Notwendiges vorbereitendes Verständnis für Personen aller drei Ebenen

Drei Arten von spirituellen Personen 

Weiter geht es im Text mit dem nächsten Vers: 

(2) Da es (Praktizierende) der anfänglichen, mittleren und höchsten (Ebene) gibt, sind diese als die drei Arten von spirituellen Personen bekannt. Ich möchte daher über diese speziellen Unterteilungen schreiben und ihre jeweils definierenden Eigenschaften erläutern.

In diesem Vers wird das System der drei verschiedenen Ebenen von Personen dargestellt: jene mit anfänglichen, mittleren und fortgeschrittenen Ebenen der Motivation. Atisha erklärt, dass er beabsichtigt, die Natur dieses Klassifizierungssystems und dessen Merkmale zu beschreiben. 

Man kann den Pfad zur Buddhaschaft auch auf andere Weise als einen stufenweisen Vorgang beschreiben, in dem man schrittweise vorgeht.

  • Der Pfad von jemandem auf der anfänglichen Ebene führt zu einem höheren Status (tib. mtho-ris) – nämlich einer höheren Wiedergeburt.
  • Auf dieser Grundlage führt der mittlere Pfad zu einem Zustand des endgültig Guten (tib. nges-legs), ein Begriff, der sowohl für Befreiung als auch Erleuchtung benutzt wird, sich hier jedoch auf die Befreiung bezieht.
  • Auf dieser Grundlage führt der fortgeschrittene oder höchste Pfad zur Buddhaschaft selbst.  

Dieses Schema von Personen der drei Ebenen ist eine weitere Möglichkeit, um diesen verschiedenen Stadien der Praxis Namen zu geben. 

„Höherer Status“, das Ziel von jemandem auf der anfänglichen Ebene, bezieht sich insbesondere auf den höheren Status einer Wiedergeburt als ein menschliches Wesen oder als ein Gott. Was wir alle momentan besitzen, ist eine Wiedergeburt von höherem Status als ein menschliches Wesen. Diese kostbare menschliche Wiedergeburt haben wir als unsere Arbeitsgrundlage. Stellen wir uns die Frage, wie wir in der Lage waren, diese Arbeitsgrundlage eines menschliches Körpers zu bekommen, so lautet die Antwort, dass sie das Resultat der Bemühungen vergangener Leben und insbesondere das Resultat der positiven, konstruktiven Handlungen ist, die wir begangen haben und die als karmische Ursache dafür dienten, in diesem Leben eine menschliche Wiedergeburt hervorzubringen. Unterziehen wir uns jetzt jedoch einer ehrlichen Prüfung, erkennen wir, dass wir keine weiteren Ursachen ansammeln, um solch eine kostbare menschliche Wiedergeburt erneut in der Zukunft hervorzubringen. Wenn wir nicht die Ursachen dafür schaffen, werden solche Wiedergeburten nicht zustande kommen. 

Der Grund, warum wir keine kostbare menschliche Wiedergeburt in der Zukunft herbeiführen werden, ist nicht, dass wir nicht so unermüdlich daran arbeiten, wie Milarepa. Würden wir wie er handeln, bedeutete dies daran zu arbeiten, in unserem Leben Erleuchtung zu erlangen, wie Milarepa es tatsächlich getan hat. Würden wir in unserem eigenen Leben Erleuchtung erlangen, bräuchten wir keine kostbare menschliche Wiedergeburt in unserem nächsten Leben. Es ist jedoch nicht so, dass wir Erleuchtung erlangt haben und keine weitere kostbare menschliche Wiedergeburt als Arbeitsgrundlage benötigen. Und da dies nicht der Fall ist, werden wir keine kostbaren menschlichen Wiedergeburten in zukünftigen Leben erlangen, weil wir nicht daran arbeiten, sie zu bekommen.

Der Grund, warum wir nicht an einer kostbaren menschlichen Wiedergeburt in der Zukunft arbeiten, ist der, dass wir uns momentan völlig davon vereinnahmen lassen, Dinge zum Essen und zum Trinken, sowie Kleidung, ein Haus, eine Position und Ruhm für dieses Leben allein zu erwerben. Weil wir uns lediglich mit diesen Dingen befassen, arbeiten wir nicht daran, eine kostbare menschliche Wiedergeburt in zukünftigen Leben zu erlangen. 

Ganz klar geht es nicht darum, nach Erleuchtung in diesem Leben zu trachten, wie es Milarepa tat, und somit keine kostbare menschliche Wiedergeburt als Arbeitsgrundlage zu benötigen, um weiter auf die Erleuchtung hinzuarbeiten. Wir arbeiten nicht daran, zukünftige kostbare menschliche Wiedergeburten zu erlangen, weil wir uns nur um die Angelegenheiten dieses Lebens allein kümmern. Machen wir so weiter, werden wir in zukünftigen Leben nicht nur keine Erleuchtung erlangen, sondern auch keine kostbare menschliche Wiedergeburt herbeiführen können, die als Grundlage dienen würde, Erleuchtung zu erlangen.

Lassen wir einmal die Tatsache beiseite, dass wir nicht in der Lage sein werden, eine kostbare menschliche Wiedergeburt in einem zukünftigen Leben zu erlangen. Trotzdem sollten wir in Bezug auf dieses Leben daran denken, dass wir, egal wie viel materiellen Reichtum wir haben, ihn nicht in irgendeine Art von zukünftigem Leben mitnehmen werden können. Einzig und allein daran zu arbeiten, materielle Güter anzusammeln, unseren Feinden zu schaden und nur unseren Freunden zu helfen – solche Ziele kann man in diesem Leben auch als Tier verfolgen. Wenn Tiere und Menschen die gleichen Dinge tun können, ist die Tatsache, als „menschliches Wesen“ bezeichnet zu werden, nur eine Wortspielerei. Wir verhalten uns nicht wirklich wie Menschen im wahrsten Sinne des Wortes. 

Wir hören oder lesen in diesem Text den Begriff „Person“, der „menschliches Wesen“ bedeutet, im Sanskrit „purusha“. Die Bedeutung dieses Wortes ist hier jemand, der in der Lage ist, ein Ziel und einen Zweck zu verwirklichen. Ist jemand in der Lage daran zu arbeiten, das Ziel des Erreichens einer Wiedergeburt von höherem Status als menschliches Wesen oder Gott im nächsten Leben und danach zu verwirklichen, nennt man solch eine Person „menschliches Wesen“. Das ist die Bedeutung des Wortes „purusha“ im Sanskrit, wie es im Text für die Personen der drei verschiedenen Ebenen der Motivation benutzt wird. Daher ist es sehr wichtig, sich in den verschiedenen Methoden zu bemühen, die als Pfad einer Person der anfänglichen Ebene beschrieben werden, die an einem höheren Status arbeitet. Es ist das gleiche Wort, über das wir hier reden: die „Person“ oder „purusha“.

