Die Praxis des tiefsten Bodhichittas

Rückblick

Gestern haben wir mit dem „Geistestraining in sieben Punkten“ des Kadampa-Geshe Chekawa begonnen und den ersten der sieben Punkte behandelt: die vorbereitenden Übungen. Der zweite Punkt, den wir heute besprechen werden, ist das eigentliche Training in Bodhichitta.

Der Text befasst sich zunächst mit dem tiefsten Bodhichitta. Wie ich in unserer letzten Sitzung bereits erklärt habe, gibt es das tiefste Bodhichitta (tib. don-dam-pa’i byang-sems), das Leerheitsverständnis, und das relative, konventionelle oder oberflächliche Bodhichitta (tib. kun-rdzob-kyi byang-sems), wo es hauptsächlich um Erscheinungen geht. Unser Ziel ist es, drei Dinge zu erlangen: (1) ein Verständnis der Leerheit des allwissenden Geistes, (2) dieses Verständnis zusammen mit einem allwissenden Geist zu haben, und (3) dass wir gleichzeitig damit in verschiedenen Formen erscheinen können, um allen Wesen zu helfen. Um anderen am besten nutzen zu können, müssen wir uns von all unseren eigenen Problemen und Begrenzungen befreien, was wir durch ein richtiges Verständnis und eine nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit erreichen können. Ebenso ist es notwendig, zu verstehen, was die Wesen dazu veranlasst, zu handeln, wie sie es tun, und was die Konsequenzen unserer Unterweisungen wären, die wir ihnen geben – mit anderen Worten, wir müssen allwissend sein: wir benötigen ein vollkommenes Wissen über Ursache und Wirkung.

Zusammenfassend können wir sagen, dass wir mit Bodhichitta darauf abzielen, Erleuchtung zu erlangen – unsere Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat –, um allen Wesen zu helfen. Wenn wir dieses Bodhichitta in zwei Aspekte unterteilen, haben wir das tiefste Bodhichitta, mit dem wir uns auf die nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit des allwissenden Geistes ausrichten, und das relative, konventionelle oder oberflächliche Bodhichitta, wo es darum geht, uns in verschiedenen Formen zu manifestieren, mit denen wir das in die Tat umsetzen, von dem wir wissen, dass es anderen helfen wird. Dies erfordert einen allwissenden Geist, den wir ebenso bei der Praxis des relativen Bodhichitta anstreben. 

Wie bereits erwähnt gibt es mehrere Ausgaben bzw. Versionen unseres Textes. In der ältesten Version von Togme Sangpo – derjenigen, der wir hier folgen – wird das tiefste Bodhichitta zuerst erklärt und das relative Bodhichitta im Anschluss. Im „Geistestraining, das den Sonnenstrahlen gleicht“ (tib. Blo-sbyong nyi-ma’i ’od-zer), verfasst von Hortön Namkha Pel (1373–1447), einem Schüler von Tsongkhapa, ist es genau umgekehrt: zuerst kommt ein Vers über relatives Bodhichitta, und dann folgt unmittelbar darauf das tiefste Bodhichitta. In der Ausgabe, die in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts von Pabonka Rinpoche erstellt wurde, steht der Vers über tiefstes Bodhichitta ganz am Ende des Textes.  

Mit tiefstem Bodhichitta beginnen

Hier werden wir dem mündlichen Kommentar von Serkong Rinpoche zur älteren Version von Togme Sangpo folgen, in der zuerst das tiefste Bodhichitta erläutert wird. Es gibt einen guten Grund und Zweck dafür, mit der Darstellung des tiefsten Bodhichitta zu beginnen. Wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama erklärt: Haben wir einmal die Leerheit aller Phänomene realisiert – insbesondere die des Geistes und des Geistes klaren Lichts, und die natürliche Reinheit des Geistes im Sinne seiner Leerheit –, dann werden wir die Überzeugung erlangen, dass es möglich ist, nicht nur Befreiung zu erlangen – wodurch wir für immer von jeglicher Unwissenheit sowie störenden Emotionen und Geisteshaltungen frei sind –, sondern auch Allwissenheit. Solange wir nicht wirklich von diesen beiden Punkten überzeugt sind, können wir uns nicht von ganzem Herzen dem relativen Bodhichitta widmen und tatsächlich praktisch daran arbeiten, diese Punkte zu verwirklichen. Dies ist die Reihenfolge, der Nagarjuna in seinem „Kommentar zu [den zwei] Bodhichittas“ (tib. Byang-chub sems-kyi ’grel pa, Skt. Bodhicittavivaraṇa) folgt. Wenn wir durch das Verständnis der Reinheit des Geistes und der Leerheit von Ursache und Wirkung davon überzeugt sind, dass jeder Befreiung und Erleuchtung erlangen kann, gibt uns das die Zuversicht, dass wir, sobald wir die Erleuchtung erlangt haben, auch andere dahin führen können. 

Die Reihenfolge im Stufenpfad des Lamrim sieht ebenso vor, sich zuerst dem tiefsten Bodhichitta zu widmen, da das Leerheitsverständnis, welches Hinayana und Mahayana gemeinsam haben, zuerst in den Belehrungen des mittleren Bereichs als Teil der drei höheren Schulungen vorgestellt wird: höhere ethische Selbstdisziplin, höhere Konzentration und höheres unterscheidendes Gewahrsein. Dies ist der Fall, obwohl die gesamte Behandlung der Leerheit erst in den Lehren der fortgeschrittenen Ebene über die sechs weitreichenden Geisteshaltungen erfolgt, welche nach der Darstellung des relativen Bodhichitta erscheint. 

