Respekt für Aryadeva entwickeln
Aryadeva war ein großer indischer Meister, der in Sri Lanka geboren wurde. Es gibt zwei verschiedene Berichte über seine Geburt. Der eine Bericht besagt, dass er in eine königliche Familie hineingeboren wurde, der andere, dass er aus einem Lotus geboren wurde, so wie das auch bei Guru Rinpoche erzählt wird. Aryadeva lebte irgendwann zwischen der Mitte des 2. und der Mitte des 3. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Er wurde in recht jungem Alter Mönch und studierte die kompletten Sutra-Erklärungen, den Tripitaka. Er verließ dann später Sri Lanka und ging nach Südindien, um dort mit Nagarjuna zu studieren. Nagarjuna war natürlich der größte Meister seiner Zeit. Und in dieser Lebensphase befand er sich in Südindien und gab dem König namens Udayibhadra Belehrungen. An diesen König richtete Nagarjuna auch seinen Brief an einen Freund und die Kostbare Girlande. Aryadeva war der bedeutendste und engste Schüler Nagarjunas und empfing von ihm sämtliche Madhyamaka-Lehren.
Aryadeva begleitete Nagarjuna, um mit ihm zu studieren. Er studierte mit ihm in Shri Parvata. Das ist ein heiliger Berg oberhalb des heutigen Nagarjunakonda in Andhra Pradesh. Dieses Gebiet gehörte auch zum Einflussbereich des Königs Udayibhadra. Es befindet sich in der Nähe von Amaravati, welches der Ort ist, an dem der Buddha sich als Kalachakra manifestierte und das Kalachakra-Tantra lehrte. Eben dies ist auch die Gegend, in der Seine Heiligkeit der Dalai Lama vor nicht allzu langer Zeit eine Kalachakra-Einweihung gegeben hat. Diese Region in Südindien, Andhra Pradesh, ist die Region, in der die Mahayana- und Tantralehren als Erstes erschienen. Es ist also eine sehr berühmte Region, die damals sehr stark buddhistisch geprägt war.
Zuvor hatte Nagarjuna viele Jahre in Nordindien gewirkt und zwar im Kloster Nalanda, dessen Abt er gewesen war. Zu dieser Zeit gab es einen Shiva-Anhänger namens Matrcheta, und dieser forderte alle zur Debatte heraus und war dabei sehr geschickt und sehr clever. Es gelang niemandem, ihn in der Debatte zu besiegen. Es wurde eine große Herausforderung an alle buddhistischen Meister ausgerufen: Wer würde kommen und versuchen, diesen Matrcheta zu bezwingen? Es war schließlich Aryadeva, der diese Herausforderung annahm.
Auf dem Weg begegnete Aryadeva einer alten Frau. Diese alte Frau versuchte, bestimmte übersinnliche magische Kräfte hervorzubringen. Dafür benötigte sie das Auge eines gelehrten Mönches. Es muss sich also um eine Art magischen Ritus gehandelt haben. Aryadeva war von Mitgefühl bewegt und nahm deshalb eines seiner beiden Augen heraus und gab es ihr. Das einzige, was sie aber mit dem Auge tat, nachdem sie es erhalten hatte, war, es auf den Boden zu legen und es mit einem Stein zu zerschmettern. Doch sein Mitgefühl war sehr stark, so dass er sich davon nicht entmutigen ließ. Offensichtlich war er wirklich ein sehr großer Bodhisattva. In allen nachfolgenden Beschreibungen wird er dann als ein Einäugiger beschrieben.
Aryadeva ging nun nach Nalanda und forderte dort diesen Matrcheta heraus. Er war sowohl in der Lage ihn in der Debatte als auch in einem Wettbewerb von außergewöhnlichen Fähigkeiten zu bezwingen. Diese Wettbewerbe gehörten immer mit dazu. Und Aryadeva sagte auch: „Mit meinem einen Auge kann ich viel weiter blicken und viel mehr sehen als mit Deinen drei Shiva-Augen, deren Existenz Du behauptest.“ Matrcheta akzeptierte daraufhin den Buddhismus und wurde ein Schüler Aryadevas. Das war die Regel bei diesen Wettbewerben, dass der Unterlegene zum System des Anderen übertreten musste. Er wurde ein sehr bekannter Meister. Aryadeva war auch ein tantrischer Meister. In der Tat ist es so, dass Nagarjuna und Aryadeva sehr bekannte Kommentare zum Guhyasamaja-Tantra geschrieben haben – dies sind die ältesten Kommentare zu diesem Tantra.
Aryadeva blieb lange Zeit in Nalanda, kehrte später aber wieder zu Nagarjuna nach Südindien zurück. Nagarjuna übertrug ihm dann seine gesamten Lehren bevor Nagarjuna dann verschied. Aryadeva gründete danach sehr, sehr viele Klöster in Südindien und lehrte sehr umfassend. Durch seine Aktivitäten und durch die Aktivitäten Nagarjunas wurden die Mahayana-Erklärungen und insbesondere auch die Madhyamaka-Sichtweise in Indien etabliert.
Der berühmteste Text Aryadevas ist dieser Text, den auch Seine Heiligkeit besprechen wird und mit dem wir uns hier beschäftigen. Dieser ist einer der wichtigsten Texte über die Madhyamaka-Sichtweise der Leerheit. Der vollständige Titel ist Vierhundert Verse über die Handlungen des Yoga eines Bodhisattva. Aber er wird meist kurz als die Vierhundert Verse bezeichnet.
Aryadevas wichtigster Schüler war Rahulabhadra. Rahulabadhras Schüler war dann wiederum Chandrakirti. Chandrakirti schrieb den bekanntesten Kommentar zu Aryadevas Vierhundert Versen. Er verfasste auch einige sehr wichtige Madhyamaka-Texte, unter anderem Madhyamakavatara, also Ergänzung zu Nagarjunas Wurzelversen über den Mittleren Weg, der Nagarjunas wichtigster Madhyamaka-Text ist. Die Vierhundert Verse zusammen mit dem Kommentar von Chandrakirti wurden dann in Tibet aus dem Sanskrit ins Tibetische übersetzt. Dies erfolgte durch Patshab Lotsawa zum Ende des 11. Jahrhunderts, was also zur neuen Überlieferungsperiode des Buddhismus in Tibet gehört. Patshab Lotsawa war ein sehr bekannter Übersetzer und übersetzte die Hauptwerke Nagarjunas, Aryadevas und auch Chandrakirtis ins Tibetische. Und nicht nur diese Madhyamaka-Texte übersetzte er, sondern auch viele Texte über das Guhyasamaja-Tantra. Laut der Darstellung der Gelug-Tradition ist er derjenige, der hauptsächlich dafür verantwortlich war, die Prasangika-Sichtweise des Madhyamaka nach Tibet zu bringen.
Heutige Gelehrte sind da vielleicht etwas vorsichtiger, einfach weil es so ist, dass der Begriff Prasangika ein Begriff ist, der in Indien nicht verwendet wurde. Aber diese bestimmte Interpretationsrichtung wurde stark von Patshab Lotsawa in Tibet etabliert. Das bedeutet, dass in der alten Übersetzungsphase – in der Zeit also, als der Buddhismus durch die Arbeit von Guru Rinpoche neu in Tibet etabliert wurde, was die Grundlage für die spätere Nyingma-Tradition bildete – dass zu dieser Zeit die Prasangika-Sichtweise noch nicht nach Tibet überliefert worden war. Das fand erst mit der neuen Übersetzungsperiode statt.
Und selbst als sich die Prasangika-Sichtweise dann in Tibet etabliert hatte, entstanden zwei sehr verschiedene Interpretationen davon, wie diese zu verstehen sei. Die eine davon ist eine Fortsetzung der alten Nyingma-Tradition und behauptet, dass es bei den Prasangikas keine positiven Annahmen gibt, sondern ausschließlich die Logik mithilfe von Widersprüchen verwendet wird, um sämtliche Begriffsbildungen zu beseitigen. Diese Erklärungsweise findet man heutzutage in den Nicht-Gelug-Traditionen, also Sakya, Nyingma und Kagyü, wo Prasangika auf diese Weise erklärt wird.
Die Gelug-Interpretation unterscheidet sich recht stark davon. Laut der Gelug-Interpretation ist es so, dass Prasangika diese Form von Logik – die Argumentation mit absurden Schlussfolgerungen – benutzt, um das Greifen nach einer wahrhaft von sich aus existierenden Logik und nach wahrhaft existierenden Begründungen zu beseitigen. Aber trotzdem meinen die Gelugpas, dass es bei Prasangika positive Annahmen gibt. Das ist eine wichtige Unterscheidung, denn wenn man nur innerhalb der einen oder innerhalb der anderen Tradition studiert, dann denkt man vielleicht, dass die Art und Weise, wie man Prasangika dort studiert, die einzige Möglichkeit ist, wie Prasangika interpretiert werden kann. Aber das ist nicht der Fall.