Die Aggregate – Körper und Geist 

Wir können alle verstehen, dass wir zwei Dinge besitzen: einen physischen Körper und einen Geist oder Bewusstsein. Wir wissen auch, dass es sowohl auf der physischen als auch auf der mentalen Ebene Glück und Unglück oder Leid geben kann. Der Körper, diese groben physischen Aggregate, die wir alle haben, ist mit Bewusstsein verbunden. Wir wissen jedoch auch, dass Bewusstsein oder Gewahrsein selbst getrennt von dem ist, was mit Bewusstsein, also unserem Körper, in Beziehung steht.  

Was das Sehbewusstsein betrifft, so gibt es das Gewahrsein von verschiedenen Farben und Formen, wie beispielsweise weiß, rot usw.; in Bezug auf unser Hörbewusstsein gibt es das Gewahrsein von verschiedenen Klängen; in Bezug auf die Nase haben wir das Gewahrsein von verschiedenen Gerüchen; mit der Zunge gibt es das Gewahrsein von unterschiedlichen Geschmäckern; und mit dem Körper das Gewahrsein von taktilen Empfindungen, wie weich oder hart. Das sind die verschiedenen Arten von Sinnesbewusstsein oder Gewahrsein, die wir haben. Wir alle verstehen, dass wir diese Dinge besitzen.  

Jede dieser verschiedenen Arten des Sinnesgewahrseins bezieht sich ausschließlich auf dessen bestimmte Art von Objekten. So kann sich das Sehbewusstsein darüber gewahr sein, dass etwas entweder weiß oder rot ist und das Körperbewusstsein kann sich über die taktile Empfindung gewahr sein, entweder hart oder weich zu sein. Das Sehbewusstsein kann jedoch keine Tastempfindungen als hart oder weich wahrnehmen und genauso kann das Körperbewusstsein keine visuellen Empfindungen als weiß oder rot wahrnehmen. Jede der Bewusstseinsarten erfasst eine Art von Objekt auf bestimmte Weise. 

Neben diesen verschiedenen Arten des Sinnesbewusstseins können wir auch geistiges Bewusstsein oder Gewahrsein haben. Betrachten wir mit unseren Augen eine rosafarbene Blume, erscheint sie unserem Sehbewusstsein. Später, wenn wir dann nach Hause gehen, denken wir über diese Blume nach und es erscheint ein geistiges Bild von ihr in unserem Bewusstsein. Das Bild ist im Grunde ein Abbild von etwas. Es ähnelt der Blume, ist jedoch nicht die Blume selbst. Auf diese Weise können wir verstehen, dass es einen leichten Unterschied zwischen dem gibt, was im geistigen Bewusstsein und was im Sehbewusstsein erscheint. Es gibt also eine Ähnlichkeit; das Bild ist eine Entsprechung oder ein Abbild dessen. 

Manche Menschen sagen, das Abbild, das geistige Bild oder die Erscheinung (tib. snang-ba) – all dies sind verschiedene Übersetzungen des gleichen Wortes – wären die Blume selbst. Dennoch können wir nicht sagen, dieses geistige Bild oder die Erscheinung der Blume wäre die Blume selbst, denn würde man die Blume zerstören, hätten wir noch immer ein geistiges Bild von ihr und dies würde die Existenz der Blume ausmachen. Wir können jedoch nicht sagen, dass die Blume in dem Moment existiert. Wir sollten ein gutes Verständnis über den Unterschied haben, was den physischen Körper und diese verschiedenen Arten des Gewahrseins oder Bewusstseins betrifft.  

Kontinuität des Gewahrseins 

Haben wir Bewusstsein oder Wahrnehmung, was eine andere Übersetzung des gleichen Wortes shes-pa ist, dann ist die Wahrnehmung, die wir im Moment haben, eine Kontinuität der Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks. In ähnlicher Weise wird der gegenwärtige Moment der Wahrnehmung als Ursache für den nächsten Moment unserer Wahrnehmung dienen und auf diese Weise wird es eine Kontinuität, ein geistiges Kontinuum, geben. Im allerersten Moment unserer Wahrnehmung im Mutterleib gibt es Gewahrsein oder Wahrnehmung. Diese Wahrnehmung, die zum Zeitpunkt der Empfängnis existiert, ähnelt dem, worüber wir gerade in Bezug auf unseren gegenwärtigen Moment des Gewahrseins gesprochen haben. Es muss auch einen Moment des Gewahrseins unmittelbar davor geben, der als Ursache für dessen Kontinuität gedient hat. 

Dieses Gewahrsein im Augenblick der Empfängnis könnte nicht aus gar keiner Ursache entstanden sein. Es kommt nicht urplötzlich aus dem Nichts, sondern muss aus einem vorangegangen Moment des Gewahrseins entstanden sein, der als Voraussetzung für dessen Entstehen gedient hat. Mit dieser Überlegung hat das Gewahrsein, welches im Moment der Empfängnis existiert, seinen Vorläufer in einem Moment des Gewahrseins von einem früheren Leben. Daraus folgt auch, dass der letzte Moment des Gewahrseins, welches wir in diesem Leben haben werden, einen nächsten Moment des Gewahrsein in einem zukünftigen Leben hervorbringen wird.  

Der physische Körper ist jedoch nicht etwas, das aus einem früheren Leben in dieses Leben kommt und von diesem Leben in ein zukünftiges Leben geht. Es ist nur der Strom von Kontinuität des Gewahrseins, der von einem früheren Leben in dieses Leben geht und sich in zukünftige Leben fortsetzt. Es ist Gewahrsein, das von einem Leben zum anderen übergeht. Dies ist etwas, was wir versuchen sollten gut zu verstehen. Verstehen wir diese Unterscheidung zwischen dem physischen Körper und dem Gewahrsein, sollten wir auch verstehen, dass es mit diesen beiden das Erfahren von Glück und Leid gibt, sowohl auf der geistigen, wie auch auf der physischen Seite. 

