Die neun Fahrzeuge im Nyingma

Die Sutra-Lehren 

Was Tantra im Allgemeinen betrifft, handelt es sich dabei nicht um etwas, das getrennt von den grundsätzlichen Sutra-Lehren verstanden werden kann. Alles baut auf der Grundlage des Sutra auf und muss daher im Kontext der grundsätzlichen Sutra-Lehren praktiziert werden. Beim Weben eines Stoffes oder Teppichs gibt es Fäden, auf denen gewebt wird, und der Begriff Tantra stammt von dem Wort für diese Fäden. Es sind diese Praktiken, in die wir all die Dinge, die wir im Sutra gelernt haben, einweben. Visualisieren wir uns nun in der Form einer Gottheit, einer Buddha-Gestalt, repräsentieren all die Arme, Gesichter und Beine diese verschiedenen Punkte des Sutra.

Zuflucht in die Drei Juwelen

Wir alle verfügen über eine kostbare menschliche Wiedergeburt und es ist ausgesprochen wichtig, eine Wertschätzung dafür zu haben. Diese Wiedergeburt ist etwas, das so überaus kostbar und wertvoll ist, weil sie die einzige Basis dafür ist, Befreiung und Erleuchtung zu erlangen und daher sollten wir sie nicht für selbstverständlich halten. Wie einer meiner Lehrer es ausdrückte, ist es so, als würden wir von den niederen Bereichen vorübergehend beurlaubt sein und müssten achtgeben, nicht wieder in die niederen Gefilde zurückkehren.

Der Tod wird mit Gewissheit kommen, wir wissen nur nicht wann. Das Einzige, was hilfreich sein wird, sind die vorbeugenden Maßnahmen, die wir ergriffen haben, um diese Rückkehr in die niederen Bereiche zu vermeiden, denn das wollen wir natürlich nicht. Wir können an all die schrecklichen Leiden denken, daran, wie furchtbar es wäre, als irgendein Insekt von einem anderen Insekt lebendig verspeist zu werden, oder ein Dasein als eine Art Geist oder Höllenwesen zu fristen. Ihr habt alle davon gehört und es geht darum, sich davor zu fürchten. Wir reden hier jedoch nicht von dieser paralysierenden Art der Angst, bei der wir uns einfach nur hilflos und hoffnungslos fühlen. Vielmehr ist die Rede von einer Situation, in der wir uns über eine Möglichkeit bewusst sind, diesen Abstieg zu vermeiden, indem wir unserem Leben eine sichere und positive Ausrichtung geben, die man für gewöhnlich als „Zuflucht“ bezeichnet. Und es ist wirklich wichtig, das nicht zu bagatellisieren.

Was ist nun die eigentliche Quelle dieser Zuflucht, mit der wir uns vor niederen Wiedergeburten schützen können? Es ist das Dharma-Juwel, aber was bedeutet das? Es gibt zahlreiche verschiedene Ebenen, auf denen wir das Dharma-Juwel verstehen können. Auf der tiefsten Ebene bezieht es sich auf die dritte und vierte edle Wahrheit:

  • Bei der dritten geht es um die wahre Beendigung der Leiden und dessen Ursachen. Worauf bezieht sich das? Im Sinne von Dzogchen ist die Rede von Rigpa, dem reinen Gewahrsein und das ist etwas, das wir alle haben. Es ist individuell; es ist nichts Kollektives, dem man sich im Himmel anschließt. Es bezieht sich auf die subtilste, reinste Ebene unseres geistigen Kontinuums. Es ist etwas, das von Natur aus völlig frei von jeglichen Schleiern ist – also die wahre Beendigung der Leiden und dessen Ursachen – und es ist reich oder angefüllt mit allen positiven Eigenschaften. Wie jedoch in so vielen Nyingma-Texten gesagt wird, muss dieses reine Gewahrsein „sein eigenes Gesicht erkennen“. Das heißt: obwohl dieses reine Gewahrsein da ist, erkennen wir es nicht und weil wir es nicht erkennen, können wir es nicht wirklich nutzen.
  • Wir haben also die vierte edle Wahrheit, bei der wir dieses tiefe Gewahrsein erlangen, um Rigpa vollständig zu verwirklichen. Können wir Zugang zu diesem reinen Zustand finden, der nicht von Leiden und seinen Ursachen (was sich auf die erste und zweite edle Wahrheit bezieht) bedeckt ist, werden wir nicht nur schlechtere Wiedergeburten, sondern alle unkontrollierbar sich wiederholenden Wiedergeburten vermeiden. Ob es nun schlechtere oder bessere Zustände sind, bei beiden handelt es sich nach wie vor um Samsara, und Samsara bedeutet unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburten, immer und immer wieder, wobei sich „unkontrollierbar“ darauf bezieht, dass sie sich unter dem Einfluss von Karma und störenden Emotionen befinden.

Das ist das Dharma-Juwel und in diese Richtung wollen wir gehen. Wir wollen dieses Rigpa, das in uns allen vorhanden ist, vollständig realisieren und diesen Zustand beibehalten. Die Buddhas, das Buddha-Juwel, sind jene, die dies auf vollkommene Weise erreicht und uns gezeigt und gelehrt haben, wie wir es selbst erreichen können. Das Sangha-Juwel bezieht sich auf den Arya-Sangha. Der Arya-Sangha sind jene, die dies teilweise und nicht wie die Buddhas vollständig erlangt haben. Es ist äußerst wichtig, dies zu verstehen.

Reden wir von Buddha, geht es nicht wirklich um eine historische Persönlichkeit, wie beispielsweise in unseren biblischen Religionen, in denen wir Figuren, wie Moses, Jesus oder Mohammed haben, die Offenbarungen oder Anweisungen von Gott erhielten. Hier sind sie die Einzigen, die sie empfangen haben und wir müssen ihnen glauben und folgen, um eine Art der Erlösung zu erfahren. Wir können nicht tun, was sie taten und können kein zweiter Moses, Jesus oder Mohammed werden. Das ist ein wirklich wichtiger Unterschied, denn im Buddhismus können wir selbst Buddhas werden. Shakyamuni, Guru Rinpoche – das sind nur einige von zahlreichen Wesen, die Erleuchtung erlangt haben und es ist wichtig, sie nicht zu einem Moses, einem Jesus oder einem Mohammed zu machen. Wir alle können selbst Erleuchtung erlangen und sie können uns den Weg weisen. Sie können uns inspirieren und wir können sie um Inspiration bitten. Es ist jedoch nicht so, dass wir uns einfach öffnen und durch ihre Gnade erleuchtet werden. Das ist kein Buddhismus. Wir alle haben Rigpa, wir alle haben dieses reine Gewahrsein, die Grundlage, um Erleuchtung zu erlangen, die so genannte „Buddha-Natur“.