Respekt für den Text entwickeln
Es gibt zwei wichtige Kommentare zu diesen Vierhundert Versen, und diese entsprechen den oben genannten zwei Erklärungsstilen zum Prasangika. Der frühere Kommentar kommt von Rendawa, einem großen Sakya-Meister, der einer der Lehrer Tsongkhapas gewesen war. Rendawa schrieb seine Erklärung dieser Vierhundert Verse so, dass im Prasangika keine positiven Annahmen zu treffen sind.
Der andere Kommentar kommt von Gyaltsabje, der ein Schüler Tsongkhapas war. Er erklärt anhand der Gelug-Sichtweise. Laut dieser ist es so, dass Prasangika durchaus einige Annahmen trifft. Es gibt keine Garantie, in welcher Weise Seine Heiligkeit diesen Text erklären wird. Es kann sein, dass er es auf die eine Weise oder auf die andere Weise oder vielleicht auf beide Weisen erklären wird.
Meiner Meinung nach ist es sehr wichtig, zu verstehen, was für eine Art von Text diese sogenannten Wurzeltexte sind. Wurzeltexte sind sehr, sehr knapp geschriebene frühe indische Texte. In diesen Texten werden sehr, sehr viele Pronomen benutzt – Worte wie „dies“ und „jenes“. Diese Texte werden als Wurzeltexte bezeichnet, weil sie eine Wurzel darstellen, aus denen viele Zweige von Erklärungen und Kommentaren hervorwachsen können. Sie erlauben deshalb verschiedenen Kommentartraditionen sich zu entwickeln und sich dabei auf diese autoritativen Texte zu stützen.
Wenn man (moderne) Übersetzungen dieser Wurzeltexte liest, dann ist es oft so, dass die Übersetzer in Klammern noch zusätzliche Textteile einfügen, die dann die Objekte, auf die sich die Worte „dies“ oder „jenes“ beziehen, explizit erkennbar machen. Aber dabei wird dann eventuell die Grammatik entsprechend leicht angepasst, so dass sie zu diesen Hinzufügungen passt. Aber dann muss man sich vor Augen führen, dass dies auf einem bestimmten Kommentar beruht und dass man anhand eines anderen Kommentars auch vielleicht noch andere Worte in diesem Wurzeltext ergänzen und die Grammatik vielleicht ein klein wenig anders anpassen könnte, um diesem anderen Kommentar zu entsprechen. Das ist sehr wichtig zu verstehen.
Wenn man das nicht im Hinterkopf behält, dann kann es sein, dass man sehr verwirrt wird, wenn man verschiedene Kommentare oder Übersetzungen zu diesen Texten liest. Auch wenn diese Texte von einer Kommentartradition auf eine bestimmte Art und Weise erklärt werden, entwertet das also nicht andere Übersetzungen und Interpretationen.
Bei Seiner Heiligkeit kann man vorher nicht sagen, wie er vorgehen wird. Manchmal ist es so, dass er eine große Menge von Interpretationen zu jedem Vers erklärt. Manchmal ist es aber auch einfach so, dass er die Verse nacheinander durchgeht und jeweils eine Interpretation liefert. Ich weise nur darauf hin, damit ihr nicht verwirrt seid, wenn Seine Heiligkeit zu einzelnen Versen verschiedene Interpretationen erklärt.
Diese Art und Weise Texte zu schreiben ist nicht nur für diesen Text – für die Abhandlung in Vierhundert Versen – sondern für die meisten der großen indischen Texte typisch. Sie sind auf diese Art und Weise als Wurzeltexte verfasst. Selbst tibetische Meister haben auf diese Art und Weise Texte geschrieben. Darüber hinaus ist es auch noch so, dass diese Wurzeltexte in der Regel in Versform verfasst wurden und dass sie einem sehr komplizierten und strengen Versmaß folgen. Das ist sowohl im Sanskrit als auch im Tibetischen bei diesen Texten der Fall. Und dann ist es natürlich so, dass verschiedene Kurzformen verwendet werden und dass generell alles auf eine sehr knappe Art und Weise ausgedrückt werden muss. Dieser Text ist also in wunderschönen Versen geschrieben.
Die Art und Weise, wie ich bisher erklärt habe, folgt der Tradition des Klosters Vikramashila. Dort ist es so, dass man zuerst etwas Hintergrund zum Autor des Textes liefert und dann etwas zum Hintergrund des Textes selbst erklärt, damit die Zuhörer einen Respekt für die Quelle und für den Text selbst entwickeln können. Und auch hier kann man nicht sagen, wie Seine Heiligkeit vorgehen wird. Die Lamrim-Texte sind immer so aufgebaut, insbesondere bei Tsongkhapa. Seine Heiligkeit folgt dem vielleicht, oder vielleicht auch nicht.
Die Erklärungstradition von Nalanda war so, dass man sich vorgestellt hat, dass der Lehrer ein Buddha ist – einfach aus dem Grund, weil er die Erklärungen des Buddha übermittelt – und dass man selbst ein Arya-Bodhisattva ist und sich in einem reinen Bereich befindet. Das ist in diesem Fall kein Tantra, es ist einfach Mahayana, auch wenn es natürlich bei den tantrischen Erklärungen besonders betont worden ist.
Jetzt aber zum eigentlichen Text.
Die Struktur des Textes
Der Text hat 16 Kapitel, die je aus 25 Versen bestehen, was dann insgesamt 400 Verse ergibt. In den ersten acht Kapiteln wird erklärt, wie man positive Kraft aufbaut, indem man Fehlverständnisse über die konventionelle Wahrheit beseitigt und indem man damit störende Emotionen und Einstellungen überwindet. Die letzten acht Kapiteln erklären die korrekte Sichtweise der tiefsten Wahrheit, also der Leerheit gemäß dem Prasangika-Verständnis. Kurz gesagt geht es also in der ersten Hälfte um das Verständnis von und den Umgang mit der konventionellen oder reltativen Wahrheit der Dinge, und auf dieser Grundlage kann man dann positive Kraft aufbauen, mit deren Hilfe man die endgültige oder tiefste Wahrheit verstehen kann. Dieses Verständnis der tiefsten Wahrheit – der Leerheit der Dinge – wird dann in der zweiten Hälfte des Textes erklärt.
Es ist ein sehr tiefgehender Text und er ist auch recht schwer verständlich, vor allem was die zweite Hälfte betrifft. Und Seine Heiligkeit wird diesen Text in einigen Tagen durchgehen. Es ist klar, dass in dieser Weise der Text nicht an allen Stellen in allen Details abzudecken ist. Man kann nicht sagen, wo Seine Heiligkeit den Schwerpunkt setzen wird, ob bei dem einen Kapitel oder bei dem anderen Kapitel, bei diesem oder einem anderen Aspekt des Textes. Es kann gut sein, dass Seine Heiligkeit viele Verse zwischendurch einfach liest, ohne sie besonders zu erklären, oder nur einige Aspekte herausgreift, die er vielleicht für von Interesse hält. Es ist einfach nicht möglich, einen Text von dieser Tiefe innerhalb so einer kurzen Zeit vollständig und überall sehr detailliert zu erklären.
Als ich diesen Text in Dharamsala in der Library of Tibetan Works and Archives studiert habe, da war es so, dass der Text für ein Jahr studiert wurde und zwar mit fünf Unterrichtseinheiten pro Woche. Insofern sollte man also nicht entmutigt sein, wenn Seine Heiligkeit vielleicht recht schnell zu Werke geht, das ist in so einer Situation einfach nötig.
Wenn man noch einmal an die Biographie Aryadevas zurückdenkt, dann war er auch ein berühmter Debattierender und hat in seiner Zeit mit verschiedenen nichtbuddhistischen Schulen in Indien debattiert – nicht nur mit der Schule dieses Matrcheta, sondern auch mit anderen.
In der zweiten Hälfte des Textes sind deshalb auch viele Widerlegungen von Annahmen anderer, nichtbuddhistischer Schulen enthalten. Es wird natürlich auch keine Zeit dafür sein, dass Seine Heiligkeit die Aussagen der anderen Schulen im Detail erklären kann, auf die sich diese Widerlegungen beziehen. Und es ist auch nicht nur so, dass Aryadeva nicht-buddhistische Schulen widerlegt – er widerlegt auch die anderen buddhistischen Schulen, außer der Prasangika-Schule. Insofern sollte man also nicht allzu frustriert sein. Es kann sein, dass Seine Heiligkeit einfach nur erzählt, ja „die Samkhyas zum Beispiel behaupten dies und Aryadeva widerlegt das dann auf diese und jene Art und Weise“, „die Nyayas behaupten dann folgendes“ usw. Diesen Text in seiner Tiefe zu verstehen, erfordert einiges an Hintergrundwissen.
