Warum es notwendig ist, ausgewogene Sensibilität zu entwickeln
Wir haben gesehen, dass es in dem Kurs „Ausgewogene Sensibilität entwickeln“ darum geht, wie wir Ausgeglichenheit in unserer Aufmerksamkeit entwickeln: wie wir auf Situationen und auf die Wirkung unseres Verhaltens auf uns und andere achten, und wie wir darauf reagieren. In all diesen Fällen können wir zu viel oder zu wenig tun. In jeder Art von Training, in der wir daran arbeiten uns zu verbessern, ist es wichtig herauszufinden, was wirklich unsere Probleme sind. Woran wollen und woran müssen wir arbeiten?
Wir müssen unterscheiden, was wir tun wollen, was wir tun müssen und was wir gern tun würden. Die meisten von uns haben eigentlich keine Lust, etwas zu tun. Das ist eine Art physikalisches Gesetz: Unser Energieniveau sinkt einfach auf die niedrigste Ebene. Wenn wir aber unser Leben und unsere Beziehungen zu anderen untersuchen, merken wir vielleicht, dass sie nicht wirklich zufriedenstellend sind. Wir sind nicht gerade ausgesprochen glückliche Menschen und es gilt, etwas dagegen zu unternehmen.
Anfangs wollen wir etwas dagegen tun, weil wir merken, wie unglücklich wir sind. Dann gehen wir einen Schritt weiter und denken: „Ich sollte das wirklich tun, sonst wird es nur noch schlimmer.“ Denn wenn wir überempfindlich sind und auf alles übertrieben reagieren, wollen andere nicht mit uns zusammen sein, weil es ihnen einfach zu viel wird. Welche Auswirkungen hat es, wenn wir gegenüber anderen völlig unsensibel und einfach nur in unserer eigenen kleinen narzisstischen Welt gefangen sind? Wir fühlen uns sehr isoliert und dann es ist wiederum so, dass niemand mit uns zusammen sein will, weil wir ganz und gar unempfänglich sind.
Störende Emotionen überwinden
Aber wir werden nichts dagegen unternehmen, solange wir uns nicht wirklich ändern wollen und erkennen, dass eine Änderung notwendig ist, um unsere Lebensqualität zu verbessern. Es ist immer notwendig, daran zu arbeiten, dieses Gefühl der Lustlosigkeit zu überwinden, denn es wird uns von unserem Vorhaben abhalten, auch wenn wir motiviert sind: „Ich habe einfach keine Lust.“ Wir können das sehr deutlich sehen, wenn wir beispielsweise zu einem Fitness-Training gehen wollen. Wir alle wissen, dass es für unsere Gesundheit wichtig ist, Übungen zu machen, aber meistens haben wir keine Lust dazu, obwohl wir es tun wollen und verstehen, dass es notwendig ist.
Wir arbeiten daran, indem wir untersuchen, was die Gründe dafür sind, dass wir gerade keine Lust dazu haben. Was sind die Gründe – welche Emotionen stecken dahinter – , warum ich es tun möchte? Dann benutzen wir unser Unterscheidungsvermögen, um herauszufinden, was wichtiger ist. Unter welchem Einfluss möchte ich stehen? Möchte ich unter dem Einfluss der Faulheit stehen, die der Grund für meine Lustlosigkeit ist, oder möchte ich unter dem Einfluss eines Geisteszustands stehen, in dem ich mich verbessern will? Was ist mir wichtiger? Faulheit oder der Wunsch, mich weiterzuentwickeln?
Das ist es, was der berühmte indische buddhistische Meister Shantideva, immer betonte . Er wies darauf hin, dass störenden Emotionen, z.B. Faulheit, unsere eigentlichen Feinde sind. Sie sind es, die wir in unserem Innern überwinden und von denen wir uns nicht versklaven lassen sollten. Auch wenn wir gerade keine Lust zu etwas haben, ist es oft ratsam, es dennoch zu tun. Wenn wir es trotzdem tun und uns richtig darauf einlassen, merken wir, dass es sich wirklich lohnt zu üben. Die Motivation und der Antrieb sind noch stärker, wenn wir uns mit solchem Training befassen, um unsere Beziehungen zu anderen zu verbessern, besonders wenn wir viel mit anderen zu tun haben.
Wenn du ein Baby hast, ist es nicht so, dass du unbedingt Lust dazu hast, mitten in der Nacht aufzustehen, um es zu füttern. Du verspürst nicht die geringste Lust dazu, aber du tust es trotzdem, weil es für das Baby wichtig ist. Und das gilt nicht nur in Bezug auf Babys. Wenn du einen Hund hast, bist du auch nicht immer erpicht darauf, den Hund zweimal am Tag auszuführen. Es ist aber notwendig und der Hund wird rebellieren, wenn du es nicht tust, und daher tust du es. Genauso verhält es sich bei der Arbeit: Meistens haben wir keine Lust, zur Arbeit zu gehen und die Arbeit zu verrichten, aber wir tun es trotzdem.
Und dann kann man herausfinden, wie es ist, wenn man die Arbeit verrichtet, indem man laut oder im Stillen lamentiert und ganz unglücklich dabei ist, oder versucht, sich darauf einzulassen. Mach dir klar, dass sie für uns oder andere einen Nutzen hat, und dann kannst du dich darauf einlassen. Nach einer Weile fühlt es sich ganz in Ordnung an und vielleicht macht es sogar Spaß. Ich habe einen Freund, der stark übergewichtig ist und keinen Sport treibt. Aber er hat einen Hund und auch wenn er keine Lust dazu hat, mit dem Hund rauszugehen, tut er es, denn das ist sein Bewegungssport. Wenn er dann mit dem Hund spazieren geht, merkt er, dass auch er selbst davon profitiert, denn so bekommt er zumindest etwas Bewegung.
Nutzen des Sensibilitätstrainings
Im Sensibilitätstraining überprüfen wir uns und fragen: „Wie schenke ich anderen Aufmerksamkeit? Wie reagiere ich? Wie widme ich mir Aufmerksamkeit und wie reagiere ich?“ Wir erkennen, dass vieles daran unausgewogen ist, und dann entwickeln wir eine Art Motivation, im Sinne von: „Ich will mich wirklich ändern; ich muss mich ändern.“ Die meisten Leute finden es hilfreich, in einer Gruppe zu üben, und sei es auch nur eine ganz kleine Gruppe, denn aufgrund des sozialen Austauschs haben sie viel mehr Lust, dort hinzugehen als einfach nur für sich selbst zu Hause zu üben. Das Gruppentreffen sollte jedoch nicht einfach bloß eine Veranstaltung sein, bei der man zusammenkommt und lediglich ein wenig plaudert, Tee trinkt usw. Vielmehr geht es darum, etwas Konstruktives zu tun, um sich gegenseitig helfen zu können. Das verschafft der ganzen Gruppe und jedem, der daran teilnimmt, mehr Energie.