Karma

Denken wir an all die verschiedenen Arten des Leidens, wie:

  • das Leid des Unglücklichseins und des Schmerzes. Hauptsächlich geht es hierbei um dieses Gefühl unglücklich zu sein, das wir erfahren könnten. Auch wenn wir auf einer körperlichen Ebene eine Art Genuss erfahren, könnten wir auf einer geistigen Ebene unglücklich sein und das mag niemand; niemand will unglücklich sein.
  • Außerdem gibt es dieses gewöhnliche Glück, das ebenfalls mangelhaft ist, weil es nicht andauert, nicht zufriedenstellend ist und wir ständig noch mehr haben wollen. Stets haben wir Angst es zu verlieren und daher halten wir daran fest. Wenn wir dann zu lange zu viel davon haben, verwandelt es sich in einen Zustand des Unglücklichseins und wir sind unzufrieden. Essen wir beispielsweise zu viel Eis, macht uns das früher oder später krank.
  • Aber das eigentliche tiefste Leiden, das wir im Buddhismus überwinden wollen, ist noch tiefgründiger. Es geht um das Erfahren der Höhen und Tiefen des Unglücklichseins und des gewöhnlichen Glücks, also Samsara, der unkontrollierbar sich wiederholenden Wiedergeburt, mit unseren gewöhnlich Arten von Körper und Geist, durch die wir dieses Unglücklichsein und dieses gewöhnliche Glück erfahren.

All das geschieht durch unsere grundlegende Zwanghaftigkeit des Karmas. Reden wir über Karma, ist es wichtig zu verstehen, worauf wir uns damit beziehen. Es geht dabei nicht um Schicksal oder dergleichen, sondern um Zwanghaftigkeit. In unserem Verhalten gibt es einen zwanghaften Aspekt. Durch die Gewohnheiten des Handelns unter dem Einfluss der Verwirrung, mögen wir bestimmte Dinge. Es gibt Dinge, die wir gern und andere, die wir nicht gern tun. In unserem Geist entsteht ein Gefühl, jemanden anschreien oder umarmen zu wollen, und dann (hier kommt Karma mit ins Spiel) gibt es eine gewisse Zwanghaftigkeit, die uns dazu treibt, die andere Person tatsächlich anzuschreien oder zu umarmen, obwohl es vielleicht nicht gerade angemessen ist. Es fühlt sich an, als hätten wir keine Kontrolle darüber, aber im Grunde handeln, sprechen oder denken wir einfach zwanghaft und unbewusst auf bestimmte Weise.

Karma bezieht sich nicht auf die Handlung selbst, obwohl es sich bei dem tibetischen Begriff um das umgangssprachliche Wort für Handlung (tib. las) handelt. Wäre das Problem die Handlung selbst, müssten wir einfach nur aufhören irgendetwas zu tun und würden Erleuchtung erlangen. Ganz offensichtlich hat es also nicht diese Bedeutung. Unser Verhalten sollte nicht zwanghaft sein, sondern voller Mitgefühl und es ist zwanghaft, weil es unter dem Einfluss störender Emotionen wie Gier, Anhaftung, Verlangen, Ablehnung, Wut, Naivität, Eifersucht, Stolz und all dieser Unruhestifter steht. Der Grund für all das ist unser mangelndes Gewahrsein bezüglich der Realität. Wir sind uns nicht bewusst über unsere reine Natur. Weil wir verwirrt sind, erscheint es uns in unserem Geist, als würden Dinge auf unmögliche Weise existieren und als wären wir etwas Solides, das von allem anderen getrennt ist. Es fühlt sich so an, als würde es da eine kleine Person in unserem Kopf geben, die Informationen von den Augen und Ohren auf einem Bildschirm und durch Lautsprecher mitgeteilt bekommt und Tasten betätigt, um den Körper zu bewegen. Und dann macht sich diese Stimme in unserem Kopf Sorgen und denkt: „Was halten die Leute von mir? Was soll ich jetzt tun?“

Durch unsere Verwirrung und da wir unsere wahre Natur nicht kennen, kommt unser verwirrter Geist zu dieser Art von Schlussfolgerung in Bezug darauf, wer wir sind, und wir halten es für wahr; wir glauben, es würde der Realität entsprechen. In diesem Zustand der Verwirrung scheint alles auf unmögliche Weisen zu existieren, als wäre alles in Plastik gehüllt und würde nur für sich selbst bestehen, unabhängig von Ursachen, Bedingungen, Konzepten, relativen Perspektiven, einfach unabhängig von allem. Wie ein Problem, das wir wie ein Monster für eine schreckliche Sache halten, die wie in Plastik gehüllt ist, und dann geraten wir völlig aus der Fassung deswegen, regen uns furchtbar auf und meinen, nicht damit umgehen zu können. Es ist so, als würde diese Sache, dieses Problem, keine Ursachen haben und nicht durch das Ergreifen verschiedener Maßnahmen gelöst werden können.

All das entsteht, wenn wir Rigpa, reines Gewahrsein, nicht wirklich verstehen oder uns nicht bewusst darüber sind. Rigpa ist die Quelle aller Erscheinungen. Das ist Teil des so genannten „Spieles des reinen Gewahrseins“, das wie das Glitzern von Wasser oder das Bild in einem Spiegel ist. Erfahren wir eine „Verschleierung“ oder „Trübung“, wird Rigpa zur Quelle all dieser Erscheinungen dessen, was unmöglich ist. Beispielsweise ist es unmöglich, dass Dinge wie in Plastik gehüllt existieren, denn so etwas gibt es nicht. Da befindet sich kein kleines „Ich“ in unserem Kopf.

