Bodhichitta-Meditation in elf Runden

Rückblick

In unserer Diskussion über das Geistestraining in sieben Punkten haben wir den ersten dieser Punkte besprochen, die Praxis der vorbereitenden Übungen, welche uns darauf vorbereiten, uns der Mahayana-Praxis zuzuwenden. Wir haben auch den zweiten Punkt, die eigentliche Praxis des Bodhichitta behandelt und wie man sich im tiefsten Bodhichitta, welches das Verständnis der Leerheit darstellt, übt. Ferner haben wir damit begonnen, über das relative Bodhichitta zu sprechen, und haben dabei in vielerlei Hinsicht gesehen, wie wichtig das Leerheitsverständnis – zumindest ein gewisses Maß davon – nicht nur für Tonglen sondern auch für die Schritte davor ist.

Wenn wir Bodhichitta erzeugen, versuchen wir, unser Herz und unseren Geist so zu entwickeln, dass wir den aufrichtigen Wunsch haben, allen Menschen zu nützen und die Verantwortung dafür zu übernehmen, indem wir die Erleuchtung anstreben, um dies so vollständig wie möglich zu tun. Um dies erfolgreich tun zu können, benötigen wir die Überzeugung, dass Erleuchtung möglich ist, und ein gewisses, sich auf Vernunft stützendes Verständnis, aus welchem Grund dies möglich ist, und warum es möglich ist, mit jedem so in Verbindung zu treten und umzugehen. Wir haben gesehen, wie sehr uns die Leerheitserkenntnis dabei helfen kann.

Zwei Arten von Liebe und Mitgefühl

Seine Heiligkeit der Dalai Lama erklärt, dass es zwei verschiedene Arten von Liebe und Mitgefühl gibt. Es gibt die Liebe und das Mitgefühl, die auf Unwissenheit bezüglich der Realität beruhen und aufgrund dessen auf anderen störenden Emotionen wie Anhaftung basieren. Diese entstehen oft automatisch aufgrund früherer Anhaftung und so weiter. Diese emotionale Art von Liebe und Mitgefühl ist etwas äußerst Störendes. Sie ist nicht stabil oder verlässlich, denn es ist eine ganze Menge Ego im Spiel. Ein Teil davon ist beispielsweise, bei allem ein Drama zu machen. Wie ein Pfau, der seine Schwanzfedern zur Schau stellt, legen wir diese emotionale Zurschaustellung von „Oh, ich liebe dich so sehr!“ an den Tag.

Ich bin sicher, viele von uns haben diese Erfahrung bereits gemacht. Sind wir in jemanden verliebt, verspüren wir den Drang, unsere Liebe auszudrücken und demjenigen immer wieder zu sagen: „Ich liebe dich.“ Es ist wirklich sehr interessant, wenn wir anfangen, das zu analysieren. Warum müssen wir unsere Liebe in Worten ausdrücken? Warum müssen wir es der anderen Person sagen? Natürlich ist es manchmal gut, das zu kommunizieren, wenn unser Partner unsicher ist und Bestätigung braucht oder ein geringes Selbstwertgefühl hat. Oft tun wir dies jedoch auf zwanghafte Weise, und zwar nicht aufgrund eines Bedürfnisses der anderen Person, sondern aufgrund unseres eigenen. Es ist fast so, also ob es unsere Liebe realer macht, wenn wir es in Worte fassen.

Ich bin sicher, die meisten von uns erkennen sich darin. Die Leerheit hilft uns natürlich dabei, zu verstehen, dass es nicht realer wird, wenn wir es sagen. Nicht nur, dass die Liebe dadurch nicht realer wird, sondern auch wir selbst werden dadurch nicht realer. Wie in Descartes‘ Satz: „Ich denke, also bin ich.” ist es hier fast so wie „Ich liebe, also bin ich.” Es scheint, als würde diese Aussage irgendwie unsere wahre Existenz bestätigen; so, als ob wir wirklich sind, wenn wir lieben. Analysieren wir das, werden wir das als ziemlich weit hergeholt erkennen, denn wenn wir nicht in einer Liebesbeziehung zu jemandem stehen, haben wir das Gefühl, nicht wirklich zu existieren. Wir fühlen uns nur dann erfüllt, als existierendes Wesen, wenn wir jemanden lieben, und natürlich, wenn wir auch von jemandem geliebt werden, und diese Person es auch zum Ausdruck bringt. Das ist etwas sehr Subtiles, aber es kann uns helfen, das zu erkennen. 

Manchmal denke ich mir gerne Zen-Koans aus. Im Westen haben wir ja wie gerade gesagt das Koan: „Ich denke, also bin ich.“ Ein Koan über die Leerheit könnte zum Beispiel lauten: „Ich denke, also bin ich nicht.“ Das ist dasselbe Prinzip, wie wenn wir in festem Plastik eingeschlossen wären und uns nicht bewegen könnten. Wären wir von Mauern umgeben, könnten wir durch diese nicht hindurchgehen, aber da es keine Mauern gibt, können wir uns frei bewegen. Genauso verhält es sich mit dem Satz: „Ich liebe, also bin ich nicht.“ Deshalb: „Ich denke, also bin ich nicht.”

Versuchen wir, Liebe und Mitgefühl auf stabile Weise zu entwickeln, basierend auf der Unwissenheit bezüglich der Realität, so wird dies nicht funktionieren. Ein kleines bisschen können wir damit erreichen, aber das Ergebnis wird nicht beständig sein, wenn es auf der Grundlage von „Ich liebe dich, also bin ich“ geschieht. „Ich helfe dir, um meine eigene Existenz zu beweisen; um zu beweisen, dass ich es wert bin.“ Das wäre Sautrantika, wo das, was beweist, dass etwas wirklich existiert, in der Tatsache besteht, dass es funktioniert.

Laut Seiner Heiligkeit ist diese Art von Liebe und Mitgefühl instabil, denn sie ist mit den acht vergänglichen Angelegenheiten des Lebens, den acht weltlichen Dharmas (tib. ’jig-rten-gyi chos-brgyad), verbunden. Wenn unsere Hilfe wirklich bei jemandem ankommt, sind wir ganz aufgeregt und fühlen uns wunderbar. Kommt unsere Hilfe nicht an oder derjenige bedankt sich nicht und kritisiert sogar, was wir zu tun versuchen, dann sind wir ganz deprimiert. Unsere Emotionen gehen auf und ab, und so geht auch unser Samsara auf und ab. Das gilt besonders dann, wenn unser Greifen nach einem soliden „Ich“ durch eine Kultur verstärkt wird, in der Schuldgefühle betont werden. Wenn wir beispielsweise versuchen, jemandem zu helfen, und es nicht klappt oder es mit der Person schlecht läuft, fühlen wir uns schuldig, wobei es sich ebenso um einen schwerwiegenden Egotrip handelt. 

In diesem Bereinigen unserer Geisteshaltung ist ein Grund, weshalb das tiefste Bodhichitta so früh im Text gelehrt wird, dass es Ziel dieser Reinigung ist, unser Herz zu entwickeln. Um dies auf eine stabile Weise tun zu können, müssen wir unsere Einstellung reinigen und unbewusste Annahmen wie „Ich liebe, also bin ich“ und „Ich helfe, also bin ich“ loswerden. 

Seine Heiligkeit betont immer, dass die zweite Art der Liebe und des Mitgefühls, die auf Vernunft beruht, viel beständiger ist. Verstehen wir basierend auf Vernunft, dass niemand etwas Besonderes ist, vor allem nicht wir selbst – dass wir alle gleich sind und jeder glücklich sein und nicht leiden möchte, und dass Ego und Egobefriedigung auf vollkommener Unwissenheit und Projektion beruhen, die nichts Realem entsprechen – und wenn unsere Liebe und unser Mitgefühl auf dieser Art von Verständnis beruhen, dann entwickeln sie sich und wachsen auf sehr stabile Weise. Wir sollten nicht das Vorurteil haben, dass auf Vernunft basierte Liebe und Mitgefühl nur trocken und intellektuell sind und wir dabei nichts fühlen oder keinerlei Emotionen empfinden. Das ist eine falsche Auffassung. 