Die Stufen des Sensibilitätstrainings
Darüber hinaus haben wir in unserem allgemeinen Überblick gesehen, dass jede Art von Schulung fortschreitend verläuft, sei es, dass wir ein Musikinstrument spielen lernen, einen Sport ausüben oder uns, wie in diesem Fall, in etwas üben, das mit Sensibilität zu tun hat. Es ist wichtig, die Struktur des Trainingsprogramms zu verstehen, nämlich dass es stufenweise aufgebaut ist, denn dadurch gewinnen wir mehr Vertrauen zu dem, was wir tun, und erkennen, wohin es führt. Wir sehen, dass es darum geht, aufmerksam zu sein und zu reagieren. Das sind die grundlegenden Themen.
Wir sehen, dass die Grundlage dafür, mit diesen Themen umgehen zu können, darin besteht, unseren Geist zu beruhigen, damit wir nicht urteilen und offen sind, sowie darin, uns um andere und um uns selbst kümmern zu können. Wir werden grundlegenden ethischen Prinzipien folgen und wir verstehen, dass wir in der Lage sind und die Fähigkeiten dazu haben, Ausgewogenheit zu erlagen. Dann lernen wir, diese Fähigkeiten freizulegen. Wir lernen, wie wir Zugang zu diesen Fähigkeiten finden können, indem wir verstehen, wie der Geist und wie die Emotionen funktionieren. Was uns davon abhält, diese grundlegenden Voraussetzungen, die wir haben, wirklich effektiv zu nutzen, ist die Tatsache, dass wir Vieles projizieren. Wir schenken der eigentlichen Situation keine Aufmerksamkeit, weil wir uns nur auf die Projektion ausrichten und auf diese reagieren wir dann, nicht auf die eigentliche Situation. Wir lernen, wie wir diese Projektionen abbauen und zur Realität gelangen können, und darüber hinaus lernen wir, wie wir die grundlegenden Talente unseres Geistes und unserer Emotionen kultivieren, um ausgewogene Sensibilität entwickeln zu können.
Darin besteht also das Training, und wie du siehst, verläuft es in mehreren Schritten. Es ist logisch aufgebaut, ergibt Sinn, und wir haben eine gewisse Vorstellung davon, wie es funktionieren kann. Wenn wir die Struktur dessen verstehen, was wir tun, wie wir es tun können und was das Ziel ist, können wir uns voll und ganz darauf einlassen.
Was ich hier erkläre, sind im Grunde Anweisungen, wie wir erfolgreich meditieren können. Bei der Meditation geht es im Großen und Ganzen darum, eine positive Transformation in uns, unserer Persönlichkeit usw., zu bewirken. Das ist der ganze Sinn der Meditation.
Zwei Herangehensweisen an die eigene Entwicklung
Diese grundlegenden Anweisungen in Bezug darauf, zu wissen, was wir tun, wie wir es tun, wie es funktionieren wird und worauf wir hinarbeiten, lassen sich auf alle Arten von Training anwenden. Bei jeder Form der eigenen Weiterentwicklung gibt es nämlich zwei Herangehensweisen.
Die eine basiert einfach nur auf Vertrauen: „Ich weiß wirklich nicht, was dabei herauskommen wird und wie es funktionieren soll, aber ich habe Vertrauen und mache es einfach.“ Für einige Menschen mag das funktionieren, aber es ist kein sehr stabiler Ansatz, denn wenn beispielsweise ein Lehrer unser Vertrauen missbraucht oder sich irgendwie seltsam verhält, können wir all unser Vertrauen verlieren.
Wenn wir hingegen unsere eigene Entwicklung, sei es im spirituellen oder einfach nur im gewöhnlichen weltlichen Sinne, auf der Grundlage von Verständnis und Überzeugung angehen, ist es egal, ob die anleitende Person ein gutes Beispiel darstellt oder nicht, denn wir sind überzeugt von der Methode und wissen, was wir tun. Natürlich ist es hilfreich, wenn diese Person ein gutes Vorbild ist, aber es ist wirklich schwer, inspirierende, hochentwickelte Menschen zu finden; es gibt nur wenige. Es gibt sie, aber sie sind selten. Auch ist es ein Unterschied, ob wir uns auf Therapie, Psychotherapie, oder auf einen spirituellen Lehrer beziehen. Ein Therapeut braucht kein lebendiges Vorbild dessen zu sein, was man mit ihrer Hilfe anstrebt, ein spiritueller Lehrer hingegen sollte ein lebendiges Beispiel dafür sein.
Wenn der spirituelle Lehrer kein lebendiges Beispiel dafür ist, kommt es zu Problemen. Das kann sehr enttäuschend sein. Da es nicht so einfach ist, jemandem zu begegnen, der wirklich ein gutes lebendes Beispiel ist, sollten wir mehr Gewicht darauf legen, Vertrauen zu der Methode zu gewinnen, denn wir können uns dem Training ausgewogener Sensibilität sowohl im Kontext eines spirituellen Weges, als auch im Kontext einer Therapie widmen.
Die entmenschlichende Wirkung der modernen Technologie
Heute können wir lediglich einen Vorgeschmack auf diese Übungen bekommen, da wir nur wenig Zeit zur Verfügung haben. Die Übung, die ich ausgesucht habe, heißt: „ein fürsorgliches Herzentwickeln“ oder „eine teilnahmsvolle Geisteshaltung entwickeln“, wie auch immer man es nennen will. Ich glaube, dass bei der gegenwärtigen sozialen Entwicklung in der Welt, mit den sozialen Medien, den sozialen Netzwerken usw., die Notwendigkeit eines anteilnehmenden Herzens immer größer wird.
Heutzutage interagieren wir sehr viel mittels gewisser Technologien miteinander, anstatt direkt von Person zu Person. Das beinhaltet die Tendenz zur Entmenschlichung, denn die Menschen werden dann allmählich wie Figuren in einem Computerspiel in einer virtuellen Realität. Bestenfalls sieht man sie noch – beispielsweise bei einem Anruf per Skype –, aber oft sieht man sie nicht einmal, z.B. wenn man per SMS Kurzmitteilungen schickt oder nur über Facebook miteinander kommuniziert usw. Vielleicht sieht man gerade einmal ein paar Urlaubsfotos von ihnen.
