Über die Notwendigkeit des Leerheitsverständnisses für Tonglen

Schlüsselelemente des tiefsten Bodhichitta

Wir haben bereits darüber gesprochen, wie man das tiefste Bodhichitta entwickelt, und dabei gesehen, wie wichtig und nützlich es für die Praxis des Tonglen, des Gebens und Nehmens, ist. Nun sind wir bereit, das relative bzw. konventionelle oder oberflächliche Bodhichitta anzugehen. In diesem Kontext wird Tonglen als Teil der Entwicklung des relativen Bodhichittas praktiziert.

Es gibt hauptsächlich zwei Traditionen, wie man die Bodhichitta-Motivation entwickeln und stärken kann. Eine ist die siebenteilige Meditation zu Ursache und Wirkung, welche sechs Ursachen bzw. Schritte beinhaltet, die zu einem siebten Schritt führen, welcher die Wirkung bzw. das Resultat darstellt: die Entwicklung von Bodhichitta. Nachdem wir Gleichmut entwickelt haben, frei von Anhaftung, Ablehnung und Gleichgültigkeit jedem gegenüber, beginnen wir damit, uns vor Augen zu führen, dass alle Wesen unsere Mutter gewesen sind. Wir machen uns bewusst, wie viel Güte wir von jedem Wesen erfahren haben und so weiter. Die andere Methode besteht darin, unsere Einstellung uns selbst und anderen gegenüber gleichzusetzen und zu auszutauschen.

Laut Seiner Heiligkeit des Dalai Lama birgt die erste Methode eine gewisse Gefahr, und die zweite ist die etwas sicherere Option. Die Gefahr bei der ersten Methode besteht in Folgendem: Haben wir kein solides Leerheitsverständnis, insbesondere der Leerheit von uns selbst als Person, könnte die Tatsache, dass wir anderen gegenüber freundlich und hilfsbereit begegnen in Anbetracht der Tatsache, dass jedes Wesen unsere Mutter gewesen ist und gut zu uns war, ein egoistisches Motiv haben. Wir denken vielleicht: „Da sie nett zu mir waren, will und muss ich ihnen helfen.“ Die Betonung liegt dabei ein wenig auf mir. Bei der anderen Methode, dem Gleichsetzen und Austauschen unserer Einstellung uns selbst und anderen gegenüber, besteht diese Tendenz nicht, denn diese basiert auf der Einsicht, dass wir und alle anderen Wesen gleich sind; wir alle möchten glücklich und niemand möchte unglücklich sein und so weiter. Das hat nicht wirklich etwas mit mir zu tun.

Haben wir jedoch ein gefestigtes Verständnis der Leerheit – es muss nicht unbedingt perfekt sein –, besteht die Gefahr selbstbezogener Gedanken bei der Bodhichitta-Meditation überhaupt nicht, und wir können nach Belieben beide Methoden anwenden, oder was an dieser Stelle oft empfohlen wird – zumindest laut Serkong Rinpoches Kommentar –, sind die elf Stufen der Entwicklung von Bodhichitta, die beide Methoden kombinieren.

Wir haben gesehen, wie wichtig ein Verständnis der Leerheit für Tonglen ist, also lasst uns nun nochmal einen Blick darauf werfen, bevor wir uns diesen elf Schritten zuwenden; ich werde jedoch nicht zu sehr ins Detail gehen. Lasst uns betrachten, inwiefern ein Leerheitsverständnis wesentlich ist und wie es funktioniert, um Bodhichitta entwickeln zu können, ohne diese Gefahr des Greifens nach einem „Ich“ oder „Du“.

Was ich an dieser Stelle erörtern möchte, ist der Unterschied zwischen einem jeden individuellen Lebewesen mit einem individuellen Geisteskontinuum und der Vorstellung, dass sie alle eine in sich selbst begründete, inhärente Identität besitzen. Haben wir kein eindeutiges Verständnis des Unterschiedes zwischen diesen beiden, was nicht so einfach so ist, macht das das Ganze ein wenig verwirrend und schwierig. 

Im Umgang mit anderen wollen wir zwei Extreme vermeiden. Das eine Extrem ist, die Gesamtheit der Lebewesen oder gar das ganze Universum zu einer großen „Suppe“ zu machen, in der es alles dasselbe ist, wie eine große, undifferenzierte Masse. Des Weiteren sollten wir die Denkweise vermeiden, dass es Lebewesen und geistige Kontinua gibt, die allerdings völlig anonym sind. Das andere Extrem ist der Gedanke, jedes Wesen habe eine in sich selbst begründete, inhärente Identität, mit der wir sie identifizieren und die uns dauerhaft und wie eingebrannt erscheint; sei es eine statische Identität, die wir ihnen in Bezug auf das, was sie in dem jeweiligen Leben sind – Mensch, Frau, Mann, Kakerlake oder was auch immer –, geben, oder die unserer Mutter. Wir sollten es vermeiden, jedem die statische, inhärente Identität zu geben, unsere Mutter zu sein.

Definierende Merkmale

Das, worum es hierbei geht, sind definierende Merkmale (tib. mtshan-nyid, Skt. lakaṣaṇa). Alle gültig wahrnehmbaren Phänomene haben auf konventioneller Ebene definierende charakteristische Merkmale, die es uns ermöglichen, beispielsweise bei der Betrachtung einer Gruppe von Menschen ein Individuum von einem anderen zu unterscheiden. Dies tun wir mithilfe des Aggregates des auseinanderhaltenden Gewahrseins (tib. ’du-shes). Auf der Grundlage dieser definierenden Merkmale ordnen wir die Dinge, die wir sehen, konzeptuell in Kategorien gültig wahrnehmbarer individueller Gegenstände, Geschlechter oder Personen, wie Mary und John usw. ein.

Was sind nun diese definierenden charakteristischen Merkmale? Sie sind Zuschreibungsphänomene, die nicht unabhängig von dem, das durch sie gekennzeichnet ist, existieren und wahrgenommen werden können. Definierende Merkmale sind jedoch keine in sich selbst begründete, inhärente „Dinge“, die in den durch sie charakterisierten Gegenständen auffindbar sind. Ihre Existenz ist lediglich als das erwiesen, worauf sich die Kategorie bzw. das Konzept „definierende charakteristische Merkmale“ und die Worte „definierende charakteristische Merkmale“ beziehen, wenn sie auf der Grundlage von durch sie charakterisierten Gegenständen geistig zugeschrieben und bezeichnet werden.

In diesem Punkt unterscheiden sich nun die Prasangika- und Svatantrika-Systeme. Nehmen wir an, wir bezeichnen geistig einen Gegenstand, den wir sehen, als die Person Mary und ordnen mit anderen Worten diesen Gegenstand den Kategorien bzw. Konzepten „Person“ und „Mary“ zu.

  • Laut Prasangika ist die Existenz dieses Gegenstands als Person und als Mary lediglich insofern begründet, dass sich die Konzepte und Worte „Person“ und „Mary“ auf die Grundlage eines Gegenstandes, den wir sehen, beziehen.
  • Svatantrika behauptet, dass bei der geistigen Zuschreibung etwas auf der Seite des Gegenstands zu finden ist – nämlich dessen definierenden charakteristischen Merkmale als Person und als Mary – und dass gültige geistige Zuschreibung in Verbindung mit diesen funktioniert.
  • Prasangika sagt, ja, konventionell gesehen hat dieser Gegenstand die definierenden Merkmale einer Person und von Mary, und sie sind es, die uns erlauben, den Gegenstand als Person und Mary zu identifizieren und sie von einer Attrappe und von John zu unterscheiden. Die Existenz dieser definierenden Merkmale ist jedoch lediglich insofern erwiesen, dass sich die Konzepte und Worte „definierende charakteristische Merkmale“ auf eine Grundlage beziehen, die sie kennzeichnen. 

Das grundlegendste definierende charakteristische Merkmal von etwas ist dasjenige, das es uns erlaubt, einen Gegenstand als etwas Individuelles und gültig Wahrnehmbares einzuordnen bzw. zu unterscheiden. Wenn, wie es im Svatantrika-System vertreten wird, dieses Merkmal auf der Seite eines Gegenstands wie z.B. eines geistigen Kontinuums der sich ständig verändernden fünf Aggregate auffindbar wäre, dann wäre es wie ein Strichcode irgendwo in seinem Inneren. Hätte dieses Merkmal die Kraft, wenn auch nur in Verbindung mit geistiger Zuschreibung, die Existenz dieses geistigen Kontinuums als etwas Individuelles und gültig Wahrnehmbares zu etablieren, wäre es so, als ob dieser Strichcode eine dicke Linie um dieses Kontinuum herum erzeugen würde, die dessen Existenz als ein eigenständiges, individuelles und gültig wahrnehmbares Objekt, getrennt von allem anderen, begründet. 