Ich denke, wir können den Unterschied ein wenig erahnen, auch wenn es vielleicht nicht genau dasselbe ist, wenn wir eine Analogie verwenden. Es ist wie der Unterschied zwischen der Situation, wenn wir uns in jemanden verlieben, uns sexuell zu dieser Person hingezogen fühlen und dann eine Beziehung eingehen oder sogar heiraten, und dem Punkt, wenn diese Liebe vergeht. Diese Art von Verliebtheit ist sehr aufregend, aber nicht besonders stabil, da sie in der Regel darauf beruht, dass wir die Realität der anderen Person nicht wirklich akzeptieren – dass sie nicht das fantastischste, schönste Wesen auf der Welt wie Prinz oder Prinzessin Charming ist, und wir herausfinden, dass sie schnarcht oder was auch immer. Irgendwann werden wir mit der Realität sowohl der positiven als auch den negativen Eigenschaften der Person konfrontiert. Nach dieser anfänglichen Phase, die wir im Westen als „Romanze“ bezeichnen und für die es interessanterweise im klassischen Tibetisch nicht einmal ein Wort gibt, lässt diese Phase nach und, wenn das Paar reif ist – was nicht immer der Fall ist –, entwickelt sich eine viel stabilere, dauerhafte Liebe, die auf einem Verständnis der Realität der anderen Person beruht, ihren Unzulänglichkeiten und so weiter. Sie ist emotional, aber es ist eine andere Art von Gefühl; es ist beständiger. Und obwohl diese Liebe nicht so aufregend ist, ist sie viel befriedigender.

Haben wir diese Fantasie von einem Märchenprinzen oder einer Märchenprinzessin, die wir auf die andere Person projizieren, mag das zwar aufregend sein und uns ein gutes Gefühl geben, aber wir sollten auch erkennen, dass es sich um einen sehr beunruhigenden Geisteszustand handelt, der uns auch schrecklichen Schmerz bereiten kann. Niemand kann uns mehr verletzen und uns mehr Schmerz zufügen als jemand, in den wir verliebt sind; beispielsweise wenn uns diese Person ignoriert oder etwas tut, das uns nicht gefällt, oder uns kritisiert. Unser Geist ist abgelenkt; wir können uns nicht wirklich konzentrieren und andere Dinge tun, da wir ständig an die Person denken müssen. Trotzdem meinen wir: „Das ist wahres Glück – ich bin verliebt!” Wir sollten versuchen, ein wenig objektiver zu sein.

Wenn wir diesen Zustand analysieren, werden wir den Grund dafür erkennen, dass wir uns so schlecht fühlen und es so weh tut, wenn diese Person uns ignoriert, nicht anruft oder uns morgens beim Aufwachen nicht küsst. Der Grund liegt darin, dass wir unsicher sind. Das ist auch ein gutes Beispiel, wo wir unterschwellig denken: „Ich liebe, also bin ich. Du liebst mich und zeigst mir deine Liebe, also bin ich.“ Das ist das eternalistische Extrem.

Das andere Extrem einer nihilistischen Denkweise besteht darin, zu glauben, man würde selbst nicht existieren, wenn der andere einem nicht seine Liebe zeigt, oder man selbst nicht verliebt ist. Das macht uns völlig verrückt; dieses nihilistische Extrem, gar nicht zu existieren, beunruhigt uns in hohem Maße. Es ist sehr wichtig, diesen Geisteszustand des Verliebtseins zu analysieren, bei dem wir uns so sehr zu jemandem hingezogen fühlen und so viel Mühe darauf verwenden, ihn zu finden. Es ist wie bei Menschen, die eine Midlife-Crisis haben und sich denken: „Ich sollte es jetzt machen; das ist meine letzte Chance“. Das ist eine weitere Manifestation von Unsicherheit und „Ich liebe dich, also bin ich.“ Die Älteren unter uns kennen das sicher. Wir haben das Gefühl, dass uns niemand mehr lieben wird, weil wir fett, hässlich und alt sein werden.  

Ist unsere Liebe jedoch stabiler und basiert auf einem Verständnis der Realität, ohne der Egobefriedigung zu dienen, verfällt unser Geist nicht in Unruhe. Wir fühlen uns sicherer, und das gibt uns eine Grundlage, um produktiver und kreativer zu sein und wirklich konstruktive Dinge im Leben zu tun. Ansonsten sind wir so abgelenkt, dass wir überhaupt nichts tun können.

Die Hauptpunkte der Bodhichitta-Meditation in elf Runden 

Andere wertschätzen

Obwohl ich hier etwas überspringe, werden wir nun einige der späteren Punkte der Bodhichitta-Meditation in elf Runden ansprechen, nämlich die Nachteile von Selbstbezogenheit und die Vorteile der Wertschätzung anderer. Andere wertzuschätzen, bedeutet, eine Art von Liebe für andere zu empfinden, die auf Vernunft beruht und nicht auf Egobefriedigung. „Wertschätzen“ bedeutet, sich jemandem sehr nahe zu fühlen. Wir betrachten andere als wertvoll, und deshalb wollen wir ihnen wirklich nützen und helfen. Die Person, die wir wertschätzen und der wir helfen wollen, könnten wir selbst sein oder auch jemand anderes. Das ist die Konnotation des Wortes „wertschätzen“ (tib. gces-pa).

Diese Wertschätzung des anderen auf der Grundlage von beständiger Liebe, Mitgefühl, Vernunft usw. zu haben, bedeutet, dass der Nutzen größer ist, und zwar nicht nur für die andere Person – da wir sie dann nämlich nicht ängstigen und überwältigen oder Forderung an sie stellen, indem wir etwas im Gegenzug verlangen –, sondern auch für uns. Die Vorteile einer solchen reiferen Art von Liebe und Mitgefühl, mit der wir andere wertschätzen, besteht darin, dass wir andere einfach aufgrund der Tatsache ihrer Existenz lieben, ohne irgendwelche Projektionen. Wir sind viel stabiler, ohne durch die Beziehung gestört zu sein, und können so viel mehr Leuten helfen, anstatt uns nur auf eine Person zu konzentrieren und in eine völlige Depression zu verfallen, wenn diese Person uns nicht dankt.    

Wenn ihr versucht, anderen zu helfen, solltet ihr nicht, wie ich gestern bereits beschrieben habe, wie eine riesige, hässliche, furchterregende Mutterspinne sein, mit der Haltung: „Raargh! Ich werde dir helfen! Erwidere meine Liebe!” oder so etwas in der Art. Es ist sehr hilfreich, sich dieses Bild vor Augen zu führen, wenn wir uns dabei ertappen, wie wir anfangen, so zu handeln, und dem dann entgegenzugehen und sich anders zu verhalten. Shantideva hat ein sehr schönes Bild dafür in seinem „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ (Skt. Bodhicaryāvatāra). Er sagt: „Wenn du anderen hilfst, sei wie eine Honigbiene.“ Eine Biene fliegt ständig zu schönen Blumen und geht auf jede einzelne Blume auf innige und liebevolle Weise ein, ohne Anhaftung zu entwickeln. Sobald sie fertig ist, fliegt sie weiter zur nächsten schönen Blume. Das ist wirklich eine hilfreiche Vorstellung.

Lasst uns nun zu den elf Meditationsrunden zurückkommen und eine nach der anderen besprechen. Ich möchte nicht zu sehr ins Detail gehen, denn ihr könnt euch über dieses Thema auch anderswo informieren. Was ich jedoch betonen möchte, ist, wie man diese auf eine stabile Art und Weise entwickelt und nicht auf der Grundlage von störenden Emotionen, wie z.B. Liebe und Mitgefühl nur zur Befriedigung des Egos. Das ist nämlich nicht der Pfad der Bodhisattvas.

(1) Gleichmut

Wir beginnen mit dem Gleichmut (tib. btang-snyoms, Skt. upekṣā), bei dem wir uns weder angezogen noch abgestoßen und auch nicht gleichgültig den fühlenden Wesen gegenüber fühlen. Ein fühlendes Wesen ist ein Wesen, das die Konsequenzen seiner zwanghaften Handlungen erfährt, und das bedeutet alle Wesen – einschließlich Insekten. Zwanghafte Handlungen sind Handlungen, die auf zwanghaften Drängen beruhen, angetrieben von störenden Emotionen und Geisteshaltungen. Sie sind es, die karmische Potenziale und Tendenzen schaffen. Fühlende Wesen sind also jene, die solche Handlungen begehen und deren karmische Resultate erfahren. 

