Übungen zur Entwicklung eines fürsorglichen Herzens

Zur Ruhe kommen

Wir haben das Training nur kurz mit den Übungen zum Beruhigen des Geistes begonnen. Wenn wir davon reden „den Geist zu beruhigen”, heißt das nicht, alles abzuschalten, als würden wir ein Radio ausschalten. Vielmehr bedeutet es, die unnötigen Dinge in unserem Geist zur Ruhe kommen zu lassen, damit wir offener und positiver sein können. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass wir, wenn man den Geist lediglich zur Ruhe bringt oder dies nicht auf die richtige Weise tut, dazu tendieren uns völlig von anderen zurückzuziehen und gar keine Gefühle zu haben. So weit zu gehen, dass wir uns dadurch völlig verschließen, ist jedoch viel zu extrem.

Wenn wir davon reden, die belanglosen oder die problematischen Dinge zur Ruhe kommen zu lassen, geht es auch darum, unsere Nervosität, unsere Sorgen und Ängste zu beruhigen. Für einige Menschen ist das natürlich nicht so einfach. Doch es kann hilfreich sein, in einer Gruppe zu üben, in der sich alle darin einig sind, keine Urteile über andere zu fällen.

Das fürsorgliche Herz

Lasst uns nun mit der Übung zur Entwicklung eines fürsorglichen Herzens, einer anteilnehmenden Geisteshaltung weitermachen. Wir betrachten dafür wieder die Menschen hier auf dem Poster. Zuerst beginnen wir damit, still zu sein – das ist der erste Schritt –, und dann betrachten wir diese Menschen, jeweils einen nach dem anderen. Gehen Sie also einfach den Ablauf der Übung mit einer der hier auf den Fotos dargestellten Person durch, und sobald wir eine fürsorgliche Geisteshaltung hervorbringen können, indem wir die Argumentationskette durchgehen, machen wir mit der nächsten Person weiter.

Zuerst beruhigen wir die diskursiven Gedanken, also das „Bla, bla, bla“, das in unserem Kopf abläuft. Wenn wir das zur Ruhe bringen wollen, konzentrieren wir uns auf den Atem. Das ist eine spezielle Anwendung der Atemmeditation. In der Theravada-Tradition, aus der die Vipassana-Bewegung hervorgegangen ist, gilt die Atmung für viele verschiedene Arten der Meditation als Fokus, als Ausrichtungsobjekt. Wenn wir uns aber die Mahayana-Traditionen betrachten, sehen wir, dass der Atem ein Meditationsobjekt speziell für Menschen mit viel diskursivem Denken ist. Ihr Geist ist zu aktiv; ständig laufen Gespräche in ihrem Kopf ab.  Der Fokus auf dem Atem beruhigt sie.

Wenn wir diese Art der Meditation ausprobieren, werden wir merken, dass in einem Teil unseres Geistes trotzdem Gespräche ablaufen, auch wenn wir vielleicht in der Lage sein mögen, unsere Aufmerksamkeit auf den Atem zu lenken. Dennoch ist die Ausrichtung auf den Atem recht hilfreich, besonders wenn man, wie ich, oft das Problem hat, dass einem irgendwelche Lieder oder Melodien ständig im Kopf herumgehen. Man hört etwas, und irgendwie hängt der Geist daran fest und dann singt man den ganzen Tag dieses Lied, was wirklich albern ist, und man kann das nur ganz schwer wieder loswerden. Es gibt einige Methoden, die wir in diesem Fall einsetzen kann.

Methoden, den Geist zur Ruhe zu bringen

Eine Methode, die im Tantra angewendet wird, wäre ein Mantra zu rezitieren, also die verbale Energie für etwas anderes zu nutzen, nämlich für die Mantra-Rezitation. Eine andere Methode besteht darin, etwas zu analysieren oder etwas herauszufinden. Einige Menschen finden es hilfreich, sich mit einem Sudoku-Rätsel oder etwas Ähnlichem zu befassen, denn so beschäftigen sie ihren Geist mit etwas, das den Intellekt fordert, etwas herauszufinden. Das bewirkt, dass das Lied im Kopf aufhört – es hilft tatsächlich. Oder einfach Mathe. Addiere ein paar Zahlen in deinem Kopf.