Das Prasangika-System widerspricht dem. Die Existenz eines solchen definierenden Merkmals, das es ermöglicht, dieses Geisteskontinuum als individuelles Phänomen zu unterscheiden, ist nur insofern erwiesen, dass sich das Konzept und der Begriff „definierendes charakteristisches Merkmal“ auf eine Grundlage – nämlich die Abfolge der fünf sich ständig im Wandel befindenden Aggregate – bezieht. Die Aggregate fungieren also als Grundlage der geistigen Zuschreibung und sind in Bezug auf ihre Abfolge dem Gesetz von Ursache und Wirkung unterworfen. Das ist nicht zufällig, denn es ist nicht so, dass man einfach irgendeinen Moment eines beliebigen Geisteskontinuums zu einer Sache zusammenfügen könnte.

Wenn wir die Gegenstände in einem Raum betrachten, ist es kein Zufall, dass wir im Geiste konzeptuell Linien um all die verschiedenen farbigen Formen ziehen und sie auf beliebige Weise zusammensetzen, um Objekte zu bilden. Da sind nämlich Objekte in dem Raum, gültig wahrnehmbare Objekte, aber als Ganzes sind sie lediglich insofern erwiesen, dass wir sie auf der Grundlage ihrer Teile geistig bezeichnen. Es gibt in Wirklichkeit keine Linien, die verschiedene farbige Objekte verbinden. In unserem Geist könnten wir beispielsweise die farbige Form des Haares einer bestimmten Person mit der farbigen Form der rosafarbenen Wand dahinter und der farbigen Form des kleinen weißen Stücks am unteren Rand des Bildes darüber verbinden. Dann ziehen wir geistig eine Linie darum und machen daraus ein Objekt – in Wirklichkeit macht es das jedoch natürlich nicht zu einem Objekt, nicht wahr? Und warum nicht? Weil ein solches Objekt keine Funktion erfüllen kann; es kann nichts tun.

Dies ist eine sehr interessante Frage in Hinblick auf Wahrnehmung. Wir nehmen Muster von farbigen Formen dessen, was wir sehen, wahr. Das sind die Informationen, die wir von unseren Augen erhalten. Wie in aller Welt teilen wir nun diese Erfahrung in Objekte auf, die funktionieren und gültig wahrgenommen werden können? Es ist nicht so, dass es tatsächliche Linien um eine Ansammlung von farbigen Formen gibt, die sie als spezifisches, individuelles Objekt begründen. In welcher farbigen Form, die Teil eines Objekts ist, können wir nun das unterscheidende Merkmal des gesamten Objekts finden? Auf der Grundlage vereinbarter Konventionen – basierend darauf, welche Funktion ein Objekt erfüllt – gibt es eine Reihe von definierenden charakteristischen Merkmalen, die festlegen, was eine Person oder eine Wand ist. Die Existenz dieser Dinge – einer Person, einer Wand usw. – lässt sich nur in einem konzeptuellen Rahmen, mit dem sie geistig zugeschrieben und mit Begriffen bezeichnet werden, feststellen. Und Wörter sind schließlich nur willkürliche Geräusche, denen durch vereinbarte Konventionen Bedeutungen zugewiesen werden. Unsere geistige Zuschreibung einzelner Gegenstände ist gültig, wenn sie mit den vereinbarten Konventionen übereinstimmt und unsere Wahrnehmung nicht durch eine gültige Wahrnehmung der konventionellen Wahrheit des Objekts widerlegt wird – so wie die Tatsache, dass wir unsere Brille aufsetzen, der Gültigkeit eines Objekts widerspricht, das wir zuvor nur verschwommen gesehen haben. Genauso muss unsere geistige Zuschreibung nicht durch eine gültige Wahrnehmung der tiefsten Wahrheit widerlegt werden, um gültig zu sein, die der Tatsache widerspricht, dass Dinge auf unmögliche Weise existieren.

Um es noch einmal zu wiederholen: konventionell können wir sagen, es gibt definierende Merkmale, und wir sprechen hier nur von den grundlegendsten, definierenden Merkmalen von einem gültig wahrnehmbaren Objekt und den definierenden Merkmalen des Objekts, um das es geht, und welche Art von Objekt es ist usw. Dies gilt für jedes einzelne geistige Kontinuum, welches als Grundlage für die Zuschreibung einer Person dient.

Ein „Geisteskontinuum” hat ein definierendes Merkmal: Es ist eine individuelle Abfolge geistiger Aktivität, die aus fünf sich ständig verändernden Aggregaten besteht. Die Abfolge basiert auf der Erfahrung der Resultate des eigenen Verhaltens gemäß dem Karma, gemäß Ursache und Wirkung. Ein individuelles Geisteskontinuum ist also nicht einfach eine zufällige Abfolge von Erfahrungsmomenten. Es hat ein individuelles, definierendes charakteristisches Merkmal, sodass unser Aggregat des auseinanderhaltenden Gewahrseins es korrekt von anderen unterscheiden kann. Es gibt jedoch keine Linie um ein solches Kontinuum, die durch ein selbst-begründendes definierendes Merkmal erzeugt wird, das auf der Seite jedes Moments des Kontinuums zu finden ist und das dessen Existenz als individuelles Kontinuum festlegt. Konzeptuelle Kategorien wie „individuelle Gegenstände”, „Geisteskontinua”, „Personen” usw. und die jeweiligen Begriffe für sie gibt es in allen Sprachen, und es gibt individuelle Gegenstände, welche die definierenden Merkmale dieser Kategorien erfüllen, ohne dass diese Merkmale auf der Seite der Kategorien oder der Gegenstände auffindbar sind, die in diese Kategorien gehören. Das ist tiefgründig, nicht wahr?

Das Chittamatra-System nimmt hier nun eine hilfreiche Präzisierung vor. Es gibt keine „Haken“ – d.h. auffindbare charakteristische Merkmale – auf der Seite eines Objekts, an denen, wenn das Objekt konzeptuell wahrgenommen wird, jeder der individuellen Begriffe und Kategorien – sprich, individuelle Identitäten –, die ein Geisteskontinuum hat oder haben könnte, „aufgehängt“ bzw. geistig zugeschrieben werden könnte. Es gibt keinen solchen Haken auf der Seite des Objekts für die Identität von etwas als „männlich“, „weiblich“, „Mensch“, „Kakerlake“, „Mutter“, „meine Mutter in einem früheren Leben“, welche etwas aus eigener Kraft – aufgrund des Hakens – dazu bringt, eine solche Identität zu besitzen. Dies ist der Fall, obwohl all diese Begriffe und Kategorien auf der Grundlage der vergangenen Abfolge von Erfahrungen, die dieses individuelle Geisteskontinuum ausmachen, konventionell und gültig benannt werden können.

Alle geistigen Kontinua sind konventionell gesehen individuell und haben verschiedene Identitäten in verschiedenen Leben. Sie haben jedoch keine inhärente, in sich selbst begründete Individualität, an der – wie an einem Haken, der in ihrem Inneren steckt – inhärente, in sich selbst begründete Identitäten in jedem Leben aufgehängt bzw. zugeschrieben werden können. Woher wissen wir nun, dass eine Person – eine Zuschreibung auf der Grundlage eines individuellen Geisteskontinuums – „meine Mutter“ gewesen ist? Denn auf der Seite des geistigen Kontinuums ist nichts zu finden, was die Existenz der Person als „meine Mutter“ begründet. Was beweist, dass dieses bestimmte Geisteskontinuum meine Mutter war?