Wir beurteilen die Menschen durch ihr Profil auf Facebook, wir legen sie sozusagen auf dieses Profil fest, und wir selbst nageln uns auch auf unser Profil fest. Auf diese Weise sehen wir nicht die Person, die wirklich dahintersteckt. Deshalb ist ein wirklich fürsorgliches Herz so wichtig, denn weil wir durch die sozialen Medien konditioniert werden, andere zu entmenschlichen, werden wir auch im realen Leben, d. h. wenn wir nicht vor dem Computer oder Smartphone sitzen, immer unsensibler.
Es ist sehr interessant, eine Gruppe von Menschen im Bus oder in der U-Bahn zu beobachten. So viele Menschen verlieren sich in ihrer eigenen kleinen Welt, mit ihren Kopfhörern auf dem Kopf, in ein Spiel auf ihrem Handy vertieft. Entweder schreiben sie anderen Menschen Kurzmitteilungen oder spielen Computerspiele, bekommen aber nicht wirklich mit, dass andere Menschen neben ihnen oder im Abteil sitzen.
Dieses Phänomen gab es schon früher, vor der Zeit all dieser sozialen Medien und Mobiltelefone, nämlich in Verbindung mit Verkehr und Stau. Wenn wir im Stau stecken, sehen wir die Menschen in all den anderen Autos kaum als reale Menschen an, die Gefühle haben und sich genauso unwohl und unglücklich fühlen wie wir. Verkehr kann also auch entmenschlichende Wirkungen haben, nicht wahr?
Was ist nun das Resultat dieses entmenschlichenden Prozesses? Auf emotionaler Ebene wirkt er sich so aus, dass wir uns immer isolierter und einsamer fühlen. Um das zu kompensieren, tendieren wir nun zu der Einstellung: „Wenn ich diese kleine Nachricht von mir ins Netz stelle, sie der Welt mitteile bzw. sie auf meiner Facebook-Seite veröffentliche, werde ich dadurch an Bedeutung gewinnen.“ Wir fühlen uns sehr allein und isoliert und wenn wir unsere Gefühle öffentlich mitteilen, denken wir, dass wir dadurch eine Verbindung zu ihnen bekommen. Aber das funktioniert nicht wirklich. Die Erwiderung, nach der wir suchen, ist unbefriedigend, denn meist sind es nur eine Anzahl von „Gefällt mir“-Klicks, die auf unserer Facebook-Seite erscheinen, also eigentlich ganz und gar nichts Menschliches. Es ist keine menschliche Erwiderung, sondern eine mechanische. Sie bedeutet rein gar nichts, wie sich leicht feststellen lässt, wenn man einmal darüber nachdenkt: „Stellt es mich wirklich zufrieden? 100 Klicks stellen mich nicht zufrieden, aber wenn es 101 Klicks sind, werde ich zufrieden sein?“ Es funktioniert nicht, oder?
Das fürsorgliche Herz
Das fürsorgliche Herz ist sehr hilfreich, um aus der Isolation, dem Gefühl der Einsamkeit herauszukommen und uns der Erkenntnis zu öffnen, dass alle anderen auch Personen bzw. Menschen sind und ebenso Gefühle haben, genau wie ich. Wir sind also nicht allein, wir sind offen gegenüber anderen und bereit, mit ihnen in Verbindung zu treten, nicht bloß in Form einer Geschäftsbeziehung, sondern als emotionalem, positiven Austausch mit anderen.
Was ist die grundlegende Einstellung für ein fürsorgliches Herz? Zuerst ist es notwendig, zur Ruhe zu kommen; die anteilnehmende Geisteshaltung kommt für gewöhnlich erst als Zweites zustande. Wenn wir abgelenkt sind, wenn wir Musik hören, aber auch wenn ohne Kopfhörer Musik, Geschwätz oder Ähnliches in unserem Kopf abläuft, ist eine anteilnehmendes Herz sehr schwer zu entwickeln. Wenn wir keine bestimmte Ausrichtung haben, laufen so viele Dinge in unserem Kopf ab. Wenn wir im Umgang mit anderen urteilen, alte Geschichten über andere hervorkramen und Vorurteile oder vorgefasste Meinungen haben, ist auch das hinderlich und steht der Entwicklung eines fürsorglichen Herzens im Wege. All das müssen wir zur Ruhe kommen lassen und das kann in der Tat ein bisschen beängstigend sein.
Wie wir uns abschirmen
Genauer betrachtet, ist all die Musik usw., die die Leute sich anhören, in gewisser Weise eine Abschirmung, ein Schutzschild, um nicht nachdenken zu müssen. Es schützt einen davor, sich mit der Situation oder den Schwierigkeiten im Leben auseinanderzusetzen. Man übertönt das einfach mit der Musik. Die Musik erschafft normalerweise eine bestimmte Stimmung, in der man gern sein möchte. Vielleicht ist es irgendeine Techno-Musik, durch die man sich energetisiert fühlt, oder so etwas in der Art. Damit sind wir wieder auf einen äußeren Mechanismus angewiesen, um einfach nur irgendein Gefühl hervorzurufen. Wir setzen die Entmenschlichung unserer selbst damit also nur noch weiter fort. In unserem Training hier brauchen wir keine Musik mit gefühlvollen Liedern, in denen eine schöne Stimme von Liebe singt, oder so etwas. Wenn wir eine fürsorgliche Geisteshaltung entwickeln wollen, kommt es darauf an, dass sie aus dem Herzen heraus entsteht und nicht durch äußere Stimulatoren.
Sobald wir zur Ruhe gekommen sind, was, wie gesagt, beängstigend ist, weil dann das Schutzschild nicht mehr in Aktion ist, können wir damit beginnen, ein fürsorgliches Herz zu entwickeln. Die Grundlage dafür ist, zu erkennen, was überhaupt die Realität ist. Die Realität ist: „Du bist ein Mensch und hast Gefühle, genau wie ich. Deine Stimmung wird sich auf unseren Umgang miteinander auswirken, genau wie sich auch meine Stimmung darauf auswirken wird.“
Denk darüber nach: Ist das wirklich so? Es ist tatsächlich die Realität, nicht wahr? Du bist ein Mensch und ich bin ein Mensch. In einer echten Wechselbeziehung, im realen Leben, nicht in einer virtuellen Beziehung, wird Ihre und meine Laune den Austausch beeinflussen. In der virtuellen Realität schalten wir die Maschine einfach aus, wenn wir missmutig sind, nicht wahr? Aber im realen Leben ist es so nicht. In einer Textnachricht, die kurz und knapp sein muss, wird unsere Stimmung nicht gerade gut vermittelt, auch nicht mit einem Smiley, und ebenso wenig in einem Tweet, der gerade mal 160 Zeichen haben darf. Die Stimmung, die Gefühle sind dabei eigentlich nicht wesentlich. Wir übermitteln lediglich ein paar rudimentäre Informationen. Wie gesagt ist es sehr beängstigend, jemandem tatsächlich im echten Leben zu begegnen, wenn wir es gewohnt sind, uns hinter den Schutzschilden unserer Technologie zu verstecken. Vielleicht merken wir das noch nicht so, aber wir können sehen, dass der Trend in der Welt momentan in diese Richtung geht.