Die dritte Methode, die in vielen Texten beschrieben wird, ist die Konzentration auf den Atem. Um zur Ruhe zu kommen, sollten wir also eine Methode benutzen, die uns dabei hilft – damit will ich sagen, dass es wirklich viele Methoden gibt und wenn eine für uns nicht wirksam ist, versuchen wir es einfach mit einer anderen.

Das ist eine hilfreiche Vorbereitung. Noch bevor wir damit beginnen, den Geist bewusst zur Ruhe zu bringen, richten wir unsere Aufmerksamkeit einfach ein wenig auf den Atem, und wenn wir dann weitere geistige Abschweifungen und diskursive Gedanken bemerken, lassen wir diese los. Mach das.

In den allgemeinen Meditationsmethoden wird auch erwähnt, dass es hilfreich ist, sich ein helles Licht vorzustellen, wenn man mit jemandem zusammen ist, sich aber ganz dumpf und träge fühlt. Wenn außen ein helles Licht vorhanden ist, wird es unseren Geist natürlich anregen, dorthin zu schauen, aber auch, wenn wir uns ein helles Licht vorstellen – nicht in niedriger Höhe, sondern weit oben, denn das hebt die Energie an –, wird das helfen, den Geist nicht dumpf, sondern etwas klarer werden zu lassen.

Die eigentliche Übung zur Kultivierung eines fürsorglichen Herzens

Jetzt betrachten wir eines der Bilder und lassen alle weiteren Gedanken, verbale Gedanken und Urteile los, die uns vielleicht durch den Kopf gehen Dann denken wir:

  • Du bist ein Mensch und hast Gefühle.
  • Du bist ein Mensch und hast Gefühle, genau wie ich.
  • Deine Stimmung wirkt sich auf unsere Interaktion aus, genau wie die meine.
  • Ich werde keine Geschichten über dich erfinden oder in meinem Kopf ablaufen lassen.
  • Du bist ein Mensch, der Gefühle hat, genau wie ich.
  • Deine Stimmung wirkt sich auf unsere Interaktion aus, genau wie die meine.
  • Daher wirkt sich, wie ich dich behandle und was ich sage, auf deine Gefühle aus.
  • Und genauso, wie ich hoffe, dass du in unserem Umgang miteinander auf mich und meine Gefühle Rücksicht nimmst, so gehe ich mit dir rücksichtsvoll um und nehme deine Gefühle ernst.
  • Ich werde keine Geschichten über dich erfinden oder erzählen.
  • Du bist ein Mensch und hast Gefühle.
  • Mir liegt an dir, deine Gefühle sind mir wichtig.

Dann wenden wir uns ab, senken den Blick und lassen das Gefühl dieser Erfahrung zur Ruhe kommen.

Vergegenwärtigung aufrechterhalten

Wenn du mit deinen Gedanken immer woanders bist und dein Geist ständig abschweift, dann ist die Frage: warum? Das Interessante daran ist ja, es selbst herauszufinden. Es könnte sein, dass man das, wohin der Geist abschweift, sehr anziehend findet und daran ziemlich hängt, z.B. wenn man an einen geliebten Menschen denkt oder dergleichen.

Oder es könnte sein, dass man sich um etwas Sorgen macht; vielleicht fühlt man sich auch unwohl oder hat Angst vor einer tatsächlichen Begegnung mit jemandem und dann versucht der Geist davor zu flüchten. Wenn unser Geist oft abschweift und besonders wenn er flatterhaft ist, also zu einem Objekt der Begierde fliegt, an dem er hängt, müssen wir wirklich untersuchen, warum das so ist. Wodurch wird es verursacht? Das ist wichtig, weil es eine große Beeinträchtigung ist. Nicht nur in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern natürlich auch bei unserer Arbeit und in unserem täglichen Leben kann dies sehr stören. Im Buddhismus geht man im Allgemeinen so vor, dass man zunächst feststellt, was das Problem ist, dann versucht, die Ursachen zu ermitteln, und schließlich darauf hinarbeitet, diese Ursachen zu beseitigen.

Das ist eine sehr logische Vorgehensweise und, wie wir bereits erwähnt haben, kannst du die Vergegenwärtigung, die wie Klebstoff beim Objekt bleibt, aufrechterhalten, indem du es dir immer wieder in den Sinn rufst – und wenn du es vergisst und der Geist abschweift, dich daran erinnerst, ihn zurückzuholen. Hör zu, was die andere Person gerade sagt. Sie ist ein Mensch.  Dieser Mensch will nicht ignoriert werden, genauso, wie auch ich nicht ignoriert werden will.