Anstelle von „fühlendes Wesen” bevorzuge ich den Begriff „begrenztes Wesen“, denn ein Buddha ist kein fühlendes Wesen. Ein begrenztes Wesen ist jemand mit einem begrenzten Geist und einem begrenzten Körper, aber nicht in dem Sinne, dass er behindert oder durch eine Krankheit beeinträchtigt ist. Fühlende Wesen sind begrenzt in dem, was sie verstehen können; sie sind nicht allwissend. Außerdem sind sie begrenzt in dem, was sie tun können. Sie können sich zum Beispiel nicht in Millionen von Formen vervielfältigen. Sie sind insofern begrenzt, dass sie karmischen Konsequenzen und störenden Emotionen unterworfen sind. Das ist, was ein fühlendes Wesen ausmacht. 

Als begrenzte Wesen, die unter dem Einfluss von karmischen Impulsen und störenden Emotionen stehen, sind sie manchmal freundlich, manchmal unfreundlich und teilweise auch gleichgültig uns gegenüber. Es ändert sich ständig. Das zu verstehen, hilft uns, ihnen gegenüber Gleichmut zu entwickeln, denn ihre Beziehung zu uns ändert sich ständig. Wir haben auch gesehen, wie wichtig das Verständnis der Leerheit ist, um Anziehung, Ablehnung und Gleichgültigkeit anderen gegenüber zu überwinden. Sind solche störenden Emotionen einmal eingedämmt, können wir für jeden offen sein. Dies ebnet den Boden, gleichermaßen gegenüber allen positive Emotionen zu schaffen. 

Wir sollten diesen Schritt auf keinen Fall trivialisieren. Es ist nämlich unglaublich schwer, das zu erreichen, denn offensichtlich hegen wir Anziehung, die auf Verlangen und Anhaftung basiert, Abneigung, die auf Ärger basiert, und Gleichgültigkeit, die auf Naivität basiert. Wir haben den Zustand eines Arhats noch nicht erlangt; wir sind all das noch nicht losgeworden. Um in der Lage zu sein, diese Art von Gleichmut zu vervollkommnen, müssen wir befreite Wesen – Arhats – werden. Was wir jedoch auch in unserem jetzigen Stadium tun können, ist, nicht nach diesen störenden Emotionen zu handeln und uns nicht unkontrolliert von ihnen leiten zu lassen, und dann dem einen oder anderen Wesen gegenüber voreingenommen zu sein. Dieser erste Schritt der Bodhichitta-Meditation ist bereits extrem fortgeschritten. 

Die Standardmethode, um diese Art von Gleichmut zu entwickeln, besteht darin, frühere Leben in Betracht zu ziehen, in denen jeder ein anderes Verhältnis zu uns hatte. Da Zeit unendlich und anfangslos ist, war jeder einmal unser Freund, Feind und mal ein Fremder. Wir kontemplieren, dass jeder Freund, den wir jemals hatten, anfangs ein Fremder war und entwickeln so Gleichmut. 

Der Dharma gibt uns natürlich viele verschiedene Wege vor, wir wie mit den drei giftigen störenden Emotionen umgehen können. Einen davon finden wir hier in der Tonglen-Praxis, in der wir diese drei von allen anderen Wesen auf uns nehmen und ihnen im Gegenzug das Gegenmittel dafür senden. Ich denke, es wäre am besten zu versuchen, jede Dharma-Methode, die wir kennen, anzuwenden, um mit diesem Thema des Gleichmuts umzugehen, anstatt nur einer Standardmethode zu folgen. Natürlich können wir die Standardmeditation praktizieren, aber es ist viel besser, viel effektiver, zu versuchen, so viele Gegenmittel wie möglich anzuwenden, um mit dieser Art von Problemen umzugehen, ob wir uns nun das abstoßende Bild der Eingeweide im Körper von jemandem vorstellen, den wir attraktiv finden, oder ob wir das zugrunde liegende Gewahrsein verwenden, mit dem wir erkennen und uns bewusst machen, dass wir uns gerade sehr zu jemandem hingezogen fühlen; und das ist lediglich das individualisierende Gewahrsein, welches eine Person spezifiziert. Wenn wir beispielsweise HIV haben, nehmen wir nicht nur ein Medikament. Wir brauchen eine Kombination aus vielen Medikamenten. Was immer wir aus dem Dharma lernen können, wir sollten es in jeder schwierigen Situation und jedem Schritt in unserer Entwicklung anwenden. 

Auf der praktischen Ebene stellt sich jedoch die Frage, wem wir tatsächlich helfen können, vor allem jetzt, da unsere Möglichkeiten begrenzt sind. Wir haben nicht die Kapazitäten, allen Wesen gleichzeitig zu helfen. Natürlich würden wir zuerst diejenigen auswählen, mit denen wir uns in irgendeiner Weise verbunden fühlen und die sich mit uns verbunden fühlen – jene, die offen und empfänglich für uns sind. Ich meine, klar, damit fangen wir an, weil wir hier am effektivsten sein können. Wir müssen jedoch vorsichtig sein, dass wir nicht an ihnen hängen und anderen gegenüber nicht gleichgültig sind. Es ist wichtig, sich vor den Gefahren der störenden Emotionen dabei in Acht zu nehmen. 

Es stimmt; für jemanden, der sich uns gegenüber aggressiv und feindselig verhält, ist es sehr schwierig, für unsere Hilfe offen zu sein. In solchen Fällen können wir einen Wunsch äußern: „Ich hoffe, dir in Zukunft helfen zu können. Ich fühle mich nicht von dir abgestoßen, aber meine Zeit und Kapazitäten sind begrenzt.” Wir können auch Tonglen üben und uns darauf konzentrieren, ihnen ihre aggressive, verschlossene Haltung uns gegenüber zu nehmen. 

Wir sollten immer offen für mehr und mehr Menschen sein, so wie wir offen dafür sein müssen, dass mehr Menschen an unserem Kurs teilnehmen. Unabhängig davon, wie alt wir sind, wie sehr wir uns in unserer Familie engagieren und so weiter, ist es sehr wichtig, unser Herz für neue Menschen, die in unser Leben treten, zu öffnen, ohne gleichzeitig diejenigen zu ignorieren, die uns nahestehen. Wir müssen auch praktisch denken, was die Zeit angeht, die wir haben, und die Anzahl der Dinge, die wir tun können. Selbst wenn die andere Person oder die neuen Menschen enorme Anforderungen an uns stellen, die unmöglich zu erfüllen sind, können wir, wenn wir frei von störenden Emotionen sind – oder zumindest nicht zwanghaft unter ihrem Einfluss stehen –, der anderen Person auf eine Weise Grenzen setzen, dass sie sich nicht von uns zurückgewiesen fühlt. Nur so sollte man Grenzen setzen. Gebt ein wenig von eurer Zeit, aber macht auch deutlich, dass ihr anderen nicht alles geben könnt, was sie verlangen. 

Wenn wir auf der anderen Seite dieser Art von Beziehung stehen, ist es außerdem wichtig, wirklich hart daran zu arbeiten, die Grenzen zu akzeptieren, die die andere Person in Bezug auf ihre Zeit, Verfügbarkeit und emotionale Reife hat, und keine Forderungen zu stellen, die über das hinausgehen, was realistisch ist. Auch das erfordert ein enormes Maß an emotionaler Reife. Emotionale Reife ist nicht nur notwendig, wenn wir von jemandem Hilfe erhalten, sondern auch in Bezug darauf, wie uns diese Person antwortet. Erwartet keine Gegenleistungen – so heißt es hier in dieser Lehre.