Bei diesen Widerlegungen der verschiedenen nichtbuddhistischen und auch anderer buddhistischer Schulen wird man sich vielleicht fragen, was denn die Relevanz dieser Widerlegungen ist. Hier sollte man sich in Erinnerung rufen, dass es zwei verschiedene Arten von störenden Emotionen und Einstellungen gibt. Die eine Art beruht auf Erklärungen oder auf Lehren und die andere Art entsteht automatisch. Störende Emotionen und Einstellungen, die auf Lehren oder Lehrmeinungen beruhen sind Einstellungen, die entstehen, weil man eine bestimmte Erklärung gehört hat. Das können Erklärungen von nichtbuddhistischen Systemen sein oder auch Erklärungen der unteren buddhistischen Lehrmeinungen. Die automatisch entstehenden störenden Emotionen sind im Gegensatz dazu diejenigen, die bei jedem vorhanden sind – einschließlich bei Tieren.
Wenn man dann bestimmte Sichtweisen vielleicht selbst für sich annimmt, zum Beispiel, dass eine Seele auf eine bestimmte Art und Weise existiert, dann kann es sein, dass man sehr viel Anhaftung an diese Sichtweise entwickelt oder dadurch Stolz entsteht. Es kann sein, dass man geistige Engstirnigkeit und Ignoranz entwickelt; es kann sein, dass dadurch Ärger entsteht und dass man dann alle, die eine andere Meinung haben, auf dem Scheiterhaufen verbrennen lassen will und ähnliches. Es gibt also eine ganze Gruppe von störenden Emotionen, die auf Lehrmeinungen beruhen, und diese falschen Ansichten entwickelt man durch das Studium von weniger ausgefeilten oder ungenauen oder falschen philosophischen Theorien.
Also ist es so, dass man erst einmal diese auf Lehrmeinungen beruhenden falschen Ansichten überwinden muss, und sie werden auch erst überwunden, wenn man dabei ist, ein Verständnis der Leerheit – ein korrektes Verständnis der Wirklichkeit – zu entwickeln. Erst danach kann man die automatisch entstehenden störenden Emotionen angehen, die bei allen vorhanden sind. Ein Hund wird zum Beispiel automatisch ärgerlich, wenn man ihm seinen Knochen wegnimmt. Und wir könnten natürlich auch Anhaftung aufgrund von Sichtweisen entwickeln, die wir im Westen gelernt haben, und an denen wir anhaften. Also ist dies durchaus ein relevanter Punkt.
Jetzt wollen wir zu den eigentlichen Kapiteln des Textes kommen. Ich möchte ganz kurz den Inhalt jedes Kapitels durchgehen.
In den ersten vier Kapiteln zeigt Aryadeva, wie man vier fehlerhafte Betrachtungsweisen (tshul-min yid-la byed-pa) überwinden kann. Es geht dabei um verschiedene Sichtweisen, mit denen wir die konventionelle Wahrheit betrachten, die fehlerhaft sind und deren Überwindung er lehrt. Diese vier Sichtweisen sind: dass man Dinge, die von Natur aus unbeständig sind als von Natur aus beständig betrachtet. Dass man Dinge, die von Natur aus leidhaft sind, als von Natur aus mit Glück verbunden betrachtet. Dass man Dinge, die von Natur aus unrein sind, als von Natur aus rein betrachtet. Und dass man Dinge, denen ein unmögliches Selbst und eine unmögliche Seele fehlt, so betrachtet, als wären sie mit einem unmöglichen Selbst und einer unmöglichen Seele versehen. Diese vier Widerlegungen führt Aryadeva am Beispiel des Körpers durch. Er zeigt dabei, dass der Körper unbeständig statt beständig ist, dass er leidhaft statt freudvoll ist, dass er unrein statt rein ist und dass er frei von einem unmöglichen Selbst ist statt ein unmögliches Selbst zu besitzen.
Letzteres erklärt er am Beispiel des Stolzes auf das eigene Selbst. Und er führt diese Widerlegungen durch, ohne schon an dieser Stelle auf die genaue Widerlegung eines unmöglichen Selbst einzugehen. Das ist also der Inhalt der ersten vier Kapitel - je ein Kapitel für jede dieser vier verkehrten Sichtweisen.
Fehlerhafte Betrachtungsweisen
Wenn man sich fragt, was eine solche fehlerhafte Betrachtungsweise eigentlich ist, dann ist es keine störende Emotion oder Einstellung, sondern es handelt sich um eine Form eines Geistesfaktors, der ständig aktiv ist. Dieser Geistesfaktor kann auf verschiedenste Arten übersetzt werden aber es handelt sich um eine bestimmte Art, wie man die Aufmerksamkeit auf etwas lenkt oder wörtlicher, wie man sich etwas bewusst macht. Man kann sich Dinge auf verschiedene Arten bewusst machen – mit großer Anstrengung, oder wieder und wieder oder ohne jede Anstrengung.
Diese verschiedenen Arten, sich etwas bewusst zu machen, werden bei Erklärungen erwähnt, in denen es darum geht, konzentrative Versenkung zu entwickeln. Andererseits gibt es aber auch Einteilungen von diesen verschiedenen Erfassungsweisen, die sich darauf beziehen, wie man ein Objekt inhaltlich erfasst. Also ob man es als beständig oder unbeständig erfasst, ob man es als rein oder als unrein betrachtet usw. Diese Form von Betrachtungsweise kann entweder mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder sie kann nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, das heißt sie kann entweder korrekt oder sie kann verkehrt sein.
Und obwohl diese fehlerhaften Betrachtungsweisen etwas sind, was wir überwinden müssen, zählen sie selbst nicht zu den störenden Emotionen und Einstellungen. Stattdessen werden sie als eine der wesentlichen Ursachen dafür genannt, dass die störenden Emotionen entstehen.
Das heißt, wenn man den Körper als beständig betrachtet, dann kann sehr leicht Anhaftung entstehen. Jetzt kann man sich natürlich fragen, woher diese fehlerhafte Betrachtungsweise selbst kommt. Diese beruht auf Naivität, auf geistiger Engstirnigkeit, auf Ignoranz, auf Unwissenheit – es gibt viele Worte dafür. Es gibt erst einmal die Gewohnheiten des Greifens nach fehlerhaften Erscheinungen, die die Dinge auf eine bestimmte Art und Weise erscheinen lassen. Vor allem lassen diese Gewohnheiten die Dinge als wahrhaft existent erscheinen. Man kann sagen, dass genauso wie die Dinge durch die Gewohnheit des Greifens nach wahrer Existenz als wahrhaft existent erscheinen, dass genauso aufgrund von Unwissenheit oder Nicht-Gewahrsein die Dinge auch konventionell auf eine verkehrte Art und Weise erscheinen; dass sie beispielsweise beständig erscheinen statt unbeständig. Dies sind also bestimmte Arten, wie man Dinge erfasst oder betrachtet.
Es ist also sehr wichtig, dass man hier versteht, dass es da zwei verschiedene Anteile gibt: wenn einem zum Beispiel eine bestimmte Form sehr sehr angenehm, sehr sehr anziehend vorkommt, dann ist das noch nicht das gleiche wie eine störende Emotion. Also man kann zum Beispiel denken: „oh, der Körper ist so toll“ oder „die Person sieht so toll aus, sehr sehr sexy“, das bedeutet aber noch nicht, dass man begehrendes Verlangen hat. Das ist also der zweite Schritt. Man kann also erst mal denken: „Ja, das ist sehr schön. – Na und?“. Das ist sehr wichtig, diesen Unterschied zu kennen.
Wenn man sich dann von den störenden Emotionen befreit, ist es so, dass es ebenfalls in zwei Stufen vor sich geht. Zuerst beseitigt man die störenden Emotionen selbst und dann überwindet man diese fehlerhafte Erscheinungsweise, bei der die Dinge anders erscheinen als sie sind.
Hier in diesem Zusammenhang (der ersten Kapitel von Aryadevas Text) befreit man sich aber nicht von einer Erscheinung von wahrer Existent, sondern man befreit sich hier von einer fehlerhaften konventionellen Betrachtung, was die Dinge selbst sind – weil man denkt, dass die Dinge rein sind statt unrein, dass sie beständig sind statt unbeständig usw.
Es ist wichtig zu verstehen, wie sich der Prozess der geistigen Entwicklung vollzieht. Wenn man die störenden Emotionen überwinden möchte, wenn man also beispielsweise bemüht ist, begehrendes Verlangen und Anhaftung an hübsche Personen zu überwinden, dann kann es sein, dass man nach einer gewissen Zeit nicht mehr so starkes begehrendes Verlangen empfindet. Wenn man mit Personen konfrontiert ist, die man attraktiv findet, kann es sein, dass man dann nicht mehr sofort den Impuls hat, mit ihnen zusammenzukommen und mit ihnen dies und jenes zu tun. Aber es ist trotzdem noch eine gewisse Gewohnheit davon in einem vorhanden.
Das wird bedeuten, dass bestimmte Körper für einen, je nachdem, womit man gewohnheitsmäßig vertraut ist, trotzdem sehr attraktiv und sehr sexy für einen aussehen werden und das man dann zwanghaft versucht sein wird, beispielsweise diese Personen auf der Straße oder in der U-Bahn usw. zu betrachten. Das ist zum Beispiel einfach etwas, was aufgrund von Gewohnheiten passiert. Wenn dies passiert, dann bedeutet es trotzdem nicht, dass man an dieser Stelle in Besessenheit verfallen muss und beispielsweise besessen diesen anderen Personen hinterher schauen muss oder besessen in irgendwelches Verlangen verfallen muss, wo man denkt: „Ach, wenn ich doch mit der Person zusammen sein könnte“ und „wenn ich mit ihr nur dies und jenes machen könnte“.