Rigpa ist die Quelle aller Erscheinungen und die Analogie, die hier verwendet wird, ist die des Lichtspiels auf dem Wasser. Es ist Teil der Natur dieses reinen Gewahrseins:

  • es hat diese Erscheinungen, sie werden spontan hervorgebracht (so wird es fachlich ausgedrückt),
  • und Energie wird kommuniziert. Das bezeichnet man als den Aspekt des Mitgefühls, denn im Grunde geht es um Kommunikation.
  • Von Natur aus ist es rein. Auf der tiefsten Ebene wird es nie durch diese Verwirrung befleckt.

Das sind die grundlegenden Lehren des Dzogchen. Aufgrund unserer anfangslosen, gewohnheitsmäßigen Verwirrung wird Rigpa jedoch wie von Wolken bedeckt. Die Wolken sind für die Natur des Himmels keine Störung oder Gefahr, aber sie sind da. Und wegen der Wolken, diesem Filter, wirkt Rigpa als eine Quelle all dieser verwirrenden Erscheinungen. Diese Erscheinungen entsprechen jedoch nicht der Realität. Reden wir also von Leerheit oder Leere, geht es darum, dass es keine dementsprechende Realität gibt. Was diese Erscheinungen zu sein scheinen, ist vollkommen leer und nicht vorhanden. Mein verwirrter Geist mag jemanden als ein Monster erscheinen lassen, um einmal ein einfaches Beispiel zu benutzen. Aber es gibt kein echtes Monster, das dieser Erscheinung entspricht. In Bezug auf die Leerheit ist es nicht vorhanden, es ist abwesend.

Wir können dies auch als Anderesleerheit (tib. gzhan-stong), eine andere Art der Leerheit, bezeichnen, bei der es um dieses reine Gewahrsein, Rigpa, geht, das in seiner reinen Natur leer von all diesen groberen und verwirrenden Ebenen ist.

Entsagung

Es ist also notwendig, so genannte „Entsagung“ zu entwickeln, die Entschlossenheit frei zu sein. Wovon wollen wir frei sein? Von den ersten und zweiten edlen Wahrheiten – Leiden und seinen Ursachen. Aber worauf bezieht sich das? Es bezieht sich auf diese verwirrenden Erscheinungen und unseren Glauben, sie würden der Realität entsprechen, sowie auf all die störenden Emotionen, die auf diese Glaubensvorstellungen zurückzuführen sind: „oh, ich habe Angst“ oder: „oh, das scheint so wunderbar zu sein, ich muss es unbedingt haben“ usw. Es geht um die Entschlossenheit, frei davon zu sein, weil es einfach furchtbar ist.

Und es ist nicht nur furchtbar, sondern auch überaus langweilig. Diese Entsagung wird jedoch nicht funktionieren, wenn sie auf Wut zurückzuführen ist, auf diese Einstellung, bei der wir denken: „ich bin so dumm, warum glaube ich nur daran?“ Denn dabei handelt es sich wiederum um eine störende Emotion. Vielmehr sollten wir eine Haltung des Überdrusses entwickeln und denken: „Das ist so langweilig. Es geht einfach immer weiter und weiter, seit anfangsloser Zeit. Es reicht.“ Das ist der Gemütszustand, der uns hilft, diese Entsagung zu entwickeln.

Es ist so, als würden wir seit langer Zeit Drogen oder Alkohol konsumieren, und diese Dinge endlich loswerden wollen. Sind wir dann wütend auf uns, weil wir so dumm sind, ist auch immer Angst mit im Spiel, wieder rückfällig zu werden, denn diese Angst ist mit der Wut vermischt. Um jedoch wirklich davon loszukommen, müssen wir ein Gefühl des Überdrusses entwickeln und denken: „Es ist immer das Gleiche, wenn ich mich betrinke oder berausche. Es ist einfach nur langweilig!“ Und dann sagen wir uns: „es reicht.“ Auf diese Weise ist unser Geisteszustand viel gelöster und das ist wirklich wichtig.

Die Drei Höheren Schulungen

Wir wollen uns also befreien, aber wie tun wir das? Es gilt Karma, diese Zwanghaftigkeit in unserem Verhalten, loszuwerden und um das zu tun, ist es notwendig, sich von den störenden Emotionen zu befreien, die sie antreiben. Und um uns von ihnen zu befreien, müssen wir unser mangelndes Gewahrsein oder unsere Unwissenheit beseitigen. Um nun dieses Gewahrsein, dieses Verständnis, zu bewahren, ist Konzentration vonnöten und um sich konzentrieren zu können, also Dumpfheit und einen abschweifenden Geist zu vermeiden, brauchen wir Disziplin. Diese Disziplin erlangen wir durch ethisches Verhalten, indem wir schädliche Handlungen von Körper, Rede und Geist unterlassen. Zunächst nutzen wir also Disziplin, Konzentration und Verständnis. Dann müssen wir uns von der ersten Ebene dieser Verwirrung befreien, der Verwirrung darüber, wie wir selbst und wie andere existieren. Wenn wir diese Ebene durchbrechen können, erlangen wir Befreiung, Befreiung von unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt.

Bodhichitta 

Aber was ist mit allen anderen? Wir sind mit allen anderen verbunden und alle anderen leiden. Wir entwickeln also Liebe und Mitgefühl, wenn wir erkennen, wie alles miteinander verbunden ist. Und wir übernehmen Verantwortung und denken: „Ich werde auf jeden Fall versuchen ihnen zu helfen, Samsara zu überwinden und ich kann es nur tun, indem ich Erleuchtung erlange. Wenn ich all die Schleier von Rigpa, meinem reinem Gewahrsein, entfernen kann, werde ich diese Fähigkeit, diese Qualität des Rigpa enthüllen, alles zu verstehen und zu kennen. Insbesondere werde ich in der Lage sein, Ursache und Wirkung vollkommen zu begreifen, all die Ursachen und den ganzen Hintergrund der gegenwärtigen samsarischen Situation eines jeden und ich werde wissen, was die Auswirkungen von allem sind, was ich einer Person beibringe. Wenn ich jemandem etwas lehre, welche Auswirkungen wird das auf die Person und auf alle anderen haben, die mit dieser Person in Kontakt kommen?“ Denn solange wir nicht verstehen, welche Konsequenzen unsere Anweisungen haben werden, wissen wir nicht wirklich, welches die beste Unterweisung für eine bestimmte Person ist, um Befreiung und Erleuchtung zu erlangen. Danach gilt es zu streben und das ist der Grund, warum wir selbst Erleuchtung erlangen müssen.

