrieren. Im Falle der Meditation über die Leerheit unserer selbst müssen wir ein korrektes Verständnis davon entwickeln können und dann werden, uns selbst in diesem Licht zu sehen. Durch häufige Wiederholung entwickelt Meditation dieses Verständnis zu einer heilsamen Gewohnheit.

Um die Leerheit zu verstehen und überzeugt zu sein, dass das Verständnis korrekt ist, müssen wir das Ganze logisch untersuchen. Wie erkennen wir etwas? Was ist eine gültige Erkenntnis? Im Buddhismus ist von zwei Arten gültiger Erkenntnis die Rede. Entweder wir nehmen etwas unmittelbar mit unseren Sinnen wahr oder wir schlussfolgern es. Zum Beispiel können wir eine Bergflanke sehen, und indem wir ein Haus dort sehen, erkennen wir gültig, dass sich dort am Berg ein Haus befindet. Wir erkennen das durch direkte Wahrnehmung, ohne auf Logik angewiesen zu sein.

Wie erkennen wir aber, dass in diesem Haus jemand lebt oder es nutzt? Jeden Tag sehen wir Rauch aus dem Schornstein aufsteigen. Wir können dort drinnen niemanden sehen, doch wenn Rauch aus dem Schornstein aufsteigt – nicht nur einmal, sondern jeden Tag -, können wir daraus schließen, dass innen jemand ein Feuer machen muss; also muss jemand dort leben oder jeden Tag dorthin kommen. Wir stellen das durch schlussfolgernde Erkenntnis fest.

Für eine Schlussfolgerung sind wir auf eine gültige Argumentationskette angewiesen. Im obigen Fall würde diese folgendermaßen lauten: Wo Rauch ist, ist Feuer. Jeden Tag kommt Rauch aus dem Schornstein, also muss jeden Tag Feuer im Haus sein. Wenn jeden Tag Feuer im Haus ist, muss jeden Tag jemand dort sein, der Feuer macht. Wenn jeden Tag jemand im Haus ist und Feuer macht, muss entweder jemand dort leben oder jeden Tag ins Haus kommen. Auf diese Argumentationskette stützen wir uns, um das Verständnis bzw. die Überzeugung zu entwickeln, dass dort jemand ist.

Das Verständnis geht hier mit einer auf Logik beruhenden Überzeugung einher. Das ist ein wichtiger Punkt. Wir müssen überzeugt sein, dass es wahr ist. Da ist jemand, der dort lebt oder hinkommt. Es ist nicht nur ein Denken, dass da wahrscheinlich jemand ist. Ähnlich ist es mit dem Verständnis der Leerheit: es ist nicht nur ein Denken, das da wahrscheinlich kein festes „Ich“ ist. Wir müssen wissen, dass da kein festes „Ich“ ist. Deshalb stützen wir uns auf einer Argumentationskette, um das zu verstehen und zu der Überzeugung zu gelangen. Das ist der zweite Schritt, der zur Meditation führt – der Schritt der Kontemplation oder des Nachdenkens.

Meditieren

Beim dritten Schritt durchlaufen wir nochmals die Argumentationskette. Das gehört zu dem, was manchmal „analytische Meditation“ genannt wird. Ich ziehe es vor, diesen Vorgang „klar erkennende Meditation“ zu nennen, denn Analyse ist in erster Linie das, was wir während des zweiten Schrittes durchführen, indem wir nachdenken, um Verständnis und Überzeugung zu gewinnen. Nun gehen wir jedoch die Argumentationskette nochmals durch, um unser Verständnis und unsere Überzeugung aufzufrischen. „Frisch“ heißt hier: so, dass es uns lebhaft im Geist gegenwärtig ist. Dann hören wir mit dem verbalen Denkprozess auf und versuchen einfach, die Dinge mit dieser Überzeugung klar zu erkennen.