Laut der Gelugpa-Interpretation des Prasangika-Systems ist Leerheitsverständnis, um Befreiung zu erlangen, und Leerheitsverständnis, um die Allwissenheit der Buddhaschaft zu erreichen, dasselbe. Es ist also ein Verständnis, welches Hinayana und Mahayana gemeinsam haben. In den anderen indisch-buddhistischen Lehrsystemen und ebenso in den anderen tibetischen Traditionen wird gesagt, das Leerheitsverständnis zum Erlangen von Befreiung und Erleuchtung sei unterschiedlich. Diese Interpretation der Gelug-Tradition war eine von Tsongkhapas revolutionären Erkenntnissen.

Das, was Tsongkhapa als den Unterschied zwischen der Leerheit für das Erlangen der Befreiung und der Erleuchtung hervorhebt, ist die Kraft des Geistes, der die Leerheit verwirklicht. Ist diese Kraft des Geistes nur in Entsagung – der Entschlossenheit, nur selbst frei von Leid zu sein – begründet, dann ist das Leerheitsverständnis lediglich stark genug, um die emotionalen Schleier zu beseitigen, welche die Befreiung verhindern. Wenn der die Leerheit erkennende Geist jedoch über relatives Bodhichitta verfügt, hat er zusätzlich die Stärke, auch die kognitiven Schleier, welche Allwissenheit verhindern, zu beseitigen. Um die Notwendigkeit hervorzuheben, genügend Kraft zum Erlangen der Erleuchtung hinter dem Leerheitsverständnis zu haben, ist die Reihenfolge der beiden Bodhichittas in mehreren Versionen des Textes, die von Gelugpa-Meister zusammengestellt wurden, umgekehrt. In ihnen steht der Vers über relatives Bodhichitta an erster Stelle; danach folgt der Vers über tiefstes Bodhichitta.

Wenn es innerhalb des Buddhismus unterschiedliche Interpretation eines bestimmten Punktes in den verschiedenen Traditionen gibt, ist es wichtig, nicht arrogant oder sektiererisch zu sein und einfach zu sagen, dass die eigene Position richtig und die andere falsch ist. Es gibt gute Gründe für jede Alternative, denn alle ergeben durchaus einen Sinn und sind nützlich.

Der vierte Panchen Lama Lobsang Chökyi Gyaltsen (1570–1662) warf folgende Frage in Bezug auf Mahamudra-Meditation auf: „Was kommt zuerst: Shamatha, mit dem man sich auf die konventionelle Natur des Geistes ausrichtet, oder Vipashyana, mit dem man sich auf die tiefste Natur des Geistes, seine Leerheit, konzentriert?“ Er schreibt, dass dies vom Intelligenzlevel des Übenden abhängt. Das gleiche Kriterium gilt hier bei der Bodhichitta-Meditation. Für jene, die sehr intelligent sind und komplexe Dinge leicht verstehen können, ist es sinnvoll, zuerst über tiefstes Bodhichitta zu meditieren, und für jene, die eher emotional orientiert sind, ist es einfacher, mit relativem Bodhichitta zu beginnen. 

Die Reihenfolge vieler Dinge in den buddhistischen Lehren ist umkehrbar, entsprechend den verschiedenen Veranlagungen der Übenden und des jeweiligen Zwecks. Für eine intelligente und eher geistig geprägte Person ist es wirklich wichtig, zu verinnerlichen, dass es möglich ist, Erleuchtung zu erlangen. Aus diesem Grund überzeugt ein Verständnis der Leerheit, wie Seine Heiligkeit sagt, eine solche Person genau davon. Im Anschluss wird man dann die Mühe aufbringen, Erleuchtung zu erreichen, und dabei auch entspannter sein. Geist und Herz werden viel offener sein, wodurch wir uns von unserer Anspannung lösen. Auf der anderen Seite spielt es für jemanden, der eher gefühlsbetont und weniger analytisch bzw. diszipliniert bzgl. solcher Argumentationslinien ist, vielleicht überhaupt keine Rolle, ob Erleuchtung wirklich möglich ist; denn eine solche Person ist so vom Leid anderer berührt, dass sie so viel wie möglich dafür tun möchte, anderen zu helfen. Sie will sich direkt dafür einsetzen, anderen so gut sie kann zu helfen, und baut dabei so viel positive Kraft auf, dass ihr Geist klar genug wird, um ein Verständnis der Leerheit zu erlangen, was ihr vorher vielleicht nicht möglich war. 

Ich denke, das hilft uns ein wenig zu verstehen, dass beide Wege richtig sind, je nach Individuum. Doch speziell für unsere Reinigung der Geisteshaltung und speziell für die Praxis des Tonglen („Geben und Nehmen“), um die es beim relativen Bodhichitta geht, ist ein Leerheitsverständnis im Vorfeld entscheidend. Denn in dieser außerordentlich fortgeschrittenen Lehre des Tonglen ist das größte Hindernis für die Bereitschaft, das Leid anderer wirklich auf sich zu nehmen und zu erfahren, und ihnen im Gegenzug unser Glück zu schenken, unsere Angst: die Angst, zu leiden. Angst vor Leid basiert auf Selbstbezogenheit, auf dem Festhalten an einem „Ich“, das sich nicht die Hände schmutzig machen will, und denkt: „Ich will mir nicht wehtun; ich will damit nichts zu tun haben.“ Das ist besonders dann der Fall, wenn wir uns vorstellen, das Leid anderer wirklich auf uns zu nehmen. Wenn wir uns gedanklich auf ein festes „Ich“ beziehen und uns sagen: „Oh mein Gott, was passiert mit mir?!“, und so weiter, geraten wir aus der Fassung und sind nicht bereit, es zu tun. Nur mit einem gefestigten Leerheitsverständnis, insbesondere der Leerheit eines Selbst der Person – von dir und mir –, wissen wir, wie wir mit dieser ganzen Tonglen-Praxis umgehen sollen. Ansonsten ist es sehr schwierig.