Wir entwickeln also Bodhichitta, und Bodhichitta beruht auf Liebe und Mitgefühl. Liebe ist der Wunsch, alle anderen mögen glücklich sein und die Ursachen für Glück besitzen, und Mitgefühl ist der Wunsch, alle anderen mögen frei von Leid und dessen Ursachen sein. Bodhichitta selbst ist jedoch nicht Liebe und Mitgefühl; das wird oft von den Menschen verwechselt. Sie denken, dass sie über Bodhichitta meditieren, wenn sie über Mitgefühl meditieren. Es ist jedoch nicht das Gleiche. Worauf richten wir uns mit Bodhichitta aus, was streben wir an? Wir streben unsere eigene individuelle Erleuchtung an, nicht Buddha Shakyamunis Erleuchtung oder Erleuchtung im Allgemeinen, sondern unsere eigene individuelle Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat, aber beruhend auf der Buddha-Natur, der reinen Natur unseres Geistes, stattfinden kann. Darauf richten wir uns mit zwei Absichten aus: es zu erreichen, damit es etwas „gegenwärtig Stattfindendes“ und nicht etwas „noch nicht Stattfindendes“ ist, und um allen Wesen dadurch von Nutzen zu sein.

Tantra 

Wie richten wir uns auf unsere eigene, individuelle, noch nicht stattfindende Erleuchtung aus? Man muss sie durch etwas darstellen. Buddhas haben nicht nur einen Geist und es geht nicht nur um Dharmakaya. Ein Buddha hat eine körperliche Erscheinung und er kommuniziert (Rede). Wir können also unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung mit einer Figur darstellen, die wir vor uns in der Gestalt von Buddha Shakyamuni oder Guru Rinpoche visualisieren. Es gibt auch zahlreiche andere Formen, die unsere Erleuchtung annehmen und repräsentieren könnte, aber wir sollten daran denken, dass wir nicht versuchen, die Erleuchtung der anderen zu erlangen, sondern unsere eigene.

Um ein Buddha zu werden, ist es notwendig, diesen Geist, diesen Körper und diese Rede selbst zu erlangen. Und damit kommen wir zum Tantra. Anstatt nun unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung durch eine Figur vor uns zu repräsentieren, löst sich diese Figur in uns auf und wir nehmen die Form dieser Buddha-Gestalt an. Es kann eine von tausenden verschiedenen Formen sein, denn Buddhas können als alles mögliche in Erscheinung treten. Wir könnten also als Guru Rinpoche, als Manjushri, als Chenrezig oder irgendein anderer Yidam erscheinen. All diese Arme, Beine usw. sind nur dazu, um uns daran zu erinnern, dass sie für etwas stehen, wie die sechs Paramitas, diese weitreichenden Geisteshaltungen – Großzügigkeit, Disziplin, Geduld, usw. Sie können unglaublich viele Dinge repräsentieren und als ein Buddha müssten wir all dies gleichzeitig aufweisen, denn es handelt sich um die Qualitäten des Rigpa. Im Rigpa sind all diese guten Eigenschaften vereint.

Es ist also unmöglich, Tantra auf korrekte Weise ohne Bodhichitta zu praktizieren, denn diese Figur, als die wir uns selbst visualisieren, repräsentiert unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung, über die wir in unserer Vorstellung verfügen, um sie noch schneller erreichen zu können. Und mit Mantras stellen wir uns vor, unsere Rede ist wie die eines Buddhas. Wir visualisieren Lichtstrahlen, die ausströmen, um allen Wesen zu nutzen, so wie es auch ein Buddha tut (Buddha-Aktivität). Dabei ist es wirklich wichtig zu verstehen, dass diese Erscheinung durch Rigpa, durch reines Gewahrsein, entsteht. Obwohl die Dinge in meinem gegenwärtigen, verwirrten Zustand eher solide erscheinen mögen, sind sie das nicht. Würden wir glauben, es wäre wirklich etwas Solides, wären wir nicht besser als ein Irrer, der meint, er wäre Napoleon oder Cleopatra.

Vielmehr entsagen wir der gewöhnlichen Ebene der Erscheinung, die unser Geist aus Verwirrung heraus erschafft. Und wir verfügen über Bodhichitta; wir streben die noch nicht stattfindende Erleuchtung an, die durch diese Figur repräsentiert wird, als die wir erscheinen, sowie Leerheit, also das Verständnis, dass diese verwirrenden Erscheinungen nicht der Realität entsprechen. Eine tatsächliche Entsprechung ist nicht vorhanden; es gab sie nie. Dieses reine Gewahrsein selbst ist frei von all diesen verwirrenden Ebenen des Geistes. Das ist im Grunde das, womit wir uns im Tantra beschäftigen.

Um nun diese Verwirrung überwinden zu können, ist es nicht nur notwendig, die so genannten gemeinsamen Vorbereitungen, die ich gerade erklärt habe, zu verstehen, sondern auch ein hohes Maß an positiver Kraft aufzubauen und zumindest vorübergehend etwas von der negativen Kraft zu beseitigen. Das Wort „gemeinsam“ bezieht sich hier darauf, dass sie sowohl im Sutra als auch im Tantra gelten. In der Praxis handelt es sich dabei um „Ngöndro“ (tib. sngon-’gro) – die vorbereitenden Übungen der Niederwerfung, Vajrasattva usw. – und einer Ermächtigung oder Initiation, um die Potenziale der Buddha-Natur zu aktivieren und zu stimulieren. Zudem gilt es die Bodhisattva- und tantrischen Gelübde äußerst strikt einzuhalten und sich den diversen Praktiken des Tantra zu widmen.