Ursache und Wirkung
Warum habe ich Angst davor, einem anderen Menschen tatsächlich zu begegnen? Das ist eine sehr interessante Frage. Wir fühlen uns verletzlich oder wissen nicht, wie wir uns verhalten sollen. Wir haben unsere Fähigkeiten zum sozialen Umgang verloren, und eine einfühlsame Geisteshaltung, ein fürsorgliches Herz, wird deshalb noch wichtiger, um zu erkennen, dass es nichts zu befürchten gibt. Du hast Gefühle, ich habe Gefühle, und wir werden uns gegenseitig beeinflussen, aber als nächstes geht es darum, dass die Art und Weise, wie ich dich behandle und was ich zu dir sage, deine Gefühle weiter beeinflussen wird. Nun kommt ein Sinn für Ethik mit ins Spiel. Wir möchten die Situation nicht zu einer unangenehmen Begegnung mit einem anderen Menschen machen; worauf es ankommt, ist also: „Ursache und Wirkung.“
Du befindest dich in einer bestimmten Stimmung und ich befinde mich in einer bestimmten Stimmung. Ich muss das respektieren und anerkennen, aber wie wir jetzt miteinander umgehen, wird sich auf uns beide auswirken. Wie ich mit Dir umgehe, wird deine Stimmung beeinflussen, und wie du mit mir umgehst, wird meine Stimmung beeinflussen. Das werde ich beherzigen. „Beherzigen“ – ich übersetze hier ein Wort aus dem Tibetischen, ursprünglich eigentlich aus dem Sanskrit. Bei diesem Wort geht es nicht darum, dass ich mir Sorgen mache, sondern, dass ich etwas sehr ernst nehme.
Was nehme ich ernst? Ich nehme die Tatsache ernst, dass du ein Mensch bist, der Gefühle hat, und dass die Art und Weise, wie ich dich behandle, eine Wirkung auf dich haben wird. Das nehme ich ernst und aus diesem Grund ist mir daran gelegen, was in unserer Wechselbeziehung passieren und wie es dich und mich beeinflussen wird. Dieses Wort beinhaltet auch die Bedeutung „sich vorsehen“, diese beiden Wörter stehen in Verbindung miteinander, auch im Englischen: „to care“ (sich kümmern) und „to be careful“ (vorsichtig sein). In unserem Umgang mit dem anderen sehen wir uns vor. Das bedeutet nicht, verkrampft zu sein, sondern wir geben acht, so wie wenn wir beispielsweise auf einem sehr schmalen Pfad gehen und aufpassen müssen, dass wir nicht hinfallen. Wir sind also vorsichtig. Dass uns an etwas gelegen ist und dass wir diesbezüglich achtgeben, wirkt zusammen.
Folglich lautet unsere Schlussfolgerung hier: „So, wie ich hoffe, dass du in unserem Umgang miteinander meine Gefühle berücksichtigst, hoffe ich auch, dass du nicht mitten in unserem Gespräch eine Textnachricht schreiben oder auf deinem Handy telefonieren und mich ignorieren wirst. Mir liegt an dir, deine Gefühle sind mir wichtig, ich nehme dich ernst. Ich bin hier mit einem Menschen zusammen und sitze nicht allein vor einem Computer-Bildschirm.“ Verstehst du, was ich meine?
Die Argumentation
Wenn wir dann der Argumentationskette folgen: „Du bist ein Mensch und hast Gefühle, genau wie ich“ usw., gelangen wir zu einer Schlussfolgerung. Um einen bestimmten Geisteszustand und ein Gefühl hervorzubringen, folgen wir also einem Prozess. Natürlich wird es irgendwann nicht mehr notwendig sein, diesen Prozess zu durchlaufen und über die einzelnen Stufen vorzugehen. Wir werden dann einfach immer so sein, uns daran erinnern und diesen Geisteszustand hervorbringen können.
Am Anfang fällt uns das jedoch nicht so leicht, und daher arbeiten wir darauf hin, ein bestimmtes Gefühl zu haben. Deshalb nenne ich das einen „Argumentationsverlauf“. „Du bist ein Mensch. Du bist ein Mensch und hast Gefühle, genau wie ich. Deine Stimmung wird sich auf unsere Interaktion auswirken, genau wie auch meine Stimmung sich darauf auswirken wird.“ Das ist eine Argumentationskette, es sind gedankliche Schritte, die uns dahin führen, ein bestimmtes Gefühl hervorzubringen. Zusammenfassend kann man sagen, dass wir versuchen, den Geisteszustand und das Gefühl hervorzubringen: „Du liegst mir am Herzen, deine Gefühle sind mir wichtig.“
Vergegenwärtigung
In den Anweisungen, die wir in den berühmten buddhistischen Meditationstexten finden, werden folgende Richtlinien genannt, die die Vergegenwärtigung betreffen. Vergegenwärtigung ist ein Geistesfaktor, der quasi wie geistiger Klebstoff ist. In der heutigen Zeit wurde das Wort „Achtsamkeit“ (hier: Vergegenwärtigung) durch die Vipassana- und Achtsamkeitsbewegung übernommen und hat dort eine andere Bedeutung als in dem ursprünglichen Sanskrit-Begriff.
Also sich einfach dem Atem, der jeweiligen Situation, unseres Körpers usw. gewahr zu sein. Im Grunde handelt es sich aber im Sanskrit und auch im Tibetischen hier um ein anderes Wort. Alles schön und gut, aber es besteht eine gewisse Tendenz, die Terminologie ein wenig durcheinanderzubringen und dann geht etwas an Präzision verloren. Der ursprüngliche, eigentliche Fachbegriff für Vergegenwärtigung wird auch als „sich erinnern“ übersetzt. Es bedeutet, etwas im Sinn zu behalten. Dieser Geistesfaktor wirkt wie eine Art geistiger Klebstoff. Wenn wir uns tatsächlich auf etwas konzentrieren, hilft uns dieser geistige Klebstoff, dabei zu bleiben, sodass wir es nicht vergessen.