Auf der Basis des Körpers können wir viele verschieden Arten des Leidens haben, wie das Elend und Leid des Erfahrens von Schmerz und Krankheit. Um physisches Glück zu bewirken und physisches Unglück und Leid zu beseitigen, führen wir allerhand Methoden aus, um materielle Dinge zu beschaffen. Wir gehen Geschäften nach, betätigen uns in Landwirtschaft oder Handel, und tun alle möglichen „angenehmen“ Dinge, mit dem Versuch, durch körperliche Annehmlichkeiten glücklich zu werden. 

Auf der Basis dieser Bemühungen können wir jedoch auch zahlreichen Problemen begegnen. Manchen bringt dieses Streben tatsächlich großen materiellen Fortschritt. Aber obwohl es Menschen gibt, die viel arbeiten und auf diese Weise beträchtlichen materiellen Reichtum anhäufen, gibt es auch andere, die wirklich hart arbeiten, ohne damit zu großem materiellen Wohlstand zu gelangen. Es gibt auch Menschen, die nicht besonders schwer arbeiten müssen, wie jene, die in wohlhabenden Familien geboren wurden und mit nur wenig Mühe oder ganz ohne Mühe erfolgreich sind. Aber egal in welcher Art von materieller Situation wir uns befinden und egal wie viel Reichtum und Besitz wir haben, wir alle können erkennen, dass es nicht zu vollkommenen materiellen Glück führt. Wenn wir darüber nachdenken, werden wir es verstehen.  

Unbeständigkeit 

Nehmen wir einmal an, jemand arbeitet 40 Jahre und versucht, so viele materielle Besitztümer anzusammeln, wie er kann und ist sehr erfolgreich dabei. Dann erkennt diese Person jedoch, dass diese Dinge nicht beständig sind und nicht ewig andauern werden. Sie versteht die Unbeständigkeit von allem und auch, dass sogar Menschen vergänglich und nicht ewig sind.

Sogar die Menschen, die während der ersten Zeitalter lebten, eine Lebensspanne von unzähligen Jahren sowie enormen materiellen Reichtum hatten – sie alle sind verschwunden. Keiner von ihnen ist mehr da. Wir erkennen, dass materielle Objekte keine Dinge sind, die ewig andauern und dass auch Menschen nicht ewig bestehen. 

Die weltliche Art des Lebens, das jemand führt, ist etwas, das sich einfach nur im Kreise bewegt. Im Frühling gehen wir beispielsweise Dingen nach, die man im Frühling tut und im Sommer erledigen wir sommerliche Aktivitäten. Im Herbst kommen dann die Herbstarbeiten und im Winter tun wir Dinge, die im Winter getan werden; und dann fängt es mit dem Frühling wieder von vorn an. Auf diese Weise geht es immer weiter, ohne Ende. Sogar innerhalb eines Tages gibt es Arbeiten, die wir am Morgen erledigen und jene, die nachmittags oder abends getan werden. Es ist einfach ein sich endlos wiederholender Kreislauf.  

Leben wir auf diese Weise, gibt es kein Ende der Art von weltlicher Routine, in der wir uns verlieren. Im Allgemeinen können wir sagen, dass weltliche Arbeit etwas ist, das kein Ende hat. Es gibt jedoch eine Zeit, in der die gewöhnliche weltliche Arbeit, die wir tun, zu einem Ende kommt. Sie endet allerdings nicht in einem besonders schönen Zustand, sondern findet statt, wenn wir diesen Körper aufgeben. 

Denken wir einmal darüber nach, so können wir sehen, wie wir unser gesamtes Leben mit weltlichen Aktivitäten verbringen und versuchen, so viel materiellen Reichtum wie möglich anzusammeln. Vielleicht sind wir damit sogar erfolgreich, während wir immer älter werden; mit dem Alter wird unsere Verfassung jedoch immer schwieriger. Am Ende befinden wir uns dann in einem bedauerlichen Zustand, in dem wir ziemlich schwach sind, und das ist einfach eine Tatsache des Lebens. Wir alle können das verstehen. 

Dharma-Aktivität oder weltliche Karriere? 

Dharma-Aktivität oder spirituelle Aktivitäten sind jedoch etwas ganz anderes. Zu Beginn sind sie recht schwierig und wir müssen große Anstrengungen unternehmen, um glücklich zu sein. Es liegt aber in der Natur der Arbeit, dass sie sich mit anhaltenden Bemühungen verbessert und somit unser daraus resultierendes Glücklichsein stetig ansteigt. Hierbei gibt es kein Ende, aber wir können eine Vollendung erreichen. In welchem Zustand befinden wir uns, wenn die Dharma-Arbeit vollendet ist? Es ist ein Zustand des vollkommenen Glücklichseins und der letztendlichen Freude. Das ist die Art von Zustand, in der Dharma-Arbeit endet. 

Der Fortschritt des Dharma-Praktizierenden kann mit den Phasen des zunehmenden Mondes verglichen werden. Er beginnt mit einer schmalen Sichel und nimmt dann immer weiter zu, bis er vollkommen rund ist. Genauso beginnt der Werdegang eines Dharma-Praktizierenden: zu Beginn gibt es jede Menge Schwierigkeiten, aber dann erreicht man einen Zustand, in dem alle guten Eigenschaften vollständig entwickelt sind. Auf der anderen Seite kann man eine weltliche Karriere besser mit einem abnehmenden Mond vergleichen. Sie beginnt vielleicht in einem ziemlich erfüllten Zustand, aber mit dem Alter nimmt unsere weltliche Aktivität und aller Fortschritt immer weiter ab, bis unser Leben mit dem Nichts endet. 

Das Erlangen der Erleuchtung können wir als eine Art der Dharma-Karriere betrachten. Es ist möglich, Erleuchtung in diesem Leben zu erlangen und wenn wir diesen Zustand in unserem Leben erreichen, geht es nicht mehr darum, daran zu arbeiten, eine Wiedergeburt von höherem Status in unserem nächsten Leben zu erlangen. Erlangen wir jedoch keine Erleuchtung in diesem Leben und haben nichts getan, um eine Wiedergeburt von höherem Status in unseren zukünftigen Leben zu erreichen, haben wir einen großen Fehler gemacht.  