Die Neun Fahrzeuge 

Wir hören von verschiedenen Ebenen der Tantra-Praxis und im Nyingma sprechen wir im Allgemeinen von neun Fahrzeugen, wobei sich der Begriff Fahrzeug auf ein Fahrzeug des Geistes, eine Ebene Arbeit mit dem Geist bezieht, die uns wie ein Fahrzeug irgendwo hinbringen soll. Von diesen neun geht es bei den ersten drei um die grundlegende Sutra-Ebene und bei den anderen sechs um Ebenen des Tantras.

Die Sutra-Fahrzeuge

Auf der Sutra-Ebene haben wir die so genannten Shravaka-, Pratyekabuddha- und Bodhisattva-Fahrzeuge.

Das Shravaka-Fahrzeug

Ein Shravaka ist ein „Hörer“ der Lehren. Dabei geht es um Menschen, die entweder direkt vom Buddha oder von den Lehrern gehört haben, die dem Buddha folgten. Außerdem strebt ein Shravaka seine eigene Befreiung von unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt an. Es handelt sich zudem um ein kleines oder bescheidenes Fahrzeug – also „Hinayana“ – denn das Ziel ist bescheiden; es geht lediglich um die eigene Befreiung. Natürlich entwickeln Shravakas Liebe und Mitgefühl – ohne Liebe und Mitgefühl ist es nicht möglich, irgendetwas zu erreichen – uns so sollten wir nicht denken, sie hätten diese Eigenschaften nicht oder wären selbstisch. Nur ihr Ziel ist klein, denn es geht lediglich um ihre eigene Befreiung. Was sie dafür überwinden müssen, ist die Verwirrung darüber, wie sie selbst existieren.

Das Pratyekabuddha-Fahrzeug

Pratyekabuddhas sind jene, die in Zeiten leben, in denen es weder Buddhas noch Lehren des Buddhas gibt. Sie müssen sich also auf ihre Instinkte vergangener Leben stützen, um den buddhistischen Pfad zu praktizieren und haben somit keine Lehrer.

Nun gibt es manche Menschen, die denken: „Oh, ich kann ohne einen Lehrer lernen und praktizieren, genau wie ein Pratyekabuddha“, was ein Missverständnis ist. Heutzutage verfügen wir über Lehrer und auch Lehren. Und obwohl wir Instinkte, dharmische Neigungen und intuitives Verständnis, aus früheren Leben haben mögen, brauchen wir trotzdem Lehrer. Dieses intuitive Verständnis manifestiert sich normalerweise als etwas, das manche Menschen als „Na klar“-Test des Dharmas bezeichnen. Wenn wir zum Beispiel eine Belehrung hören, sagen wir: „Na klar. Das ergibt natürlich einen Sinn.“ Daran kann man dann erkennen, dass man etwas bereits gehört hat und nur wieder daran erinnert werden muss. Aber wir sollten nicht denken, wir könnten uns ausschließlich auf intuitives Verständnis verlassen; das wäre ein Fehler. Die Lehrer sind lebendige Beispiele dessen, was wir zu erreichen versuchen und ihr Vorbild ist ausgesprochen inspirierend. Es ist diese Inspiration, die uns antreibt und uns die Energie verleiht, daran zu arbeiten, dies selbst zu erreichen.

Die Tibeter haben dafür ein sehr passendes Sprichwort: „Der beste Lehrer ist jener, der drei Täler entfernt lebt.“ Den Lehrer, der drei Täler entfernt lebt, sieht man nicht so oft. Hohe Bergpässe müssen überquert werden, um zu ihm zu gelangen oder damit er zu uns kommen kann. Daher sieht man ihn nicht so häufig und so bemerkt man auch keine Fehler an ihm. Man sieht ihn in einer optimalen Situation und das hilft einem, sich stets auf seine guten Eigenschaften zu richten und sich davon inspirieren zu lassen. Wir sollten uns also nicht darüber beschweren, wenn Lehrer nur ein paar Mal im Jahr hierher kommen. Im Grunde ist das sehr hilfreich, denn wären sie ständig hier, würden wir jede Menge Fehler in ihnen finden.

Wie dem auch sei, Pratyekabuddhas sind diese überaus tapferen Wesen, die in den dunklen Zeitaltern leben, in denen nichts zur Verfügung steht. Auch sie arbeiten nur an ihrer eigenen Befreiung und auch wenn sie Belehrungen erteilen wollten, gäbe es niemanden, der empfänglich dafür wäre.

Das Bodhisattva-Fahrzeug

Das Bodhisattva-Fahrzeug bezieht sich auf jene, die auf die Erleuchtung hinarbeiten, um allen Wesen zu nutzen, jedoch ohne diese zusätzliche Praxis, sich selbst bereits in der Form eines Buddhas zu visualisieren.

Die Tantra-Fahrzeuge

Kriya-Tantra, Charya-Tantra und Yoga-Tantra

Was nun Tantra betrifft, haben wir zunächst Kriya-Tantra, dann Charya-Tantra und schließlich Yoga-Tantra. Hören wir in den Neuen Schulen – Kagyü, Sakya und Gelug – von den vier Klassen des Tantra, beziehen sich diese drei Klassen (Kriya, Charya und Yoga) auf die ersten drei Klassen der vierfachen Unterteilung. Es handelt sich um Systeme der Tantra-Praxis, in denen man nicht wirklich danach strebt, Rigpa zu aktivieren oder ein Zugang dazu zu bekommen. Man arbeitet noch immer mit den groberen Ebenen des Geistes, aber da es um Tantra geht, visualisiert man sich selbst in der Form eines Buddhas.

Im Kriya-Tantra wird das äußere, rituelle Verhalten hervorgehoben. Das ist unsere gewöhnliche Tara-, Chenrezig und Manjushri-Praxisform. Es gibt bestimmte Richtlinien zur Ernährung und Sauberkeit, die eingehalten werden; um diese Art der rituellen Dinge geht es.

Im Charya-Tantra, der zweiten Klasse, gibt es eine Kombination dieser Rituale und der inneren Praxis, wobei der Schwerpunkt im Yoga-Tantra vielmehr auf den inneren Praktiken liegt, jedoch mit jeder Menge Mudras, Handgesten, und ziemlich komplexen Mandalas. Ein Mandala ist ein System all dieser unterschiedlichen Gottheiten.