Lasst mich noch einmal betonen, da dieser Punkt für die Praxis des Tonglen entscheidend ist. Wenn wir aufrichtig Tonglen praktizieren wollen und nicht nur irgendeine triviale, vereinfachte Version davon, müssen wir uns wirklich darauf vorbereiten; und um uns vorzubereiten, brauchen wir zumindest ein gewisses Maß an Verständnis der Leerheit des Selbst – andernfalls handelt es sich dabei lediglich um einen Angriff auf unsere Selbstbezogenheit mit sehr kraftvollen Methoden und Visualisierungen, die ziemlich beängstigend sein können. Darauf müssen wir vorbereitet sein. Andernfalls kann es ohne Leerheitserkenntnis ein echter Kampf sein. Diese Leerheitserkenntnis, zumindest ein gewisses Maß davon, wird uns hoffentlich die emotionale Reife geben, um mit dem wahren Tonglen umgehen zu können. Das ist es, was wir brauchen: emotionale Reife. Haben wir auf der emotionalen Ebene Probleme, sind wir für Tonglen noch nicht bereit. 

Tiefstes Bodhichitta: Die Leerheit aller Phänomene verstehen

Die vier Zeilen in unserem Text über tiefstes Bodhichitta können auf verschiedene Weise verstanden werden. Wenn wir uns dabei die ältere Version von Togme Sangpo, einem Sakya-Meister, anschauen, fällt auf, dass diese Zeilen sehr stark mit dem Vokabular der Kagyü-, Nyingma- und insbesondere der Sakya-Tradition geschrieben sind. Schauen wir uns also zunächst an, wie die Sakya-Tradition diesen Vers versteht. 

Die Sakya-Interpretation

Die Sakya-Methode der Leerheitsmeditation erfolgt stufenweise. Jedes Mal, wenn wir über Leerheit meditieren, erinnern wir uns zuerst an die Chittamatra-Nur-Geist-Position; dann verfeinern wir diese mit dem Madhyamaka-Verständnis und gehen anschließend auf die Ebene des Geistes des klaren Lichts. 

Die erste Zeile lautet wie folgt:

Reflektiere darüber, dass die Phänomene wie ein Traum sind. 

Dies bezieht sich auf alle konventionellen Phänomene. Erinnert ihr euch, als wir über Zuschreibungsphänomene gesprochen haben? Laut der Sakya-Interpretation sind alle allgemein verständlichen, konventionellen Formen physischer Phänomene – wie unser eigener Körper, der Körper eines anderen, ein Problem und sogar ein Mobiltelefon – Zuschreibungsphänomene auf der Grundlage von aufeinander folgenden Momenten verschiedener Arten von Sinnesinformationen. Ebenso sind alle allgemeinen Arten, sich etwas gewahr zu sein – wie das Sehbewusstsein oder Mitgefühl –, Zuschreibungsphänomene auf der Grundlage von aufeinander folgenden Momenten der Wahrnehmung. Beide Arten von allgemein verständlichen Phänomenen sind Objekte, die nur von konzeptueller Wahrnehmung erfasst werden können. Das Selbst, die Person, „ich“ usw. sind alles Zuschreibungsphänomene auf der Grundlage der fünf Aggregate, die sich aus diesen beiden Arten von Zuschreibungsphänomenen zusammensetzen, und auch dieses kann lediglich von konzeptueller Wahrnehmung erfasst werden. Dies ist die Sakya-Position.  

All diese Erscheinungen allgemein verständlicher, konventioneller Gegenstände, die wir lediglich als Objekte unserer konzeptuellen Wahrnehmung erleben, sind geistige Hologramme, wie jene, die in einem Traum erscheinen. Wir können ein allgemein verständliches Objekt wie einen Körper weder sehen, noch riechen oder berühren. Wir können lediglich visuelle Sinnesinformationen bzw. einen Anblick mit dem Sehbewusstsein, olfaktorische Sinnesinformationen bzw. Gerüche mit dem Riechbewusstsein und taktile Sinnesinformationen bzw. körperliche Empfindungen mit dem Körperbewusstsein wahrnehmen – und das immer nur einen Moment von jedem. Nur das geistige Bewusstsein ist in der Lage, konzeptionell ein geistiges Hologramm zu generieren und zuzuschreiben, das einen ganzen allgemein verständlichen Körper repräsentiert, welcher all diese verschiedenen Arten von Sinnesinformationen und eine ganze Abfolge von Momenten davon durchdringt. Und es ist auch nur das geistige Bewusstsein, das konzeptuell ein geistiges Hologramm generieren und zuschreiben kann, das eine Person repräsentiert, die alle fünf Aggregate (einen Körper, die verschiedenen Bewusstseinsarten, Empfindungen von Leid und andere Geistesfaktoren usw.) und eine ganze Abfolge von Momenten davon durchdringt. Keines dieser allgemein verständlichen Objekte ist als etwas außerhalb Existierendes erwiesen, da jede Art von sensorischer Wahrnehmung nur eine Art von sensorische Information und auch nur einen Moment davon zu einem bestimmten Zeitpunkt erfassen kann. 