Unser Interesse an anderen steigern

Wenn du mit jemandem redest und etwas erklärst, was dir wichtig ist, die andere Person aber nach ein paar Sätzen sagt: „Hm? Wie bitte? Was hast Du gesagt? Ich habe gerade nicht zugehört” - wie fühlst du dich dann? Schrecklich. Und die anderen haben auch Gefühle, sie fühlen sich schrecklich, wenn wir ihnen nicht zuhören, weil wir das nicht interessant finden. Bei diesem Sensibilitätstraining geht es darum, wie wir unsere Aufmerksamkeit zurückbringen und fokussiert bleiben. Wir erinnern uns: „Du hast genauso Gefühle wie ich.“ Das ist der gesamte Zweck dieses Sensibilitätstrainings.

Was es zu steigern gilt, ist unser Interesse. Wir bringen Interesse für die andere Person auf und für das, was sie gerade sagt, auch wenn dies, objektiv gesehen, langweilig und töricht ist. Wenn andere uns etwas sagen, ist ihre Absicht nicht, uns etwas Langweiliges zu erzählen und uns damit zu langweilen. Das wollen sie mit Sicherheit nicht, wenn sie uns etwas sagen, oder?

Das Problem der Projektion

Ein anderes Problem, das auftaucht, wenn man versucht den Geist zu beruhigen, ist, dass wir häufig etwas auf eine Person projizieren. Eine der aufwühlendsten Arten davon ist, wenn wir von einer Person erwarten, dass sie sich wie jemand anderes verhält. Das kann man am besten in persönlichen Beziehungen sehen. Du hast zum Beispiel eine Beziehung mit jemandem, eine Freundin oder einen Freund, dann trennt ihr euch und du beginnst eine neue Beziehung. Auf diese Person projizierst du dann, dass sie dich genauso behandelt und verlassen wird oder Ähnliches. Oder du stellst dir vor, sie hätte die gleichen Eigenschaften und Vorlieben wie der vorherige Partner, das heißt, du beziehst dich also nicht auf diese Person, sondern auf unsere Projektion.

Das passiert sehr häufig, insbesondere bei Menschen, die missbraucht oder von anderen sehr schlecht behandelt wurden, und dann projizieren sie diese Erwartung auf andere Menschen, denen gegenüber das vollkommen ungerechtfertigt ist.

Solche Tendenzen zur Ruhe zu bringen ist eine Unterkategorie des Zur-Ruhe-Kommens. „Ich werde keine Geschichten aus der Vergangenheit über dich erzählen und keine alten Dinge hervorkramen, die im gegenwärtigen Moment irrelevant sind. Und ich werde auch keine Geschichten anderer Menschen auf dich projizieren. Ich werde mit dir so umgehen, wie du jetzt gerade bist.” Und nicht: „Vor dreißig Jahren hast du dieses und jenes zu mir gesagt”, so als wären wir immer noch am selben Ort, was gar nicht der Fall ist. Oder: „Vor dreißig Jahren hat mich jemand verlassen und jetzt wirst du mich verlassen.” Auf diese Weise sind wir nicht im gegenwärtigen Augenblick.

Wie man jemanden anschaut

Für die nächste Phase des Zur-Ruhe-Kommens, müssen wir in einem Kreis sitzen. Versucht euch gegenseitig mit einem ruhigen Geist anzusehen. Das ist viel schwieriger, als die Fotos zu betrachten.

Nun ist es notwendig, in erster Linie darauf zu achten, uns nicht gegenseitig anzustarren, als wären wir im Zoo und würden uns all die anderen Tiere anschauen. Du befindest dich nicht im Zoo! Des Weiteren achten wir auf eventuelle Nervosität. Nervosität kann sich durch Lachen bemerkbar machen: Du fühlst dich unwohl und eine Art, dies zu kompensieren, besteht darin, nervös zu kichern. Das ist ein üblicher psychologischer Mechanismus, der jedenfalls in einigen Gruppen auftritt, besonders, wenn man so etwas zum ersten Mal ausprobiert. Wir versuchen also, uns nicht wie eine Meute von Hunden zu benehmen: ein Hund fängt an zu bellen und alle anderen Hunde stimmen mit ein. Versuche, dich nicht an Gelächter zu beteiligen; Gelächter kann ansteckend sein. Bewahre einen ruhigen Geist.