Wie beim Bodhisattva-Pfad, dem Bodhisattva-Fahrzeug, ist das Resultat oder Ziel dieser drei Fahrzeuge die Erleuchtung. Wir wollen nicht nur die Schleier, also die emotionalen Schleier, in Bezug auf das Selbst loswerden, um (als Shravaka oder Pratyekabuddha) Befreiung zu erlangen, sondern auch die so genannten kognitiven Schleier hinsichtlich dessen, wie alles existiert. All das führt uns dann zur Erleuchtung.

Mahayoga-Tantra, Anuyoga-Tantra und Atiyoga-Tantra

In der Klassifikation der Neuen Schule bezeichnet man die vierte und höchste Klasse des Tantra als Anuttarayoga-Tantra, oder „höchsten Yoga-Tantra“. Im Nyingma wird diese Klasse in drei Fahrzeuge unterteilt: Mahayoga, Anuyoga und Atiyoga. Ein anderer Name für Atiyoga ist Dzogchen.

Im Anuttarayoga-Tantra sprechen wir von der Erzeugungsstufe und der Vollendungsstufe. Bei der Erzeugungsstufe arbeiten wir mit unserer Vorstellungskraft und visualisieren uns selbst als all diese Buddha-Gestalten. Wir stellen uns vor, all diese Aktivitäten zum Wohle anderer auszuführen, sowie über unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit und einen glückseligen Geisteszustand zu verfügen. Mit anderen Worten haben wir also einen glückseligen Geisteszustand, in dem wir die Leerheit verstehen, und wir haben einen Körper, der in Buddha-Gestalt erscheint und aus dem all diese Lichter zum Wohle aller ausstrahlen. Außerdem streben wir an, mit perfekter Konzentration darüber zu verfügen, verbunden mit Großzügigkeit, Geduld, Ausdauer, Disziplin und all diesen Qualitäten, wie auch Liebe und Mitgefühl, alles zur gleichen Zeit. Das ist genau genommen äußerst schwierig.

Können wir dies mit perfekter Konzentration tun – also ununterbrochen für vier Stunden, ohne Abschweifen und Dumpfheit – ist das die grobe Ebene der Erzeugungsstufe. Auf der subtilen Ebene können wir uns dann das vollständige Mandala vorstellen. Wir können es mit all den Figuren in einem winzigen Tropfen auf unserer Nasenspitze für vier Stunden lang fehlerfrei visualisieren. Glaubt also nicht, die Erzeugungsstufe wäre einfach, denn das ist sie ganz und gar nicht.

Und dann kommt die Vollendungsstufe. Manche Menschen übersetzen sie als „Vollständigkeit“ oder „Vervollkommnung“, aber darum geht es nicht. Im Sinne von Rigpa ist etwas „vollendet“ und kann nun tatsächlich, und nicht nur in unserer Vorstellung, stattfinden. Alles ist vollendet und wir verfügen über sämtliche Werkzeuge, über jegliche Verwirklichungen, die uns ermöglichen, alles Vorgestellte tatsächlich geschehen zu lassen.

Um dies nun wirklich hervorzubringen, ist es notwendig, in den Zustand von Rigpa eintreten zu können und das heißt, diese groberen Ebenen des Geistes zum Stillstand zu bringen, die zu diesen verwirrenden Erscheinungen führen. Wie tun wir dies? Im Neuen Tantra der Neuen Schulen gibt es dafür zwei Möglichkeiten:

  • Die eine besteht darin, mit den feinstofflichen Winden und Energien, auf Tibetisch: „Tsalung“ (rtsa-rlung) zu arbeiten. Wir versuchen also, diese Winde, die sich in den Kanälen unseres Körpers wie wild durcheinander bewegen, zu zentralisieren und im Herzchakra aufzulösen, um diese Rigpa-Ebene, die immer da ist, zu aktivieren.
  • Die andere Methode ist die Arbeit mit zunehmenden Ebenen glückseligen Gewahrseins innerhalb des Zentralkanals und dabei handelt es sich um diese Praxis des „Tummo“ (tib. gtum-mo), der inneren Hitze. Wir sollten nicht denken, hierbei ginge es um gewöhnlichen Sex, denn es ist etwas vollkommen anderes. Vielmehr hat es etwas mit dem zentralen Energiekanal zu tun.

Wenn nun im neuen Tantra die Rede von Mutter-Tantra und Vater-Tantra ist, liegt die Betonung beim Vater-Tantra mehr auf den Praktiken der Energiewinde, den Tsalung-Übungen, und beim Mutter-Tantra auf den Aspekten der Glückseligkeit.

Die Vollendungsstufe selbst besteht aus mehreren Stufen. Im Neuen Tantra gibt es die so genannte „Ebene des klaren Lichtes“, die unbegrifflich und in gewisser Weise gleichbedeutend mit Rigpa ist. Es gibt ein paar kleinere Unterschiede, aber hierzu müssen wir nicht weiter ins Detail gehen. Es ist jedoch notwendig, weiter daran zu arbeiten, um mit diesem Klaren-Licht-Verständnis der Leerheit bei der eigentlichen Erscheinung eines Buddhas zu bleiben. Das ist das System des Neuen Tantra

und die Entsprechung im Nyingma-System ist die Unterteilung in Maha-, Anu- und Ati-Yoga. Wie Dudjom Rinpoche klar und deutlich erklärt hat, sind diese drei Fahrzeuge in sich selbst vollkommen; der einzige Unterschied liegt in der Betonung:

  • Im Mahayoga-Tantra wird die Erzeugungsstufe hervorgehoben, also die Praxis in Bezug auf diese Visualisierungen. Es gibt jedoch auch die anderen Praktiken mit den Energiekanälen, Energiewinden und Dzogchen, Rigpa.
  • Beim Anuyoga gibt es ausführlichere Tsalung-Praktiken, die sich mit den Kanälen und Winden beschäftigen. Natürlich gibt es auch Praktiken der Erzeugungsstufe mit Visualisierungen, sowie Rigpa-Übungen.
  • Und in der Praxis des Atiyoga (die formell als Dzogchen bezeichnet wird) liegt das Hauptaugenmerk auf dieser Ebene, die im Neuen Tantra als Vollendungsstufe bezeichnet wird, auf der man tatsächlich die unbegriffliche Wahrnehmung der Leerheit mit dem Geist des klaren Lichts erlangt. Das ist dann die unbegriffliche Ebene, die eigentliche Rigpa-Ebene. Allerdings gibt es auch hier eine Praxis-Form der Erzeugungsstufe mit Visualisierungen, sowie die Arbeit mit den Energiekanälen.