Das sind also die Schritte, die es gibt. Auch bei Ärger ist es das gleiche oder wenn man sich vor etwas fürchtet. Da ist es also sehr wichtig, auch Geduld mit sich selbst zu haben. Diese Geduld entsteht, indem man sich klar macht, auf welche Art und Weise die Schulung nach und nach abläuft, wenn man sich von diesen störenden Emotionen befreien möchte. Zuerst ist es also so, dass man diese störenden Emotionen selbst überwindet. Erst danach kann man diese fehlerhafte Betrachtungsweise angehen.
Kapitel 1: Aufzeigen von Methoden, sich vom Greifen nach (dem Körper als) etwas Beständigem zu befreien
Das erste Kapitel heißt deshalb „Das Aufzeigen von Methoden, sich vom Greifen nach dem Körper als etwas Beständigem zu befreien“, und hier versucht man also die Betrachtungsweise zu überwinden, mit der man den Körper als beständig ansieht – so als ob er ewig existieren und sich nicht verändern würde. Man macht sich dabei klar, dass der Körper nicht ewig währt, dass er unbeständig ist, und versucht, den Körper korrekt zu betrachten – man versucht zu verstehen, dass er nicht beständig, sondern unbeständig ist.
(1.1) Als Herr über die drei Ebenen des vergänglichen Daseins ist der Herr des Todes von Natur aus ohne Schöpfer. Was könnte unpassender sein, als einzuschlafen, wenn die Situation so ist, dass er mit Sicherheit kommt?
(1.2) Wenn (du) geboren wurdest, um zu sterben und unter der Macht von anderen (Dingen stehst, und) dich in der Lage befindest, (dass Du immer weiter dem Ende entgegen) gehst, dann scheint es (eher) so, als ob Du stirbst und nicht so als ob Du lebst.
In diesem Kapitel bespricht Aryadeva zuerst den Tod als Beispiel für die grobe Unbeständigkeit. Und er weist darauf hin, dass uns der Tod gewiss ist, dass wir, dass einfach jeder sterben muss und dass wir alle mit jedem Augenblick dem Tod näher und näher kommen – sehr ähnlich wie Shantideva dies später auch in seinem Text schreibt.
(1.7) Weil der Zeitpunkt (deines Todes) ungewiss ist, denkst Du vielleicht, „Ich bin beständig“. Aber trotzdem kommt der Tod irgendwann und vernichtet dich.
Aryadeva erwähnt, dass der Zeitpunkt des Todes ungewiss ist und warnt vor der naiven Vorstellung, dass man ewig leben könnte. Diese Diskussion ist an der Stelle auch sehr ähnlich wie die in Nagarjunas Brief an einen Freund. Diese Texte sind also sehr frühe Quellen für die verschiedenen Themen, die dann später in den Lamrim-Texten diskutiert werden, und für die berühmten Zitate, die dann dort auftauchen. Und viele der grundlegenden Lamrim-Meditationen gehen auf solche Passagen zurück – in diesem Fall ist es die Meditation über Tod und Unbeständigkeit.
(1.12) Wenn Du über deinen eigenen Tod trauern solltest, weshalb (trauerst) Du über (den Tod) deiner Kinder? Du wirst selbst gepackt werden und wenn Du (dies) weiter (nur auf andere beziehst), warum solltest Du dann nicht (von den Weisen) verlacht werden?
Aryadeva bezieht die Unbeständigkeit des Körpers nicht nur auf den eigenen Körper sondern er dehnt dies auch auf geliebte Personen aus. Er weist darauf hin, dass es wichtig ist, dies zu verstehen. Er verdeutlicht dies an einem besonders schwierigen Fall – nämlich dem Tod des eigenen Kindes. Er weist darauf hin, dass es sehr wichtig ist, Anhaftung zu überwinden, weil Anhaftung letztlich nur Leid bewirkt.
(1.20) All die Freude, die beim Zusammentreffen mit jemandem auftreten mag, warum ist (dieselbe Freude) nicht auch bei der Trennung vorhanden? Treten Zusammentreffen und Trennung denn nicht gemeinsam miteinander auf?
Jeder muss sich verabschieden – einfach weil es so ist, dass Trennung das natürliche Ergebnis des Zusammentreffens und das natürliche Ende jedes Zusammentreffens ist. Auch bei den eigenen Kindern ist es so, dass ihr Leben letztlich nur kurz ist. Es wird zwangsläufig so sein, dass entweder man selbst als erstes dahinscheiden muss oder das Kind zuerst verstirbt. Aber die Trennung ist unvermeidlich. Dies gilt nicht nur für die Familie sondern natürlich auch bei Freundschaften und besonders auch bei Partnerschaften.
(1.24) Wenn Du meinst dass Du nachdem Du dich um diese (Haushaltsangelegenheiten) gekümmert hast, dich mit Sicherheit (in Meditationsklausur) im Wald begeben wirst – nun, egal, worum Du dich gekümmert hast, (wenn Du stirbst) musst Du es aufgeben – was nützt es, dass Du dich darum gekümmert hast?
(1.25) Jeder, der mit Überzeugung denkt „Ich werde sterben“ hat alle Anhaftung überwunden und was sollte er daher selbst vom Herrn des Todes zu fürchten haben?
Wenn man nicht mehr am eigenen Körper anhaftet, dann, sagt Aryadeva, braucht man nichts zu fürchten, wenn der Tod kommt. Mit dieser Einstellung kann man sich freudig in den Wald zur Meditationsklausur zurückziehen. Shantideva schreibt sehr Ähnliches in seinem Kapitel über geistige Stabilität bzw. Konzentration und er weist dort darauf hin, dass das größte Hindernis für Konzentration Anhaftung ist, vor allem Anhaftung an den Körper und, so wie er sagt, außerdem die Anhaftung an kindische Menschen. Wenn wir uns vormachen, wir würden ewig leben, dann werden wir intensive Meditationspraxis immer weiter aufschieben. Aber es ist einfach so, dass wir die konventionelle Wahrheit über uns selbst verstehen müssen, unsere Unbeständigkeit verstehen müssen. Es ist einfach so, dass wir nur kurz leben, dass diese kostbare menschliche Geburt nur kurz währt und dass der Tod jederzeit kommen kann. Deshalb müssen wir diese Gelegenheit jetzt nutzen.
Kapitel 2: Aufzeigen von Methoden, um sich vom Greifen nach (dem Körper als etwas) Angenehmem zu befreien
(2.1) Obwohl dein Körper wie ein Feind ist, musst Du dich um ihn kümmern. Wenn Du ein langes Leben mit ethischer Disziplin lebst, kannst Du viel Positives tun.
Im zweiten Kapitel spricht Aryadeva über Methoden, mit denen man das Greifen nach dem Körper als etwas Angenehmem überwinden kann. Und er beginnt damit, dass der Körper zwar unbeständig ist, betont aber, dass wir uns um ihn kümmern müssen. Andererseits warnt Aryadeva, dass der Körper wie ein Feind ist, weil er Leid und Schmerz bringt, so wie er auch Vergnügen und Glück bewirkt.
(2.3) Es ist eine Tatsache, dass die Menschen nicht so viel Glück wie Leid erleben. Wie kannst Du also glauben, diese große (Menge) Leid sei weniger (als dein Glück)?
Diest ist ein Vers, der sehr bekannt, sehr berühmt ist, und in dem es heißt, dass es sehr leicht ist, Leid und Unglück zu erfahren, und sehr schwierig, Glück zu erfahren. Der Grund dafür ist, dass die Ursachen für Leid sehr viele und die Glücksursachen dagegen sehr wenige sind. Da dies der Fall ist, stellt sich die Frage, warum wir nur an das Glück denken und das Unglück nicht in Betracht ziehen, obwohl es doch in der Überzahl ist?
(2.6) Dieser Körper, der (ein wenig) glücklich werden kann, dient als Behältnis für (viel größeres) Leiden. Ob Du dich also dem Körper hingibst oder ob Du dich deinem Feind hingibst – beides scheint das Gleiche zu sein.
Aryadeva diskutiert dann die verschiedenen Arten von Leiden – Hunger, Krankheit, Alter und Tod – die üblichen Leiden, die oft in buddhistischen Texten diskutiert werden. Wenn der Körper solche Leiden bewirkt, dann ist doch die Frage, warum wir ihm eigentlich so zugetan sind.
(2.10) Je mehr Zeit vergeht, um so mehr wächst dein Leiden. Deshalb scheint das Glück nur ein fremdartiger (Gast) des Körpers zu sein.