Die anfängliche Ebene 

Die verschiedenen Methoden zum Erreichen der Wiedergeburten von höherem Status in unseren nächsten Leben werden alle in den Lehren der anfänglichen Ebene behandelt. Darauf wird in dem Text des nächstes Verses eingegangen:  

(3) Jeder, der großes Interesse daran hat, mithilfe von diversen Methoden lediglich das Glück des unkontrollierbar sich wiederholenden Samsara (zu erlangen), wird als Person der minimalen spirituellen Ebene bezeichnet.

Wenn Atisha im Text davon redet, lediglich am Glück des unkontrollierbar sich wiederholenden Samsara zu arbeiten, bezieht sich das auf das Glück, welches man in einer Wiedergeburt als menschliches Wesen erfährt, oder als jemand, der sehr reich ist, wie ein König oder der sprichwörtliche Chakravartin, ein Weltenherrscher; oder es bedeutet die Wiedergeburt eines Gottes wie Brahma, Indra oder einer der Könige der diversen Götterbereiche. Auf der anfänglichen Ebene ist unser Ziel diese Art des weltlichen Glücks. Bei solch einer Wiedergeburt geht es jedoch laut Atisha, der von diversen Methoden spricht, darum, unermüdlich an der Einhaltung ethischer Selbstdisziplin zu arbeiten, mit der wir davon absehen, die zehn schädlichen Handlungen zu begehen. 

Was wir benötigen, ist eine Methode, um schlechtere Wiedergeburten zu vermeiden und sie besteht darin, einen starken zuversichtlichen Glauben an die Prinzipien karmischer Ursache und Wirkung zu haben und auf dieser Basis davon abzusehen, irgendeine der zehn schädlichen Handlungen zu begehen. Jeder, der somit unermüdlich daran arbeitet und sich das Ziel setzt, entweder als menschliches Wesen oder als Gott einen glücklichen Wiedergeburtszustand zu erlangen, der vollständig mit allen Arten der Freude und des Glücks versehen ist, die man in solch einem Zustand haben kann, wird als Person der minimalen spirituellen Ebene bezeichnet

Überblick über die vorbereitenden Praktiken und jene der anfänglichen Ebene 

Bevor wir uns den eigentlichen Übungen von jemandem mit einer Motivation der anfänglichen Ebene zuwenden, ist es zunächst notwendig zu verstehen, wie man sich auf angemessene Weise einem spirituellen Meister anvertraut. Wir sollten auch darüber nachdenken, dass diese kostbare menschliche Wiedergeburt, die wir haben, vollständig mit den so genannten „acht Freiheiten und zehn Ausstattungen“ versehen ist – den acht vorübergehenden Ruhepausen (tib. dal-ba brgyad) von den acht Situationen, in denen wir nicht frei sind, und den zehn Bereicherungen (tib. ‘byor-ba bcu) mit Umständen, die förderlich für die Praxis sind. Diese zwei Punkte, die Weise sich einem spirituellen Meister anzuvertrauen – die so genannte „Hingabe zum Guru“ – und das Nachdenken über die vollkommen ausgestattete menschliche Wiedergeburt, sind eine vorbereitende Schulung, die für Praktizierende aller drei Bereiche gilt, jener mit einer Motivation der anfänglichen, mittleren und fortgeschrittenen Ebene.   

Mit diesen zwei Punkten als Vorbereitung folgt dann der eigentliche Hauptteil der Lehren für die anfängliche Ebene, der vier Themen hat: 

  • das erste ist die Meditation über Unbeständigkeit;  
  • das nächste ist die Meditation über das Leiden der drei niederen Bereiche;  
  • das dritte ist die Zufluchtnahme;
  • und beim letzten geht es um das Nachdenken über karmische Ursache und Wirkung.  

Zunächst sollten wir jedoch erklären, welches vorbereitende Verständnis und welche Übungen als gemeinsame Basis für den gesamten Stufenpfad notwendig sind.

Sich einem spirituellen Lehrer anvertrauen 

Sich einem spirituellen Meister anzuvertrauen, wird in der Übersicht in zwei Punkte unterteilt:

  • Der erste Punkt ist das Kultivieren von Vertrauen in den spirituellen Lehrer als Wurzel für den Erfolg in den Übungen.  
  • Der zweite Punkt besteht darin, sich fortwährend die Güte des spirituellen Meisters zu vergegenwärtigen.   

Wenn es in dem Text um das Kultivieren von Vertrauen als Wurzel oder Grundlage geht, bezieht sich das darauf, den spirituellen Meister, der uns den Dharma lehrt, tatsächlich als einen Buddha zu betrachten. Andere Gurus spielen hier keinen Rolle. Dies bezieht sich ganz spezifisch auf den Guru oder spirituellen Meister, der uns den Dharma lehrt. Indem wir seine guten Eigenschaften erkennen und respektieren, sollten wir ihn als einen Buddha betrachten. Ob wir Erkenntnisse oder Verwirklichungen entwickeln oder nicht, hängt direkt vom Maß des Vertrauens und Glaubens ab, den wir in ihn haben. 

Betrachten wir unseren Guru nicht als einen Buddha, würden wir, auch wenn er tatsächlich der Buddha wäre, keine Erkenntnisse oder Verwirklichungen von seinen Lehren bekommen. Auf der anderen Seite erhalten wir, wenn wir ihn als einen Buddha sehen, die Inspiration eines Buddhas, auch wenn diese Person nicht wirklich ein Buddha ist. Diese Art des zuversichtlichen Glaubens ist daher von größter Bedeutung.  

Wir können es besser anhand einer Geschichte verstehen. In Tibet gab es einmal eine Mutter, dessen Sohn nach Indien reiste. Die Mutter bat ihren Sohn, ihr auf der Rückreise einen Zahn des Buddhas mitzubringen. Der Sohn hatte es jedoch ganz und gar vergessen und als er auf dem Rückweg in die Nähe des Hauses seiner Mutter kam und es in der Ferne sah, erinnerte er sich plötzlich daran und dachte: „Oh nein, ich sollte ja meiner Mutter einen Zahn Buddhas mitbringen!“ Er schaute sich um und sah den Schädel eines Hundes auf dem Boden liegen. Er entnahm ihm einen Zahn und präsentierte ihn seiner Mutter als Buddhas Zahn. Mit starkem Glauben und Vertrauen in den Zahn war sie in der Lage, so viel Inspiration von ihm zu bekommen, als wäre es in der Tat der Zahn Buddhas. 