In diesem Sinne sagt man in der Sakya-Tradition, ähnlich wie beim Chittamatra, dass das geistige Hologramm eines allgemein verständlichen Körpers, einer allgemein verständlichen Person, eines allgemein verständlichen Problems oder eines allgemein verständlichen Leidens, das in der konzeptuellen Wahrnehmung erscheint, und das konzeptuelle geistige Bewusstsein, das es erfasst, aus derselben Ursprungsquelle stammen. Sie alle entstehen als Manifestation bzw. „Spiel” des Klarheitsaspekts der Natur des Geistes. Die Natur des Geistes ist Klarheit und Gewahrsein: „Klarheit“ bezieht sich auf den Aspekt der geistigen Aktivität, der die Erscheinungen eines geistigen Hologramms hervorruft, und „Gewahrsein“ ist jener Aspekt, auf eine bestimmte Weise mit dieser Erscheinung kognitiv zu interagieren. Diese beiden Aspekte der geistigen Aktivität treten gleichzeitig auf; sie sind untrennbar und entspringen daher derselben Quelle: der konventionellen Natur des Geistes. Auch wenn ihre Funktionen unterschiedlich sind, sind sie „nicht dual“.

Ausgehend von diesem Punkt sind die Erscheinungen aller allgemein verständlichen Phänomene wie ein Traum, denn auch Träume entspringen eindeutig unserem Geist. Alle Erscheinungen von Phänomenen sind also geistige Hologramme, die der Erscheinungen hervorbringende Aspekt des Geistes erscheinen lässt. Dennoch gibt es solche Dinge wie Erscheinungen und Geist; es ist nicht so, dass sie nicht existieren. Sie existieren jedoch nur als Zuschreibungsphänomene und können nur konzeptuell wahrgenommen werden. Außerdem ist es nicht so, dass unsere konzeptuelle Wahrnehmung sie erschafft und dass sie nicht existieren würden, würden wir sie nicht konzeptuell wahrnehmen. Es ist einfach nur so, dass wir sie lediglich konzeptuell wahrnehmen können. 

Das ist ein äußerst subtiler und emotional schwer verdaulicher Punkt, besonders im Kontext des Tonglen. Bei der Tonglen-Praxis blicken wir auf das Leid anderer und nehmen es auf uns. Was nehmen wir nun auf uns, wenn das Leid und die Person, die es erlebt, beide nur geistige Hologramme sind, wie in einem Traum? Wer erfährt das Leid? Erfährst du es? Werde ich es jetzt erleben? Was geht hier vor? Bist du nur in meinem Kopf? Bist du nur ein Traum? Woher weiß ich, dass du wirklich existierst? Die Zen-Methode wäre, dass die andere Person uns eine Ohrfeige gibt – dann wüssten wir, dass sie existiert. Der Punkt ist, dass es wie ein Traum ist, und nicht dasselbe wie ein Traum.

Es ist sehr wichtig, zu erkennen, dass jegliches Leiden, das wir von anderen, die tatsächlich existieren und leiden, auf uns nehmen, ein Leiden ist, das sie in Form einer Erscheinung in ihrem Geist erleben, in Form eines geistigen Hologramms, das als Spiel bzw. Entfaltung des Geistes entsteht. Für uns ist es dasselbe, denn wenn wir dieses Leid annehmen und erfahren würden, wäre auch das ein Spiel des Geistes, ein geistiges Hologramm. Natürlich würde es wehtun – wir leugnen nicht, dass es wehtun würde, denn wir werden es erleben. Trotzdem ist es nur eine Erscheinung des Geistes. Ebenso gibt es kein „Ich“, welches diese erlebt, das vom Spiel des Geistes getrennt ist – weder in Bezug auf eure Erfahrung noch auf meine. Das „Ich“ einer Leiderfahrung ist ein Zuschreibungsphänomen auf der Grundlage dieses Leidens, und als solches kann es nicht getrennt von seiner Grundlage existieren bzw. getrennt davon wahrgenommen werden. Daher ist die Person, die das Leid erlebt, ein untrennbarer Teil des Hologramms, welches das Leid abbildet. Offensichtlich ist dies ausgesprochen schwer zu verstehen und erfordert ein großes Maß an Reflexion darüber, was es bedeutet, dass alle Phänomene wie ein Traum sind. 

Die nächste Zeile lautet wie folgt: 

Erkenne die grundlegende Natur des Gewahrseins, die kein Entstehen hat. 

„Erkennen” ist hier das gleiche Wort wie bei analytischer, klar erkennender Meditation. Untersuchung ist lediglich eine Vorstufe dazu, und nachdem wir etwas untersucht haben, wie z.B. die Natur des Gewahrseins, dann erkennen wir, wie es wirklich ist. Das Erkennen geschieht mit einem Geisteszustand außergewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit, dem Vipashyana. Die grundlegende Natur des Gewahrseins ist die grundlegende leere Natur des Gewahrseins bzw. des Geistes. Mit dem Begriff „Natur“ müssen wir hier vorsichtig sein. Es gibt etwa drei oder vier Fachausdrücke, die beim Übersetzen in westliche Sprachen oft mit demselben Wort – „Natur“ – wiedergegeben werden, wodurch die technischen Bedeutungsunterschiede dieser verschiedenen Begriffe vollkommen verloren gehen. Hier hat der Begriff, den ich mit „grundlegender Natur” (tib. gshis) übersetze, die Konnotation des grundlegenden Charakters oder Wesens von etwas, was sich hier auf die Leerheit des Gewahrseins bezieht. 