Aryadeva weist darauf hin, dass derartige Leiden mit dem Alter noch weiter zunehmen. Mit zunehmendem Alter erfährt man mehr Schmerzen, man wird kränker, nach und nach beginnen die Sinne zu versagen, man hat zunehmend Furcht vor dem Tod, der einem näher oder dem man näher kommt. Es ist also nicht so, dass der Körper mit fortschreitendem Alter angenehmer würde, sondern es ist eher so, dass er unangenehmer wird und dass man mehr Schwierigkeiten hat. Und hässlich wird er auch. So ist es einfach.
(2.9) Glück wird durch deine Gedanken bestimmt und deine Gedanken können vom Leiden bestimmt werden. Deshalb gibt es nirgendwo etwas, das mächtiger ist als Leid.
Hier stellt Aryadeva die Frage, was eigentlich unser Glück und Unglück bestimmt. Aryadeva weist darauf hin, dass das unser Geist ist. Bei samsarischen Lebewesen ist es aber so, dass unser Geist oder unser Denken wiederum kontrolliert wird von Leiden und Unglück. Man kann ja mal darüber nachdenken, wie viel Zeit wir zum Beispiel damit verbringen uns zu beschweren und sagen „Dies ist nicht gut … und jenes Leid ist eingetreten … und so eine Sache ist passiert … da ist dieser kleine Schmerz“ und so weiter. Wir denken nicht so viel über angenehme Dinge nach – wir denken viel mehr an Unangenehmes.
In einem samsarischen Zustand ist es sehr schwierig, störenden Emotionen und Unzufriedenheit zu widerstehen. Wenn man sich über etwas beschwert, beruht dies ebenfalls auf zahlreichen störenden Emotionen. Und das trägt ebenfalls dazu bei, dass wir als gewöhnliche samsarische Wesen mit einem gewöhnlichen Körper so viel mehr unglücklich als glücklich sind. Wir sollten deshalb eine realistische Einstellung zu unserem Körper haben. Wenn wir unglücklich sind, neigen wir dazu, noch mehr über dieses Unglücklichsein nachzudenken: „Ach, ich bin so deprimiert“. Andererseits: wie selten denkt man „Oh wie glücklich ich doch bin“. Das tun wir nicht. Eben diese Einstellung sorgt dafür, dass das Leid die störenden Emotionen und die störenden Emotionen ihrerseits wiederum Leid hervorbringen. Unglück und störende Emotionen verstärken sich gegenseitig und deshalb ist unser Leiden letztendlich voller Leiden.
(2.16) Was als (dein Körper) bekannt ist, wird hervorgebracht, wenn alle seine (vier) Elemente versammelt sind. Diesen fehlt (einzeln) die Fähigkeit, (ihn hervorzubringen). All diese (Elemente stehen von Natur aus mit einander) in Konflikt, weshalb es völlig unangemessen ist, sie als Glück zu betrachten.
Aryadeva weist darauf hin, dass der Körper aus den vier Elementen besteht, also aus Erde, Feuer, Wasser und Wind, und dass es die Natur dieser vier Elemente ist, miteinander in Konflikt zu stehen. Aus diesem Grund ist es ganz natürlich, dass mit dem Körper auch Leid verbunden ist, wie beispielsweise, dass es uns teilweise zu heiß und bei anderen Gelegenheiten zu kalt ist.
(2.19) (Die Weisen) schützen sich jederzeit gegen die Ansammlung von Negativer karmischer Schuld für (geringfügiges, flüchtiges Vergnügen in) diesem oder anderen (Leben). Es ist völlig unangemessen, etwas als Glück zu betrachten, durch das man in einem der niederen Zustände (wiedergeboren) wird.
Aryadeva weist darauf hin, dass es unangebracht wäre, negative karmische Handlungen zu begehen in der Hoffnung, dass wir dadurch zeitweiliges und letztlich sowieso nicht befriedigendes körperliches Glück erfahren könnten – wie zum Beispiel indem wir uns betrinken oder unangebrachtes sexuelles Vergnügen suchen und so weiter. Bei den geringen körperlichen Annehmlichkeiten, die man erlebt, beispielsweise wenn man sich befriedigt fühlt, nachdem man gutes Essen gegessen hat oder wenn man ein sexuelles Erlebnis hatte, könnte man auf dieser Grundlage denken, dass der Körper eben doch mit Glück verbunden ist, aber dort ist es wiederum so, dass das Leid des Wandels ins Spiel kommt. Es ist einfach so, dass diese Formen von Glück niemals anhaltend sind, dass sie niemals ausreichend sind und dass man immer wieder noch mehr möchte. Diesen Punkt des Leids des Wandels bespricht Aryadeva nicht direkt, aber es ist so, dass man ihn hier mit verstehen sollte.
(2.24) Für gewöhnliche Wesen wurde gelehrt: „Wenn Du deinen (Körper als eine Quelle von Vergnügen) betrachtest, wirst Du dich nicht von Anhaftung befreien.“ Deshalb ist es gewiss, dass die (zur) So(heit) Gegangenen (Buddhas) erklärt haben, (dass eine derartig verzerrte Ansicht über den Körper) die niederste (Form) der Naivität ist.
(2.25) Unbeständige Dinge werden mit Sicherheit Schaden erfahren (und dadurch vergehen) und etwas, das Schaden erfährt, kann keine (Quelle des) Glücks sein. Deshalb würde jeder etwas Unbeständiges (wie den Körper) als Leiden bezeichnen.
Aryadeva sagt, dass wenn wir den Körper als Quelle von Glück betrachten, dass wir dann niemals die Anhaftung an den Körper überwinden werden. Mit dem Körper ist es so, dass er unbeständig ist. Unbeständige Dinge haben es von Natur aus an sich, dass sie Schaden erfahren und dass sie letztlich auseinander fallen. Das gilt auch für den Körper, weil er unbeständig ist. Insofern ist es unausweichlich, dass der Körper letztlich mit Leiden und mit schädigenden Umständen zusammen trifft wie alle anderen unbeständigen Dinge auch. Und wenn man stirbt, dann ist es ja in der Regel nicht so, weil man mit Glück zusammen trifft. Man stirbt ja nicht vor lauter Glück, sondern in der Regel stirbt man, weil man mit Leiden und mit körperlichem Schaden zusammen trifft, beispielsweise Krankheit und Alter und solchen Dingen. Aus diesem Grund, so schlussfolgert Aryadeva, sollte man den Körper als Leiden betrachten: Die Erste Edle Wahrheit.
Kapitel 3: Aufzeigen von Methoden, um sich vom Greifen nach (dem Körper als etwas) Reinem zu befreien
(3.1) Selbst wenn Du (ein angenehmes) Objekt für äußerst lange Zeit gebrauchst, hat dies niemals ein Ende (so dass Du vollständig zufrieden bist). Wie bei einem schlechten Arzt werden die ermüdenden (Anstrengungen, die du) wegen deines Körpers (unternimmst,) keine Wirkung erzielen.
(3.3) Alle Frauen (sind eine Ansammlung von schmutzigen Substanzen) und es gibt nicht den geringsten Unterschied (mit welcher man von Ihnen) Verkehr hat. All ihre Körper werden auch von anderen genossen werden (zum Beispiel von Geiern und Würmern nach ihrem Tod). Was nützt dir eine Frau von überragender Schönheit?
Das dritte Kapitel heißt „Aufzeigen von Methoden, um sich vom Greifen nach dem Körper als etwas Reinem zu befreien“. Aryadeva fragt, warum man eigentlich am eigenen Körper hängt oder – auf heterosexuelle Männer bezogen – am Körper von Frauen. Was ist der Grund dafür? Und er fragt, warum man sie als was Angenehmes betrachtet. Der Grund dafür ist, dass man sie als etwas Reines betrachtet. Das ist aber eine verkehrte Ansicht. Aryadeva weist darauf hin, dass man kein dauerhaftes, kein bleibendes Glück aufgrund körperlicher Anziehung und Anhaftung erfahren kann.
(3.4) Jeder kann jeden anderen anziehend finden, von ihm betört sein und sich (an seiner Schönheit) erfreuen. Aber das ist sogar bei Hunden und so weiter gleich (bezogen auf ihre Partner). Weshalb bist Du Dummkopf dann so vernarrt (in deine Partnerin)?
Das ist ein Vers, der sehr bekannt ist und hier heißt es, dass sogar Hunde ihre Partner anziehend finden. Was ist also an der Person so besonders, die man selbst so betörend findet?
(3.6) Wenn Du schöne Frauen mit guten Eigenschaften (als anziehend) und jene, die ohne (gute Eigenschaften) als gegenteilig betrachtest: da niemand (nur als positiv oder negativ) eingeteilt werden kann, ist dann jemand wahrhaft ersteres oder letzteres von beidem (d.h. wahrhaft anziehend oder wahrhaft abstoßend)?
Es mag zwar sein, dass Menschen auch positive und attraktive Eigenschaften haben, aber sie haben andererseits auch unattraktive Aspekte. Diese sollte man nicht außer Acht lassen. Es mag zwar sein, dass eine Person äußerlich attraktiv ist, aber der Mageninhalt oder der Inhalt des Darms sind nicht so besonders anziehend.