Können wir unseren Guru als einen Buddha sehen, sollten wir versuchen, uns seine Güte zu vergegenwärtigen. Die Art und Weise, wie wir versuchen uns an diese Güte zu erinnern und sie im Sinn zu behalten, besteht darin darüber nachzudenken, wie unser Guru uns all die Methoden lehrt, um nicht in einem der drei niederen, unglücklichen Wiedergeburtszustände wiedergeboren werden zu müssen. Der Guru lehrt uns Methoden, damit wir nie wieder in unkontrollierbar sich wiederholende samsarische Existenz fallen werden. Er oder sie lehrt uns Methoden und Praktiken, um die volle Erleuchtung eines Buddhas erlangen zu können. Auf diese Weise sollten wir uns an die Güte, die uns entgegengebracht wird, erinnern und an sie denken.  

Was daraus folgt, ist nicht nur, diese Güte zu schätzen und uns ihrer gewahr zu sein, sondern auch darüber nachzudenken, sie zurückzugeben und uns für diese Güte zu revanchieren. Mit anderen Worten: Wir wollen sie in dem Sinne zurückzahlen, indem wir etwas tun, das dieser Güte und Hilfe würdig ist. Wir können uns selbst zu dieser Ebene der Güte erheben und sie zurückgeben, indem wir tatsächlich die Lehren praktizieren, wie unser Guru sie uns gelehrt hat. Milarepa sagte: „Die einzige Möglichkeit, die Güte meines Gurus zurückzuzahlen und zu begleichen, besteht darin, entsprechend seinen Anweisungen zu praktizieren.“ Daher ist dies die beste Weise, die Güte eines Buddhas zurückzugeben.  

Das ist nur eine einleitende und kurze Erklärung zu einigen der Aspekte dazu, wie wir uns angemessen einem spirituellen Meister anvertrauen. Es ist wirklich maßgebend und wichtig, aber hier können wir es nur kurz anschneiden. 

Dies sind also die zwei Punkte in Bezug darauf, wie man sich auf einen spirituellen Lehrer stützt: tiefes Vertrauen in den Guru zu erzeugen und sich fortwährend über die Güte des Gurus bewusst zu sein.  

Die acht Freiheiten eines kostbaren menschlichen Lebens 

Nach diesen Punkten können wir über die Kostbarkeit des menschlichen Körpers, den wir bekommen haben, nachdenken, sowie darüber, wie schwierig es ist, einen menschlichen Körper zu bekommen. Der erste Punkt besteht darin, den kostbaren menschlichen Körper, über den wir alle verfügen, als eine Arbeitsgrundlage zu betrachten. Worum geht es hier?  

Zunächst haben wir die so genannten „acht Freiheiten“. „Freiheiten“ bezieht sich auf vorübergehende Ruhepausen von den acht Situationen, in denen wir keine Freiheiten haben und den Dharma nicht studieren, lernen und praktizieren können oder in denen diese Möglichkeiten sehr beschränkt sind. Sind wir vorübergehend frei von diesen acht Zuständen, in denen wir nicht frei sind, befinden wir uns in den acht Zuständen der Freiheiten. Es gibt vier nichtmenschliche und vier menschliche von solchen Zuständen.

Die vier nichtmenschlichen Zustände ohne Freiheiten sind die Wiedergeburten als:

  • ein Höllenwesen; 
  • ein Hungergeist (Preta, Klammergeist); 
  • ein Tier; und 
  • ein langlebiges himmlisches Wesen oder ein Gott.   

Die vier menschlichen Zustände ohne Freiheiten sind die Wiedergeburten:

  • an einem Ort oder in einer Zeit, in der kein Buddha erscheint – wie beispielsweise während einem der dunklen Zeitalter, über die wir bereits gesprochen haben;  
  • an einem völlig unzivilisierten Ort unter Barbaren oder Wilden, wo es keinerlei spirituelle Praktiken gibt. In diesem Fall wären wir zwar Menschen, aber es würde sich um einen menschlichen Zustand ohne Freiheiten handeln.  
  • Schwere geistige oder körperliche Behinderungen zu haben, taub, stumm oder blind zu sein, oder wegen großer körperlicher, geistiger oder emotionaler Schwierigkeiten wenig lernen zu können. Obgleich es nicht unmöglich ist, den Dharma zu studieren und zu praktizieren, wenn man mit solchen Bedingungen wiedergeboren wird, ist es viel herausfordernder. 
  • Sogar wenn wir mit Bedingungen und Umständen geboren wurden, die förderlich für das Studiums und die Praxis des Dharmas sind, haben wir vielleicht dennoch schädliche und feindselige Sichtweisen, und sind gegenüber jeder Art des spirituellen Trainings vollkommen negativ eingestellt, glauben nicht an Ursache und Wirkung usw.

Die zehn Ausstattungen eines kostbaren menschlichen Lebens 

Zusätzlich zu den vorübergehenden Ruhepausen von diesen acht Situationen ohne Freiheiten, den Dharma zu studieren und zu praktizieren, wird unser kostbares menschliches Leben durch die so genannten „zehn Ausstattungen“ bereichert. Hierbei handelt es sich um Ausstattungen der Bedingungen und Umstände, die für das Studium und die Praxis des Dharma am förderlichsten sind. Es gibt fünf persönliche Ausstattungen, die uns selbst betreffen, und fünf gesellschaftliche auf Seiten der anderen. 

Die fünf persönlichen Ausstattungen, die uns selbst betreffen, sind die Wiedergeburt:

  • als ein menschliches Wesen („Menschliches Wesen“ sollten wir hier mit der zuvor erklärten Bedeutung verstehen. Wenn es uns nur um Nahrung, Schutz und Wärme in diesem Leben geht, so ist dies nicht etwas, das ein menschliches Wesen ausmacht, sondern was von Tieren ebenso angestrebt wird. Ein Mensch zu sein, bedeutet in diesem Zusammenhang sich darum zu kümmern, zukünftige Leben zu verbessern und auf dieses Ziel hinzuarbeiten.); 
  • mit entsprechenden körperlichen und geistigen Fähigkeiten, um studieren und praktizieren zu können;
  • in einer zentralen Region (Dies bezieht sich beispielsweise darauf, an Orten geboren zu werden, die Seine Heiligkeit der Dalai Lama bewohnt oder besucht und somit direkt mit den Lehren in Kontakt kommen zu können. Wenn man es so versteht, würde man diesen Ort, an dem wir hier leben, als Teil einer zentralen Region betrachten.);  
  • keine unmittelbar ins Elend führende Taten in einem früheren Leben begangen zu haben (Es gibt fünf unmittelbar ins Elend führende Verbrechen, die ausgesprochen ernsthafte Arten schädlicher Handlungen sind, die begangen werden können, wie das Töten unserer Mutter oder unseres Vaters. Die meisten von uns sind damit ausgestattet, solche Dinge in der Vergangenheit nicht getan zu haben.); sowie  
  • einen respektvollen Glauben an die Lehren zu haben.    