Es ist notwendig, mit dem Visualisieren und diesen Energiekanälen zu arbeiten, damit die Erscheinungen, die hervorgebracht werden, Erscheinungen dieser Buddha-Gestalten sind, wenn man in der Dzogchen- oder Atiyoga-Praxis tatsächlich Rigpa manifestiert. Aus diesem Grund werden die Visualisierungsübungen vorher ausgeführt, damit nicht alle möglichen Erscheinungen, sondern die eines Buddhas entstehen. Und wir stellen uns die Figuren in Vereinigung und mit glückseligem Gewahrsein vor, damit sich Rigpa in seiner vollständigen Form der Glückseligkeit manifestiert.

Während wir unsere Aufmerksamkeit in der Dzogchen-Praxis auf das Rigpa selbst richten, arbeiten wir nicht daran, die Energiewinde aufzulösen. Wir erkennen Rigpa in jedem Augenblick unseres Gewahrseins, was unglaublich schwierig ist, und an dem Punkt werden sich all die Winde und gröberen Ebenen des Geistes auflösen. Die Anuyoga-Praxis, die Übung der Energiekanäle und Energiewinde, wird davor ausgeführt, um die Kanäle und den inneren Mechanismus in gewissem Sinne zu ölen, damit sich alles automatisch auflösen kann, wenn wir uns auf Rigpa fokussieren.

Auf diese Weise hat Dudjom Rinpoche den Zusammenhang zwischen Maha-, Anu- und Atiyoga-Tantra erläutert. Wir sollten sie nicht als etwas völlig voneinander Getrenntes betrachten. Sie alle basieren auf dem Bodhisattva-Fahrzeug.

Das ist die allgemeine Darstellung des Sutra- und Tantra-Pfades, wie sie im Nyingma-System erklärt wird. Zuweilen hört man vielleicht, Dzogchen wäre jenseits von Tantra, aber das sind nur Worte und Klassifizierungen, denn Dzogchen wird gänzlich auf der Grundlage von Sutra und all den üblichen Tantra-Praktiken ausgeführt. Es ist nichts Getrenntes und steht vollkommen im Einklang mit dem, was in all den Schulen des tibetischen Buddhismus praktiziert wird. Es hat seine individuellen Merkmale, aber sogar innerhalb einer Schule, wie der Nyingma, gibt es viele verschiedene Varianten. Das macht das Leben interessant, nicht wahr?

Fragen 

Alayavijnana, Rigpa und der Geist des klaren Lichts

Sind Rigpa und Dharmadhatu das Gleiche?

In vielfacher Hinsicht, ja. Dharmadhatu heißt „Wirklichkeitssphäre“. „Dharma“ bezieht sich auf alle Phänomene, also auf die Wirklichkeit und „Dhatu“ ist die Sphäre. Rigpa, dieses reine Gewahrsein, umfasst in dem Sinne alle Dinge, da es allwissend ist; in ihm sind alle positiven und guten Eigenschaften vollkommen vorhanden. Auf diese Weise ist es die Wirklichkeitssphäre.

Wir sprechen von den fünf Arten des so genannten tiefen Gewahrseins – des spiegelgleichen, gleichsetzenden, individualisierenden und vollbringenden Gewahrseins, sowie des Dharmadhatus. Wenn wir von Dharmadhatu reden, kann man es in gewisser Weise als Teil dieses fünffachen Systems oder als dessen Gesamtheit betrachten. Man kann Dharmadhatu jedoch auch als Leerheit, die Leerheit aller Phänomene oder die Leerheit Rigpas, sehen. Da gibt es nur geringfügige Unterschiede. Und sprechen wir von Dharmakaya, fügen wir den Aspekt allwissenden Gewahrseins hinzu.

Ich glaube wir dürfen nicht vergessen, dass diese Begriffe in vielen verschiedenen Zusammenhängen benutzt werden. In einem Kontext haben sie eine Bedeutung, in einem anderen eine etwas andere, und in vielen überschneiden sie sich. Oft ist der Schwerpunkt etwas unterschiedlich.

Was ist Alayavijnana?

Alayavijnana, oder grundlegendes Bewusstsein, ist die Ebene des Bewusstseins, welches die Gewohnheiten und Tendenzen des Karmas, der störenden Emotionen und des mangelnden Gewahrseins oder der Unwissenheit mit sich trägt. Im (rein geistigen) Chittamatra-System hat es eine wahrhaft begründete Existenz, aber wir sollten nicht denken, im Dzogchen-System wäre es ebenso, denn es dort ist es ganz anders. Hier geht es nämlich darum, als ein Alaya zu funktionieren, wenn Rigpa nicht sein eigenes Gesicht erkennt. Dann werden verwirrende Erscheinungen und Samsara, mit den Tendenzen und Gewohnheiten von Karma und störenden Emotionen, fortgesetzt. Es wirkt als ein Alayavijnana, hat jedoch keine wahrhaft begründete Existenz und unterscheidet sich somit vom Chittamatra.

Im Dzogchen geht es darum Rigpa zu erreichen, während man im Gelug-System Leerheit erlangen will. Was ist der Unterschied? Gibt es da einen Unterschied?

Rigpa ist die subtilste Ebene des Geistes, die nie von Schleiern, mangelndem Gewahrsein oder Unwissenheit befleckt war und alle guten Eigenschaften besitzt. Es gibt drei Aspekte (genauer gesagt drei verschiedene Arten der Natur):

  • Zum einen haben wir das spontane Hervorbringen von Erscheinungen,
  • dann den Aspekt des Mitgefühls, das Kommunizieren,
  • sowie diesen Begriff Kadag (tib. ka-dag), rein sein Anbeginn, ursprünglich rein (ka ist der erste Buchstabe des tibetischen Alphabets), und das entspricht der Leerheit.