Einige Menschen werden sich unwohl fühlen und den Blick senken oder die Augen schließen und die anderen nicht ansehen. Wenn du dich wirklich unwohl dabei fühlst, andere anzusehen, mach es nicht. Verweile auch nicht starr mit dem Blick bei nur einer Person, denn das wird dieser Person ein unangenehmes Gefühl geben. Bewahre ganz einfach einen ruhigen Geist, während du deinen Blick den einzelnen Menschen zuwendest.

Noch ein weiterer Punkt: Wenn du diese Übung in einer Gruppe machst, ist es nicht ratsam, den Menschen tief in die Augen zu schauen, besonders wenn sich zwei Menschen in der Gruppe kennen. Wenn sich beim Umherschauen ihre Blicke treffen, sollten sie nicht in diesem gegenseitigen Blickkontakt hängenbleiben, sondern einfach weitermachen. Es kann auch sehr – bitte entschuldigt das Wort - verführerisch sein, wenn du dich darin verlierst, die andere Person anzusehen, während du von ihr angesehen wirst. Erinnere dich daran, dass dies keine Übung in einsgerichteter Konzentration ist. Vielmehr wollen wir in der Lage sein, andere in einer Gruppe von Menschen ansehen zu können, ohne dabei Kommentare über jeden abzugeben. Es geht einfach darum, einen offenen Geist gegenüber allen zu haben.

Wenn wir diese Übung zu zweit machen, etwa wenn wir mit jemandem reden – wie sehen wir einander dabei an? Das ist eine sehr interessante Frage. Wenn du dich jedoch direkt vor jemandem befindest und ihm, während wir mit ihm reden, unentwegt in die Augen blicken und er in unsere, verlierst du dich irgendwie. In gewisser Weise bist du dann nicht mehr bei der Sache und die Unterhaltung kommt zu einem Ende.

Andererseits ist es sehr unangenehm, wenn du mit jemandem sprichst und ganz woanders hinsiehst, obwohl die Person direkt vor dir steht, und du die Person nie ansiehst. „Hallo! Ich bin hier, nicht dort drüben.” Diese Balance hinzubekommen, einerseits die Person anzusehen, sie aber nicht anzustarren und auch nicht am Blick hängenzubleiben, ist wirklich nicht ganz einfach. Wenn wir es untersuchen, sehen wir, dass es von der Beziehung abhängt, die wir zu der anderen Person haben. Wenn wir ein großes Verlangen nach dieser Person spüren, neigen wir dazu, uns in etwas zu verlieren, wo wir meinen: „Oh, ich bin verliebt”.

Es kann aber auch Feindseligkeit aufsteigen – „grrr“- und dann starrst du die andere Person mit einem furchtbaren Blick an, als würdest du sagen: „Ich bin wirklich wütend auf dich.” Wenn du jedoch eine teilnahmsvolle Geisteshaltung gegenüber der Person hast und entspannt und offen bist, kannst du sie ansehen, ohne sie anzustarren. Du kannst in ihre Augen schauen während des Gesprächs, und weil du entspannt bist und dir an der Person liegt, bist du nicht besorgt. Du bist nichtüberempfindlich und hast Angst, dass sie dich abweist oder dich nicht mögen wird. Du denkst nicht nur an dich und daran, was sie von dir hält. Weil du entspannt bist, bleibst du nicht im Blick der anderen Person stecken.

Schwierig ist es, wenn die zwei Menschen sich nicht auf der gleichen Ebene ihrer Entwicklung befinden. Die eine Person mag beispielsweise entspannt sein, aber die andere Person sieht dich vielleicht nicht an und schaut zur Wand hinüber, während sie mit dir redet. Ich hatte während des Studiums einen Professor, der so etwas wie mein Studienberater war. Immer wenn ich zu ihm ging und mit ihm sprach, sah er mich dabei nie an. Er war Japaner und vielleicht war es also kulturell bedingt, aber trotz allem fühlte ich mich unwohl dabei.