Das sind die fünf persönlichen Ausstattungen, die uns selbst betreffen, und sie alle sind vollständig in uns vorhanden.  

Die fünf gesellschaftlichen Ausstattungen, welche die andere Seite betreffen, sind eine Wiedergeburt, in einer Zeit in der: 

  • Buddhas erschienen sind (Obwohl Buddha Shakyamuni in der Vergangenheit erschienen und dann gestorben ist, haben wir im Moment solche lebenden Buddhas, wie Seine Heiligkeit den Dalai Lama. Das bezieht sich daher auf das Leben in einer Zeit, in der Buddhas erschienen sind.);  
  • lebende Buddhas lehren den Dharma;  
  • die Lehren bestehen fort – nicht während der Zeit, wie zum Beispiel in den Äonen des Zerfalls;  
  • die spirituelle Gemeinschaft des Sangha – jene, die tatsächlich diesen Lehren folgen und sie in die Praxis umsetzen – ist ebenso vorhanden; und   
  • Förderer unterstützen die Dharma-Praxis – wir befinden uns nicht in einer Zeit, in der spirituelles Leben verboten ist.  

Das sind die fünf gesellschaftlichen Ausstattungen. 

Wie meditieren wir über diese Punkte? Wir können über sie als erstes am Morgen, gleich nach dem Aufwachen, meditieren. Wir öffnen unsere Augen, erkennen, wo wir sind und sagen uns selbst: „Wie wunderbar! Ich bin heute Nacht nicht gestorben und in einer der heißen Höllen gelandet, in denen mein Körper untrennbar von Feuern umgeben ist.“ Wir könnten weiter denken: „Was würde ich tun, wenn ich mich beim Aufwachen in einer der Höllen wiederfände?“ In ähnlicher Weise können wir über all die verschiedenen Freiheiten und Ausstattungen nachdenken, und uns beispielsweise fragen: „Was wäre, wenn ich als ein Hungergeist aufwachen würde und ich weder etwas zu essen oder zu trinken finden würde, noch die Worte Essen oder Trinken hören könnte? Was würde ich jetzt tun, wenn das der Fall wäre?“

Das ist etwas, worüber wir nachdenken sollten. Ebenso könnten wir uns vorstellen, wir würden uns beim Aufwachen in einer sehr reichen Familie wiederfinden, würden aber von Heroin abhängig sein oder regelmäßig psychedelische Drogen oder ähnliches konsumieren, welche den Geist völlig verzerren und stören. Was würden wir tun? Aus diesem Grund sollten wir uns im Grunde freuen und wirklich glücklich sein. Wir sollten erkennen, dass wir eine kostbare menschliche Wiedergeburt mit einem vollständigen Set der acht Freiheiten und zehn Ausstattungen haben. 

Das ist eine kurze Beschreibung der Meditationsweise zum Erkennen der vollkommen ausgestatteten kostbaren menschlichen Wiedergeburt. Wenn wir eine kostbare menschliche Wiedergeburt bekommen haben und sie als Grundlage nutzen, können wir den erleuchteten Zustand eines Buddhas erlangen.  

Es gibt nicht den kleinsten Unterschied zwischen Jetsün Milarepa und uns, was den menschlichen Körper betrifft, den wir haben oder den er als eine Grundlage für die Dharma-Praxis hatte. Es ist wirklich eine wunderbare Sache, solch eine kostbare menschliche Wiedergeburt als Arbeitsgrundlage zu haben, um Erleuchtung zu erlangen. Hätten wir 100.000 Pfund, wären wir überaus glücklich und würden uns freuen. Vielmehr sollten wir uns jedoch über die Tatsache freuen und glücklich sein, dass wir unsere kostbare menschliche Wiedergeburt haben. Das ist der erste Punkt des Erkennens der kostbaren menschlichen Wiedergeburt, die vollkommen mit den Freiheiten und günstigen Bedingungen ausgestattet ist.  

Fragen zur Reinigung 

Was sind die unmittelbar ins Elend führenden Verbrechen und gibt es nichts, was man tun kann, um sie zu reinigen oder dessen furchtbare Konsequenzen zu verhindern?

Zunächst, eine etwas wörtlichere Übersetzung und Definition dieses Begriffes. „Unmittelbar ins Elend führende Taten“ sind eine „negative Handlung, nach der es keinen Handlungsspielraum mehr gibt“. Das bezieht sich darauf, dass es bestimmte extreme und schwere destruktive Handlungen gibt, nach dessen Ausführung jemand, wenn er stirbt, sofort in einer der niederen Höllenbereiche wiedergeboren wird. Dazwischen wird nichts mehr passieren. Das ist die Bedeutung dieser bestimmten Arten der destruktiven Handlungen. Sie haben diese Art von karmischem Resultat.  

Um dies zu vermeiden, gilt es zunächst Verständnis und große Furcht zu entwickeln, dass dies uns widerfahren könnte. Hätten wir beispielsweise aus Versehen Gift zu uns genommen und fänden heraus, dass wir gerade giftige Nahrung gegessen haben, würden wir es furchtbar bereuen. Daher sollten wir als erstes darüber nachdenken, ob wir eines dieser wirklich schweren Vergehen begangen haben oder nicht, und uns fragen, was die Konsequenzen davon sein werden. 

Haben wir zum Beispiel unseren Vater getötet, sind wir uns bewusst, dass die Konsequenz davon eine Wiedergeburt im niedrigsten höllischen Bereich sein wird. Dies würde zu großer Furcht und Sorge führen, und wir würden die negative Handlung außerordentlich bedauern, die wir begangen haben. Empfinden wir dieses starke Bedauern, wird dadurch die Auswirkung des Erfahrens dieses karmischen Resultats gereinigt. Wir müssen erkennen, dass es falsch war, was wir getan haben. 

Zweitens benötigen wir eine Geisteshaltung des festen Entschlusses, mit dem wir uns entscheiden, solch eine destruktive Handlung niemals wieder zu begehen. 