Wenn wir versuchen, Konzentration zu erlangen, ist dieser geistige Klebstoff von wesentlicher Bedeutung, damit wir ein Gefühl oder einen Geisteszustand, den wir hervorgebracht haben, nicht wieder verlieren. Dafür sorgt der Geistesfaktor Vergegenwärtigung. Er hält uns dort fest, sodass wir das Gefühl, das Verständnis, den Fokus, oder die Praxis, die wir gerade ausüben, nicht aus dem Sinn verlieren. Wie können wir diese Vergegenwärtigung bewahren? Die Richtlinie dafür finden wir in den alten buddhistischen Texten, und sie besteht darin, Schlüsselwörter zu verwenden.
Das Verwenden von Schlüsselwörtern
Die Texte sagen, dass es sich beim Gebrauch von Schlüsselwörtern nicht um geistige Abschweifungen handelt; wir fangen also nicht an, wieder irgendwelche Gespräche in unserem Kopf zu führen. Das wäre nur eine Ablenkung und wir würden nicht aufmerksam sein. Schlüsselwörter zu verwenden hilft uns vielmehr, uns zu erinnern, dass wir den Fokus nicht verlieren. Wir benutzen also von Zeit zu Zeit ein Schlüsselwort, um den geistigen Klebstoff an Ort und Stelle zu halten, sobald wir merken, dass er sich löst und wir den Fokus verlieren oder die Aufmerksamkeit nachlässt.
Zuerst entwickeln wir einen Geisteszustand mit Hilfe eines bestimmten Gedankengangs. Das passiert noch nicht von selbst. Und während wir dann versuchen, den Geisteszustand und das Verständnis: „Du bist ein Mensch und hast Gefühle, genau wie ich“ aufrechtzuerhalten, rufen wir uns dies ab und zu mit einem Schlüsselwort in Erinnerung, einfach mit den Worten: „Mensch“ oder „du hast Gefühle“ oder so etwas.
Wenn wir uns damit vertraut machen – und das ist im Grunde die eigentliche Bedeutung des Wortes „Meditation“, nämlich sich mit etwas vertraut zu machen, eine positive Gewohnheit aufzubauen – , dann werden wir uns auch in unserem Alltagsleben daran erinnern. Hier geht es wieder um das Wort Vergegenwärtigung. Wir beginnen, mit anderen auf der Grundlage zu interagieren, dass sie Menschen sind und Gefühle haben. Wir nehmen andere ernst und machen uns bewusst: „Wie ich sie behandele und mit ihnen rede, hat eine Wirkung; ich befinde mich hier nicht in einem Computerspiel in einer virtuellen Realität. Die Menschen werden in Reaktion auf mein Verhalten Gefühle empfinden.
Wenn wir während dieser Interaktion merken, dass wir die Menschlichkeit der anderen Person aus dem Blickfeld verlieren, verwenden wir ein Schlüsselwort. Wenn wir uns mit dieser Art von Übung vertraut machen, wird uns das Schlüsselwort einfallen, sobald uns jemand auf die Nerven geht und wir das Gefühl haben: „Ich habe keine Lust, mich mit dieser Person zu unterhalten, und hoffe, sie geht weg und lässt mich in Ruhe“ usw. Dann verwenden wir ein Schlüsselwort – „Mensch“, „Gefühle“ – und erinnern uns auf diese Weise daran. Diese Richtlinie ist außerordentlich hilfreich, wenn man sie wirklich versteht und anwendet.
Wenn wir beispielsweise ein Kind oder ein Baby haben und wirklich genervt sind, weil es schreit und jammert, dann erinnern wir uns daran, dass es ja ein Baby ist. Was erwarte ich denn? Wir projizieren unsere Vorstellung auf das Baby, dass es sich wie ein Erwachsener benehmen sollte, aber das ist schlicht und einfach lächerlich. Es ist wichtig, sich das in Erinnerung zu rufen. Dazu dient diese Praxis der Vergegenwärtigung mit dem Verwenden von Schlüsselwörtern. Es ist wirklich eine sehr tiefgreifende Methode.
Als Schlüsselwort können wir statt nur ein Wort auch mehrere Wörter oder einen Satz verwenden. Das erste können wir aus der ersten Übung herleiten: „Ich werde keine Geschichten über dich erfinden oder erzählen“, mit anderen Worten: Ich werde, nicht im Stillen über dich urteilen, mich nicht über dich beklagen oder an dir herummeckern: „Oh, du bist so dumm“ usw. Das rufen wir uns in Erinnerung, insbesondere wenn wir gerade damit anfangen, in unserem Kopf urteilende Geschichten über den anderen zu erzählen, während wir mit ihm zusammen sind. Wir können uns z.B. einfach sagen: „Beruhige dich“. Leg dir deine eigenen Schlüsselwörter zurecht und benutze, was auch immer für dich hilfreich ist bzw. gut wirkt.
„Du bist ein Mensch, du hast Gefühle“, hier können wir einfach nur „Mensch“ oder „Gefühle“ sagen, was auch immer wir als Schlüsselwort verwenden wollen. Vielleicht reicht das schon aus, oder vielleicht ist es auch notwendig, ein paar mehr Worte zu benutzen, etwa: „Mir liegt an dir, deine Gefühle sind mir wichtig.“ Vielleicht brauchest du irgendwann nur ein einziges Wort, um dich zu erinnern, z.B.: „Mensch“ oder „menschliches Wesen“. Es ist so, wie wenn wir uns beispielsweise an unsere Körperhaltung erinnern. Wenn wir mit jemandem zusammen sind und dabei einen grimmigen Gesichtsausdruck haben, die Schultern angespannt hochziehen und ganz verkrampft sind, rufen wir uns einfach die Worte: „loslassen“ „Körperhaltung“ „entspannen“ in Erinnerung. Ich finde, das ist wirklich äußerst hilfreich.
Vielleicht führt uns das jetzt etwas weg von unserem Thema, aber meiner Meinung nach ist es sehr nützlich, wenn mir während des Tagesablaufs bewusst wird, dass die Muskeln meines Gesichts ganz verspannt sind – meine Stirn liegt in Falten und mein Mund ist angespannt –, mich mit dem Wort „entspannen“ daran zu erinnern. Dann entspanne ich meine Gesichtsmuskeln. Oder wenn wir die Zähne zusammenbeißen, sagen wir uns: „entspannen“. Wir benutzen also ein Schlüsselwort, um uns etwas in Erinnerung zu rufen. Und wir werden nur dann überhaupt daran denken, das Schlüsselwort zu gebrauchen, wenn wir es uns zur Gewohnheit gemacht haben. Das ist Meditation: immer und immer wieder an etwas zu denken.