Das andere Extrem ist, wenn man mit jemandem redet, der sehr intensiv ist und einem viel zu nahekommt. Dann hat man diesen tierischen Instinkt bzw. das Gefühl, der andere würde uns gleich mit den Fingern ins Auge greifen. Wenn jemand zu aufdringlich ist, gibt uns das auch ein unangenehmes Gefühl. Wenn wir uns in dieser Position befinden und die andere Person sich so unausgewogen verhält, geht es darum, trotzdem irgendwie entspannt zu bleiben. Das ist viel schwieriger, in Erwiderung darauf nicht selbst aus dem Gleichgewicht zu geraten. Dann sollten wir erkennen: „Nun, du bist ein Mensch und hast deine eigenen Probleme” usw. Hierzu gibt es die Übung: „Warmherzigkeit und Verständnis vereinen”.

Schrittweise loslassen

Wenn wir die Menschen im Kreis anfangs ansehen, kommen sehr leicht Gedanken, Urteile und Geschichten hoch. Wenn wir jedoch die Übung fortsetzen, erinnern wir uns daran, solche Gedanken loszulassen. Nach und nach können wir uns dann von diesen Geschichten und verbalen Gedanken über die Menschen, die wir ansehen, lösen. Sind wir erst einmal vertraut mit dieser Praxis, bemerken wir auch, wie dies im täglichen Leben passiert. Wir sehen jemanden und anfangs taucht der Gedanke auf: „Oh, wie hübsch”, oder: „Was hat diese Person bloß für komische Sachen an!” oder Ähnliches. Es sind irgendwelche Bemerkungen, die meist urteilend sind, aber worauf es dann ankommt, ist, sie loszulassen. Es wird sehr interessant sein zu beobachten, welche Art von Menschen mehr urteilende Gedanken in uns auslösen als andere. Das ist wirklich interessant.

Vor kurzem habe ich streng Diät gehalten und habe ungefähr 14 Kilogramm abgenommen. Wenn ich nun Leute auf der Straße sehe, die übergewichtig sind, bemerke ich, dass sie die meisten Kommentare bei mir auslösen. „Oh, dieser Typ ist wirklich dick.” Warum ist das so? Weil ich selbst damit gekämpft habe, mein Übergewicht loszuwerden. Das projizieren wir dann natürlich auf die andere Person und was uns an uns selbst am meisten stört, stört uns an anderen Menschen, da sie es widerspiegeln.

Andere analysieren und Schlussfolgerungen ziehen

Manche Leute analysieren die Menschen, wenn sie sie sehen.  Sie versuchen, anhand ihrer internen Datenbank zu identifizieren, was das für ein Mensch ist. Das ist nicht direkt bewertend und ihre Motivation dafür kann auch gut sein, aber trotzdem erscheinen die Menschen dann mehr wie Dinge als wie menschliche Wesen mit Gefühlen.

Wir können schon unsere Datenbankanalyse benutzen um eine gute Strategie parat zu habe, wie man am besten an die jeweilige Person herangeht. Um etwas gut überprüfen zu können – was eine der Funktionen der späteren Übungen ist -, haben wir fünf Arten tiefen Gewahrseins. Mit diesen fünf nehmen wir Informationen auf, erkennen Muster usw. Das ist in unseren Interaktionen mit anderen notwendig. Eine Voraussetzung dafür ist, dass wir nicht etwas projizieren, bevor wir genügend Informationen haben, um eine korrekte Analyse machen zu können. Ziehe keine vorzeitigen Schlüsse.

Zum Beispiel: „Ich sehe diese Person; sie ist dick. Sie kümmert sich nicht richtig um ihren Körper.” Schon ziehe ich alle möglichen Schlussfolgerungen über die Person, ohne sie wirklich zu kennen. Die Analogie, die mir dazu einfällt, ist Computer-Dating oder auch die Art des Austauschs über Facebook, wo wir unsere Prüfung der Person von dem Profil abhängig machen, das wir auf Facebook lesen, und nicht von der wirklichen Person. Auch dadurch ziehen wir vorzeitige Schlussfolgerungen, die bloß auf einem oberflächlichen Eindruck oder einer Charakterisierung beruhen. Die Beschreibung ist aber nicht die Person, sondern bloß das, was diese in ein Formular eingetragen hat, das man ausfüllen konnte.