Auch wenn wir den Wunsch haben, allen zu helfen und Gleichmut zu haben, ist das Bild eines Vogelhäuschens, das wir mit Futter füllen und im Garten aufstellen vielleicht hilfreich, wenn es darum geht, jenen unsere Hilfe anzubieten, die uns umgeben und aufnahmefähig sind. Es wäre ja sehr schön, alle Vögel auf diesem Planeten füttern zu können, aber dazu haben wir nicht die Möglichkeit. Also stellen wir das, was wir können, den Vögeln zur Verfügung, die in unserer Nähe sind. Es spielt jedoch keine Rolle, welche Vögel kommen. Es ist nicht nur für unsere Lieblingsvögel, sondern für jeden Vogel, der kommt. Das ist ein sehr schönes Bild. Im Gegenzug erwarten wir nichts von den Vögeln; es sei denn wir haften daran, sie in unserer Nähe zu haben, damit wir sie ausspionieren und beobachten können. Ich spreche hier davon, dies ausschließlich aus der Intention heraus zu tun, etwas zu geben.

Ich denke, der Buddha ist hier ein sehr gutes Beispiel. Nicht jeder war offen und empfänglich für ihn, als er hier auf Erden war. Außerdem erscheinen Buddhas nicht ständig, sondern nur dann, wenn die Wesen offen und empfänglich sind. Es ist nicht so, dass sie in den sogenannten „dunklen Zeitaltern”, in denen niemand offen oder empfänglich ist, nicht helfen wollen. Es wäre jedoch eine Zeitverschwendung für sie, zu kommen, wenn niemand ihre Hilfe wollen würde. Das ist ein gutes Beispiel. Ein sehr hilfreicher Satz, an den ich mich immer wieder erinnere, lautet: „Nicht jeder mochte den Buddha; was erwarte ich also in Bezug auf mich?” Dies kann sehr hilfreich sein, wenn uns jemand nicht mag, uns ablehnt, kritisiert oder was auch immer. Versucht, euch in solchen Situationen daran zu erinnern.

(2) Jedes Wesen unter dem Aspekt, unsere Mutter gewesen zu sein, unterscheiden

Basierend auf den Erklärungen über Gleichmut haben wir dann darüber gesprochen, jeden unter dem Aspekt zu betrachten, unsere Mutter gewesen zu sein. Atisha wies darauf hin, dass es einer der schwierigsten Punkte ist, dies bei jedem Wesen aufrichtig zu fühlen. Das sollte man auf keinen Fall trivialisieren. Es basiert auf dem überzeugten Vertrauen in anfangslose Leben und kann nur auf der Grundlage von Gleichmut auf alle Wesen gerichtet sein – sich also nicht zu einigen hingezogen zu fühlen und gegenüber anderen abweisend oder gleichgültig zu sein.

Bezüglich dieses Punktes, dass alle Wesen unsere Mütter gewesen sind, haben wir Folgendes gesehen: wenn wir beweisen können, dass es unmöglich ist, dass jemand nicht schon einmal unsere Mutter gewesen ist, gibt uns das eine etwas stabilere Grundlage dafür, diese Haltung zu entwickeln. Ansonsten wäre das Ganze nur Fiktion. Würde es auf Fiktion basieren, wie könnten wir dann aufrichtig so fühlen? Erinnert euch an unsere Argumentationslinie: „Wenn ein Wesen in diesem Leben meine Mutter ist und jedes Wesen gleich ist, muss jeder meine Mutter gewesen sein. Denn wäre jemand niemals meine Mutter gewesen, hätte niemand jemals meine Mutter sein können, da alle Wesen gleich sind. Und dann hätte ich auch in diesem Leben keine Mutter.“ Mir ist diese Argumentationslinie, die wir entwickelt haben, zwar noch nicht in den buddhistischen Texten begegnet, aber sie scheint Sinn zu ergeben. 

Mit dieser Überzeugung können wir dann jeden unter dem Aspekt unterscheiden, unsere Mutter gewesen zu sein. Und was bedeutet nun „unterscheiden“ oder „auseinanderhalten“ ? Es ist eines der fünf Aggregate; es bedeutet, ein konventionelles charakteristisches Merkmal von etwas zu bestimmen. Ein konventionelles charakteristisches Merkmal von jedem Wesen, das jedoch nicht wie ein Haken auf deren Seite existiert, besteht darin, dass alle irgendwann einmal unsere Mutter gewesen sind. Wenn wir jemand begegnen, ist dies das Unterscheidungsmerkmal, auf das wir uns konzentrieren wollen.

(3) Sich an die Güte mütterlicher Liebe erinnern

Der dritte Schritt besteht darin, sich an die Güte mütterlicher Liebe zu erinnern und daran, wie sehr unsere Mutter uns geholfen hat. Selbst wenn sich unsere Mutter in diesem Leben schrecklich uns gegenüber verhalten hat, kann es sein, dass sie in einem früheren Leben auch unsere Mutter gewesen ist und sich damals nicht so verhalten hat. Außerdem hat sie uns nicht abgetrieben – das ist zumindest etwas Gutes, das sie für uns getan hat. 

Wenn wir an diese Bodhichitta-Meditation herangegangen sind, ohne diese starke egozentrische Identifikation mit „mir“, diesem jetzigen Leben und der Mutter, die wir jetzt haben, würden wir – denke ich – nicht so viele Probleme haben, über die Güte mütterlicher Liebe zu meditieren. Dann würden wir über Mutterliebe nicht nur im Sinne von „Nun, was hat mir meine Mutter gegeben, als ich ein Kind war? Sie war eine furchtbare Mutter“ denken.

Viele Menschen haben Probleme mit diesem Punkt. In einigen Texten heißt es, wir sollen ebenso an die Güte unseres Vaters, besten Freundes und so weiter denken. Ich glaube jedoch, dass wir damit arbeiten sollten, wenn wir Probleme mit unserer Mutter haben, mit unserer Mutter in diesem Leben. Wie sollen wir anderen helfen, all unseren Müttern, wenn wir nicht mit unserer jetzigen Mutter umgehen können? Das bedeutet nicht, dass unsere Mutter in diesem Leben empfänglich, offen oder ein leichter Mensch ist. Wir sollten zumindest versuchen, ihr gegenüber eine Haltung des Gleichmuts einzunehmen, ohne Groll und Ablehnung zu hegen. 

Die klassischen buddhistischen Texte sprechen nicht über die Möglichkeit einer Situation, in der wir mit unserer Mutter in diesem Leben Schwierigkeiten haben. Ich war einmal in der Gegenwart Seiner Heiligkeit, als dies angesprochen wurde, und er war ziemlich erstaunt darüber, dass manche Menschen Schwierigkeiten mit ihren Müttern haben oder manche Mütter ihre Kinder missbrauchen oder sie gar aufgeben. In traditionellen asiatischen Familien hatte man eher Schwierigkeiten mit dem Vater, aber die Mutter ist in der Regel der Anker von Liebe, Wärme und Annahme. Findet eine Form von Missbrauch statt, spricht vielleicht niemand darüber; ich weiß es nicht. 

Haben wir eine Mutter, die überfürsorglich ist und sich ständig um uns sorgt und uns damit wirklich belastet, sollten wir versuchen, die Methoden des Dharma anzuwenden. Eine Methode, die ich in diesem Zusammenhang als sehr effektiv empfunden habe, besteht darin, zu versuchen herauszufinden, was hinter dem Verhalten unserer Mutter steckt. Wenn sich unsere Mutter um uns und unser Wohlergehen kümmert, liegt dem das auf uns gerichtete individualisierende Gewahrsein zugrunde. Dazu kommt natürlich eine enorme Unsicherheit, ein Greifen nach dem Ego und all diese Dinge. Versucht jedoch, die positive Komponente der Emotionen zu sehen, die eure Mutter empfindet, und erkennt das an. Das wollen wir nicht ablehnen. Wir sind unserer Mutter nicht egal. Es ist nicht so, dass sie sich überhaupt nicht um uns kümmert.