Konzentration
Konzentration ist ein Geistesfaktor, der zur Meditation gehört. Aber man kann Konzentration auch in jeglicher Aktivität finden, nicht nur in der Meditation. „Meditation“ bedeutet wörtlich, eine positive Gewohnheit zu schaffen, und zwar eine positive Gewohnheit des Geistes und der Emotionen; es geht dabei nicht um positive Gewohnheiten wie etwa ein Musikinstrument zu spielen oder einen Sport zu betreiben. Eine Gewohnheit entwickeln wir, indem wir etwas wiederholen. Eine Gewohnheit aufzubauen heißt, sich an etwas zu gewöhnen oder sich mit etwas durch Wiederholung vertraut zu machen. Wir erzeugen einen bestimmten Geisteszustand, ein bestimmtes Verständnis von Liebe oder was auch immer, und wir tun das immer und immer wieder, bis es uns zur Gewohnheit, zu einer natürlichen Gewohnheit, wird. Genauso gilt: Wir bringen unseren Geist immer wieder zur Ruhe, bis es uns zur natürlichen Gewohnheit wird, einen ruhigen Geist zu haben.
Konzentration ist der Geistesfaktor, welcher bewirkt, dass unsere Aufmerksamkeit bei dem Objekt bleibt, auf das wir sie gerichtet haben. Sie hält unsere Aufmerksamkeit dort. Das kann bei Tätigkeiten verschiedener Art der Fall sein. Es ist einfach Teil davon, wie der Geist funktioniert. Wenn wir Gemüse schneiden, benötigen wir Konzentration, sonst schneiden wir uns in den Finger. Das ist keine Meditation. Bei allem, was wir tun, brauchen wir Konzentration, damit die Aufmerksamkeit bei dem bleibt, was wir gerade tun. Die Stärke kann dabei von ganz wenig Konzentration bis hin zu vollkommener Konzentration variieren.
In den Meditationen zur Entwicklung von Konzentration arbeiten wir im Grunde daran, zwei Hindernisse zu vermeiden. Das eine ist geistige Abschweifung: Die Aufmerksamkeit schweift ab zu verlockenden Dingen und man lässt sich davon ablenken. Das andere besteht darin, dumpf und träge zu werden, wir sind dann nicht wirklich aufmerksam und die Art und Weise, wie die Aufmerksamkeit das Objekt im „Griff“ hat, lockert sich zu sehr oder geht ganz verloren.
Im Sensibilitätstraining ist Konzentration unbedingt notwendig. Wenn wir mit jemandem reden oder wenn jemand etwas zu uns sagt, ist es notwendig, dass wir uns konzentrieren können. Es ist wichtig, die Aufmerksamkeit konstant darauf zu richten, was der andere sagt, statt anzufangen, an etwas anderes zu denken und abzuschweifen oder innerlich Kommentare abzugeben. Achte andererseits aber darauf, auch nicht geistig träge zu werden, sodass du wie weggetreten bist und dann fragst: „Was hast du gesagt? Ich war gerade nicht bei der Sache“. Wenn wir von geistiger Trägheit überwältigt werden, hängen wir nicht einmal unseren Gedanken nach, sondern der Geist ist einfach stumpf, weil wir uns langweilen oder weshalb auch immer.
Ein anderes Merkmal von zu schwachem geistigen Festhalten ist, die Worte des anderen zwar zu hören, aber lediglich so, dass sie „zum einen Ohr rein- und zum anderen wieder rausgehen“. Wir geben dem, was der andere sagt, keine rechte Bedeutung.
In den konzentrativen Meditationen des sogenannten „Achtsamkeitstrainings“ hält man die Teilnehmer dazu an, sich auf den Atem zu fokussieren. Doch, wie einer meiner Lehrer sagte, wir üben nicht, wie eine Eidechse zu sein und einfach nur auf einem Stein zu sitzen und zu atmen. Vielmehr entwickeln wir eine Fähigkeit, die wir in unserem Umgang mit anderen nutzen werden, damit wir uns auf die andere Person konzentrieren und darauf achten können, was sie empfindet, was sie sagt, was sie tut, und auch darauf, wie wir selbst uns verhalten.
Richtige Meditation ist immer mit Konzentration verbunden. Wir nutzen die Meditation, um unsere Konzentrationsfähigkeit zu entwickeln, und dann können wir diese Konzentration im Alltag verwenden. Wir alle haben den grundlegenden Geistesfaktor der Konzentration, denn ohne ihn könnten wir gar nichts tun. Tiere haben Konzentration, wenn sie jagen, ein Loch buddeln oder Ähnliches; auch sie können sich konzentrieren. Dieser allgemeine Geistesfaktor der Konzentration ist eines der Talente des Geistes.
Kulturelle Überlegungen in Bezug auf die Praxis
Um nun zur Übung selbst zu kommen, befassen wir uns in jeder Übung zuerst mit Menschen, die nicht anwesend sind, da dies in emotionaler Hinsicht einfacher ist. Und dann ist es wirklich eine Sache der Kultur, ob wir erst den persönlichen Austausch mit anderen ins Auge fassen und dann zu uns selbst übergehen, oder ob wir die Übung zuerst mit uns selbst und dann mit anderen machen. In einigen Kulturen ist es für Menschen ausgesprochen schwierig, mit anderen umzugehen, wie beispielsweise bei den Deutschen, die in dieser Hinsicht sehr zurückhaltend sind, und in diesen Fällen ist es einfacher für sie, sich zuerst mit sich selbst zu befassen und dann mit anderen. Die Lateinamerikaner sind hingegen sehr viel offener und haben keine Mühe im Umgang mit anderen, jedoch fällt es ihnen viel schwerer, sich selbst genauer zu betrachten. Es ist notwendig, die Übungen immer auf die Kultur und die einzelnen Menschen in der Gruppe abzustimmen.
Umgang mit anderen Menschen im Zeitalter der Technologie
In Anbetracht des gegenwärtigen, weitverbreiteten Trends der Interaktion mit Menschen, die nicht anwesend sind, denke ich, dass die erste Stufe in den Übungen, nämlich sich mit Menschen zu befassen, die dabei nicht persönlich anwesend sind, besonders relevant ist.