(3.11) Du wirst nicht immer in der Lage sein, mit der Frau zusammen zu bleiben, der Du so hingegeben bist. Was soll also die Vorstellung, dass diese hier mein ist und sonst niemandem (gehört)?
(3.12) Wenn die Anhaftung (an Frauen) Glück wäre, hätte es keinen Sinn, dass (der Buddha erklärte, wie man sich) von (der Anhaftung an) Frauen läutert. Und egal, wie sehr (Du in den Schriften suchst) – nirgendwo wirst Du (die Aussage) finden: „Glück sollte aufgegeben werden“.
Mit der Person, an der man haftet, wird man nicht zusammen bleiben können, und das Glück, das man dabei erlebt, ist nicht das überragende Glück, das vom Buddha gelehrt wurde. Hier verknüpft Aryadeva dies also mit der Diskussion über die Unbeständigkeit und mit der früheren Diskussion, dass der Körper keine Quelle von dauerhaftem Glück ist.
(3.18) Außer (Dummköpfen) würde (jeder) Mensch auf ein dreckiges Gefäß (voller Erbrochenem und voller Exkremente) herab schauen. Warum schaust Du nicht auch herab auf das, von dem dieser Unrat stammt?
(3.19) Wenn Du auf das End(ergebnis) schaust, wenn irgendein sauberes Objekt (wie die gegessene Nahrung in Kontakt mit einem weiblichen Körper gekommen ist): welche scharfsinnige Person würde da sagen: „Die (Natur dieses Frauenkörpers) ist rein?“
(3.20) Jeder, der in der Toilette (eines Mutterleibs weilt), könnte (dort) nicht bleiben, ohne diese (schmutzige Flüssigkeit). Eine solche (Person, die als Fötus) wie ein Schmutziger Wurm (ist), könnte nur aus Starrsinnigkeit (den) Stolz Entwickeln (dass der eigene Körper rein sei).
Dies ist eine Reihe von Versen, die sehr der Darstellung von Shantideva ähneln, wie man die Anhaftung an den eigenen Körper und den Körper von anderen überwindet, damit man sich in den Wald zurückziehen und konzentrative Versenkung entwickeln kann. Hier wird gesagt, dass man sich vor Augen halten sollte, wie viel Unrat im Körper des Partners enthalten ist. Es ist doch absurd, an einem Gefäß voller Exkremente so sehr anzuhaften.
(2.21) So wie manche Menschen glücklich sind, wenn sie sich in ein goldenes Gefäß erbrechen,
ebenso solltest Du Dein Glück als (belanglose) Erleichterung von Leiden betrachten.
Er verwendet da ein sehr ähnliches Beispiel wie im letzten Kapitel: Bei einigen Menschen ist es so, dass sie sogar Vergnügen daran finden, wenn sie sich erbrechen müssen und sich in einen goldenen Topf erbrechen können.
Shantideva hat später gelebt, oder?
Shantideva hat sehr viel später gelebt. Aryadeva hat ungefähr Mitte des zweiten bis Mitte des dritten Jahrhunderts gelebt, Shantideva hat Anfang des achten Jahrhunderts gelebt. Aber es ist trotzdem so – auch wenn man sich zum Beispiel den Brief an einen Freund von Aryadevas Lehrer Nagarjuna ansieht – dass viele Themen, die dort besprochen werden und auch die Art und Weise, wie bestimmte Themen besprochen werden, sehr ähnlich sind, und dass diese Texte auch Quellen dafür sind, wie Shantideva diese Punkte später erklärt hat.
(3.21) Egal, mit welcher Methode (Du ihn wäschst) – das Innere deines Körpers kann nicht rein werden. Wenn Du versuchen willst, dass Innere (deines Körpers zu reinigen), wird dies nicht (zustande kommen) indem Du (deine Bemühungen) derartig auf das Äußere richtest.
Aryadeva weist darauf hin, dass man das Innere des Körpers niemals rein bekommen wird, egal wie oft man das Äußere des Körpers auch waschen mag. Geshe Dhargyey hat das dann in leicht anderer Form ausgedrückt, und meinte sogar, dass man also ein Stück Exkrement waschen kann so viel man will und dass es niemals sauber wird. Indirekt verweist dies auch darauf, wie zweifelhaft die hinduistische Vorstellung ist, dass man sich im Ganges-Fluss waschen und dadurch all seine negativen karmischen Kräfte beseitigen kann.
Das ist also das Kapitel, in dem besprochen wird, wie man sich vom Greifen nach dem Körper als rein befreit.
Kapitel 4: Aufzeigen von Methoden, um sich vom Greifen nach (dem Körper als mit) einem „Selbst“ (versehen) zu befreien (über das man Stolz empfindet)
Das vierte Kapitel spricht dann über Methoden, mit denen man sich vom Greifen nach dem Körper als mit einem unmöglichen Selbst versehen befreien kann, auf das man stolz ist. Wenn jetzt von einem unmöglichen „Selbst“ die Rede ist, dann gibt es viele verschieden tiefe Verständnisebenen, wie so ein unmögliches „Selbst“ vermeintlich beschaffen wäre. Die allgemeinste Form, wie man sich vielleicht ein solches Selbst vorstellt, ist, dass man die Vorstellung eines Selbst hat, das aus bestimmten nichtbuddhistischen Lehrsystemen kommt. Basierend auf solchen Erklärungen entwickelt man eine entsprechende Vorstellung, dass man ein derartiges Selbst besitzt, und auf dieser Grundlage könnte sich Stolz auf ein solches Selbst entwickeln.
Die wesentliche Vorstellung in den indischen nichtbuddhistischen Systemen ist, dass es also eine Seele – ein sogenanntes Atman – gibt, welches statisch ist, also sich niemals verändert. Wenn man diesen Begriff „statisch“ als „beständig“ übersetzt, was oft getan wird, dann wird das ein bisschen irreführend, dann könnte man also vielleicht denken, das ist ewig.
Im Buddhismus ist es allerdings auch so, dass das Bewusstseinskontinuum, aufgrund dessen man das Selbst benennen kann, etwas ist, das anfangslos, also schon immer existiert, und auch endlos. Bei dem unmöglichen Selbst oder der unmöglichen Seele ist es aber so, dass man der Meinung ist, dass ein solches unmögliches Selbst statisch, also unveränderlich ist. Es wird weiterhin angenommen, dass es keine Teile hat und dass es vollkommen unabhängig ist. Es wird gesagt, dass eine solche Seele oder ein solches Selbst entweder die Größe des gesamten Universums besitzt, wie zum Beispiel, wenn man die Vorstellung hat, dass „Atman Brahman ist“, und andererseits gibt es auch Vorstellungen, dass das Selbst die Größe eines allerkleinsten Teilchens hat – wie ein Lebensfunke, der keine Teile mehr hat.
Jedenfalls sind diese verschiedenen Schulen der Meinung, dass das Selbst vollständig von den Aggregaten getrennt ist – getrennt von Körper und Geist. Wenn das Selbst dann von Leben zu Leben geht, dann ist es vollkommen unabhängig von einem Körper oder einem Geist, mit dem es verbunden wäre. Das ist also die Vorstellung eines Selbst, die man sich vielleicht zu eigen machen könnte und aufgrund derer man dann vielleicht Stolz entwickeln könnte, indem man denkt „Ach, ich bin doch so toll“ und so weiter. Das wäre dann eine auf Lehrmeinungen basierende falsche Vorstellung eines Selbst.
Dann gibt es andererseits auch eine automatisch auftretende Form des Greifens nach einem unmöglichen „Selbst“. Diese besteht darin, wenn wir denken, dass das „Selbst“ einer Person ganz für sich, ganz losgelöst und eigenständig erkannt werden kann, so dass wir denken, das Selbst oder das „Ich“ einer Person könnte unabhängig von den Aggregaten, von Körper und Geist, erfasst werden. Auch wenn wir verstehen, dass das konventionelle „Ich“ etwas ist, dass auf die Kontinuität der Aggregate (Körper und Geist) zugeschrieben wird: wenn wir also an eine bestimmte Person denken, dann fühlt es sich trotzdem automatisch so an, als ob wir an diese Person denken könnten oder auch die Person wahrnehmen könnten unabhängig davon, dass wir jetzt gerade den Körper sehen oder die Stimme hören oder etwas ähnliches. Und wenn man mit einer bestimmten Person telefoniert, dann denkt man wirklich „Ich rede jetzt mit Monica“ oder „Ich rede jetzt mit Daniel“. Es fühlt sich nicht an, wie „Ich spreche mit einem Körper, der bestimmte Klänge produziert und auf dieser Grundlage kann ich das „Ich“ von Monika oder Daniel zuschreiben“.