Es gibt das Konzept und den Begriff „Mutter“ als vereinbarte Konvention, und diese kann dem Geisteskontinuum zugeschrieben werden. Diese Zuschreibung wird nicht durch gültige, auf Logik basierende schlussfolgernde Wahrnehmung (tib. rjes-dpag, Skt. anumāna) widerlegt – darauf werden wir später noch genauer eingehen. Sie wird auch nicht durch gültige Wahrnehmung der tiefsten Wahrheit widerlegt. Diese Person, eine Zuschreibung auf der Grundlage eines Geisteskontinuums, ist frei von jedem auffindbaren, inhärenten, selbst-begründenden definierenden Merkmal, das sie als meine Mutter kennzeichnet, selbst in Verbindung mit ihrer geistigen Zuschreibung als solche. Die geistige Zuschreibung der Person als „meine Mutter“ ist also gültig und wird lediglich als das festgelegt, worauf sich das Konzept und der Begriff auf der Grundlage dieser Person und des geistigen Kontinuums beziehen. Das definierende Merkmal, welches uns erlaubt, die Person als „meine Mutter“ zu bezeichnen bzw. zu unterscheiden, ist jedoch nicht in der Grundlage der Zuschreibung zu finden, wie eine Art Haken, der dort auf in sich selbst begründete Weise existiert und an dem das Konzept und der Begriff „Mutter“ als inhärente Identität befestigt sind. 

Ich erwarte nicht – und auch ihr solltet das nicht erwarten –, dass ihr all das und die Auswirkungen davon vollständig versteht. Falls ihr diese Erklärungen zum ersten Mal hört, lasst euch bitte nicht entmutigen. Es wichtig, zu verstehen, worum es geht, um jedes Wesen als unsere Mutter zu unterscheiden bzw. zu erkennen und auch so mit ihnen umgehen zu können. Es geht darum, wie man die Tatsache auflöst, dass jeder Mensch ein Individuum ist und trotzdem keine inhärente, in sich selbst begründete Identität besitzt und dennoch nicht anonym ist, wie Planeten, die mit Nummern benannt werden. Es ist nicht so, dass jeder Mensch einfach eine unpersönliche Nummer ist, wie Geisteskontinuum #12379. Wie man ein positives emotionales Gefühl der Liebe und des Mitgefühls allen gegenüber entwickeln kann, das nicht darauf beruht, basierend auf der geistigen Zuschreibung danach zu greifen, dass alle Wesen inhärent unsere Mutter – und nur unsere Mutter – gewesen sind, ist ein sehr heikles Thema.

Wären wir alle eine einzige große Suppe, gäbe es keine Grundlage für positive Gefühle gegenüber einem Individuum. Wäre jeder anonym, nur eine Nummer, dann gäbe es keine Grundlage für eine emotionale Verbindung der Liebe und des Mitgefühls zu irgendjemandem. Gehen wir in das andere Extrem und geben allen eine inhärente Identität als unsere Mutter, die von ihrer eigenen Seite aus begründet ist, wird das zur Grundlage für störende Emotionen der Anhaftung und so weiter. Wir benötigen ein Verständnis der Leerheit und des Prozesses der geistigen Zuschreibung, um diese beiden Extreme zu vermeiden. Das ist sehr wichtig und eine durchaus heikle Sache. Deshalb weist Seine Heiligkeit der Dalai Lama darauf hin, dass die Methode für die Entwicklung von Bodhichitta, die darauf beruht, jeden als unsere Mutter zu erkennen, Gefahren birgt.

Mit Emotionen umgehen

Üben wir uns in relativem Bodhichitta – d.h. mit Liebe, Mitgefühl und anderen positiven Emotionen –, müssen wir sehr vorsichtig sein. Es ist nicht leicht, mit Emotionen zu arbeiten. Wie beim Sensibilitätstraining, das ich entwickelt habe, gilt es, die beiden Extreme, unsensibel und übermäßig emotional zu sein, zu vermeiden. Nur auf dieser Grundlage können wir Bodhichitta, Liebe und Mitgefühl richtig entwickeln. Es wird zum Desaster, wenn wir uns Bodhichitta mit übersteigerten emotionalen Ausbrüchen wie „Ich liebe dich! Du bist so wunderbar!“ nähern. Es ist immer besser und führt zu mehr Stabilität, diese Themen auf einer anfänglicheren Ebene anzugehen. Bevor wir wirklich tief in diese Bodhichitta-Praktiken einsteigen, benötigen wir ein gewisses Maß an emotionaler Reife. Die fortgeschrittene Stufe ist schwierig, und trotzdem gibt es da keinen Haken an der Sache, der impliziert, dass wir das nicht schaffen können.

Diese Erklärungsebene, obwohl sie nicht so leicht zu verstehen ist, ist etwas, mit dem wir arbeiten können – auch mit anderen Lehrern –, um immer tiefer zu gehen und unser Verständnis allmählich zu vervollständigen. Dann wird unsere Bodhichitta-Praxis viel stabiler und emotional reifer werden. Tendieren wir dazu, etwas emotional zu sein, fühlen wir uns leicht von der Praxis des Mitgefühls als Teil des Bodhichitta angezogen und denken vielleicht: „Oh, das ist wunderbar! Liebe für alle! Ist Mitgefühl nicht eine herrliche Sache?“ So unserer übermäßigen Emotionalität zu frönen, birgt die Gefahr, den Pfad zu verlieren und alles zu einer selbstverliebten Übung unserer eigenen emotionalen Ausschweifungen zu machen. Ich werfe das hier so in den Raum in der Hoffnung, dass dies von Nutzen ist und euch nicht nur verwirrt. Es handelt sich hierbei um etwas, das wir gut durchkauen und an dem wir arbeiten müssen. Es ist der einzige Weg, um emotionale Stabilität und Reife zu erlangen. 

Ist es uns mit dem buddhistischen Weg und dem Erlangen der Erleuchtung wirklich ernst, dann ist es von großer Wichtigkeit, diesen Pfad richtig zu gehen und nicht einfach so, wie es uns gefällt. Wie man es richtig macht, wird immer und immer wieder betont. Es ist die Kombination von Methode und Weisheit: Mitgefühl und Leerheitsverständnis. Wir müssen beides zusammenbringen; wir können nicht nur eines tun, weil es uns so besser gefällt, und denken: „Das ist schön; das fällt mir leicht.“ Es macht keinen Unterschied, ob wir uns zur emotionalen oder eher zur Verstand bezogenen Seite hingezogen fühlen. Beides sind Extreme, die der übermäßigen Emotionalität und der Gefühlslosigkeit, wie zum Beispiel bei jemandem, der so intellektuell orientiert ist, dass er keine Gefühle zulässt.

Wie ich in meinem Sensibilitätstraining immer wieder betone, ist übermäßige Emotionalität oft nur eine Show. Es ist eine große Show, ohne etwas Aufrichtiges dahinter. Ein solches Verhalten kommt oft einfach automatisch, aus Gewohnheit und weil die heutige Kultur es unterstützt; aber fühlen wir es auch wirklich? Gehen wir auf jemandem mit der übersteigerten emotionalen Haltung zu: „Oh, ich liebe dich so sehr! Ich will dir helfen. Lass mich dir doch helfen”, verscheuchen wir ihn nur. Derjenige würde sich überwältigt fühlen und Angst haben, wir könnten ihn gar verschlingen. So kann man niemandem helfen. Wir verhalten uns wie eine riesige Mutterspinne: „Oh, lass mich dir helfen; ich liebe dich!“ Diese etwas absurde Methode, sich eine Spinne vorzustellen – dem Ganzen eine absurde Dimension zu geben –, erlaubt uns, uns selbst zu überprüfen, um zu sehen, ob wir in ein solches Extrem verfallen. Absurde Bilder aus der Tierwelt können da ziemlich hilfreich sein. Shantideva sagt: „Verhalte dich wie ein Stück Holz.” Geht einfach nicht in dieses Extrem; sammelt euch und reagiert auf eine emotional reifere und stabilere Weise. Es bedeutet natürlich nicht, völlig wie ein Holzklotz zu werden und einfach nur dazusitzen und nichts zu tun.

Ein Verständnis der Leerheit ist nicht nur für die Tonglen-Praxis wichtig, um mit dem Leid anderer umgehen zu können, ohne völlig durchzudrehen, sondern auch, um die beiden emotionalen Extreme zu vermeiden: entweder nichts zu fühlen oder übermäßig emotional zu sein. In Verbindung damit verstehen wir die Tatsache, dass wir konventionell alle Individuen sind, da jedes geistige Kontinuum individuell ist und eine konventionelle Identität besitzt – wie z.B. unsere Mutter oder unser Freund – und gleichzeitig nichts Inhärentes auf der Seite eines Geisteskontinuums auffindbar ist, was ihm aus eigener Kraft eine solche Identität verleiht.

Wie kann es sein, dass wir alle dasselbe wahrnehmen?