Darauf folgt dann die dritte Sache, die wir tun müssen: wir visualisieren vor uns ein Bild der Zuflucht – zum Beispiel einen Buddha. Es gibt verschiedene meditative Techniken der Visualisierung, mit denen wir uns vorstellen, wie Nektar und Licht aus dieser Zuflucht strömt und uns von all den negativen karmischen Potenzialen solch furchtbarer Handlungen reinigt. Diese Visualisierungen sollten zusammen mit dem Rezitieren verschiedener Mantras ausgeführt werden, wie Om Mani Padme Hum, dem Mantra Buddhas oder dem hundertsilbigen Vajrasattva-Mantra. 

Zusätzlich sollten wir an alle anderen Lebewesen denken und daran, dass sie alle vielleicht ebenfalls viele schwere destruktive Handlungen begangen und starkes negatives karmisches Potenzial aufgebaut haben. Wir sollten uns wünschen, dass sie alle nicht unter den Konsequenzen leiden müssen und von diesen negativen Potenzialen gereinigt werden. Wir gehen diesen ganzen Vorgang durch, um nicht nur uns selbst, sondern alle zu reinigen. Wenn wir das tun, wird der Reinigungsvorgang sogar noch effektiver.  

Reinigung durch Meditation über Leerheit

Die Hauptmethode der Reinigung ist jedoch die Meditation über Leerheit. Zuerst sollten wir uns jedoch die verschiedenen Arten der unmittelbar ins Elend führenden Taten oder schwersten negativen Vergehen genauer ansehen. Hier geht es um das Töten unserer Mutter oder unseres Vaters, das Töten eines Arhats, das Herbeiführen einer Spaltung in der monastischen oder Dharma-Gemeinschaft, oder mit schlechten Absichten das Blut eines Buddhas zu vergießen. Obwohl ein Buddha im Grunde nicht getötet werden kann, ist es dennoch eine unmittelbar ins Elend führende Tat, Vorkehrungen für den Mord an einem Buddha zu treffen und zu versuchen, ihn durch das Werfen von Steinen oder mit anderen Mitteln zu töten. 

Für diese Arten der äußerst schädlichen Handlungen ist die Meditation über Leerheit das stärkste Mittel der Reinigung. Es ist notwendig zu verstehen, dass es hier um drei Dinge geht. Wir haben das negative karmische Potenzial, die Person, welche dieses negative Potenzial aufgebaut hat und auch die destruktive Handlung, die begangen wurde und dieses negative Potenzial geschaffen hat. Es kann kein negatives Potenzial ohne eine Person geben, die dieses negative Potenzial angesammelt hat. In ähnlicher Weise kann es keine Person geben, die dieses negative Potenzial herbeigeführt hat, solange es keine destruktive Handlung gibt, die ausgeführt wurde, um das negative Potenzial zu schaffen. 

Wenn wir es so betrachten, sehen wird, dass diese drei Faktoren abhängig voneinander entstehen. Keiner von ihnen existiert nur für sich. Wir müssen verstehen, wie sie existieren: ein negatives karmisches Potenzial, eine Person, die es aufbaut und die Handlung selbst. Die Existenz dieser drei kann nur in gegenseitiger Abhängigkeit voneinander begründet werden, wobei keiner von ihnen eine Existenz besitzt, die unabhängig und von sich aus wahrhaft begründet ist. Es ist beispielsweise nicht so, dass jemand als ein festgelegter und solider Sünder existieren kann; vielmehr kann die Existenz von etwas nur in gegenseitiger Abhängigkeit von anderen Dingen etabliert werden. Dieses Verständnis der Leerheit ist viel reinigender als irgendetwas anderes.

Die vier Kräfte der Reinigung

Es gibt also vier Kräfte der Reinigung: 

  • die erste ist die Kraft des Bedauerns;  
  • die zweite ist das Versprechen, zukünftig nie wieder solch eine Handlung zu begehen;
  • die dritte ist die Kraft des Bestärkens unserer ethischen Grundlage (Dies bezieht sich darauf, Mitgefühl gegenüber all jenen hervorzubringen, die eine ähnliche Art der schweren negativen Kraft angesammelt haben, mit dem Wunsch, auch sie zu reinigen. Dies dient als eine Grundlage oder Basis für die Reinigung.);  
  • die vierte ist die Kraft der Gegenmittel, die wir anwenden, und dies bezieht sich auf alle Arten von konstruktiven Handlungen, wie das Anzünden von Butterlampen, das Darbringen von Opfergaben, Niederwerfungen, Umkreisungen, das Aufstellen der Repräsentationen von Körper, Rede und Geist des Buddhas, sowie der Wohltätigkeit oder dem Helfen von Kranken und Armen. 

All dies sind positive, konstruktive Handlungen, die als entgegenwirkende positive Kraft in Bezug auf unsere negativen Potenziale dienen. 

So können wir an das Beispiel Jetsün Milarepas denken, der im frühen Teil seines Lebens mehr als 30 Menschen durch schwarze Magie tötete. Sein spiritueller Meister Marpa gab ihm die Aufgabe, mehrere Male einen neun Stockwerke hohen Turm aus Steinen zu bauen. Er musste dies ausschließlich mit eigener körperlicher Bemühung tun, was als Mittel diente, sich selbst von dem schweren negativen karmischen Potenzial des Tötens im früheren Teil seines Lebens zu reinigen. Haben wir diese Geisteshaltung, allen Freiheit von Leiden und Glück zu wünschen, so ist diese Art der Liebe und des Mitgefühls eine ausgesprochen mächtige Methode, uns selbst von negativem karmischen Potenzial zu reinigen.    

Wir können es an dem Beispiel der Lebensgeschichte Asangas sehen, der zwölf Jahre damit verbrachte, eine echte Vision von Maitreya zu haben. Nach drei Jahren harter Arbeit in seinem Retreat ohne irgendwelche Resultate, beendete er das Retreat völlig entmutigt. Dann sah er jedoch jemanden, der einen Eisenstab mit einem Stück Seide rieb. Er fragte diesen Mann: „Was tust du da?“ und der Mann erwiderte: „Ich stelle eine Nadel her, indem ich an diesem Eisen reibe.“ Er fügte hinzu: „Wenn man sich richtig bemüht, kann man eine Nadel aus einer Eisenstab herstellen.  