Den Geist zu beruhigen dient hauptsächlich dazu, offen für den tatsächlichen Zustand der anderen Person zu sein. Möglicherweise ist sie sehr unkommunikativ. Wenn man beispielsweise Therapeut ist und es mit jemandem zu tun hat, der völlig verschlossen ist, muss man sich etwas einfallen lassen. Ich kenne Therapeuten, die Numerologie, Astrologie oder dergleichen zu Rate ziehen, um auf eine Idee zu kommen, wo sie bei dieser Person mit einem Gespräch ansetzen können. Aber wenn wir nicht in einer solchen Situation sind, schauen wir uns einfach ihr Profil auf Facebook an, das ist dann sehr oberflächlich. Häufig sehen wir dort nur das Image, das die Person gern darstellen würde; das ist jedoch nicht sehr wirklichkeitsgetreu.

Ein ruhiger Geist mit einer fürsorglichen Geisteshaltung

Lasst uns nun zu dieser Übung des „ruhigen Geistes”, in der wir die Menschen einer Gruppe betrachten, die „fürsorgliche Geisteshaltung” hinzufügen. Hier richten wir unsere Aufmerksamkeit auf jede Person einzeln. Dabei unterlassen wir es jedoch, jemanden anzusehen, der sich auch gerade auf uns ausrichtet, weil das wiederum etwas fehl am Platze sein könnte. Das werden wir erst in der nächsten Phase machen, wenn wir die Übung jeweils mit einer einzigen Person durchführen.

Wir machen das, indem wir jede Person im Kreis zunächst mit einem ruhigen Geist betrachten. Dann erzeugen wir Schritt für Schritt eine fürsorgliche Geisteshaltung, indem wir wieder mit dem Satz beginnen: „Du bist ein Mensch und hast Gefühle, genau wie ich.” Und dann gehen wir mit unserem Blick zum Nächsten: „Du bist ein Mensch und hast Gefühle, genau wie ich. Und du bist auch ein Mensch und du bist ein Mensch und auch du bist ein Mensch und du auch.” Auf diese Weise wenden wir jeden der wesentlichen Punkte auf alle hier im Kreis an. Am Ende haben wir dann gegenüber jeder der Personen eine anteilnehmende Geisteshaltung.
Zuerst kommen wir einfach zur Ruhe, indem wir den Blick senken und unsere Aufmerksamkeit auf den Atem richten. Das ist quasi der Eingang und auch der Ausgang einer jeden Übung. Wir lassen die emotionale Erfahrung wirken. Auf diese Weise wird die Übung viel sanfter.

Dann schauen wir auf und blicken mit ruhigem Geist im Kreis umher:

  • Ich werde keine Geschichten in meinem Geist über dich erzählen; ich werde nicht kommentieren; ich werde nicht wertend sein.
  • Du bist ein Mensch und hast Gefühle, genau wie ich.
  • Du bist ein echter Mensch und hast Gefühle; echte Gefühle, genau wie ich.
  • Keine Geschichten oder Kommentare.
  • Deine Stimmung wirkt sich auf unsere Begegnung aus, genau wie die meine.
  • Wie ich dich behandle und was ich sage, wirkt sich auf deine Gefühle aus.
  • Deshalb nehme ich Rücksicht auf dich – ebenso wie ich hoffe, dass du in unserem Umgang miteinander rücksichtsvoll mit mir und meinen Gefühlen sein wirst. Ich nehme deine Gefühle ernst.
  • Ich werde keine Geschichten über dich erfinden oder erzählen.
  • Du bist ein Mensch und hast Gefühle.
  • Mir liegt an dir und deine Gefühle sind mir wichtig.

Das sind Schlüsselwörter (oder -sätze), die wir in unserem Geist wiederholen können. Es geht nicht nur darum, zu hören, was ich vorsage. „Ich werde keine Geschichten über dich erfinden oder erzählen. Du bist ein Mensch und hast Gefühle. Du liegst mir am Herzen. Ich kümmere mich.”

Lass die Erfahrung jetzt wirken.