Wir können noch einen weiteren Punkt hinzufügen, der sich auf die Tatsache bezieht, dass wir alle in etwa die gleiche Wahrnehmung der Welt haben. Wir alle sehen und bezeichnen diesen hölzernen Gegenstand über uns als „Balken“ oder sehen und bezeichnen ein bestimmtes Geisteskontinuum als unsere Mutter. Aber sehen und bezeichnen wir alle wirklich das gleiche individuelle Objekt? Auch hier müssen wir das Ganze im Hinblick auf Konventionen analysieren. 

Wir alle folgen derselben Konvention, nicht nur in Bezug auf Sprache – d.h. die Begriffe, die wir für bestimmte Dinge verwenden, wie „Mutter“ – sondern auch auf die Konventionen, die wir für konventionelle Objekte verwenden; die Konvention dessen, was unsere Mutter ist und was es bedeutet. Da draußen gibt es kein Objekt, das wir alle als in sich selbst begründet als unsere Mutter existierend ansehen und auf dessen Haken – auffindbar auf der Seite des Objekts – wir alle dieselbe geistige Zuschreibung und denselben Begriff stülpen.

An dieser Stelle ist das Chittamatra-Verständnis sehr hilfreich, obwohl dessen Standpunkt nicht so präzise ist. Es muss in vielerlei Hinsicht von den beiden Madhyamaka-Schulen präzisiert und ergänzt werden; trotzdem ist es sehr hilfreich, um zu verstehen, wie wir alle in der Lage sind, scheinbar das gleiche Objekt zu sehen, ohne dass dieses da draußen als etwas in sich selbst Begründetes existiert. Im Chittamatra wird erklärt, dass wir alle aufgrund unseres kollektiven Karmas sehen, was dasselbe Objekt zu sein scheint. Erscheinungen sind immer individuell. Es gibt Unterschiede im Winkel, in der Entfernung usw. und deswegen ist das, was wir sehen, für jeden von uns etwas anders.

Wenn zum Beispiel jeder von uns ein Foto dieses Zimmers machen würde, wäre jedes Bild anders, obwohl wir eigentlich sagen müssten, wir befinden uns im selben Zimmer. Woher wissen wir jedoch, dass wir im selben Raum sind? Ich will das Ganze jetzt nicht nochmal aufziehen, aber das ist das eigentliche Problem. Wie können wir beweisen, dass wir alle im selben Raum waren? Wenn jeder von uns ein Foto gemacht hat und wir es jemandem zeigen, sind das alles unterschiedliche Bilder; wir sind nicht im selben Raum! Es ist schwierig, zu beweisen, dass wir im selben Zimmer waren. Auch wenn wir vielleicht sagen, wir können den Boden berühren, um uns zu vergewissern, dass wir noch hier sind, sollten wir nicht denken, die Chittamatra-Position zu diesem Thema sei etwas für einfältige Idioten.

Das Studium der Leerheit ist etwas, das man lieben muss. Nur wenn wir Freude daran haben – ohne es zu übertreiben –, sollten wir uns dem gründlichen Studium der Leerheit widmen. Nur diese Art von Schüler ist der richtige Schüler für die Lehren über die Leerheit. Jemand, der nicht wirklich Freude daran hat, etwas über die Leerheit zu lernen, ist nicht der richtige Schüler.

Haben wir im Hinblick auf die Leerheit die Chittamatra-Erklärung verstanden, wie wir alle dasselbe Objekt aufgrund unseres kollektiven Karmas sehen, obwohl es nicht getrennt von einem Geist, der ihn wahrnimmt, existieren kann, sind wir bereit für den nächsten Schritt. Laut Prasangika bezeichnen wir alle dasselbe Objekt geistig mit derselben Zuschreibung und demselben Begriff, obwohl die Existenz des Objekts nicht kraft eines in ihm befindlichen definierenden Merkmals begründet ist.

Fragen

Gibt es Fragen dazu?

Da wir mehr oder weniger dasselbe Objekt sehen, neigen wir dazu, zu denken, es gäbe auf der Seite des Objekts etwas, das dessen objektive Existenz begründet. Die eigentliche Frage ist aber: Sehen wir wirklich dasselbe oder nicht? Und was bedeutet überhaupt das Wort „dasselbe”? Sind wir alle hier im „selben” Raum?

Dies betrifft die Konventionen und Begriffe, die wir verwenden, um auf gleiche oder ähnliche Objekte zu verweisen. Offensichtlich gibt es Konventionen, die wir als Baby mit der Sprache lernen: „das ist ein Tisch“, „das ist ein Stuhl“ usw. Jeder, der die gleiche Sprache spricht, lernt dieselben Worte. Andere Konventionen, wie z.B. „dies ist ein Objekt”, scheinen sich automatisch zu ergeben; das muss uns niemand beibringen. Obwohl wir alle dasselbe Wort „Tisch” kennen, ist mein Wissen darüber nicht dasselbe wie euer Wissen darüber. Außerdem sind dieses und jenes Objekt beides Tische, aber sie sind nicht derselbe Tisch. Denkt mal darüber nach.

Ist es in gewisser Weise wichtig, dass diese „Konventionen“ existieren?

Das ist eine sehr heikle Frage. Es ist wichtig zu verstehen, was es bedeutet, dass Konventionen existieren. Woher wissen wir, dass sie existieren? Der Beweis dafür liefert uns die Tatsache, dass sie funktionieren und in der Kommunikation dienlich sind. Wir bezeichnen alle möglichen ähnlichen Objekte mit der Konvention „Tische“. Wir ordnen sie alle in die konzeptuelle Kategorie der Tische ein und bezeichnen die Kategorie und die Gegenstände, die in sie passen, mit dem Wort „Tisch“. Im Gespräch mit anderen, die dieselben Konventionen und Worte verwenden, bezeichnen wir einen Gegenstand als „Tisch“, und unser Gesprächspartner versteht, was wir meinen. Auf diese Weise dienen Konventionen und Worte der Kommunikation.

Konventionen und Worte sind Zuschreibungsphänomene, die nicht unabhängig von einer Bedeutung oder von der Tatsache, sich auf etwas zu beziehen, existieren und wahrgenommen werden können. Wir verstehen uns gegenseitig und die Welt um uns herum auf der Grundlage dieser Konventionen oder Kategorien und Worte.

Erzeugt ein Geisteskontinuum, abgesehen von Leid, auch Karma? 

Ja, das tut es. Glück und Leid sind definiert als die Art und Weise, wie wir die Reifung unserer karmischen Potenziale erleben. 

Erzeugt das Geisteskontinuum eines Kindes Karma auf dieselbe Weise wie das eines älteren Menschen? Denn dem Geisteskontinuum zufolge ist das Leiden des Alters größer als das eines Kindes. 

Der Mechanismus ist bei Kindern und alten Menschen genau derselbe. Die Intensität und Art der karmischen Kraft hängen natürlich sehr von der Stärke der Absicht, der Motivation usw. ab. Ein Baby kann z.B. unheimlich egozentrisch und gierig sein: „Ich, ich, ich! Essen, Essen, Essen! Wenn ich meinen Willen nicht bekomme, werde ich weinen!“ Das ist jedoch etwas anderes, als wenn ein Erwachsener loszieht und jemanden erschießt. Offensichtlich unterscheiden sich verschiedene Babys in der Intensität ihrer Gier oder Wut, wenn sie ihren Willen nicht durchsetzen können. 

Kommt ein Geisteskontinuum irgendwann zu einem Ende?

Nein, ein Geisteskontinuum hat kein Ende; weder Anfang noch Ende. Das gilt für jedes Individuum, und das ist ein sehr wichtiger Punkt, den es zu verinnerlichen gilt, um die Bodhichitta-Meditationen erfolgreich praktizieren zu können. Dies ist der Fall, da die Tatsache, dass jedes Wesen unsere Mutter gewesen ist, auf der Theorie anfangsloser geistiger Kontinua basiert. Um das begreifen zu können, bedarf es ein Verständnis der Leerheit von Ursache und Wirkung. 

Inwiefern ist es unmöglich für eine Folge von Ursache und Wirkung, einen absoluten Anfang oder ein absolutes Ende zu haben? Kann es etwas geben, das ohne Anfang entsteht und sich dennoch verändert? Kann es etwas geben, das Veränderung durchläuft und keine Ursache hervorbringt und stattdessen einfach endet? Wie sieht es mit solchen Fragen aus, wenn wir über etwas so Grundlegendes wie geistige Aktivität sprechen? Würde das eintreten, was die Hinayana-Traditionen vertreten, nämlich das Ende des geistigen Kontinuums mit dem Tod, sobald wir die Buddhaschaft erlangt haben, wie könnten wir dann allen fühlenden Wesen helfen? Unsere Zeit wäre sehr begrenzt und mit dem Tod wäre sie vorüber. Diese Auffassung passt überhaupt nicht zum Mahayana-Ideal. 