Die Formulierung „grundlegende leere Natur“ fügt nun das Madhyamaka-Verständnis dem des Chittamatra hinzu, welches wir benötigen, weil man im Chittamatra-System die Auffassung vertritt, dass der Geist als Quelle dieser geistigen Hologramme wahrhaft begründete, nichtzugeschriebene, in sich selbst begründete Existenz aufweist. Mit anderen Worten: die nichtzugeschriebene, in sich selbst begründete Existenz des Geistes kann unabhängig davon, dass er ein Zuschreibungsphänomen auf einer Grundlage ist, begründet bzw. bewiesen werden. Allein die Tatsache, dass er funktioniert und geistige Hologramme entstehen lässt, begründet laut dieser Sichtweise seine nichtzugeschriebene Existenz. Im Madhyamaka widerspricht man dem und sagt: „Nein, so ist es nicht. Die Tatsache, dass etwas funktioniert, beweist nicht, dass es als etwas Nichtzugeschriebenes existiert. Denn wenn die Dinge auf nichtzugeschriebene und in sich selbst begründete Weise existieren würden, könnten sie nicht funktionieren.“

In der Sakya-Darstellung wird stets das Hervorbringen von Erscheinungen, der Klarheitsaspekt des Geistes, hervorgehoben. Die obige Zeile besagt demnach, dass dieses Hervorbringen von Erscheinungen nicht als etwas unabhängig für sich selbst auf der Grundlage einer selbstbegründenden Natur Existierendes gefunden werden kann, die in ihm zu finden und dafür verantwortlich ist, dass er die Funktion des Hervorbringens von Erscheinungen ausführen kann. Da es so etwas wie eine selbstbegründende Natur nicht gibt, gibt es kein wahrhaftes Entstehen, Verweilen und Vergehen des Geistes, der eine selbstbegründende Natur aufweist. 

Es ist nicht so, dass es einen in sich selbst begründeten Geist gibt, der irgendwo da draußen hinter der Bühne wartet und dann irgendwann auf die Bühne kommt, seine Szene spielt, indem er seine Funktion ausführt, Erscheinungen hervorzubringen, und dann wieder auf der anderen Seite die Bühne verlässt und Pause macht. Um dies als Widerlegung der Standard-Chittamatra-Position auszudrücken: der Geist – die geistige Aktivität, Erscheinung hervorzubringen – befindet sich nicht in einer karmischen Tendenz, einem so genannten „karmischen Samen“, für den bereits bestimmt ist, welche Erscheinung er hervorbringen wird, und der nur darauf wartet, herauszukommen. Sobald die richtigen Umstände gegeben sind, kommt er heraus, erfüllt seine Funktion und geht dann wieder zurück in die Tendenz und wartet auf die nächste Reihe von Umständen, die ihn veranlassen, wieder herauszukommen und etwas Ähnliches hervorzubringen, wie zum Beispiel ein weiteres Ereignis der Enttäuschung, des Ärgers oder des Sich-Zurückziehens.

Diese grundlegende Natur des Geistes, die traumgleiche Erscheinungen hervorbringt, besteht darin, frei von einer selbstbegründenden Natur zu sein, welche ihm eine wahrhaft begründete, nichtzugeschriebene Existenz verleihen würde. Der Geist bzw. das Gewahrsein haben also kein Entstehen, wie es im Text heißt, was ausformuliert „kein Entstehen, kein Verweilen und kein Vergehen“ auf der Grundlage einer solchen selbstbegründenden Natur bedeutet. Hinzu kommt, dass der Geist – ebenso wie die Erscheinungen – einem Traum gleicht, da „Geist“ eine konzeptuelle Synthese ist, die einer Abfolge von Momenten geistiger Aktivität zugeschrieben wird. Genauso wenig ist der Geist eine Art Maschine, welche geistige Aktivität getrennt von der Aktivität des Hervorbringens von Erscheinungen ausführt. Geistige Aktivität findet einfach statt. Das Entstehen der Erscheinungen der geistigen Hologramme geschieht einfach, abhängig von den jeweiligen Umständen.

Das ist auch in Bezug auf die Tonglen-Praxis sehr wichtig. Wir müssen erkennen und tatsächlich wahrnehmen, dass geistige Aktivität auf diese Weise existiert und funktioniert, und zwar mit einem Geisteszustand von außergewöhnlicher Wahrnehmungsfähigkeit. Andernfalls halten wir daran fest, wenn wir das Leid anderer auf uns genommen haben. Jeder Moment des Erlebens findet jedoch nur in einem Moment statt, und das war’s. Es ist nicht etwas, das wir finden und festhalten können, um dann zu denken: „Oh, mein Gott! Jetzt ist dieses Leid in mich eingedrungen!“ Denken wir auf diese Weise, werden wir verrückt, als ob das Leid für immer dort bleiben würde. Es nicht so, dass dieses Leid von „dir“ stammt“ und wirklich aus „dir“ entstanden ist, und jetzt habe ich „dein“ Leid in „mir“ und das große „Ich“ erfährt „dein“ Leid. Nichts dergleichen ist der Fall. Es handelt sich lediglich um das Entstehen einer Erscheinung; es ist nur ein Erleben und hat keine wahrhaft begründete, auffindbare Existenz. 

Die dritte Zeile besagt:

Das Gegenmittel befreit sich aus sich selbst heraus.

Nun kommen wir zum Verständnis des Sakya-Prasangika. Das Gegenmittel des Greifens nach nichtzugeschriebener, in sich selbst begründeter Existenz – die Ursache allen Leids – ist die nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit (English: „voidness“), was im Englischen oft mit „emptiness“ übersetzt wird. Leerheit bezieht sich auf die Abwesenheit von nichtzugeschriebener, in sich selbst begründeter Existenz, denn eine solche Existenzweise ist unmöglich; so etwas gibt es nicht.

Die Leerheit ist, wie alles andere auch, ein Zuschreibungsphänomen auf einer Grundlage. Man muss von der Leerheit einer unmöglichen Existenzweise von etwas sprechen – oder, genauer gesagt, einer unmöglichen Art und Weise, die Existenz von etwas zu begründen. Wir sprechen hier speziell über die Leerheit des Geistes und der Erscheinungen, die er hervorbringt. Als Zuschreibungsphänomen wird Leerheit jedoch auf konzeptuelle Weise wahrgenommen, und wie alle konzeptuellen Erscheinungen scheint auch die Leerheit eine wahre, nichtzugeschriebene, in sich selbst begründete Existenz zu haben. Um Erleuchtung zu erlangen, müssen wir über eine solche konzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit hinausgehen und zu einer nichtbegrifflichen Wahrnehmung gelangen.  