Asanga dachte: „Wenn er sich so bemühen kann, nur um eine Nadel herzustellen, kann ich mich noch mehr bemühen.“ Er ging wieder in sein Retreat für weitere drei Jahre und die gleiche Erfahrung wiederholte sich. Alle drei Jahre war er entmutigt und sah etwas ähnliches, worauf er wieder mit dem Retreat begann, bis zwölf Jahre vergangen waren. Heute kann man diesen Ort besuchen, an dem sein Retreat stattfand. Er befindet sich in Indien, in der Nähe des Geiergipfels; oberhalb von Rajgir gibt es einen Ort mit heißen Quellen und der Höhle, an dem all dies geschah. 

Am Ende dieser zwölf Jahre, als Asanga wieder hinabstieg, sah er einen Hund auf der Straße, der sich in einem äußerst bedauerlichen Zustand befand. Auf dem Rücken des Hundes gab es große offene Wunden, die voller kleiner Würmer waren, und der Hund bellte grimmig. Asanga sah das Leid dieser armen Kreatur und entwickelte großes Mitgefühl, da er achtsam und sich dessen Leiden bewusst war. Er dachte also darüber nach, wie er ihm helfen konnte. 

Daraufhin schnitt er ein Stück Fleisch von seinem eigenen Oberschenkel und legte es auf den Boden. Er wollte die Würmer aus der Wunde des Hundes entfernen und sie auf das Stück Fleisch seines Oberschenkels legen, damit sie weiterhin etwas zu fressen hatten. Außerdem wollte er sie auf eine Weise entfernen, die den Würmern nicht schadete und erkannte, dass er sie mit seinen Händen zerquetschen würde. Er bückte sich also, schloss seine Augen und streckte die Zunge heraus, um die Würmer damit aufzunehmen, damit er das Leiden des Hundes mindern konnte. Als er sich so mit geschlossenen Augen und ausgestreckter Zunge niederbeugte, war der Hund nicht mehr da und als er die Augen öffnete, sah er anstelle des jämmerlichen Tieres die tatsächliche Form Maitreyas. Dieser Hund war in der Tat nur eine Emanation Maitreyas.  

Dieser ganze Vorgang der Reinigung, der es Asanga erlaubte, diese Vision von Maitreya empfangen zu können, war auf die Tatsache zurückzuführen, dass Asanga solch großes Mitgefühl für diesen Hund entwickelte. Asanga wandte sich dann mit einiger Entrüstung an Maitreya und fragte ihn: „Ich habe mich zwölf Jahre bemüht dich zu sehen. Warum bist du bis jetzt nicht erschienen?“ Maitreya antwortete: „Ich war die ganzen zwölf Jahre hier bei dir, aber wegen den dichten Schleiern und Unreinheiten deines zuvor aufgebauten negativen karmischen Potenzials warst du nicht in der Lage mich zu sehen. Ich war die ganze Zeit da.“ Als Beweis wies er auf den Saum seiner Roben: „Während dieser zwölf Jahre hast du deine Nase gesäubert und Schleim ausgespuckt. Hier ist er, angetrocknet auf meiner Robe. Aufgrund deines großen Mitgefühls am heutigen Tag wurdest du jedoch von all diesen karmischen Hindernissen und Schleiern gereinigt und bist jetzt in der Lage mich zu sehen.“  

Dann nahm Asanga Maitreya, setzte ihn auf seine Schultern und marschierte mit ihm durch die Stadt, damit jeder herauskommen und Maitreya sehen konnte. So stolzierte er durch die Stadt und sagte zu jedem: „Kommt und seht Maitreya.“ Niemand konnte jedoch etwas sehen, weil alle durch ihre unreinen karmischen Potenziale völlig bedeckt waren. Infolgedessen sagten sie: „Da ist dieser verrückte Dharma-Typ Asanga, der gerade bei dem Versuch der Dharma-Praxis völlig die Besinnung verloren hat. Es gab jedoch eine alte Frau, die das rechte Bein Maitreyas auf seiner Schulter erkannte, weil sie von ihrem negativen karmischen Potenzial etwas gereinigt war.

Danach nahm Maitreya Asanga mit in seinen Götterbereich und lehrte ihn verschiedene Schriften. Asanga blieb dort für die Dauer eines Morgens der Götter, doch als er wieder auf die Erde zurückkehrte, merkte er, dass in dieser Zeit 50 menschliche Jahre vergangen waren. Als er in diesen Götterbereich ging, war er etwa 30 Jahre alt und als er zurückkam, hatte er noch immer die Form eines dreißigjährigen Mannes. Er lebte 300 Jahre und während dieser gesamten Zeit alterte er nie. Nach seiner Rückkehr aus dem Götterbereich blieb er immer in dieser gleichen Form eines Dreißigjährigen.  

Geben wir daher offen die Fehler zu, die wir in der Vergangenheit gemacht haben und wenden die vier Gegenkräfte wie beschrieben an, ist es möglich, sich sogar von dem schwersten negativen karmischen Potenzial dieser unmittelbar ins Elend führenden Vergehen zu reinigen. Wenn sogar das möglich ist, müssen wir nicht darüber reden, wie wir uns von den weniger destruktiven Dingen reinigen können, die wir getan haben mögen. Es ist äußerst wichtig, die destruktiven Dinge zu bedauern, die wir in der Vergangenheit getan haben, und auch einen festen Entschluss zu fassen und zu versprechen, diese destruktiven Handlungen zukünftig nicht mehr zu begehen.  

Der Buddha selbst sagte, das Resultat dieser schweren destruktiven Handlungen wäre eine Wiedergeburt in diesen bedauernswerten Zuständen; es war jedoch auch der Buddha selbst, der davon sprach, dass wir uns von dem negativen Potenzial reinigen können, wenn wir diese vier Gegenkräfte anwenden. Destruktive Handlungen haben nicht die geringsten guten Aspekte, sondern ausschließlich Mängel. Nichtsdestotrotz gibt es einen guten Punkt in Bezug auf das negative karmische Potenzial vom Begehen dieser Handlungen: Wenn wir offen zugeben, dass wir etwas falsch gemacht haben und die vier Gegenkräfte anwenden, kann dieses negative karmische Potenzial gereinigt und entfernt werden. Das ist der gute Punkt: es kann gereinigt werden.  

Jetzt wissen wir etwas über destruktive Handlungen und das negative karmische Potenzial, das sie hervorrufen. Das war es erst einmal für den Moment.

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