Genauso ist es, wenn man einen Körper einer anderen Person sieht. Dann denkt man wirklich „Ich sehe jetzt Ursula“, „Ich sehe jetzt Christian“. Man denkt nicht „Ich sehe einen bestimmten Körper und auf dieser Grundlage kann ich dann Ursula oder Christian zuschreiben“. Oder man denkt: „Ich kenne diese Person. Ich kenne Marianne. Ich kenne den und den“. Und was kenne ich? Ich kenne vielleicht bestimmte Handlungen, ich kenne Teile der Persönlichkeit, ich weiß etwas drüber, wie sie aussieht, ich weiß etwas von ihrer Geschichte und so weiter. Und auf dieser Grundlage kann ich dann ein „Ich“ zuschreiben.
Die Vorstellung, dass wir aber die Person unmittelbar – unabhängig von so einer Zuschreibung und solchen Grundlagen – erfassen könnten, das ist dann das automatisch auftretende Greifen nach einem unmöglichen Selbst. Aufgrund einer solchen falschen Vorstellung kann sich dann natürlich auch zum Beispiel Stolz entwickeln: „Ich bin so toll.“ Wir denken so, nicht war? „Ich kenne mich selbst“. Oder ,wenn wir in den Spiegel schauen, denken wir „Ich sehe mich im Spiegel“, „Ich höre meine Stimme auf dem Anrufbeantworter“, „Da ist ein Bild von mir – das bin ich“. Das sind Sichtweisen, die in dieser Form offensichtlich verkehrt sind.
Unsere Ärztin in der Runde hat eingewendet, wenn jemand sich nicht erkennen würde, dann müsste man eine geistige Störung diagnostizieren. Aber darum geht es nicht. Es geht nicht darum, dass man sich nicht auf einem Foto erkennen sollte, sondern hier geht es darum, dass wir die Vorstellung haben, da ist eine Person, die unabhängig von der Benennungsgrundlage oder von verschiedenen Benennungsgrundlagen existieren könnte. Und das ist eine falsche Sichtweise. Wir haben eine solide Vorstellung der Person als wäre sie eine eigenständige solide Sache. Wenn ich zum Beispiel ein Foto von jemandem sehe, dann sehe ich eigentlich nur einzelne farbige Punkte, die die Form eines Körpers haben und das konventionelle „Ich“ der jeweiligen Person wird dann auf Grundlage dieser farbigen Punkte benannt. Aber diese Bildpunkte sind ja nicht mal der Körper selbst, oder?
Das ist wirklich ein sehr wichtiger und tiefgründiger Punkt und es ist sehr wesentlich, dass wir dies für uns selbst durcharbeiten und schauen, wie störende Emotionen in Abhängigkeit von diesen falschen Sichtweisen entstehen. Wenn wir zum Beispiel denken „Ich bin so unglücklich“ oder „Ich bin so toll“, oder „Du bist so toll“, oder „Du bist so fürchterlich“, dann sprechen wir erst einmal noch nicht auf der Ebene, wie das Selbst existiert, sondern eher darüber, auf welche Art und Weise man das selbst erkennen kann. Natürlich, wenn man versteht, auf welche Art und Weise das Selbst zu erkennen ist, dann folgt indirekt daraus auch, auf welche Art und Weise das Selbst existiert, aber hier geht es speziell darum, um die Art und Weise, wie man das Selbst erkennen kann, und nicht wie das Selbst an sich existiert oder erwiesen ist.
Wenn wir zum Beispiel denken „Ich bin so besonders toll“, dann ist die Frage, was ist eigentlich die Grundlage dieses Gedankens. Da wissen wir vielleicht, ja, „Ich hab dies und jenes getan“. Aber wenn wir denken „Ich bin so toll“, dann scheint es uns so, als ob da noch so irgendein „Ich“ ist, was völlig unabhängig ist von dem, was wir getan haben, und auf das wir stolz sein können. Und es ist ebenso, wenn wir denken „Ach, ich bin so traurig“, dann haben wir ein bestimmtes Geisteskontinuum und das wird vielleicht begleitet von Traurigkeit, während wir beispielsweise die Wand anschauen oder während wir irgendetwas denken und so weiter. Und auf dieser Grundlage kann man dann das konventionelle „Ich“ zuschreiben über dass ich dann nachdenke.
Aber es gibt auch viele andere Dinge, auf deren Grundlage man die Person zuschreiben könnte. Es ist ganz genau so, wenn man denkt: „Ach, Du bist so fürchterlich“. Dann ist erst einmal die Frage, was denn eigentlich so fürchterlich ist? Ist es der Körper? Ist die Stimme der Person so fürchterlich? Was ist es? Die Handlungen der anderen Person? Ist alles fürchterlich? Oder auch, wenn man denkt „Ach, Du bist so toll“.
Wird denken an die Person als etwas, das ganz losgelöst und für sich ist, und ohne irgendwas anderes zu berücksichtigen, das ebenfalls da sein muss, wenn wir denken, oder sehen, oder hören. Und auf dieser Grundlage können dann Anhaftung gegenüber einer Person oder Ärger, oder Anhaftung gegenüber uns selbst, Stolz, und so weiter entstehen.
Das unmögliche Selbst, nach dem man laut der Prasangika-Schule automatisch greift, ist allerdings etwas noch subtileres als wir es jetzt hier besprochen haben, aber dazu kommen wir dann später, wenn wir über die letzten acht Kapitel sprechen. Eine der Schwierigkeiten, die sich ergibt, wenn man die Tiefgründigkeit der Erklärungen Seiner Heiligkeit verstehen will, ist, dass es viele verschiedene Arten eines unmöglichen Selbst gibt.
Es gibt viele verschiedene Arten von falschen Sichtweisen und viele verschiedene Arten von unmöglichen Existenzweisen, viele unmögliche Arten des Selbst oder einer Seele und diese werden im Tibetischen und im Sanskrit alle mit verschiedenen Fachbegriffen bezeichnet. Da hat sich dann ein spezieller Jargon, so eine spezielle Redeweise herausgebildet, die erst mal nicht besonders selbsterklärend ist. Selbst im Original – im Tibetischen und im Sanskrit – ist dies ein Stück weit der Fall.
Wenn man diese Begriffe beispielsweise als tibetischer Mönch oder tibetische Nonne während der Ausbildung lernt und in der Debatte ausgebildet wurde, dann hat man jede dieser Definitionen in jedem einzelnen der verschiedenen Lehrmeinungssysteme auswendig gelernt. Denn es ist so, dass Begriffe – beispielsweise wahre Existenz – je nach Kontext und je nach Lehrmeinungssystem etwas anderes bedeuten. Wenn man dann so ein Stück, so einen Fetzen davon hört und Seine Heiligkeit das vielleicht andeutet, dann weiß eine Person, die diese Definition gelernt hat, auf welches System oder welche Ansichten sich Seine Heiligkeit an der Stelle ganz genau bezieht und wovon er gerade spricht. Wenn Seine Heiligkeit darüber spricht und wenn es übersetzt wird, bekommt man nicht immer eine sehr detaillierte Erklärung.
Bei diesem unmöglichen „Selbst“ oder dieser unmöglichen Existenzweise, über das ich gerade gesprochen habe, ist es so, dass dies zum Beispiel oft als „substanzielles Selbst“ übersetzt wird. Das ist allerdings eine Übersetzung, die zumindest die Bedeutung nicht voll herüber bringt, obwohl diese Bedeutung vorhanden ist. Wenn man wörtlich übersetzt, handelt es sich um ein „substanziell erwiesenes Selbst, das auf eigenen Beinen stehen kann.“ – womit gemeint ist, dass es für sich selbst wahrnehmbar ist. Wenn man also dann diese ganzen Worte und diesen ganzen Jargon hört, dann sollte man sich davon nicht allzu sehr abschrecken lassen, weil es so ist, dass der Übersetzer und auch Seine Heiligkeit natürlich dann nicht in der Lage sein wird, jeden dieser Begriffe vollständig zu erklären. Aber es steckt sehr viel hinter diesen Begriffen. Das ist auch der Grund, warum man sehr, sehr viel studieren muss und sehr tiefgehend studieren muss, um diese buddhistischen Erklärungen über die Leerheit vollständig zu verstehen.
Jetzt wollen wir uns dem Inhalt dieses vierten Kapitels zuwenden.
Aryadeva spricht darin über die vierte fehlerhafte Betrachtungsweise – über fehlerhafte Betrachtungsweisen, die störende Emotionen bezogen auf den Körper auftreten lassen können, weil man stolz auf dieses Ich „ist“, welches ganz für sich erkannt werden kann.
Dabei spricht Aryadeva sich selbst wie einen König an – wie den König der dortigen Region. Dies ist in derartigen Texten recht typisch, denn auch Nagarjuna tut dies beispielsweise in einigen seiner Texte, zum Beispiel im Brief an einen Freund und der Kostbaren Girlande. Aber obwohl der Text an den König gerichtet ist, ist der Inhalt natürlich sehr viel allgemeiner anwendbar. Ich kann mir nur vorstellen, dass die Könige vielleicht Gönner der Klöster waren und dass sie deshalb ein stärkeres Interesse daran hatten, auch entsprechend Belehrungen zu erhalten.