Unwissenheit und die störenden Emotionen, die darauf beruhen, haben keinen Anfang. Im Buddhismus gibt es kein Konzept der Erbsünde wie „am Anfang besaßen wir vollkommene Verwirklichung und sind dann davon abgefallen“. Obwohl Unwissenheit anfangslos ist, kann es zu einer wahren Beendigung kommen, sodass diese nie wieder auftritt. Das richtige Verständnis ist nämlich das genaue Gegenteil, das nicht nur das Unverständnis bzw. das falsche Verständnis ersetzen, sondern sich ihnen auch entgegenstellen und sie tilgen kann, da es auf Logik und gültige Wahrnehmung gestützt ist. Besitzen wir ein solches Verständnis auf ununterbrochene Weise, werden wir nie wieder Unwissenheit erleben. An diesem Punkt haben wir die wahre Beendigung der Unwissenheit erlangt.

Geistige Aktivität ist das Entstehen eines geistigen Hologramms eines Objekts bei gleichzeitiger kognitiver Auseinandersetzung mit diesem Objekt. Sie besitzt nichts, das ihr genaues Gegenteil wäre und sie aushebeln könnte. Der Tod zum Beispiel, der Verlust einer grobstofflichen physischen Grundlage für diese Aktivität, ist auch kein solches Gegenteil, vor allem im Hinblick auf die buddhistische Auffassung, dass selbst beim Tod noch ein wenig subtile Energie als physische Grundlage vorhanden ist.

Um begreifen zu können, dass geistige Aktivität kein Ende hat, müssen wir die Leerheit verstehen. Dies führt uns zur Frage der Kontinuität. Wenn wir aufgehört haben, etwas zu denken, wie können wir es dann wieder denken? Ist ein Gedanke, z.B. der Wut, nur deswegen zu Ende, da wir nicht mehr aktiv daran denken oder nicht mehr wütend sind? Macht es das zu einer wahren Beendigung? Werden wir diesen Gedanken wirklich nie wieder haben? Werden wir nie wieder wütend werden? Bedeutet das, dass wir nur einmal wütend werden können? Die Leerheit ist hier ein sehr wichtiger Faktor, um zu einem richtigen Verständnis dieser Diskussion zu gelangen.

Wie Sie erklärt haben, gibt es Konventionen, um zu kommunizieren; dafür sind sie da. Wie sollten wir als buddhistische Praktizierende nun mit ihnen umgehen? Müssen wir sie dekonstruieren oder uns deren Leerheit vor Augen führen? Ich bin ein wenig verwirrt.

Genau, wir dekonstruieren alles. Es gilt, die Leerheit der Konventionen zu erkennen, welche wie eine Illusion sind und trotzdem ihre Funktion erfüllen. Sie sind nirgendswo mit einer Linie um sie herum auffindbar, wie eine Art riesiges Wörterbuch im Himmel, das aus sich selbst heraus existiert und all diese Konventionen enthält, die auf inhärente Weise ihre Bedeutungen besitzen. Worte sind lediglich akustische Klänge, denen eine Gruppe von Menschen eine Bedeutung zugewiesen hat. Man könnte zum Beispiel alle möglichen Objekte zusammenstellen und dann sagen: „Hey, all das nennen wir jetzt Tische, und dieses Wort bezieht sich auf all diese verschiedenen Gegenstände.“ Die Entwicklung von Sprachen und Konventionen ist wirklich eine erstaunliche Sache. Sie sind völlig von unserem Geist geschaffen. Es gibt rein gar nichts auf der Seite der Objekte, das sie von Natur aus mit einem bestimmten Klang assoziiert, dem eine Bedeutung zugeordnet ist.

Wir funktionieren Konventionen eigentlich? Es ist ja schließlich nicht nur so, dass jeder eine andere Kamera oder einen anderen Blickwinkel für dasselbe Bild hat, sondern wir haben tatsächlich verschiedene Kameras mit verschiedenen Objektiven, und manche Leute sind gute Fotografen und manche nicht usw. Woher wissen wir, dass wir genauso denken wie alle anderen? 

Aus diesem Grund ist alles wie eine Illusion. Es ist wirklich erstaunlich. Tsongkhapa sagt, die Illusion entsteht in Abhängigkeit. Er sagt, es sei unglaublich, wie illusorische Dinge auf der Grundlage von geistigem Zuschreiben und Leerheit in Abhängigkeit entstehen können. Es ist erstaunlich – er benutzt dieses Wort immer wieder – es unglaublich, und doch funktionieren die Dinge.

Bezüglich der Frage, wie das Ganze nun funktioniert, müssen wir zu Serkong Rinpoches kryptischer Bemerkung zurückkehren: „Gäbe es feste Wände, könnten wir nicht durch sie hindurchgehen. Da es solche festen Wände jedoch nicht gibt, können wir in der Tat hindurchgehen.“ Es gibt nichts, was die Dinge am Funktionieren hindert. So erklärt es der Buddhismus. Sie sind wie der Raum. Leerheit ist wie Raum – die Abwesenheit von etwas Greifbarem oder Hinderndem, das etwas davon abhält, drei Dimensionen einzunehmen.

Befänden wir uns in einem Käfig mit festen Gitterwänden, könnten wir nicht heraus; wir könnten nirgends hingehen. Da es jedoch keine solche festen Wände gibt, die uns einschließen, wie eine dicke Markierung, können wir rausgehen und Dinge tun. Wären wir mit einer soliden, unelastischen Plastikhülle umgeben, wären wir wie eingefroren, isoliert und könnten nichts tun. Wir könnten mit nichts interagieren, die Kette von Ursache und Wirkung wäre unterbrochen und nichts könnte funktionieren. Leerheit ist die vollkommene Abwesenheit von all dem.

In unseren Köpfen scheint es jedoch so, als wäre alles fest mit Plastik umwickelt. Wir denken: „Du warst es, der das zu mir gesagt hat“, oder „Du hast das vor zwanzig Jahren gesagt und meine Gefühle damit so sehr verletzt!“ Wir neigen dazu, einen Groll zu hegen oder haben Schuldgefühle: „Ich habe diesen Fehler schon einmal begangen; ich bin so dumm!“ Es kommt uns so vor, als wäre alles wie in eine feste Form gegossen oder in Plastik eingewickelt, und wir haben das Gefühl, wir kommen da nicht mehr raus und sitzen fest. „Ich werde das nicht loslassen; das ist meine Trophäe!” Wir fühlen uns schuldig und denken: „Ich bin schrecklich!“

Lasst uns noch zwei weitere Fragen zu diesem Thema behandeln.

Sind die fünf Aggregate eine gültige Grundlage für die Zuschreibung des „Ichs“?

Ja, die fünf Aggregate sind die Grundlage für die Zuschreibung des Ichs. Wir schreiben es schließlich nicht verschiedenen Stellen an der Wand zu.

Aber warum ist das so?

Weil sie jeden Moment unserer Erfahrung ausmachen. Darum geht es bei den Aggregaten. Sie sind sich ständig verändernde Faktoren, die jeden Moment der Erfahrung eines individuellen Geisteskontinuums ausmachen. Auf deren Grundlage verbinden wir dann die Punkte eines jeden Erfahrungsmoments innerhalb eines Geisteskontinuums und nennen das „Ich“.

Ist auch das Leid eine konventionelle Vereinbarung, so wie die Konventionen und Vereinbarungen, über die wir vorhin gesprochen haben?