Was hier in den elf Runden dazukommt, ist die Güte anderer uns gegenüber, nicht nur wenn sie unsere Mutter waren. Dabei betrachten wir, wie alles, was wir im Leben haben, von der Mühe und Arbeit anderer abhängt: unsere Nahrung; die Straßen, auf denen unsere Nahrungsmittel transportiert werden; die Tiere, die unsere Milch liefern; und so weiter. Unser Leben wird von einem unglaublichen Netzwerk von Bemühungen und Arbeit so vieler anderer Wesen aufrechterhalten. Deswegen sollten wir unseren Horizont auf absolut jedes Wesen ausweiten. Eine Möglichkeit, dies zu tun, besteht darin, jeden Gegenstand in unserem Haus oder unserem Zimmer zu betrachten und zu überlegen: „Woher kommt dieser Gegenstand eigentlich?“

Es spielt keine Rolle, ob andere die Absicht hatten, gütig zu uns zu sein oder uns zu helfen oder nicht. Ohne das, was sie getan haben, könnten wir nicht überleben. Das zu sehen öffnet unseren Geist und unser Herz noch mehr für die Güte anderer und lässt uns unsere gegenseitige Abhängigkeit erkennen.  

(4) Der Wunsch, diese Güte zu erwidern

Erinnern wir uns an die mütterliche Liebe und die Güte, die wir von allen erfahren haben – selbst von jenen, die nicht unsere Mutter waren –, entwickelt sich ein Gefühl der Dankbarkeit, und auf Grundlage dieses Gefühls der Dankbarkeit und der Verbundenheit mit allen Wesen entwickeln wir den Wunsch, diese mütterliche Liebe zu erwidern. Dies ist der vierte Schritt unserer Meditation in elf Runden.

Es ist ziemlich offensichtlich, dass wir hierbei ein gutes Verständnis der Leerheit benötigen. Andernfalls kann dieser Schritt sehr leicht in Schuldgefühle umschlagen: „Alle waren so nett zu mir, und ich war so ein schrecklicher Mensch. Ich habe nichts getan, um ihnen zu helfen. Es ist meine Schuld; ich bin zu nichts gut. Ich sollte besser etwas unternehmen.“ Mit solchen Gedanken handeln wir aus Schuldgefühlen heraus; wir halten an dieser in Stein gemeißelten Identität von „Ich war so ein schrecklicher Sohn, so eine schreckliche Tochter“ fest. Davon müssen wir uns unbedingt lösen, denn dieser Schritt in der Meditation sollte auf keinen Fall vollständig auf der Grundlage von Schuldgefühlen erfolgen. Das ist wirklich wichtig.

Es ist recht interessant, wie dieser Schritt in den Lehren beschrieben wird. Alles, was gesagt wird, ist, dass er sich auf natürliche Weise ergeben wird. Ich denke, das liegt daran, dass er, auch wenn es in den Texten nicht ausdrücklich erwähnt wird, auf der Wertschätzung und Dankbarkeit für all die Güte beruht, die wir erfahren haben. Rufen wir uns in den Sinn, wie viel Güte wir erhalten haben, fühlen wir uns dankbar und wollen das ganz natürlich auch mit Güte erwidern.

Spüren wir bei diesem Schritt eine emotionale Blockade, sollten wir die Quelle dieser Blockade untersuchen. Ich denke, einer der Aspekte des Problems dieser Blockade ist Schuld und das Gefühl, die Güte, die wir empfangen haben und auch anerkennen, nicht verdient zu haben. Haben wir jedoch diese ersten Schritte auf eine stabile, nicht egoistische Weise entwickelt, fühlen wir uns nicht unsicher, und haben wir bereits ein gewisses Maß an emotionaler Reife erreicht, wird diese Blockade nicht auftauchen, denke ich.

Es ist sehr interessant, in diesem Zusammenhang kleine Kinder zu beobachten. Oft wollen sie im Haushalt helfen oder sich um eine Babypuppe kümmern. Woher kommt das? Es ist irgendwie ganz natürlich so. Wenn es jedoch ständig unterdrückt wird und kontrollsüchtige Eltern, die ihre Kinder nichts tun lassen, sagen: „Du machst sie nur kaputt!“ oder „Ich mache das für dich“, dann verstärkt das dieses geringe Selbstwertgefühl, das dann ein großes Hindernis für diesen Schritt werden kann. Wir haben das Gefühl: „Ich kann nichts tun, um diese Güte zu erwidern; ich bin nicht gut genug. Was auch immer ich tue, es wird nicht gut genug sein.“ Ich denke, wir sollten uns damit auseinandersetzen, bevor wir zu diesem Schritt kommen, die empfangene Güte erwidern zu wollen.

Das ist nicht nur meine Idee. Tatsächlich wird von Psychologen und Psychiatern oft empfohlen, dass eine der besten Möglichkeit, jemandem mit geringem Selbstwertgefühl zu helfen, darin besteht, demjenigen die Möglichkeit zu geben, großzügig zu sein und etwas für uns zu tun. Dies ist oft der Fall bei schwierigen Teenagern. Wir sollten sie etwas für uns tun lassen, und dabei spielt es keine Rolle, wie schlecht sie es tun; es ist wirklich nicht wichtig. Wenn sie tatsächlich etwas geben können, in welcher Form auch immer, stärkt das ihr Selbstwertgefühl und hilft ihnen unterbewusst, etwas von der Güte zurückzugeben, die sie erhalten haben, ohne das Gefühl zu haben: „Ich kann nie etwas gut machen.“ Wenn wir tatsächlich etwas geben und erwidern können, haben wir das Gefühl – auch wenn es eine egobasierte Sache ist –, etwas wert zu sein und etwas tun zu können. 

Es ist sehr wichtig, sich von anderen Menschen helfen zu lassen, denn oft haben wir diese Kontrollfreak-Mentalität: „Fass meinen Computer nicht an; du machst ihn kaputt.“ Wir lassen nicht zu, dass andere etwas für uns tun, wenn sie es uns anbieten. Das ist wirklich sehr unfreundlich der anderen Person gegenüber, ganz zu schweigen von dem Standard-Dharma-Ratschlag, andere den Verdienst, die positive Kraft des Großzügigseins ansammeln zu lassen. Allein auf psychologischer Ebene ist es sehr wichtig, der anderen Person zu helfen, indem man sie uns helfen lässt.

Es ist recht interessant, diese Dinge zu analysieren und zu durchdenken. Wir stellen fest, dass dieser Wunsch, Güte zu erwidern, in indischen, tibetischen oder asiatischen Familien im Allgemeinen – und wahrscheinlich im Mittelalter auch im Westen – ganz natürlich entsteht. Einer der Gründe dafür mag vielleicht darin bestehen, dass die Kinder zum Überleben helfen mussten. Sie halfen bei der Pflege der Tiere, des Hofes oder des Ladens. In Indien zum Beispiel helfen schon kleine Kinder von vier Jahren im Laden ihrer Eltern mit. Dabei entwickeln sie ein Selbstvertrauen, dass sie tatsächlich etwas können. Wir denken immer, wie schrecklich Kinderarbeit ist, aber aus psychologischer Sicht, denke ich, kann sie sehr hilfreich sein. Natürlich wollen wir ein Kind nicht ausbeuten, und trotzdem sollten wir den natürlichen Wunsch der Kinder, etwas zu geben, fördern. Was tun traditionelle asiatische Familien, was westliche Familien nicht tun, in der Weise, wie sie ihre Kinder erziehen, sodass sie bei diesem Schritt keine Blockade haben? Bei asiatischen Familien sehen wir zum Beispiel, dass sich schon ein sechsjähriges Mädchen um ihren zweijährigen Bruder oder ihre Schwester kümmert.

Herzerwärmende Liebe

In der siebenteiligen Ursache-Wirkungs-Praxis zur Entwicklung von Bodhichitta wird das, was wir als ersten Schritt (Gleichmut) besprochen haben, nicht zu den sieben Teilen gezählt. Es ist ein Schritt davor; Schritt Null quasi. Auch das, was nach dem Wunsch kommt, die Güte anderer zu erwidern, wird nicht gezählt. Es ist die Art von Liebe, die ich „herzerwärmende Liebe“ nenne. Dies ist der Schritt in der siebenteiligen Praxis direkt vor der Entwicklung der Liebe, bei der wir uns wünschen, dass jeder glücklich ist und die Ursachen dafür hat.