Wir sprachen bereits darüber, wie wir erkennen können, dass kein Elefant in diesem Raum ist. Wir können das erkennen, wir können es sehen. Wir können erkennen, dass sich kein Monster im Raum befindet. Wir können auch erkennen, dass der Raum nicht von einem Monster heimgesucht wird. Auf ähnliche Weise erkennen wir, dass wir innerlich nicht von einem falschen „Ich“ heimgesucht werden. Wir versuchen das zu erkennen, ohne in Gedanken irgendetwas zu sagen.

Wenn wir die Abwesenheit eines falschen „Ich“ wirklich erkennen, lassen wir diese Erkenntnis tief ins Bewusstsein dringen. Dieses Eindringen-Lassen wird „stabilisierende Meditation“ oder „festigende Meditation“ genannt. Daraufhin wechseln wir zwischen klar erkennender und stabilisierender Meditation ab. Ist unsere stabilisierende Meditation nicht mehr ganz klar, so müssen wir wieder aktiv versuchen, die Abwesenheit des falschen „Ich“ deutlich zu erkennen. Dafür müssen wir vielleicht die Argumentationskette nochmals durchgehen, um unser Verständnis wieder aufzufrischen. Sobald wir sehr vertraut mit der Leerheit sind, werden wir das Verständnis immer wieder hervorrufen können, ohne auf die Argumentationskette zurückgreifen zu müssen; wir müssen es dann nicht mehr durch Schlussfolgerung hervorbringen.

Wenn wir durch eine Argumentationskette eine schlussfolgernde Erkenntnis gewinnen, so ist dies eine begriffliche Erkenntnis. Das bedeutet, dass wir etwas mittels einer Kategorie erkennen, zu der es gehört. Wir sehen zum Beispiel nicht tatsächlich eine Person in jenem Haus am Berg, sondern wir denken, dass dort eine Person ist, und zwar mithilfe der allgemeinen Kategorie „Person“. Einfach ausgedrückt: Wir denken mithilfe der Vorstellung von einer Person an die Person dort. Diese Vorstellung von einer Person muss nicht mit einer besonderen Form oder Gestalt verbunden sein, wie eine Person aussieht, und schon gar nicht damit, wie diese bestimmte Person aussieht. Vielmehr kann sie mit irgendeiner Art vorgestelltem Bild einhergehen, das eine Person repräsentiert, oder mit dem geistigen Klang des Wortes „Person“ verbunden sein.

Auch wenn wir eine schlussfolgernde Erkenntnis der Abwesenheit eines festen „Ich“ haben, richten wir den Geist in begrifflicher Weise darauf, nämlich mithilfe der Kategorie „Abwesenheit“. Doch wenn wir uns, mithilfe dieser Kategorie, auf die völlige Abwesenheit richten, die die Leerheit ist, muss unserem Geist irgendetwas erscheinen, das mit dieser begrifflichen Erkenntnis verbunden ist. Was erscheint, gleicht der Erscheinung von leerem Raum.

„Raum“ wird im Buddhismus definiert als die Abwesenheit von jeglichem greifbarem Hindernis, das räumliche Existenz oder Bewegung von etwas Materiellem behindern würde. Wie sieht ein leerer Raum aus? Nun, was sehen wir, wenn wir die Abwesenheit eines Elefanten in diesem Raum sehen? Wir sehen „nichts“. Aber wir wissen, dass dieses Nichts, das wir sehen, die Abwesenheit eines Elefanten in diesem Raum ist, nicht wahr? Es ist nicht einfach nur Nichts, oder? Bitte denken Sie darüber nach.

Leerheit ist insofern wie Raum, als sie die Abwesenheit jedweder unmöglichen Art von Existieren ist, die das konventionelle Existieren oder Funktionieren von etwas im Zusammenhang von Ursache und Wirkung verhindern würde. Wenn unser Geist sich mithilfe der Kategorie „Leerheit“ oder „Abwesenheit“ darauf ausrichtet, gleicht das, was uns in Verbindung damit erscheint, ebenfalls leerem Raum – nichts. Aber wir verstehen, dass dieses Nichts die Abwesenheit der unmöglichen Art des Existierens ist.