Ist dies soweit klar? Wenn man stolz ist, dann basiert das zum Beispiel auf der Vorstellung „Ich bin König“, als wäre da ein „Ich“, was unabhängig von irgendwas anderem existieren könnte und unabhängig von irgendwas anderem erkennbar wäre – unabhängig vom Körper, vom eigenen früheren Handeln, unabhängig davon, wie man König geworden ist, und so weiter. Dann denkt man einfach „Ich bin König“ und ist auf dieser Grundlage stolz. Hier stellt sich die Frage: Ist zum Beispiel der Körper der König? Was ist der König eigentlich? Wenn man an einen König denkt, dann muss man sich zumindest auf irgendetwas beziehen. Oder wenn man einen König sieht, dann denkt man „Das ist der König“. Aber was sieht man da?
(4.1) Welcher Heilige (Arhat) würde in der Welt Überheblichkeit entwickeln, indem er denkt, „Ich (bin König und dieses Land ist nichts als) mein“?
Wozu, denn alle Länder werden gleichermaßen von allen (verwendet, die dort leben).
Indem er den König anspricht sagt Aryadeva also, dass es als König unangebracht ist, auf sein sogenanntes „Selbst“ stolz zu sein. Schließlich gehört einem das Land überhaupt nicht, weil es mit allen anderen geteilt wird, die dort leben.
(4.2) Als Diener der Massen wurde Dir ein Sechstel (als Lohn) zugesprochen.
Was ist also der Grund für Deine Überheblichkeit?
Alles, was (zu tun ist), musst Du tun, weil Du aufgrund ihrer Macht (ernannt) wurdest.
Man ist außerdem der Diener der Menschen, denn man wird von ihren Steuern bezahlt und muss für sie arbeiten.
(4.5) Als Beschützer der Welt (magst Du überheblich sein).
Aber um (die Menschen) beschützen zu können, musst Du (selbst)
(von jenen) behütet werden, (die Du beschützt).
Warum bist Du also aus dem einen (nichtigen Grund) überheblich?
Warum bist Du nicht (stattdessen) aus dem anderen (Grund, weil andere für Dich sorgen müssen), frei von Überheblichkeit?
Damit Du die Leute schützen und für sie sorgen kannst, müssen die anderen Dich schützen und sich um Dich kümmern. Daran erkennt man, dass man nicht losgelöst als König existiert.
(4.6) In allen Kasten brüstet man sich mit dem eigenen Karma und der eigenen Arbeit.
Deshalb ist es schwer, jemanden zu finden, dessen Lebenserwerb (frei von Stolz und Anhaftung ist).
Weil Du (ein Sechstel des Einkommens der Menschen bekommst), erhältst Du ebenfalls (ein Sechstel ihrer) zerstörerischen (karmischen Schuld).
Eine vorteilhafte Wiedergeburt wird deshalb für Dich eine Seltenheit sein.
Weiterhin heißt es also, dass man nicht nur den Reichtum der Steuereinnahmen teilt, die man von den Leuten erhält, sondern auch die negative karmische Kraft, die die Leute ansammeln, wenn sie einem dienen, zum Beispiel wenn sie im Krieg für einen kämpfen. Dies wird im Abhidharmakosha recht deutlich gemacht: wenn ein König oder General die Leute in den Krieg schickt, dann sammelt er die gleiche negative Kraft an, wie die einzelnen Soldaten, die jemanden töten.
(4.8) Falls Du denkst „der Schutz (der Menschen) hängt von mir ab“ und (dann) von der Welt (gewaltsam) Tribute für Dich nimmst,
wirst Du negative Handlungen ausführen (wie die Hinrichtung jener, die nicht zahlen).
Aber wer könnte dann an Bösartigkeit (mit Dir) vergleichbar sein?
(4.9) Falls es unangebracht ist, Verbrecher mit Güte zu behandeln,
dann solltest Du kindische, gewöhnliche Wesen überhaupt nicht beschützen
(weil alle ebenfalls Schlechtes getan haben).
(4.10) (Andere schlecht zu behandeln) kann niemals eine Ursache sein,
um das eigene Glück zu vergrößern, deshalb bewirkt dies kein (Glück).
Vielleicht (rechtfertigst Du zum Beispiel das Töten von Tieren) mit Begründungen wie der Autorität (angeblich verlässlicher) Schriften, (die dies erlauben).
Aber weil es dennoch nichts positives ist, (wird Deine karmische Schuld) kein Ende haben.
Wie kann man als König so glücklich sein, wenn man andere Menschen bestraft und ihnen Leiden und Schwierigkeiten einbringt? Wie sollte das eine Quelle von eigenem Glück sein? Wie kann man sich freuen, wenn man andere ausbeutet und sie fort schickt, um Kriege für einen zu führen? Hier geht es natürlich nicht nur um das unmittelbare Glück und die unmittelbaren Folgen, sondern um die längerfristigen karmischen Auswirkungen solch negativen Verhaltens.
(4.21) Es wird überliefert, dass sich die Kasten in dieser Welt gemäß all der vorhandenen Mittel des Lebenserwerbs (entwickelten).
Deshalb gab es für sämtliche begrenzte Wesen (von Anfang an) keine (wahrhaft existierende und unabänderliche) Einteilung in Kasten.
(4.22) Lange Zeit ist vergangen (seit die ursprüngliche Einteilung in Kasten geschah)
und der Geist der Frauen ist wankelmütig (so dass sie oft Kinder von Männern anderer Kasten gebären).
Deshalb gibt es niemanden, der aus einer (eindeutigen, reinen) Kaste stammt (und) der sagen kann, dass er (ausschließlich) der Königskaste angehört.
(4.23) Falls (deine) Aktivität (deine Kaste bestimmen würde), sollte selbst ein Kastenloser als angehöriger der Königskaste bezeichnet werden (falls er andere schützt).
Und warum sollte (dann) ein Kastenloser durch die Aktivität (des Lesens der Veden)
nicht sogar als Brahmane betrachtet werden?
Im indischen Kontext haben die Menschen teilweise ein sehr starkes Zugehörigkeitsempfinden zu einer Kaste, und das kann natürlich wiederum eine Quelle für Stolz sein, weil die Leute denken, „Ich gehöre zu dieser oder jener hochgestellten Kaste“. Und Aryadeva geht deshalb nun auf das Thema der Kaste ein und weist darauf hin, dass diese hochstehende Position in einer bestimmten Kaste aus früheren karmischen Ursachen entstanden ist und nicht von der Kaste selbst stammt. Die eigene Position im Leben existiert nicht inhärent, also sollte man darüber nachdenken, wie sich die eigenen Handlungen in Zukunft auf die eigenen Geburten auswirken werden. Und außerdem – falls es so wäre, dass die Tätigkeit bestimmen würde, zu welcher Kaste man wahrhaft gehört, dann wäre es so, dass auch ein Unberührbarer zum Brahmanen oder zum Mitglied der königlichen Kaste würde, wenn er diese entsprechende Tätigkeit ausführt. Also ist die gesamte Vorstellung der Kasten wirklich sehr unlogisch.
(4.25) Jene, die wegen ihrer Autorität Stolz entwickeln,
sollten andere betrachten, die (ebenfalls) Macht besitzen (und die) ihnen gleich oder ihnen insbesondere überlegen (sind).
(Der Stolz) verweilt nicht in den Herzen der Erhabenen, (welche dies verstehen).
Wenn man also stolz auf die eigene Autorität und Macht ist, dann soll man andere Herrscher betrachten, die noch mächtiger sind. Das ist also ein genereller Ratschlag, der immer wieder gegen Stolz gegeben wird: Es gibt immer jemanden, der besser ist oder mehr von dem besitzt, bei dem man sich für den Besten hält. Und wenn man andererseits denkt, dass man der Schlechteste von allen ist, lässt sich immer jemand finden, der noch schlechter ist oder dem es noch schlechter geht. Auch wenn es vielleicht bei Bill Gates so ist, dass er wahrscheinlich wirklich der reichste Mensch der Welt ist, ist es trotzdem so, dass zumindest Staatsfinanzen noch umfangreicher sind.
Die Erklärungen in diesem Kapitel sind nicht nur für Könige anwendbar und es ist wichtig, solche Punkte auf die eigene Situation zu beziehen. Man könnte beispielsweise auf den eigenen Beruf stolz sein, zum Beispiel den Beruf eines Arztes. Aber auch dies ist etwas, das in Abhängigkeit von anderen zustande gekommen ist. Und als Arzt dient man den anderen, weil man sich um andere kümmern muss. Und man gewinnt nicht nur positive Kraft dadurch, dass man anderen hilft, sondern Ärzte machen manchmal auch Fehler, so dass ihre Patienten sterben. All diese Aspekte müssen wir ebenfalls berücksichtigen – dass die Familien dann trauern und so weiter. Und die Position eines Arztes, die kommt natürlich aufgrund von vielen Ursachen zustande – durch viel harte Arbeit. Sie existiert nicht einfach so aus sich heraus. Und es gibt auch immer Ärzte, die besser oder die schlechter sind als man selbst.