Herzerwärmende Liebe ist die Art von Liebe, bei der wir uns allen gleich nahe fühlen und jeden gleichermaßen wertschätzen. Wir wären wirklich traurig, wenn ihnen etwas geschehen würde. Es ist wie das Gefühl, das wir haben, wenn unser engster, geliebter Freund den Raum betritt – abgesehen von dem Egobefriedigungsaspekt dabei – dieses „Ohhhh!“, bei dem sich unser Herz ganz warm anfühlt, leicht wird und sich öffnet. Wir sind so glücklich, diese Person zu sehen; nicht jedoch wie das Baby, das zur Mutterspinne nach Hause zurückgekehrt ist. Es ist das, was wir als Resultat all dieser Übungen erreichen wollen, wenn wir jemandem begegnen. 

Bei Seiner Heiligkeit ist das einfach unglaublich. Egal, wen er trifft, er ist einfach glücklich, diese Person zu sehen – wer auch immer es ist. Er strahlt einfach jeden an, der er trifft. Für manche, vor allem diese sehr ernsten, verklemmten Politiker oder andere Religionsführer, ist das sogar schockierend. Seine Heiligkeit nimmt ihre Hand, was aus westlicher Sicht fast als unverschämt gilt, und es beruhigt die Menschen, weil es so aufrichtig ist.

Bei Seiner Heiligkeit haben wir ein gutes lebendes Beispiel dafür, und das ist selten. Es gibt natürlich auch andere, aber bei ihm ist es so eindrucksvoll, diese Wärme, die er absolut jedem entgegenbringt. Bei seiner öffentlichen Rede letztes Jahr in Berlin zum Beispiel kamen 22.000 Menschen. Als er auf die Bühne trat, winkte er dem Publikum zu, und alle liebten ihn sofort. Das ist außergewöhnlich. Wie kommt das zustande? Was ist sein Geheimnis? Es ist die herzerwärmende Liebe gegenüber jedem, die er in sich trägt und ausstrahlt. Um so zu werden wie er, wird in den Texten immer und immer wieder davon gesprochen, Bodhichitta zu entwickeln.

(5) Unsere Einstellung uns selbst und anderen gegenüber gleichsetzen

An diesem Punkt kommen die Stufen der anderen, zweiten Methode zur Entwicklung von Bodhichitta dazu: das Gleichsetzen und Austauschen von uns selbst und anderen. Alle Punkte bisher geben uns die Grundlage dafür, und sie basieren darauf, dass wir diese herzerwärmende Liebe besitzen. Normalerweise beginnen wir bei dieser zweiten Methode mit Schritt Null (Gleichmut ohne Anhaftung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit) und springen dann zu diesem ersten Schritt, nämlich unsere Einstellung uns selbst und allen anderen Wesen gegenüber gleichzusetzen. Das Ergebnis wird jedoch wesentlich beständiger sein, wenn die anderen Stufen der siebenteiligen Methode dazwischen praktiziert werden. 

Der Gleichmut, der in Schritt Null oder Eins in den elf Runden besprochen wird, ist eine Methode, die sowohl im Hinayana als auch im Mahayana üblich ist, da sie sich darauf konzentriert, sich von störenden Emotionen anderen gegenüber zu lösen. Allen gegenüber die gleiche Haltung zu haben, ist die spezielle Haltung des Mahayana. Es ist die gleiche Haltung der Nähe und der herzerwärmenden Liebe, die wir allen entgegenbringen. Ein Grund dafür, dass alle Wesen gleich sind, ist zum Beispiel, dass jeder glücklich sein will und niemand unglücklich sein möchte. Wenn wir beispielsweise Nahrung zu verteilen haben, ist es nicht richtig, sie nur denjenigen zu geben, die wir mögen, denn alle sind gleichermaßen hungrig. Es gibt viele Gründe, die diese Gleichheit aller Wesen untermauern. Auch die emotionale Komponente der herzerwärmenden Liebe spielt hier eine Rolle; dieses Gefühl der Nähe und Wärme für jeden. 

Die übliche Erklärung im Hinblick auf die Gleichheit von uns selbst und anderen weist darauf hin, dass jeder die gleichen Wünsche hat wie wir. Jeder möchte glücklich und nicht unglücklich sein, genau wie wir. Interessant ist, dass in der klassischen Darstellung nicht davon die Rede ist, diese herzerwärmende Liebe auf uns selbst zu richten. Es heißt lediglich, alle Wesen seien gleich. Das ist allerdings keine Einladung dazu, etwas zu denken wie zum Beispiel: „Ich liebe alle anderen, aber mich selbst hasse ich, denn ich bin ein Sünder. Ich bin nicht gut genug; ich verdiene es nicht, glücklich zu sein.“ Auch hier war ich selbst anwesend, als Seine Heiligkeit zum ersten Mal mit dem geringen Selbstwertgefühl, das Leute aus dem Westen oft an den Tag legen, konfrontiert wurde. Seine Heiligkeit war schockiert darüber, dass manche Leute sich selbst hassen. Es war ein Treffen mit Wissenschaftlern, und Seine Heiligkeit ging durch den Raum und fragte jeden von uns einzeln: „Hasst ihr euch wirklich? Ich meine, mögt ihr euch wirklich nicht?“ Jeder hat es zugeben müssen, dass es so ist. Seine Heiligkeit war entrüstet.

Dennoch, denke ich, ist es im Sinne der Lehren, die gleiche Wärme, das gleiche Glück auf uns selbst auszudehnen, damit wir uns wohl fühlen, wenn wir allein sind, und nicht das Gefühl haben: „Oh Gott, jetzt bin ich allein. Ich will nicht allein sein! Ich kann unmöglich allein sein!” Ihr wisst schon, Menschen, die vom Aufwachen bis zum Einschlafen ständig das Radio oder den Fernseher laufen lassen müssen, um sich nicht allein zu fühlen. Manche haben auch ständig Musik laufen, aus Angst, dass sie mit ihren Gedanken allein sein müssen.

(6) Die Nachteile einer selbstbezogenen Einstellung und (7) die Vorteile der Wertschätzung anderer

Darüber haben wir bereits gesprochen, also werde ich das nicht wiederholen.

(8) Mitgefühl und (9) Liebe durch Tonglen-Praxis

An diesem Punkt kommt nun das Tonglen, das mit den nächsten beiden Schritten kombiniert wird, die wir in der ersten Praxistradition finden, der siebenteiligen Praxis von Ursache und Wirkung. In der siebenteiligen Praxis von Ursache und Wirkung steht die Liebe an erster Stelle – der Wunsch, dass alle Wesen glücklich sind und über die Ursachen des Glücks verfügen –, und dann kommt Mitgefühl – der Wunsch, dass sie frei von ihrem Leid und den Ursachen ihres Leides sind. Hier ist die Reihenfolge jedoch umgekehrt. Wir stellen uns zuerst vor, wie wir das Leid anderer auf uns nehmen und es ihnen abnehmen, um ihnen dann unser Glück zu schenken. Mit Mitgefühl nehmen wir das Leid auf uns, und mit Liebe senden wir unser Glück aus.

Es ist, wie wenn ein Eimer mit schmutzigem Wasser gefüllt ist, und es nicht nur keinen Raum mehr für sauberes Wasser gibt. Selbst wenn wir sauberes Wasser einfüllen könnten, würde es nur schmutzig werden. Das ist kein wirklich passendes Beispiel, denn wir können schließlich nicht das ganze Leid aller Wesen allein beseitigen. Wir können uns jedoch vorstellen, es zu tun, damit die anderen dann entspannt genug sind und nicht so starke Schmerzen haben, um mehr von dem Glück profitieren zu können, das wir ihnen geben. Wird jemand von einem Auto angefahren und hat furchtbare Schmerzen, geben wir demjenigen nicht zuerst einen Kuss oder etwas zu essen. Leidet jemand intensive Schmerzen, müssen wir uns offensichtlich zuerst darum kümmern. 

Es ist sehr wichtig, dies im Umgang mit anderen anzuwenden. Wenn jemand zu uns kommt und sehr müde ist oder sich über etwas aufregt, müssen wir das zuerst angehen. Hat derjenige eine lange Reise hinter sich und wir wollen ihn sofort an den Tisch setzen, um eine riesige Mahlzeit einzunehmen, nachdem er gerade aus dem Flugzeug gestiegen ist, wo er stundenlang alles Mögliche gegessen hat, dann ist das nicht das, was diese Person in dem Moment braucht. Stattdessen wäre es angebrachter, ihr etwas Ruhe zu gewähren, um sich eine Weile hinlegen zu können. 