Es gibt vier Extreme, die es zu überwinden gilt, und bei allen handelt es sich um konzeptuelle Synthesen, die wahrhaftig, nichtzugeschrieben und in sich selbst begründet zu existieren scheinen: (1) die wahrhafte, nichtzugeschriebene, in sich selbst begründete Existenz selbst; (2) die Abwesenheit einer nichtzugeschriebenen, in sich selbst begründeten Existenz – mit anderen Worten, Leerheit; (3) beides und (4) keines von beiden. Als konzeptuelle Synthese ist jedes dieser vier Extreme das, was wir mit dem Wort „Konzepte“ bezeichnen würden. Die tatsächliche nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit liegt also jenseits von Worten und Konzepten; sie liegt jenseits aller vier Extreme, da alle vier Alternativen konzeptuell sind.

Der Übergang von einer konzeptuellen zu einer nichtkonzeptuellen Leerheitserkenntnis ist das Schwierigste, was in der Meditation zu erreichen ist, und jede der vier Traditionen des tibetischen Buddhismus bietet eine andere Methode an. Obwohl die Sakya-Tradition, wie auch die Kagyü- und Nyingma-Traditionen, ihre eigenen Meditationsstile hat, beschreiben alle die auf nichtkonzeptuelle Weise wahrgenommene Leerheit als jenseits von Worten und Konzepten. 

Welche Methode auch immer wir anwenden, es ist notwendig, in unserer Tonglen-Meditation über Worte und Konzepte hinauszugehen. Wir sprechen hier nicht von dem Ratschlag aus unserem Text, Tonglen zu praktizieren: „während du dich mit Worten auf allen Pfaden des Verhaltens übst“. Dies bezieht sich nämlich auf das Rezitieren des Mantras oṃ maṇi padme hūṃ, das uns helfen soll, während unserer Praxis achtsam für Mitgefühl zu sein. Vielmehr geht es hier darum, dass wir, sobald wir das Leid anderer auf uns genommen haben, keine verbalen Gedanken haben sollten, wie zum Beispiel: „Dieses schreckliche Leid anderer, das ich auf mich genommen habe und jetzt selbst erlebe, ist nur eine Erscheinung des Geistes, es ist wie ein Traum.“ Es ist wichtig damit aufzuhören, verbal zu denken, und damit ist nicht nur das geistige In-Worte-Fassen gemeint, sondern auch nur im Geiste so zu fühlen oder zu denken, dass dieses Leid als etwas Wahrhaftiges und Nichtzugeschriebenes existiert – als etwas Schreckliches in mir drin, auch wenn es wie ein Traum ist. Auch sollten wir Folgendes nicht denken: „Dieses Leid ist frei von nichtzugeschriebener Existenz; es gibt keinen Grund zur Aufregung. Beruhige dich! Es hat keine wahrhafte Existenz. Hör’ auf mit dem Theater!“

Dies ist der Punkt, den die dritte Zeile des Verses anspricht. Die Methode, über Worte und Konzepte hinauszugehen, besteht darin, konzeptuelle Gedanken loszulassen, denn das Gegenmittel – die nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit – befreit sich aus sich selbst heraus. „Befreit sich selbst“ bedeutet, dass es sich automatisch auflöst. Da sie frei von wahrhaftem Entstehen, Verweilen und Vergehen sind, entstehen und vergehen alle Gedanken und Erscheinungen innerhalb der Gedanken gleichzeitig, sogar der konzeptuelle Gedanke der Leerheit und die traumgleiche Erscheinung der Leerheit in den Gedanken. Wichtig ist jedoch, dass wir, nachdem wir das Festhalten an diesem konzeptuellen Gedanken der Leerheit losgelassen haben, das Leerheitsverständnis aufrechterhalten. Gelingt uns das, ist unsere Wahrnehmung der Leerheit nichtkonzeptuell. 

Die vierte Zeile lautet:

Die essenzielle Natur des Pfades ist, in einem Zustand der allumfassenden Grundlage zur Ruhe zu gelangen. 

Diese Zeile beschreibt, was wir in der nichtkonzeptuellen Meditation über Leerheit tun. Laut der Sakya-Darstellung kommen wir im Geist des klaren Lichts, der subtilsten Ebene des Geistes, zur Ruhe. Eine der besonderen Auffassungen der Sakya-Interpretation besteht darin, dass wir jede nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit gemeinsam mit dem Geist des klaren Lichts erlangen, unabhängig davon, ob wir Mahayana-Sutra- oder Tantra-Methoden folgen. Der Unterschied zwischen Sutra und Tantra liegt in den Methoden, die eingesetzt werden, um zu dieser subtilsten Ebene des Geistes vorzudringen. 

Im Sakya-Jargon wird der Geist des klaren Lichts die „allumfassende Grundlage“ (tib. kun-gzhi, Skt. ālaya wie in ālayavijñāna) genannt, da er die Grundlage von allem ist. Dies wird dann ausführlicher als das „kausale Alaya-Kontinuum” bezeichnet, der grundlegende Geist – der Geist klaren Lichts –, welcher allumfassend ist, da er die Ursache aller Erscheinungen ist. Er ist die tiefste, letztendliche Ursache aller Erscheinungen, sowohl der unreinen als auch der reinen – mit anderen Worten, aller unreinen Erscheinungen, die auf Unwissenheit und Karma beruhen, und aller reinen Erscheinungen, die nicht auf diesen beiden beruhen, nämlich die Erscheinungen, die ein Buddha ausstrahlt. Die Sakya-Tradition erklärt diese Sichtweise als die „Untrennbarkeit von Samsara und Nirvana“ (tib. ’khor ’das dbyer med), und zwar in dem Sinne, dass sowohl reine als auch unreine Erscheinungen dem Geist klaren Lichts entspringen. 