Ja, natürlich. Wir haben Momente der Erfahrung, und diese können einer bestimmten Konvention zugeordnet werden, zu bestimmten definierenden Merkmalen einer bestimmten Konvention. Wenn wir eine bestimmte Art von Erfahrung als Leid bezeichnen, woran machen wir das fest? Leid ist das, worauf sich das Konzept „Leid” bezieht. Das bedeutet jedoch nicht, es existiert nicht. Wir nehmen es wahr – es tut weh –, und trotzdem ist es wie eine Illusion. Problematisch wird es, wenn wir sagen: „Oh, ich leide; ich Armer!“ Dadurch wickeln wir es in eine große, feste, unelastische Plastikfolie ein und denken: „Ohhhh, ich leide!“

Sprechen wir von Leid im Sinne von Unglücklichsein vs. Glücklichsein, ist das definierende Merkmal von Ersterem das Gefühl, von dem wir uns wünschen, dass es, wenn es auftritt bzw. erlebt wird, nicht andauert, sich nicht wiederholt. Glück auf der anderen Seite ist das Gefühl, von dem wir uns wünschen, dass es anhält und nicht nachlässt, wenn wir es erleben. Essen wir beispielsweise etwas Bestimmtes, das wir mögen, erleben wir es mit Glück; wir wollen mehr. Für jemand anderen jedoch kann dasselbe Gericht überhaupt nicht schmecken und zu einer Leiderfahrung werden, da derjenige es vielleicht verabscheut und nie wieder essen möchte. Bzgl. des definierenden charakteristischen Merkmals von Leid und Unglücklichsein sind wir uns alle einig; es ist eine Konvention.

Gleichmut entwickeln, der frei von Anhaftung, Ablehnung und Gleichgültigkeit ist

Wir haben gesehen, wie wichtig ein Verständnis der Leerheit für die Entwicklung von Bodhichitta ist. Lasst uns nun betrachten, wie wir das auf die elf Runden bzw. Schritte der Entwicklung von Bodhichitta anwenden können. In diesem Kontext kommt dann auch die Tonglen-Praxis ins Spiel.

Der erste Schritt ist das Entwickeln von Gleichmut allen Wesen gegenüber, eine Praxis, die ebenfalls im Hinayana so durchgeführt wird. Wir tun dies, indem wir von dem Geisteszustand, bei dem wir einigen Wesen gegenüber Anhaftung, Ablehnung oder Gleichgültigkeit empfinden, zu einem Zustand übergehen, in dem wir niemanden als Freund, Feind oder Fremden betrachten. Diese Art von Gleichmut ist ein Geisteszustand, der frei von den störenden Emotionen der Anhaftung, Ablehnung und Gleichgültigkeit allen Wesen gegenüber ist.

Ein Verständnis der Leerheit ist dabei sehr wichtig. Sicher waren einige Wesen manchmal unsere Freunde, manchmal unsere Feinde und manchmal Fremde. Es ist alles eine Frage der Umstände. Ziehen wir jedoch die Anfangslosigkeit von geistigen Kontinua in Betracht, ist jeder zu verschiedenen Zeitpunkten Freund, Feind und Fremder gewesen. Es ist ebenso eine Frage des Zeitpunkts. Es gibt keinen Haken auf der Seite von irgendjemandem, an dem man das Konzept „Freund“, „Feind“ oder „Fremder” aufhängen könnte und nach dem man als etwas mit wahrer, inhärenter Identität greifen könnte. Niemand ist in sich selbst als das eine oder das andere begründet.

Sind wir frei von Anziehung, Ablehnung und Gleichgültigkeit, haben wir den Boden des Gleichmuts für alle geebnet. Auch wenn andere Wesen unsere Freunde, Feinde und Fremde gewesen sind, gibt es da keinen Haken auf ihrer Seite, an dem wir diese als ihre inhärente Identität aufhängen könnten. Auf der Grundlage dieses geebneten Bodens des Gleichmuts erkennen wir, dass jeder irgendwann einmal unsere Mutter gewesen ist. Der Grund dafür ist, dass es auch bei ihnen keinen Haken gibt, an dem man eine inhärente Identität als „Mutter“ befestigen könnte.

Der Beweis, dass jedes Wesen unsere Mutter gewesen ist

Dies ist ein schwieriger Punkt, mit dem wir uns kürzlich in meiner Klasse über das neunte Kapitel von Shantidevas Text „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“, wo es um Leerheit geht, beschäftigt haben. Wie können wir beweisen, dass jedes Wesen zu irgendeinem Zeitpunkt unsere Mutter war? Es ist wichtig, diesbezüglich zu der Überzeugung zu gelangen, dass es logisch möglich ist. Die Gesetzmäßigkeiten der Wahrscheinlichkeit und der Quantenphysik führen uns zu dem Schluss, dass es möglich ist, dass eine gewisse Person schon immer unsere Mutter war oder noch nie unsere Mutter gewesen ist. Liegt das etwa nicht im Bereich der Wahrscheinlichkeit? Anstelle dieser Schlussfolgerungen wollen wir einen mathematischen Beweis dafür, dass alle Wesen unsere Mütter waren. Es genügt nicht, sich nur auf blinden Glauben und Wahrscheinlichkeit zu stützen. Wenn wir von einer unendlichen Zeitspanne ausgehen, aber es eine endliche Anzahl fühlender Wesen gibt, wie können wir dann beweisen, dass jedes Wesen zu einem bestimmten Zeitpunkt unsere Mutter gewesen ist? Das ist eine sehr interessante und schwierige Frage. Gibt es hier einen Mathematiker, der das beweisen könnte?

Wie können wir beweisen, dass jeder einmal unsere Mutter war, wenn es eine endliche Anzahl von Wesen gibt, von denen jedes unendlich viele Leben hat, und alle gleich sind? Wir haben einen Beweis gefunden, und Geshes, die sich mit Logik auskennen, haben dessen Gültigkeit bestätigt. Ich möchte euch diesen Beweis vorlegen, für den Fall, es gibt jemanden, der vielleicht einen Fehler findet. Kennt ihr den Beweis?

Sie haben gesagt, es könne nicht bewiesen werden. 

Meine Schüler haben darauf hingewiesen, dass wir es nicht beweisen können, gäbe es unendlich viele Leben und eine unendliche Zahl an Lebewesen. Da es zwar unendlich viele Leben gibt, die Zahl der Wesen jedoch endlich ist, kann man es allerdings nachweisen. 

Dem stimmte ich zu. Das eigentliche Problem ist, wie man beweisen kann, dass es eine begrenzte Zahl an Wesen gibt.

Das ist nicht das Problem hier; diese Variable ist gegeben. Die Anzahl der fühlenden Wesen ist n, und wir sprechen hier lediglich über ein mathematisches Problem, welches ein interessantes Thema aufwirft, nämlich, wie wichtig es ist, sich nicht einfach in diese Art von Praxis und Meditation zu stürzen und dann nach einer gewissen Zeit plötzlich zu sagen: „Das ist doch lächerlich. Wir kann jeder meine Mutter gewesen sein? Dieser Gedanke ist nur ein Hirngespinst. Es ist unmöglich, dass jedes Wesen unsere Mutter war; das ist alles ein Haufen Blödsinn!“ Also, ist euch mittlerweile eingefallen, wie der Beweis lauten könnte?

Für das Ganze würde ich eigentlich Stift und Papier benötigen, aber die Grundidee ist folgende. Nehmen wir an, wir haben einen Topf, der mit Murmeln gefüllt ist, und jede Murmel steht für ein Wesen. Jedes Mal, wenn jemand wiedergeboren wird, … 

Genau, jedes Mal, wenn jemand als unsere Mutter wiedergeboren wird, … 

Jedes Mal, wenn jemand als unsere Mutter wiedergeboren wird, nehmen wir eine Murmel aus dem Topf, und wenn dieses Leben zu Ende ist, werfen wir die Murmel zurück in denselben Topf. Als Nächstes müssten wir überprüfen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass wir jedes Mal bei unendlichen Zügen bzw. Leben dieselbe Murmel ziehen. Ist diese Wahrscheinlichkeit gleich Null, ist es bewiesen, dass jedes Wesen unsere Mutter gewesen ist.  Für die mathematische Rechnung dafür bräuchte ich jedoch ein Blatt Papier.

Perfekt. Lasst mich euch noch unseren Prasangika-Beweis dazu erläutern. Er kam von einem meiner Schüler; ich habe ihn lediglich etwas umformuliert, aber es handelt sich dabei in der Tat um einen echten Prasangika-Beweis – wunderbar!

Sind alle Geisteskontinua gleichwertig, und eines von ihnen war meine Mutter – meine Mutter in diesem Leben –, dann waren alle gleichermaßen meine Mutter, da alle gleichwertig sind. Es gibt keinen Grund, warum ein anderes Kontinuum nicht auch meine Mutter gewesen sein sollte. Und jetzt kommt der Prasangika-Teil: Wäre dies nicht der Fall – gäbe es ein Wesen, das niemals unsere Mutter war –, könnte, da alle Wesen gleich sind, kein Wesen jemals meine Mutter gewesen sein. Daraus würde sich die absurde Schlussfolgerung (Skt. prasaṅga, tib. thal-’gyur) ergeben, dass wir in diesem Leben keine Mutter hätten. Mich würde interessieren, ob jemand dem etwas entgegensetzen kann.