Dann kommt die Tonglen-Praxis. Ich werde jedoch nicht so sehr ins Detail gehen. Interessant ist aber, dass dieser Schritt der Liebe und des Mitgefühls bereits ein gewisses Maß an Verantwortung erfordert; die Verantwortung, etwas zu tun, um anderen zu helfen und das auch tatsächlich zu tun. Seine Heiligkeit sagt immer, Mitgefühl beinhalte nicht nur, zu denken: „Ich wünschte, jemand anderes würde dir helfen.“ Stattdessen umfasst es auch die Verantwortung, so viel wie möglich in der jeweiligen Situation, in der sich die andere Person befindet, zu helfen.  

(10) Der außergewöhnliche Entschluss

Der nächste Schritt ist die Entwicklung des außergewöhnlichen Entschlusses (tib. lhag-bsam). Dieser besteht darin, die Verantwortung zu übernehmen – Seine Heiligkeit sagt manchmal die „universelle Verantwortung“ –, tatsächlich das Leiden aller Wesen zu beseitigen und allen zu helfen. Dies ist bereits im großen Mitgefühl enthalten, das wir bei der Huldigung am Anfang hatten. Wir sind fest entschlossen, den anderen zu helfen und sie den ganzen Weg zur Erleuchtung zu leiten. Das können wir natürlich auch in die Tonglen-Praxis mit hineinnehmen, aber hier ist es ein separater Schritt, da es etwas ganz Außergewöhnliches ist. Wir können diesen außergewöhnlichen Entschluss folgendermaßen formulieren: „Ich werde die Verantwortung dafür übernehmen, nicht nur allen Wesen Nahrung zu spenden, sondern sie auch zur Befreiung und Erleuchtung zu führen.“

(11) Bodhichitta

Schließlich kommen wir zur Entwicklung des Bodhichitta. Wenn wir prüfen, um zu sehen: „Nun, bin ich in der Lage, jedem zur Erleuchtung zu verhelfen? Offensichtlich nicht; also ist der einzige Weg, wie ich diese Fähigkeit erlangen kann, selbst erleuchtet zu werden.“ Die Emotionen, die wir beim Bodhichitta kultivieren, basieren auf all den vorherigen Schritten: die herzerwärmende Verbindung mit jedem, Liebe und Mitgefühl und die Verantwortung, jeden zur Erleuchtung zu führen. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass Bodhichitta auf der Überzeugung der Möglichkeit beruhen muss, dass es möglich ist, Erleuchtung zu erlangen, und das nicht nur für uns, sondern auch für alle anderen Wesen. 

Diese Überzeugung basiert auf dem Verständnis, dass unsere individuelle, noch nicht eingetretene Erleuchtung ein gültiges Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage unseres Geisteskontinuums und der Buddhanatur-Faktoren darin ist. Mit dem Bodhichitta konzentrieren wir uns auf unsere noch nicht eingetretene Erleuchtung mit der Absicht, sie zu erreichen und allen Wesen dadurch zu nützen. Wir können es auch andersherum formulieren: Wir beabsichtigen, allen Wesen zu nützen, und deshalb beabsichtigen wir, die Erleuchtung zu erlangen, um dies tun zu können. Das ist Bodhichitta. Es ist nicht nur: „Ich liebe einfach jeden!“

Ich möchte am Rande einen weiteren Punkt erwähnen, da ich weiß, dass einige von euch bereits darüber Bescheid wissen, was ein Negationsphänomen ist. Wenn im Buddhismus von Zukunft die Rede ist, handelt es sich dabei um Negationsphänomene – das Noch-nicht-Stattfinden von etwas; hier das Noch-nicht-Stattfinden unserer eigenen, individuellen Erleuchtung. Obwohl es sich um etwas handelt, das nicht jetzt oder morgen geschieht und auch nicht irgendwo anders stattfindet, ist es dennoch etwas, das existiert und ein Objekt gültiger Wahrnehmung sein kann, wenn für uns auch nur konzeptuell. Um darüber zu meditieren, müssen wir eine Vorstellung von dem Zustand haben, den wir noch nicht erreicht haben, damit wir wissen, worauf wir uns beim Bodhichitta konzentrieren müssen. Was ist also unser Objekt der Ausrichtung? Es ist ein Negationsphänomen, nämlich das Noch-nicht-Stattfinden unserer eigenen Erleuchtung.

Wie können wir uns nun darauf konzentrieren? Das ist keine einfache Frage, und die meisten von uns haben, glaube ich, keine Ahnung, was sie dabei tun sollen. Wir sitzen und meditieren einfach darüber, dass wir alle lieben, aber das ist kein Bodhichitta. Wir benötigen eine geistige Erscheinung, die unsere individuelle, noch nicht eingetretene Erleuchtung repräsentiert und die als unser Objekt der Ausrichtung dient. Dazu kann eine visualisierte Buddha-Gestalt dienen, oder im Tantra wir selbst als Buddha-Gestalt. Dies nehmen wir dann konzeptuell durch die Kategorie unserer noch nicht eingetretenen Erleuchtung, die es repräsentiert, wahr.

Wenn wir uns auf einen Buddha vor uns konzentrieren, uns die Qualitäten beispielsweise von Buddha Shakyamuni in den Sinn rufen und uns der von ihm vorgegebenen sicheren Richtung anvertrauen, handelt es sich dabei um Zuflucht, nicht um Bodhichitta. Bodhichitta ist nicht auf die Erleuchtung von jemand anderem ausgerichtet. Es konzentriert sich auf unsere eigene Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat. Wir können nicht die Erleuchtung des Buddha erlangen, sondern nur unsere eigene. Es ist etwas Individuelles. Wir konzentrieren uns auch nicht einfach auf die allgemeine Kategorie „Erleuchtung“, sondern auf eine individuelle Sache, eine individuelle Erleuchtung – unsere eigene –, zu der es noch nicht gekommen ist. Auch sprechen wir nicht von der Erleuchtung einer unmöglichen Seele, eines unmöglichen „Ichs“, sondern von der noch nicht eingetretenen Erleuchtung des konventionellen „Ichs“. Deshalb müssen wir ganz klar abgrenzen, wer dieses „Ich” ist, das noch kein Buddha ist. Ansonsten wird unser Weg zur Erleuchtung zu einem großen Egotrip.  

Wenn wir uns bei der resultierenden Zuflucht auf unsere eigene, individuelle, noch nicht eingetretene Erlangung von Buddha, Dharma und Sangha konzentrieren, geben wir uns der sicheren Richtung hin, die von diesen vorgegeben wird. Obwohl dies die besondere Mahayana-Form der Zuflucht ist, ist sie dennoch nicht dasselbe wie Bodhichitta. Sie besitzt nicht die volle Kraft der Schritte, die wir in unseren elf Runden zur Entwicklung von Bodhichitta besprochen haben, und sie beinhaltet auch nicht die Verpflichtungen und Übungen, die daraus folgen.

Zusammenfassung

Die richtige Entwicklung von Bodhichitta kann man nicht einfach so trivialisieren oder vereinfachen. Es ist ein sehr anspruchsvoller, fortgeschrittener Praxisschritt. Wie Shantideva, Tsongkhapa und alle anderen Meister sagten: Es ist unglaublich – Bodhichitta ist das wunderbarste Juwel, das all unsere Wünsche erfüllt. Entwickeln wir es richtig und sind wir vollkommen aufrichtig, kann es unser aller Wünsche erfüllen. Wenn wir die großen Meister bitten, Gebete für uns zu sprechen, so sollten wir sie, laut einiger Texte, nicht um etwas bitten wie: „Mögen wir weltlichen Erfolg haben; möge unser Geschäft erfolgreich sein; möge unsere Tochter einen guten Ehemann finden.“ Das Wunderbarste, worum wir einen Lama in einem Gebet bitten können, wäre: „Möge ich dazu in der Lage sein, authentisches Bodhichitta zu erzeugen.“

Wir sind in diesem Seminar offensichtlich nicht besonders weit mit dem Text gekommen. Wir sind noch nicht einmal zur Darstellung des Tonglen gekommen, aber ich denke, das ist ganz in Ordnung. Tonglen korrekt zu praktizieren ist nämlich sehr fortgeschritten, aber wenn wir eine Vorstellung davon haben, woran wir arbeiten müssen, um uns darauf vorzubereiten, dann kann das sehr effektiv sein. Richtig und aufrichtig Tonglen zu üben, mit all den eindrucksvollen und manchmal sogar furchteinflößenden Visualisierungen, die damit einhergehen, ist kein Spiel, das man auf die leichte Schulter nehmen sollte, denn es kann uns wirklich aus der Bahn werfen. Wir sollten uns nicht dazu drängen, diese Praxis zu machen, bevor wir emotional dazu bereit sind.