In diesem Zusammenhang ist es meiner Meinung nach sogar noch wichtiger, das Verständnis zu entwickeln: „Du bist ein Mensch. Ich befinde mich hier im Austausch mit einem Menschen, nicht bloß mit Pixeln auf einem Bildschirm.“ Das ist übrigens eine interessante Frage: Besteht die Person dort aus Pixeln auf einem Bildschirm oder ist das ein realer Mensch? Steckt da eine echte Person dahinter? Das bringt uns zu den Meditationen über Leerheit: Identifizieren wir die Pixel auf der Anzeige der Textnachricht, oder im Facebook-feed mit der Person? Ist das die Person? Wer oder was ist die Person?
Es ist von wesentlicher Bedeutung, zu erkennen, dass wenn wir die Person mit den Pixeln auf einem Bildschirm verwechseln und somit zu der Einstellung gelangen, dass es sich lediglich um Pixel handelt, dann auch leicht eine kaltherzige Einstellung entwickeln: „Wer sorgt sich schon um diese Menschen? Wen kümmern ihre Gefühle?“ Wenn ich kein Interesse habe, kann ich einfach auf den Knopf drücken und das Gerät abschalten; es sind ja nur Pixel.
Beginn der Übungen
Lass uns nun mit den Fotos von Fremden arbeiten, die ich an der Tafel angebracht habe. Ich habe sie einfach einer Zeitschrift entnommen. Es sind Bilder vieler verschiedener Menschen, von Männern und Frauen verschiedenen Alters und verschiedener Ethnien. Zuerst geht es darum, sie ansehen zu können, ohne in unserem Kopf Kommentare dazu abzugeben. Das ist gar nicht so einfach. Wir versuchen das, indem wir immer nur eine einzelne Person betrachten und dann nacheinander von einem Foto zum nächsten gehen.
Die meisten Menschen merken, dass sie zu einer bestimmten Art von Personen mehr geistige Kommentare machen als zu einer anderen. Vielleicht kommentierst du eher kleine Kinder, Frauen oder eher Männer oder Personen einer anderen Ethnie oder solche, die du sexuell attraktiv findest. Dies zu bemerken hilft uns auch, die Art von verbalem Lärm zu verstehen, der in unserem Geist abläuft.
Um eine fürsorgliche Geisteshaltung zu entwickeln, müssen wir einige Zeit damit verbringen, zuerst über die grundlegende Übung, die des „ruhigen Geistes“, zu sprechen. Wenn du dir Geschichten über die Menschen auf den Fotos ausdenken, während wir sie ansehen, dann wirst du nie ein fürsorgliches Herz entwickeln. Die einfachste Methode, zur Ruhe zu kommen, besteht darin, loszulassen. Lass einfach den verbalen Lärm los, der in deinem Kopf abläuft. Dabei hilft es, wenn wir zunächst die Hand zur Faust geballt halten. Es muss keine sehr fest geballte Faust sein. Wenn du dann die geschlossene Faust öffnest, dann lass gleichzeitig einfach von den überflüssigen Gedanken los. Um dich daran zu erinnern, kannst du das Schlüsselwort „loslassen“ verwenden.
Versuch das einen Moment lang, während du die Fotos betrachtest und einfach den Geist beruhigst, ohne Urteile, ohne Kommentare, du bist einfach offen gegenüber der jeweiligen Person. Bitte übe das für ein paar Minuten. Beginne, indem du die Aufmerksamkeit mehr auf ein Bild richtest. Wenn du diese Person dann mit einem ruhigen Geist betrachten kannst, dann rück eine andere Person auf dem nächsten Foto in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ist dein Geist sehr laut, dann konzentriere dich zuerst auf deinen Atem, um zur Ruhe zu kommen, bevor du zu den Fotos übergehst.
Ausgewogenheit zwischen ruhigem Geist und fürsorglichem Herzen
Einige Menschen finden, dass sie, wenn sie zur Ruhe kommen, nicht sehr viel empfinden. Deswegen hat die Übung sozusagen zwei Standbeine, auf denen alle folgenden ebenfalls fußen. Ein Bein ist das Zur-Ruhe-Kommen, das andere das anteilnehmende Herz. Es reicht nicht, einfach nur zur Ruhe zu kommen, denn dann verliert die Person vollkommen an Bedeutung, so als würde sie nur aus Pixeln bestehen. Auf der anderen Seite ist es so, dass wir das anteilnehmende Herz nicht richtig entwickeln können, wenn wir über die Person urteilen und Kommentare abgeben. Daher benötigen wir beides. Hier ist also eine Balance vonnöten. Es ist sehr von Nutzen, wenn du in dieser Übung durch eigene Erfahrung erkennst, dass es nicht ausreicht, sich einfach nur zu beruhigen. Aber es ist die Grundlage dafür, dann ein positives Gefühl entwickeln zu können.
Einfühlungsvermögen
Manchmal, wenn man diese Fotos betrachtet, fangen wir an, die Emotionen der abgebildeten Person zu fühlen. Das gleiche passiert häufig im Leben. Das ist der biologische Spiegeleffekt, also: „nichts Besonderes“. Deshalb lachen wir, wenn andere Menschen lachen, und weinen, wenn andere weinen. Es handelt sich um eine Art Einfühlungsvermögen, was völlig in Ordnung ist. Wenn die andere Person jedoch depressiv ist und wir daraufhin auch depressiv werden, wird das nicht sehr hilfreich sein.
Vielleicht erinnerst du dich: In unserer Reihe von Übungen gab es eine, die mit unseren Gefühlen zu tun hatte. Bei dieser Übung ging es darum, dieses Gefühl des Unglücklichseins zu spüren, wenn wir mit jemandem zusammen sind, der niedergeschlagen oder sehr unglücklich ist, um es nachempfinden zu können, also sollten wir keine Angst davor haben. Wenn wir aber bereits Übung darin haben, zur Ruhe zu kommen und Zugang zur tiefsten Ebene des ruhigen Geistes zu finden, dann lassen wir die Traurigkeit und Niedergeschlagenheit, die wir durch die andere Person fühlen, in uns selbst zur Ruhe kommen. Dann sind wir in der Lage, Zugang zur Warmherzigkeit, zum Verständnis und zu den positiven Gefühlen zu finden, die es uns ermöglichen, die andere Person zu trösten. Das ist das Geheimnis, wie es funktioniert. Natürlich erfordert es ziemlich viel Training, aber schon die Tatsache, dass du etwas empfindest, wenn du die Menschen auf den Fotos ansiehst, ist ein wirklich sehr wichtiger erster Schritt.