Dem kann ich nicht widersprechen. 

Es ist ein sehr einfacher, nichtmathematischer Beweis, und er ist sehr tiefgründig, um ehrlich zu sein – er ist ziemlich gut.

Selbst der grobe Umriss des Beweises, der mir vorschwebt, ist eine Vereinfachung der Realität, denn von der Annahme auszugehen, für jedes einzelne Geisteskontinuum sei die Wahrscheinlichkeit gleich, jemals unsere Mutter gewesen zu sein, widerspricht der Wahrscheinlichkeitsstudie der Tendenzen, denn bei Wahrscheinlichkeiten gibt es auch Tendenzen. Das ist jedoch eine starke Vereinfachung.

Das stimmt. Wir kommen nun zu dem Punkt, den wir besprochen haben. Aus der Sicht des Prasangika gibt es keine inhärenten Tendenzen in einem geistigen Kontinuum. Alles, was wir sagen können, ist, dass es eine enge Verbindung gibt, wenn ein bestimmtes Wesen unsere Mutter gewesen ist. Demnach gibt es eine stärkere Tendenz, wieder unsere Mutter zu werden, so könnte man sagen. Das negiert jedoch nicht, dass für jedes Wesen die Wahrscheinlichkeit gleich groß ist, unsere Mutter zu werden, denn Zeit ist unendlich; also spielt das keine Rolle.

Ich habe kein Problem damit, anzunehmen, dass jeder unsere Mutter gewesen ist. Mir ist das mit der endlosen Zeit noch nicht klar. Geht man nämlich von unendlicher Zeit und einer endlichen Zahl von fühlenden Wesen aus, dann müsste genauso jedes Wesen bereits erleuchtet sein. Denn dann wäre ich unendlich oft mit dem Dharma in Berührung gekommen und müsste jetzt schon Erleuchtung erlangt haben. 

Das ist eine sehr schwierige Frage, aber überaus interessant, und es ist eine gute Frage zum Nachdenken. Mein erster Gedanke wäre, ohne das Ganze gründlich analysiert zu haben, dass auch Unwissenheit keinen Anfang hat. Meiner Meinung nach ist es eine andere Art von Variable, sich von dieser Unwissenheit zu befreien. Es ist etwas anderes als die Variable, unsere Mutter gewesen zu sein.

Mit anderen Worten: Unwissenheit verschwindet nicht von selbst; wir müssen uns sehr darum bemühen, das zu erreichen. Um die Unwissenheit und die damit verbundenen Gewohnheiten loszuwerden, dürfen wir niemals Bodhichitta aufgeben und müssen über drei Zillionen von Zeitaltern hinweg die notwendige positive Kraft dafür aufbauen. Es stehen uns also große Hindernisse im Weg, die es zu überwinden gilt, um Erleuchtung erlangen zu können. Die Gewohnheiten der Unwissenheit haben keinen Anfang, wohingegen das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit, welches die Kraft hat, diese zu beseitigen, nicht etwas ist, das wir seit anfangsloser Zeit besitzen.

Es gibt jedoch kein Hindernis, welches jemanden davon abhalten würde, unsere Mutter gewesen zu sein, und welches durch Anstrengung überwunden werden müsste, damit es geschehen konnte. Ich denke, das ist der Unterschied. Man muss sich etwas entgegenstellen, um Unwissenheit loszuwerden. Auf der anderen Seite gibt es nichts, dem man sich entgegenstellen müsste, was verhindern würde, dass jemand unsere Mutter gewesen ist.

Darüber hinaus kann immer nur ein Wesen unsere Mutter sein, aber nicht immer nur ein Wesen kann erleuchtet werden. Das wäre ein weiterer Unterschied. Ist jemand unsere Mutter gewesen, ist derjenige nicht auch jetzt und weiterhin in der Zukunft unsere Mutter. Erlangt ein Wesen jedoch die Erleuchtung, ist dies unumkehrbar und bleibt für immer der Fall. Wenn das, was du gesagt hast, wahr wäre, dass jeder bereits erleuchtet sein sollte, würden wir das beobachten können, aber unsere Wahrnehmung widerspricht dem. Wir selbst sind ja schließlich nicht erleuchtet. Unsere Mutter zu sein, ist etwas, das immer nur ein Wesen in einem gewissen Leben sein kann, und sobald das Leben zu Ende ist, ist es nicht mehr der Fall. Erleuchtet zu sein hingegen würde für immer anhalten, und es ist nicht so, dass immer nur ein Wesen diesen Zustand erreichen kann. Diese beiden Dinge sind sehr unterschiedlich.

Der Beweis, den wir in meinem Kurs erbracht haben, dass jedes Wesen unsere Mutter gewesen ist, ist ein wunderbarer Beweis, den wir auch verwenden können, um zu zeigen, dass jeder Erleuchtung erlangen kann, was sehr wichtig ist, um diesbezüglich Überzeugung in diese Möglichkeit zu entwickeln. Sind wir nicht davon überzeugt, Erleuchtung erlangen zu können, sollten wir uns fragen, was wir mit dem buddhistischen Pfad überhaupt erreichen wollen. 

Der Beweis lautet folgendermaßen. Wenn eine Person wie Buddha Shakyamuni Erleuchtung erlangt hat und alle Wesen im Hinblick auf deren Faktoren der Buddha-Natur, welche die Erleuchtung ermöglichen, gleich sind, dann kann bei endloser Zeit jeder irgendwann Erleuchtung erlangen, auch wenn es keine Garantie dafür gibt, dass es dazu kommt. Der Punkt ist, dass wir noch nicht erleuchtet sind, da wir die Anstrengung noch vor uns haben, die es benötigt, um das unterscheidende Gewahrsein der Leerheit zu entwickeln. Dafür wiederum müssen wir über drei Zillionen von Zeitaltern hinweg ohne Unterbrechung positive Kraft aufbauen und die Bodhichitta-Motivation aufrechterhalten. Wäre es für eine Person unmöglich, Erleuchtung zu erlangen, hätte niemals jemand erleuchtet werden können, denn alle Wesen sind gleich, und es wäre auch für Buddha Shakyamuni unmöglich gewesen. Dies würde uns zu der ganzen Diskussion führen, ob es jemals überhaupt einen Buddha gegeben hat – ein sehr interessantes Thema, das viele weitere Fragen aufwirft.

Die Bedeutung von Diskussion und Debatte

Zusammenfassend ist der Grund, warum ich dieses Thema näher betrachten wollte, dass das Entwickeln von Bodhichitta und das Arbeiten mit all diesen Dingen – wie die Tatsache, dass jedes Wesen unsere Mutter war – nicht unabhängig davon angegangen werden kann, ein Verständnis der Realität zu erlangen. Das ist, was ich mit dieser Argumentation demonstrieren wollte. Wir müssen wirklich alles hinterfragen und versuchen, zu verstehen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Ansonsten werden uns in der Meditation Zweifel aufkommen, wie in etwa: „Was um alles in der Welt tue ich da?! Das macht doch keinen Sinn!“

Habt keine Angst davor, nachzudenken. Wir alle besitzen einen Verstand mit der Fähigkeit, Dinge zu verstehen und logisch zu denken. Das ist es, was uns zu Menschen macht; es ist unser definierendes Merkmal als menschliche Wesen, auch wenn es nicht inhärent in uns zu finden ist, und wir haben auch keinen Haken in uns, an dem es aufgehängt ist. Deshalb ist diese Debatte so wichtig, und ich hoffe, ich konnte euch einen kleinen Vorgeschmack davon geben. Wenn wir einfach so für uns allein in der analytischen Meditation sitzen und versuchen, die Dinge für uns selbst herauszufinden, werden wir uns niemals so herausfordern, wie andere unser Verständnis in der Debatte herausfordern würden; so wie bei der Frage, die vorhin gestellt wurde: „Müsste auf Grundlage dieser Argumentation nicht jeder bereits erleuchtet sein?“ Dann denkt man sich: „Oh, das habe ich noch nie so betrachtet!“ Es regt uns zum Nachdenken an und fordert uns dazu auf, eine Antwort zu finden. 