Vom Vorteil, mit verschiedenen Menschen zu arbeiten

Für einige war es schwierig, hier die Aufmerksamkeit auf so viele Menschen zu richten; in einer kleineren Gruppe wäre das sicher einfacher. Wenn wir aber in der Öffentlichkeit vor vielen Menschen reden müssen, ist es hilfreich, diese Übungen in einer großen Gruppe zu machen. Es gibt manche Menschen, die sehr nervös und befangen sind, wenn sie vor einem Publikum sprechen müssen. Doch wenn wir verstehen, dass jeder im Publikum auch nur ein Mensch ist, genau wie wir, dann gibt es nichts, wovor wir uns fürchten müssten.

Ich finde es auch sehr nützlich, wenn wir in einer größeren Ansammlung von Menschen, etwa im Bus oder in der U-Bahn, erkennen, dass jeder in diesem Fahrzeug ein Mensch ist und Gefühle hat. Aber für die Übung in der Gruppe ist es sicher manchmal einfacher, mit einer kleinen Gruppe zu arbeiten. Eine gemischte Gruppe wie diese hat den Vorteil, dass es einige Menschen gibt, die man kennt und einige, die einem fremd sind, und das ist hilfreich. Wenn wir für die Übung Fotos benutzen, dann üben wir mit einer Bilderreihe von ihnen und nicht nur mit Bildern von Fremden aus einem Magazin. Zuerst betrachten wir Fotos von Menschen, die wir nicht kennen. Dann nehmen wir eigene persönliche Fotos und sehen uns Bilder von jemandem an, den wir kennen und zu dem wir eine gute Beziehung haben, danach von jemandem, den wir nur flüchtig kennen – den wir zwar kennen, aber nicht sehr gut –, und schließlich von jemandem, den wir nicht mögen. Anschließend können wir auch alle drei Fotos vor uns hinlegen und versuchen, gegenüber allen dreien eine ausgeglichene, ruhige Geisteshaltung und eine ausgewogene fürsorgliche Geisteshaltung zu bewahren. Das ist eine erheblich größere Herausforderung, aber es lohnt sich, daran zu arbeiten.

Die fürsorgliche Geisteshaltung gegenüber uns selbst im Spiegel üben

Um die Entwicklung eines ruhigen Geistes und einer fürsorglichen Einstellung uns selbst gegenüber zu üben, können wir uns im Spiegel ansehen. Es sollte ein Spiegel sein, der groß genug für unser gesamtes Gesicht ist und nicht nur die Nase! Aber hier haben wir einen großen Wandspiegel und können alle davorsitzen und richten diese Einstellung auf uns als Gruppe. Zuerst einmal beruhigen wir uns, indem wir uns einfach auf den Atem konzentrieren. Dann betrachten wir uns und danach die gesamte Gruppe im Spiegelmit einem ruhigen Geist und dann mit einer fürsorglichen Geisteshaltung.

  • Ich werde keine Kommentare über mich abgeben und keine Fantastereien erfinden, sondern einfach ruhig bleiben.
  • Ich bin ein Mensch und habe Gefühle, genau wie alle anderen auch.
  • Wie ich mich selbst betrachte und behandle, hat Auswirkungen auf mein Befinden.
  • Wie ich mich selbst betrachte und behandle, hat Auswirkungen auf meine Gefühle, genauso wie es sich auch auf mein Befinden auswirkt, wie andere mich betrachten und behandeln.
  • Und deshalb: So wie ich hoffe, dass andere in unseren Begegnungen fürsorglich mit mir und meinen Gefühlen umgehen, genauso gehe auch ich fürsorglich mit mir um.
  • Ich achte auf mich und meine Gefühle.
  • Ich achte auf meine Gefühle mir selbst gegenüber.
  • Ich achte darauf, wie ich mit mir selbst umgehe.
  • Ich werde keine Geschichten über mich erfinden.
  • Ich bin ein Mensch, wie alle anderen auch.
  • Ich sehe all die anderen im Spiegel, ich bin nicht anders als sie, ich bin einfach ein weiteres menschliches Wesen, ein weiterer Pinguin in einer Herde in der Antarktis.
  • Ich schaue in dem Kreis von Menschen in dem Spiegel umher und sehe, dass ich einfach eine weitere Person bin.
  • Genauso, wie ich fürsorglich mit euch umgehe, gehe ich auch mit mir fürsorglich um.
  • Genauso wie ihr Gefühle habt, habe auch ich Gefühle.
  • Ich achte auf euch, ich achte auf mich.
  • Ich achte auf meine Geisteshaltung und meine Gefühle gegenüber mir selbst, darauf, wie ich mich fühle und wie ich mit mir selbst umgehe.
  • Ausgewogenheit: ich und andere.
  • Ausgewogenheit zwischen mir und anderen.