Diese Sichtweise ist extrem hilfreich für die eigentliche Tonglen-Praxis. Nehmen wir das Leid anderer wahr und konzentrieren uns auf dessen Leerheit, werden wir auf die Ebene des Geistes klaren Lichts vordringen, wenn diese Konzentration auf die Leerheit nichtkonzeptuell ist. Selbst wenn wir uns nur konzeptuell auf die Leerheit konzentrieren können, können wir uns zumindest vorstellen, diese Ebene des vollkommen reinen klaren Lichts erreicht zu haben. Diese Ebene ist nicht die Quelle störender Erscheinungen von Verwirrung und Leid – einmal dort angekommen ist man stattdessen in der Lage, reine Erscheinungen von Glück und was auch immer anderen hilft auszustrahlen. Das ist es, was wir an andere weitergeben wollen, und so wird es gemacht.

Diese reinen Erscheinungen sind unbefleckt, was bedeutet, dass sie nicht mit Verwirrung vermischt sind – wie beispielsweise nach ihnen als wahrhaft existent zu greifen und kleinlich mit ihnen umzugehen. Das, was wir anderen bei der Tonglen-Praxis senden wollen, sollte nicht mit Verwirrung verbunden sein; es sollte ohne Gedanken erfolgen wie: „Ich hoffe, das was ich dir gebe, wird dir gefallen; ich hoffe, dass es funktionieren wird und du mich deswegen mögen wirst.“

Die Praxis richtig durchzuführen, beinhaltet nicht, dass alles völlig frei von Emotionen und Gefühlen sein muss; es bedeutet nicht, dass unsere Tonglen-Praxis unpersönlich ist. Das Ganze ist eine äußerst heikle Sache, denn wir befreien uns zunächst von negativen Emotionen und dem Greifen nach wahrhafter, nichtzugeschriebener Existenz aller Emotionen, sowohl der negativen als auch der positiven. Dann strahlen wir Glück usw. aus, welches wir wiederum mit positiven Emotionen der Liebe und des Mitgefühls verknüpfen müssen, ohne nach ihnen als etwas wahrhaft Existentes und Nichtzugeschriebenes zu greifen. Aus diesem Grund ist es wichtig, an die Quelle aller reinen und unreinen Erscheinung vorzudringen, um zu verhindern, dass unser Geist des klaren Lichts Erscheinung von wahrhaft begründeter Existenz erzeugt. Dann wird es uns möglich sein, reine Erscheinungen und positive Emotionen auszustrahlen. 

Die Verwirrung und alle Erscheinungen lösen sich dann automatisch auf – sie „befreien sich selbst“ –, da sie keine wahrhaft begründeten Phänomene sind, die von irgendwoher kommen, nicht einmal aus dem Geist klaren Lichts, und dann irgendwohin gehen. Auch das Gegenmittel, die Leerheit, befreit sich selbst. Befreien sich Leerheit des Leids, das wir anderen abgenommen haben, und der negativen Emotionen, wie z.B. Angst, die wir vielleicht diesbezüglich empfinden, selbst, dann können wir innerhalb dieser allumfassenden Grundlage, die Ursache aller Erscheinungen, reine Erscheinungen hervorbringen und diese anderen senden.  

Die Sakya-Interpretation ist nicht nur unglaublich tiefgründig, sondern auch unheimlich nützlich, und sie passt sehr gut zu unserem Geistestraining in sieben Punkten. Mit diesem Verständnis des tiefsten Bodhichitta als Grundlage führen wir also unsere Tonglen-Praxis aus und entwickeln dadurch relatives Bodhichitta. Ohne eine solche Grundlage kann Tonglen ziemlich gefährlich sein. 

Die Gelug-Interpretation

Nun folgt die Gelug-Interpretation des tiefsten Bodhichitta, aber nur ganz kurz, um zu zeigen, dass diese Zeilen unterschiedlich interpretiert werden können, was natürlich auch sehr hilfreich ist. „Reflektiere darüber, dass die Phänomene wie ein Traum sind“ bezieht sich auf alle vom Geist wahrgenommenen Phänomene und zeigt an, dass keines von diesen in sich selbst begründete Existenz aufweist. „Erkenne die grundlegende Natur des Gewahrseins, die kein Entstehen hat“ bezieht sich auf die Leerheit des alle Phänomene wahrnehmenden Geistes. Sowohl den Objekten des Geistes als auch dem Geist selbst fehlt es an in sich selbst begründeter Existenz.

Dies umfasst alle fünf Aggregate und alle Faktoren, die unsere Erfahrung von Augenblick zu Augenblick ausmachen und die die Grundlage für das Selbst, das „Ich“, bilden, welches ein auf ihnen basierendes Zuschreibungsphänomen darstellt. Das Selbst der Person, „ich“, hat ebenfalls keine in sich selbst begründete Existenz.

Es ist wichtig, zu wissen, dass diese Abfolge des Verständnisses der Leerheit der Aggregate, insbesondere des Geistes, und dann der Leerheit des Selbst der Person die Prasangika-Widerlegung der Svatantrika-Position darstellt. Den Gelug-Behauptungen zufolge sind Zuschreibungsphänomene wie das Selbst und ebenso allgemein verständliche Objekte keine konzeptuellen Konstrukte, sondern können sogar nichtkonzeptuell wahrgenommen werden. Das, was deren Existenz begründet, ist die Tatsache, dass sie etwas darstellen, worauf sich die Begriffe und Konzepte für sie beziehen – im Falle von „ich“ handelt es sich dabei um ein individuelles Kontinuum der fünf Aggregate. Das bedeutet, dass wir, obwohl wir das Selbst einer Person nichtkonzeptuell wahrnehmen können, begründen können, dass es lediglich in Bezug auf konzeptuelle Wahrnehmung mittels Worten und Konzepten existiert. Eine solche konzeptuelle Wahrnehmung nennt man „geistiges Zuschreiben” (tib. ming ’dogs-pa).