In letzter Zeit gehe ich zu einem Chiropraktiker, um meinen unteren Rücken etwas zu lockern. Ich bin sehr versteift, und so kann er keinen zu großen Druck ausüben. Wenn er zu fest zudrücken würde, damit die Knochen und Muskeln knacken und sich rühren, kann das enormen Schaden anrichten. Er muss sehr behutsam vorgehen und sich langsam herantasten, damit ich flexibel werbe. Beim Üben von Tonglen verhält es sich genauso. Unser Geist und unser Herz sind unglaublich steif; wir können sie nicht einfach zwingen und sagen: „Hör auf, selbstsüchtig zu sein und denk an alle!“ Damit könnten wir emotionalen Schaden anrichten. Tonglen braucht eine gute Vorbereitung. 

Fragen

Wir haben darüber gesprochen, dass der Geist und unsere Ignoranz anfangslos sind. Warum also ist die Natur des Geistes seit anfangsloser Zeit rein und klar? 

Geistige Aktivität – sprich, der Geist – und Unwissenheit haben beide keinen Anfang, das ist wahr. Die Unwissenheit ist jedoch ein flüchtiger Makel (tib. glo-bur-gyi dri-ma); sie liegt nicht in der Natur des Geistes in dem Sinne – sie ist kein wesentlicher Teil bzw. die Natur des Geistes, denn sie kann beseitigt werden. Warum ist das so? Weil Unwissenheit und Gewahrsein Gegenteile sind und sich gegenseitig ausschließen; wir können nicht gleichzeitig über beide verfügen – sie widersprechen sich. Denn wenn wir ein wenig verstehen, aber immer noch nicht wirklich wissen, dann ist das noch kein richtiges Verständnis. Da sind immer noch ein wenig Unwissenheit und Verwirrung. Sie sind zwar weniger, aber trotzdem noch da. Haben wir ein vollkommenes Verständnis erlangt, können Unwissenheit und Gewahrsein nicht mehr gleichzeitig in uns existieren.

Aus diesem Grund und aufgrund der Tatsache, dass die Gewohnheit der Unwissenheit stärker ist als die Gewohnheit des korrekten Verstehens, gibt es keine „Stütze“ (tib. rten) für die Gewohnheit der Unwissenheit. Das ist das Wort, das im Tibetischen verwendet wird – es gibt keinen unterstützenden Faktor hinter der Unwissenheit, der sie gültig machen würde. Für gültiges Verstehen gibt es jedoch eine Menge unterstützende Faktoren. Aus diesem Grund kann gültiges Verstehen seine Position halten, um das Bild des tibetischen Wortes zu verwenden. Es fällt nicht auseinander, wenn die Unwissenheit wieder auftaucht; sie erschüttert unser gültiges Verständnis nicht, auch wenn wir uns vielleicht eine Zeit lang nicht daran erinnern. Wenn wir das Stadium erreichen können, in dem das Gewahrsein die Unwissenheit vollständig ersetzt hat, wird sie nicht wiederkommen; sie ist also entfernbar.

Hier ist nun besonders wichtig, dass alle störenden Emotionen und Geisteshaltungen ebenfalls flüchtig sind und endgültig entfernt werden können, da sie alle auf Unwissenheit beruhen. Die positiven Eigenschaften wie Liebe, Mitgefühl und so weiter können jedoch nicht beseitigt werden, weil das, was ihnen zugrunde liegt und sie bestätigt – das, was sie unterstützt –, ein korrektes Verständnis der Realität ist. Obwohl die negativen Eigenschaften für immer entfernt werden können, ist das bei den positiven nicht der Fall. Je mehr Verständnis wir haben, desto mehr werden sie gestärkt. Es ist von größter Wichtigkeit, dies zu verstehen.

Unwissenheit und störende Emotionen sind die Schleier, die unsere Befreiung verhindern. Genauso wie wir diese beseitigen können, ist es auch möglich, uns von den Schleiern zu lösen, die Allwissenheit verhindern. Was sind diese? Es sind die Erscheinungen, die aufgrund der Gewohnheiten des Greifens nach wahrhaft begründeter Existenz entstehen. Aufgrund dieser Gewohnheiten lässt unser Geist geistige Hologramme entstehen, bei denen es so erscheint, als wäre alles von einer Linie umgeben. Wir mögen vielleicht wissen, dass diese Erscheinungen nicht der Wahrheit entsprechen und Unsinn sind, aber sie erscheinen uns trotzdem so. Das hindert uns daran, alles zu wissen, alle Zusammenhänge von Ursache und Wirkung zu erkennen. Es ist, als würden wir durch ein Periskop schauen und nur einen Ausschnitt wahrnehmen. Unser Verstand ist begrenzt; alles scheint, von festen Linien umgeben zu sein, die die Dinge voneinander abgrenzen. 

Dieses Hervorbringen von Erscheinungen kann beseitigt werden. Haben wir eine nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit, selbst als Arya, gibt es an diesem Punkt keine Erscheinungen von wahrhaft begründeter Existenz mehr. Wenn wir das für immer aufrechterhalten können, ohne Unterbrechung, und gleichzeitig auch in der Lage sind, die konventionelle Wahrheit wahrzunehmen, ohne dass sie in sich selbst begründet zu sein scheint, was nur ein Buddha kann, wird diese Periskop-Sicht niemals wieder zurückkehren. Dann sind wir uns aller Dinge gewahr; es gibt keine Einschränkung mehr, wenn es darum geht, die Verflechtungen von allem zu sehen – das ist Allwissenheit. Dies ist Teil des Beweises der Allwissenheit, dass es tatsächlich möglich ist, sie zu erlangen und das wiederum unterstreicht unser Ziel des Bodhichitta, die Möglichkeit Erleuchtung zu erlangen. 

Ein letzter Punkt noch. Sind die Unwissenheit und die Gewohnheiten der Unwissenheit für immer aus dem Geisteskontinuum entfernt, behält die geistige Aktivität in diesem Kontinuum trotzdem noch ihre wesentliche Natur als geistige Aktivität bei. Mit anderen Worten: die Naivität, die Unwissenheit und das Hervorbringen trügerischer Erscheinungen sind keine definierenden Merkmale von geistiger Aktivität; sie können entfernt werden. Die wesentliche Natur – das definierende Merkmal von geistiger Aktivität in einem Geisteskontinuum, das, einfach gesagt, bloße Klarheit und Gewahrsein ist, nämlich das bloße Auftauchen von Erscheinungen und die Wahrnehmung davon – dies kann nicht beseitigt werden. Könnte es entfernt werden, würde die geistige Aktivität in einem Geisteskontinuum ihre wesentliche Natur verlieren. Darüber müssen wir nachdenken. Aus diesem Grund enden geistige Kontinua niemals. Es gibt nichts, das wir tun können, um sie zu beenden.  

Lasst mich es auf ganz einfache Weise ausdrücken, und dann werden wir Schluss machen. Gäbe es einen sich gegenseitig ausschließenden Zustand des bloßen Entstehens und Wahrnehmens – des Hervorbringens und Wahrnehmens von Erscheinungen –, einen Zustand, in dem keine geistigen Hologramme hervorgebracht und nicht wahrgenommen werden, wie könnten wir das jemals wissen? Nach diesem Koan zum Nachdenken, lasst uns mit einer Widmung enden:

Möge das Verständnis und die positive Kraft, die aus all dem entstanden sind, immer tiefer gehen und als Ursache für die Erleuchtung zum Wohle aller wirken.

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