Dann senken wir den Blick und lassen die Erfahrung wirken.

Der nächste Schritt: Positiver Umgang mit anderen

Wenn wir einfach bloß diese Übung machen und eine fürsorgliche Geisteshaltung hervorbringen, dann ist das natürlich nicht genug. Aber das sind sozusagen nur die Standbeine, auf denen das gesamte Training aufbauen wird. Auf dieser Grundlage entwickeln wir uns dann dahingehend weiter, wie wir tatsächlich mit anderen umgehen. Der nächste Schritt besteht darin, dass wir ausgeglichen und sensibel interagieren. Es geht nicht einfach nur darum, dass wir Menschen nicht wertend ansehen und Interesse zeigen. Das ist bloß der Anfang.

Unsere Interaktion mit anderen kann auf vielen Ebenen stattfinden. Stell dir z. B. einmal vor, du würdest dich in einem überfüllten Bus oder in einer überfüllten U-Bahn befinden. Dort gibt es sehr viele Menschen. Wie fühlst du dich? Du könntest einfach nur denken: „Ich, ich, ich. All diese fürchterlichen, schwitzenden und stinkenden Menschen um mich herum” und dich sehr unwohl fühlen. Mit einer solchen Haltung wird es eine wirklich unangenehme Fahrt. Oder: „Ich tue einfach so, als würden sie gar nicht existieren und vertiefe mich in meine Musik auf dem iPod. Wenn ich meine Hand überhaupt noch bewegen kann, werde ich ein Spiel auf meinem Handy spielen.”

In gewisser Weise errichten wir dadurch Mauern um uns und versuchen, uns dahinter zu verschanzen, aber in Wirklichkeit fühlen wir uns sehr unsicher. Wir schützen uns vor Unsicherheit. Wir könnten aber auch eine anteilnehmende Geisteshaltung entwickeln und alle in diesem Bus oder der U-Bahn als Menschen betrachten, die alle Gefühle haben und sich irgendwie alle bedrängt fühlen. Wir uns dann durch diese gemeinsame Erfahrung miteinander verbunden, und obwohl die Situation nicht sehr angenehm ist, gibt uns dieses Empfinden der Verbundenheit ein warmherziges Gefühl. Du fühlst dich entspannt und angenehm und weißt, dass wir alle zusammen in dieser Situation stecken, anstatt zu denken: „Ich, ich, ich. Ich Armer.” Auf diese Weise verändert sich die Erfahrung der Fahrt in dem überfüllten Bus vollkommen.

Wenn wir entspannt sind und uns wohlfühlen, erscheint vielleicht ein Lächeln auf unserem Gesicht. Kein idiotisches Lächeln, bei dem die anderen denken, wir wären verrückt, sondern ein entspanntes, freundliches Lächeln, bei dem sich die anderen Menschen in dem Gedränge um uns, etwas wohler fühlen. „Es ist nicht so schlimm.”

Zusammenfassung

Das Trainieren einer ausgewogenen Sensibilität gegenüber uns selbst und anderen wird uns im Alltag von enormem Nutzen sein. Wir können viele Schwierigkeiten vermeiden, wenn wir erkennen, dass jeder andere auch ein Mensch ist, der Gefühle hat, genau wie wir selbst. Wenn wir gegenüber den Gefühlen anderer weder überempfindlich noch unsensibel sind, werden wir rücksichtsvoll mit ihnen sprechen und umgehen. Das Gleiche gilt im Hinblick auf Überempfindlichkeit oder Unsensibilität gegenüber unseren eigenen Gefühlen und im Hinblick darauf, wie unser Verhalten andere beeinflusst. Die Entwicklung eines nicht verurteilenden, ruhigen Geisteszustandes und einer teilnahmsvollen, fürsorglichen Einstellung sowohl sich selbst als auch anderen gegenüber schafft die Grundlage dafür, ein emotionales Gleichgewicht zu gewinnen, mit dem wir ein erfüllteres, sinnvolles Leben führen und allen besser helfen können.

Top