Im ersten Schritt unserer Meditation über Leerheit haben wir eine schlussfolgernde Erkenntnis der Leerheit. Unsere schlussfolgernde Erkenntnis ist, wie alle schlussfolgernden Erkenntnisse, begrifflich. Sie entsteht, indem sie sich unmittelbar auf eine Argumentationskette gründet und ist mithilfe der Kategorie „Leerheit“ auf die Leerheit gerichtet. Das ist ganz ähnlich wie bei jenem Vorgang, in dem wir uns mithilfe der Kategorie „Person“ auf die Person im Haus am Berg richten. Wir sehen und wissen nicht genau, wie die Person aussieht, aber wir haben eine allgemeine Vorstellung von einer Person. Ähnlich können wir nicht sehen und wissen nicht genau, wie Leerheit aussieht – oder genauer gesagt, wie die Erscheinung aussieht, die mit unbegrifflicher Erkenntnis der Leerheit einhergeht -, aber wir haben die allgemeine Vorstellung einer Abwesenheit, wie im Falle eines leeren Raumes.

Im nächsten Moment nach dieser schlussfolgernden Erkenntnis haben wir eine einfache begriffliche Erkenntnis der Leerheit. Gemäß dem Prasangika-Madhyamaka-System des indischen Buddhismus, wie es in der Gelug-Tradition dargestellt ist, kann die einfache Wahrnehmung in zweierlei Form auftreten: begrifflich oder nicht begrifflich. Beide sind insofern „einfach“, als keine der beiden direkt auf eine Argumentationskette gestützt ist. Begriffliche einfache Wahrnehmung der Leerheit ist immer noch mithilfe der Kategorie „Leerheit“ oder „Abwesenheit“ auf die Leerheit gerichtet. Was erscheint, ist dasselbe wie das, was sich der schlussfolgernden Erkenntnis zeigt. Es sieht noch immer aus wie leerer Raum, wie nichts.

Es ist viel Zeit, Anstrengung und eine enorme Ansammlung positiven Potenzials (Verdienst) notwendig, um eine unbegriffliche einfache Wahrnehmung der Leerheit zu erreichen. Aber schließlich werden wir sie erreichen. Dann wird unsere Ausrichtung auf die Leerheit nicht mehr mithilfe der Kategorie „Leerheit“ stattfinden. Sie wird immer noch wie leerer Raum oder wie nichts aussehen, aber unsere Erkenntnis wird sehr viel lebendiger sein als zu dem Zeitpunkt, als sie begrifflich war.

Haben wir unbegriffliche einfache Wahrnehmung der Leerheit erlangt, so ist dies erst der Beginn des Prozesses, uns vom Greifen nach einem wahren festen „Ich“ zu befreien. Wir müssen eine langfristige Vertrautheit mit der Wahrnehmung der Leerheit gewinnen. Dies ist ein langwieriger Prozess, weil die Unwissenheit bzw. Ignoranz in uns allen sehr tief verankert ist. Zuerst lösen wir uns vom dem auf Lehrsystemen beruhenden Greifen, das durch das Lernen bestimmter nicht-buddhistischer Sichtweisen der Wirklichkeit entstanden ist. Mit fortschreitender Meditation befreien wir uns dann von dem unwillkürlich entstehenden Greifen nach einem festen Selbst, das bei allen Wesen, selbst bei Tieren, vorhanden ist. Ein Hund zum Beispiel hat sein Territorium, das er als „mein“ betrachtet, und bellt jeden an, der es betritt. Niemand muss einem Hund das beibringen.

Und schließlich bringen wir unseren Geist dann so weit, dass er keine Erscheinungen wahrer Existenz mehr erzeugt und projiziert. Erst dann haben wir Erleuchtung erlangt.

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