Leerheit heißt, es ist frei davon, auf unmögliche Weisen zu existieren. Dinge scheinen auf unmögliche Weisen zu existieren, als wären sie für sich isoliert, aber das entspricht nicht der Realität. In manchen Systemen bezeichnet man das als Selbstleerheit (tib. rang-stong), die Leerheit einer selbst-begründeten Natur. Mipam, der größte Autor von Nyingma-Kommentaren, vertritt in einigen seiner Abhandlungen lediglich diese Leerheit, wie sie beispielsweise von den Gelugpa erörtert wird. In anderen Kommentaren schreibt er auch darüber, dass diese Rigpa-Ebene frei von gröberen Ebenen ist. Das nennt man dann Anderesleerheit, „Zhentong“ (tib. gzhan-stong). Im Neuen Tantra würde sich das auf den Geist des klaren Lichts beziehen, und hier geht es darum, Zugang zum Geist des klaren Lichts zu finden, der die subtilste Ebene ist.

Dies ist der Unterschied zwischen dem Geist des klaren Lichts und Rigpa: Beim „Geist des klaren Lichts“ ist die Rede von Rigpa, sowohl in seinem reinen Zustand, als auch im Zustand, in dem es nicht sein eigenes Gesicht erkennt und die Gewohnheiten der Unwissenheit hat (wenn Rigpa nicht sein eigenes Gesicht erkennt, wirkt es als ein Alaya). Das „klare Licht“ bezieht sich also auf beides, während sich „Rigpa“ lediglich auf den unbefleckten Zustand bezieht. Es geht also bei beiden um die gleiche Sache, jedoch wird es auf unterschiedliche Weise klassifiziert.

Reden wir also nur von der Leerheit unmöglicher Existenzweisen, ist das lediglich eine Art Kadag, oder Reinheitsaspekt von Rigpa. Kadag, dieses Gewahrsein der Reinheit, ist sowohl die Leerheit unmöglicher Existenzweisen, als auch, gemäß einiger Kommentare, die Leerheit gröberer Ebenen des Geistes. Kadag ist die ursprüngliche Reinheit und gilt in zweierlei Hinsicht als rein:

  • rein von unmöglichen Existenzweisen; das bezieht sich auf unsere gewöhnliche Sicht der Leerheit,
  • sowie rein von gröberen Ebenen des Geistes, was sich auf den Geist des klaren Lichts im Neuen Tantra bezieht.
Ist Leerheit also größer als Rigpa?

Ich würde nicht sagen, sie wäre größer. Vielmehr ist sie ein Aspekt von Rigpa. Da gibt es auch das Hervorbringen von Erscheinungen, sowie Mitgefühl (nach außen gerichteter Energie). Rigpa hat also all diese Qualitäten und beim Rigpa reden wir über das ganze Paket dessen, was zur Erleuchtung werden wird, und ein Teil dieses Paketes ist die Leerheit.

Der Dalai Lama

Haben Sie das Glück gehabt, jemanden zu treffen, der so voller Liebe, innerer Ruhe und Selbstbeherrschung ist, dass er vor nichts mehr Angst hat, dessen Zustand der Liebe unveränderlich ist und der selbst eine Bedrohung nur wie einen Windhauch wahrnimmt?

Ja, das habe ich. Seine Heiligkeit den Dalai Lama und seine Lehrer. Wirklich verärgert sieht man sie nur, wenn es sich um Mitgefühl dreht, und was Seine Heiligkeit den Dalai Lama betrifft, so ist es ihm, nach eigener Aussage, nur zweimal passiert. Einmal, als der Aufruhr in Tibet begann, er flüchten musste und erfuhr, wie viele Menschen getötet wurden. Und dann vor ein paar Jahren, als es erneut zu Revolten in Lhasa kam. Er gab gerade eine Belehrung, an der ich teilnahm und brachte zum Ausdruck, wie bestürzend es für ihn war, dass so viele Menschen umgebracht wurden. Ansonsten besteht jedoch kein Problem; seine Stimmung ist immer gleichbleibend und offensichtlich war er in diesem Fall von Liebe und Mitgefühl berührt.

Wie verhielt er sich, als er verärgert war? Sagte er es nur, oder konnte man etwas erkennen?

Er meinte, dass er nicht richtig schlafen konnte und auch seine Unterweisungen schweiften vom eigentlichen Thema ab.

Anpassung des Buddhismus im Westen

Woran können wir erkennen, was in der buddhistischen Praxis zum tibetischen Buddhismus gehört, und was wirklich substantiell ist und nicht geändert werden sollte? Wie können wir den Buddhismus im Westen anpassen, ohne das Wesentliche zu verlieren?

Die Essenz der Lehren ist natürlich Liebe, Mitgefühl, Zuflucht, Entsagung, Bodhichitta, die Lehren über Leerheit und die Lehren über Rigpa (das reine Gewahrsein). Das sind die wesentlichen Aspekte und sie sollten unsere Persönlichkeit transformieren und nicht einfach etwas wie ein Hobby sein, dem wir nachgehen, was aber nichts mit unserem Leben zu tun hat. Sinn und Zweck des Ganzen ist es, die Lehren zu nutzen, um Wut, Anhaftung, Eifersucht, Naivität, Selbstbezogenheit usw. zu überwinden und Interesse am Wohlergehen anderer zu entwickeln. Das ist die Essenz.

Die kulturelleren Aspekte wären beispielsweise die Rituale, die hilfreich sind und unserer Praxis eine Struktur verleihen. Wir sollten sie also nicht völlig verdrängen. Die Art und Weise, wie die Tibeter sie ausführen, unterscheidet sich jedoch von der, wie die Inder es taten. Und das kann wiederum modifiziert werden, um es an die westliche Mentalität anzupassen, wie beispielsweise die Musik, die Opfergaben, die Tormas (tib. gtor-ma, Opferkuchen). In Indien gab es keine Tormas, und auch keine Gebetsfahnen – das ist etwas völlig Tibetisches. Das sind die kulturellen Aspekte.

Und es ist wirklich wichtig, die Praktiken in der eigenen Sprache zu machen. Die Tibeter machen sie beispielsweise auch nicht auf Sanskrit. Es ist wichtig, die Übungen zu verstehen und sie nicht einfach blind, wie ein Ritual, auszuführen und nicht zu wissen, was man da macht. Das sind die wesentlichen Punkte.

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