Aber achte darauf, dass es nicht zu einem extremen Ungleichgewicht der Sensibilität kommt: Wenn wir überempfindlich sind, werden wir einfach von unseren Gefühlen mitgerissen werden. Wenn jemand verletzt ist, weint und in Panik gerät und wir dann selbst panisch reagieren, dann werden wir ihm nicht helfen können. Wenn wir beispielsweise mit einer nervösen Person zusammen sind und dann auch nervös werden, wird dadurch die Situation nur noch schlimmer. Wir können die Nervosität des anderen spüren, haben aber im Innern die Fähigkeit, diese Nervosität zur Ruhe kommen zu lassen, und dann funktioniert unsere Gelassenheit wie ein Spiegeleffekt, was der anderen Person hilft, sich zu beruhigen. Das funktioniert tatsächlich.
Wenn wir hingegen mit einem nervösen Menschen zusammen sind und selbst rein gar nichts empfinden, ist das etwas ganz anderes. Wenn wir nichts fühlen und einfach nur leer sind, können wir der anderen Person nicht helfen, sich zu beruhigen. Wenn du in der Lage bist, Zugang zur grundlegenden Stille des Geistes zu finden, werden auch die anderen hilfreichen Eigenschaften, wie Warmherzigkeit, Verständnis und Zuneigung, da sein. Manche Menschen haben selbstverständlich eine stärkere Wirkung auf uns als andere. Das hat etwas mit der Beziehung zu tun und mit dem, was du vielleicht schon mit dieser Person erlebt hast. Es können auch karmische Gründe eine Rolle spielen, es gibt so viele verschiedene Faktoren. Nicht alle Menschen sind gleich! Meist stellen Familienmitglieder die größten Herausforderungen für uns dar.
Gelassenheit im Umgang mit anderen
In einigen Kulturen gilt es als unhöflich, ruhig zu bleiben, wenn man versucht, mit jemandem zu reden. Bei Lateinamerikanern ist es zum Beispiel wichtig, mehr Gefühle zu zeigen. Wie kann man also eine Ausgewogenheit zwischen diesen beiden Faktoren bewahren, nämlich einerseits Ruhe bewahren und andererseits Gefühle zeigen, wenn es angemessen ist?
Das erinnert mich an eine Schulung, die ich für eine Kampfsport-Gruppe gegeben habe; es war eine Art Kampfsport namens Ninjutsu, eine sehr aggressive, kämpferische Form von Kampfsport. Ich habe versucht, den Menschen beizubringen, im Innern ganz ruhig zu bleiben, aber äußerlich sehr stark zu sein. Sie sollten nach außen eine starke Geste machen oder „Hah!“ rufen und dabei die Energie im Innern ruhig halten. Nur auf diese Weise kann man im Kampfsport erfolgreich sein: wenn man im Innern gelassen ist, während man nach außen kraftvoll auftritt. Dazu bedarf es einer Menge Training und Praxis.
Was aber den sehr emotionalen Umgang mit Lateinamerikanern betrifft, habe auch ich viele Erfahrungen mit solchen Menschen gesammelt und finde, dass es da einen Unterschied gibt: Wir sollten hier zwischen einer ruhigen und einer versteinerten Haltung unterscheiden. Wenn wir ruhig und gelassen sind, hilft ihnen das im Grunde; sie fühlen sich wohl dabei. Wenn sie emotional erregt sind und du ruhig bist, aber trotzdem Ausdruck zeigst, kannst du durchaus Gefühle zeigen, jedoch ruhigere Gefühle, nicht so aufgeregte Gefühle wie sie.
Allerdings müssen diese Gefühle aufrichtig sein. Wenn wir sie nur vortäuschen und sie spüren, dass man ihnen etwas vormacht, kann es tatsächlich recht unangenehm werden. Aber wiederum gilt: Je entspannter wir sind, desto mehr sind wir tatsächlich in der Lage, Gefühle zu entwickeln. Das ist die Kunst, um die es hier geht: Je entspannter wir sind, desto leichter stellen sich Gefühle ein – beispielsweise fällt es uns dann leichter zu weinen, wenn wir jemand sind, der normalerweise nicht weint. Zudem sind wir entspannt; wir sind nicht so verkrampft und „fressen alles in uns hinein“.
Diese fürsorgliche Geisteshaltung ist besonders in Bezug auf unsere Familienmitglieder von großer Bedeutung. Sie sind diejenigen, die uns am meisten auf die Nerven gehen und aus der Fassung bringen können. Wenn wir mit ihnen nur ein klein wenig gelassen bleiben können, wird uns das bereits enorm weiterhelfen. Und was diese Gelassenheit betrifft, reden wir hier lediglich von einer sehr oberflächlichen Ebene, die aber auch nicht einfach ist: Wir hören auf zu lamentieren und sie in Gedanken zu beschimpfen. Wenn wir nur das einfach zur Ruhe bringen können, sind wir zwar vielleicht nicht unbedingt emotional ruhig und gelassen, aber wenn wir damit zumindest aufhören, können wir eine anteilnehmende Geisteshaltung entwickeln. Diese können wir auf unsere Mutter, unseren Vater, die Tante, den Onkel oder auf wen es auch immer sein mag, der einem wirklich auf die Nerven geht, richten. Dann sagen wir innerlich: „Du bist ein Mensch, du hast Gefühle. Du willst glücklich sein, du willst nicht unglücklich sein. Du versuchst nur dein Bestes. Was du tust, um glücklich zu sein, mag vielleicht nicht funktionieren, aber du bist trotzdem ein Mensch. Du versuchst nur dein Bestes, genau wie ich.“
Vorgefasste Meinungen loslassen
In einer der späteren Übungen, in der wir uns auf einer viel tieferen Ebene beruhigen, als einfach nur die Stimme in unserem Kopf zur Ruhe zu bringen, geht es bei dem, was wir wirklich loslassen müssen, um vorgefasste Meinungen, besonders hinsichtlich unserer Erwartungen, welche Rollen andere und welche Rolle wir spielen sollten. „Du solltest die Mutter sein, du solltest der Vater sein. Mütter und Väter sollten so sein, aber ihr seid nicht so“, und das ist wirklich sehr lästig. Deshalb gehen uns die Menschen in unserer Familie mehr auf die Nerven als Fremde oder solche, die einfach nur Freunde sind, denn von Familienmitgliedern erwarten wir, dass sie eine bestimmte Rolle erfüllen, die wir auf sie projizieren. Davon müssen wir uns lösen, um einen echten menschlichen Austausch mit der Person zu haben.