Wir müssen nicht unbedingt ununterbrochen hin- und herdiskutieren, obwohl das eigentlich noch besser wäre, da jeder dann antworten und nachdenken müsste – keiner kann nur Beobachter sein. Man könnte sich nach einer allgemeinen Unterweisung beispielsweise in Zweiergruppen aufteilen und sich gegenseitig fragen, was man verstanden hat. Dann könnten wir unsere Zweifel anschließend in der Gruppe äußern und darüber diskutieren. Das ist der Prozess, durch den wir die Lehren tatsächlich verinnerlichen und von ihnen überzeugt werden – indem wir unsere Zweifel auf solche Weise überwinden. Nur auf dieser Grundlage können wir uns in der Meditation überhaupt auf etwas konzentrieren, ohne uns zu fragen, was wir da eigentlich tun und ob wir verstehen, was wir tun. Das gilt für Bodhichitta, ebenso wie für Liebe und Mitgefühl.

Dieser Prozess des Hinterfragens und des Austauschs mit anderen kann sehr spannend sein und viel Spaß machen. Es ist überhaupt nicht langweilig, trocken oder intellektuell. Auch ist das Energielevel dabei viel höher, als wenn man allein meditiert und versucht, etwas für sich zu analysieren. Unsere Konzentration ist dann auch viel besser. Wie der junge Serkong Rinpoche sagte: Dieser ganze Prozess, das Debattentraining usw. ist alles eine Vorbereitung für die Meditation. Es geht um das Entwickeln von Konzentration, Enthusiasmus, Energie und darum, unsere Zweifel loszuwerden und so weiter – danach können wir richtig meditieren. Das wollte ich mit diesem Vortrag ein wenig vermitteln.

Es ist wichtig, die Bedeutung davon zu schätzen, sich direkt mit dem Dharma auseinanderzusetzen. Es geht nicht nur darum, unseren Geist zu trainieren und unsere Gefühle zu schulen, sondern auch darum, unseren Verstand zu schärfen, um zu verstehen. Wir trainieren und reinigen beides: die negativen Gewohnheiten werden bereinigt und die positiven Gewohnheiten trainiert, was sich gegenseitig unterstützt. Denn andernfalls – wenn wir nicht daran arbeiten, positive Emotionen zu entwickeln, und wir unsere Zweifel nicht aus dem Weg räumen –, werden diese Zweifel mit den positiven Emotionen in Konflikt geraten und zu einem echten Hindernis werden.

Was wir vermeiden wollen, sind widersprüchliche Gedanken, wie in etwa: „Ich fühle Liebe, aber hmmm, ich weiß nicht so recht…“, oder „ich bin mir nicht sicher, ob ich wirklich eine Verbindung mit dir spüre“; „kann ich wirklich Erleuchtung erlangen? Ich möchte unbedingt an dieses Ziel kommen, aber bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt in der Lage dazu bin.“ Solche Gedanken verhindern, sich mit ganzem Herzen der Sache zu widmen. Zweifel erzeugen negative Emotionen, und mit der Bodhichitta-Meditation versuchen wir das Gegenteil: positive Emotionen zu entwickeln. Um das richtig tun zu können, müssen wir die negative Seite beider Ebenen von Verstand und Herz loswerden.

Dann werden wir vielleicht ein wenig besser verstehen, warum die Abhidharma-Texte – Texte über „Themen des Wissens“ – unentschlossenes Wanken bzw. Zweifel (tib. the-tshom) zu den störenden Emotionen zählen, zusammen mit Wut, Anhaftung und so weiter. „Unentschlossen” bedeutet, dass wir unsicher und unentschlossen in unserer Haltung sind. Wir sind uns nicht sicher, ob sie richtig oder falsch ist bzw. ob es sich dabei überhaupt um Dharma handelt. Es ist ein äußerst störender Geisteszustand – ob wir es nun Emotion oder Haltung nennen. Es ist schwierig, ein Wort zu finden, das es miteinschließt.

Der Sanskrit-Begriff für störende Emotionen bzw. Geisteshaltungen ist kleśa (tib. nyon-mongs) und es heißt, sie seien ähnlich wie Krankheiten. Um uns von ihnen zu heilen, benötigen wir einen Arzt, den Buddha; und der Dharma ist die Medizin. In diesem Sinne bezeichnen manche Übersetzer sie als Leiden oder Plagen. Das entspricht jedoch nicht ihrer Definition; es ist lediglich eine Analogie. Laut Definition handelt es sich um Geisteszustände, die, wenn sie auftreten, zwei Dinge bewirken: wir verlieren unseren inneren Frieden und die Kontrolle über uns. Deshalb nenne ich sie „störende Emotionen und Geisteshaltungen“.

Abschließende Worte

Wir sind in unserem Text offensichtlich nicht sehr weit vorangekommen, aber das ist in Ordnung, denn es ist viel wichtiger, eine Grundlage zu schaffen, um die Lojong-Praktiken zur Reinigung der Geisteshaltungen wirklich richtig durchführen zu können. Wie wir sehen, sind sie nicht zu trivialisieren, und man sollte sie nicht vereinfachen.

Wollen wir es richtig machen, sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass diese Lehren unglaublich tiefgründig und schwierig sind und eine Menge Vorbereitung erfordern. Bereiten wir uns jedoch richtig vor, dann werden wir sie irgendwann meistern. Wenn es jemand geschafft und durch diese Praktiken Buddhaschaft erlangt hat, dann ist es auch für uns möglich, dasselbe zu tun. In der „Guru-Puja” (tib. Bla-ma mchod-pa) gibt es diese Zeile, die besagt, dass der Buddha andere Wesen stets in Ehren hielt, und wir uns auf der anderen Seite immer nur um unser eigenes Wohl kümmern und deswegen betrachten sollten, was der Buddha im Vergleich zu uns erreicht hat.

Wie haben die großen Meister und die Buddhas diesen Zustand der Buddhaschaft erlangt? Wie ist z.B. Seine Heiligkeit der Dalai Lama so geworden, wie er ist? Indem er diese Lehren praktizierte, diese Lehren des Lojong, der Reinigung der Geisteshaltungen. Es ist ziemlich schwierig, eine Beziehung zum Buddha und seinem Beispiel herzustellen, was uns eigentlich dabei helfen würde, diese Lehren ernst zu nehmen und ihren Wert schätzen zu lernen. Wir können den Buddha nicht sehen. Auf der anderen Seite ist es aber möglich, Seiner Heiligkeit dem Dalai Lama zu begegnen. Wir denken vielleicht: „Wow, es wäre fantastisch, so zu sein wie Seine Heiligkeit.“ Nun, Seine Heiligkeit hat dies durch seine Praxis erreicht, durch die Praxis des Lojong. Wie er immer wieder sagt, ist sein Lieblingstext, den er für unglaublich wichtig hält, Shantidevas „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“, wo diese Lehren ausführlich behandelt werden. Wollen wir so werden wir er, ist es das, was wir tun müssen. Und wenn wir uns dazu entscheiden, diesen Weg zu gehen, sollten wir es richtig machen.

Einmal kam ein junger Hippie, der vermutlich Cannabis geraucht hatte, zu Serkong Rinpoche, meinem Lehrer. Ich habe damals für ihn übersetzt. Er sagte: „Ich würde gern die sechs Yogas von Naropa praktizieren. Können Sie mich diese lehren?“ Seine Einstellung war: „Das ist so speziell. Bitte geben Sie mir Unterweisungen; ich würde sie gern üben!” Was an dem vorherigen Serkong Rinpoche so außergewöhnlich war, ist, dass er jeden absolut ernst nahm. So auch diesen jungen, berauschten Hippie, indem er zu ihm sagte: „Das ist wunderbar, dass du das praktizieren möchtest. Wenn du es wirklich willst, musst du so anfangen. Zunächst kommt die Stufe der Vorbereitung, und dafür wäre es gut, wenn du in die tibetische Bibliothek gehst und dies und jenes liest. Danach kannst du zu mir zurückkommen.“ Es half dem jungen Mann sehr, dass ihn jemand ernst nahm.

Es ist sehr wichtig, uns selbst ernst zu nehmen, wenn wir dem buddhistischen Weg folgen wollen. Wir sind alle hier, da wir offensichtlich von uns denken, diesem Pfad zu folgen und den Dharma zu praktizieren. Nun, dafür ist es wichtig, sich und andere ernst zu nehmen und das Ganze richtig zu tun.

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