Beim geistigen Zuschreiben – zum Beispiel von „ich“ – sind drei Dinge beteiligt: (1) das Wort, Konzept oder die geistige Zuschreibung „ich“, (2) ein individuelles Kontinuum von fünf Aggregaten als Grundlage für diese Zuschreibung, und (3) das, worauf sich das Wort bzw. die geistige Zuschreibung bezieht – das Bezugsobjekt der Bezeichnung, das konventionell existierende „Ich“. Das „Ich“ existiert lediglich als solches Bezugsobjekt, da sich der konzeptuelle Gedanke auf etwas bezieht. Das bedeutet nicht, dass die geistige Zuschreibung es erschafft. Es bedeutet lediglich, dass wir die Existenz des „Ichs” nur in Abhängigkeit davon feststellen können, dass es die Grundlage dessen darstellt, worauf sich die geistige Bezeichnung bezieht.

Im Prasangika wird behauptet, die Existenz des „Ichs“ – und von allem gültig Wahrnehmbarem – kann nur abhängig von geistigem Bezeichnen begründet werden. Im Svatantrika-System hingegen heißt es, dass es zusätzlich zur geistigen Zuschreibung ein definierendes Merkmal dessen geben muss, worauf sich das Konzept oder der Begriff bezieht, das auf der Seite der Grundlage der geistigen Bezeichnung zu finden ist und die korrekte geistige Bezeichnung ermöglicht. Diese Behauptung läuft darauf hinaus, zu sagen, dass dieses definierende Merkmal wie eine selbst-begründende Natur ist, z.B. das „Ich“, das auf der Seite seiner Grundlage für geistige Zuschreibung auffindbar ist. In der Svatantrika-Schule sagt man, die Existenz des „Ichs“ und aller Phänomene sei durch geistige Zuschreibung in Verbindung mit diesem auffindbaren definierenden Merkmal begründet. Des Weiteren behaupten sie, das definierende Merkmal des „Ichs” sei besonders auf der Seite eines individuellen Kontinuums des geistigen Bewusstseins – allgemeiner ausgedrückt, eines individuellen Geisteskontinuums – als Grundlage auffindbar.

Die Reihenfolge, die hier in diesem Vers angedeutet wird, ist so, dass wir zuerst das Fehlen von definierenden Merkmalen erkennen, die auf der Seite der Erscheinungen auffindbar sind. Danach erkennen wir ein solches definierendes Merkmal auffindbar auf der Seite einer Abfolge von Momenten des Geistes, das in Verbindung mit der geistigen Bezeichnung „Geist“ diesen als Geist begründet. Da kein definierendes Merkmal von „Geist” auf Seiten des Geistes auffindbar ist, wie kann es dann ein definierendes Merkmal von „ich“ seitens des Geistes geben? Das ergibt keinen Sinn.

Dieses Verständnis der Leerheit des Selbst der Person, des „Ich“, stellt die Gelug-Interpretation der dritten Zeile des Verses dar, welche lautet: „Das Gegenmittel befreit sich aus sich selbst heraus“. Als Gegenmittel wird hier das „Ich“ verstanden, welches diese Meditation durchführt. Haben wir verstanden, dass die Aggregate – als Inhalt der Erscheinungen des Geistes – und auch der Geist selbst frei von in sich selbst begründeter Existenz und von durch ein definierendes Merkmal begründeter Existenz sind, kommen wir automatisch – wie gerade erklärt – zu einem Verständnis der Leerheit des „Ich“. Und so geschieht es, dass ein in sich selbst begründetes „Ich“, welches gar nicht existiert, sich „aus sich selbst heraus befreit“. Alle Erscheinungen eines solchen unmöglichen „Ichs” verschwinden dann.

Deshalb ist es bei der Tonglen-Praxis wichtig, das Leid anderer, welches wir auf uns nehmen, als frei von in sich selbst begründeter Existenz zu erkennen. Weder der Geist der anderen noch uns eigener Geist, der dieses Leid erfährt, haben in sich selbst begründete Existenz, und dasselbe gilt für uns und andere als Personen.

Diese ersten drei Verszeilen beziehen sich auf die klar erkennende Meditation – manchmal auch als „analytische Meditation“ übersetzt –, welche für die Tonglen-Praxis wichtig ist. Sobald wir uns mit den Argumentationslinien vertraut gemacht haben, welche die Leerheit aller Phänomene beweisen, müssen wir uns diese vor der Meditation in Erinnerung rufen und dann versuchen, während der gesamten Meditation achtsam zu bleiben, um die Leerheit des Leids, des Geistes und des Selbst zu erkennen. Lassen wir uns auf das Leid ein, werden wir erkennen, dass das Leid, der Geist und die Person, welche es erfährt – sowohl in Bezug auf die andere Person als auch auf uns selbst – frei von in sich selbst begründeter Existenz sind. All das ist Gegenstand der klar erkennenden Meditation.

Die vierte Zeile, welche lautet „Die essenzielle Natur des Pfades ist, in einem Zustand der allumfassenden Grundlage zur Ruhe zu gelangen“, bezieht sich auf die stabilisierende Meditation, welcher wir uns zuwenden, sobald wir das Leid anderer auf uns genommen haben. Mit „allumfassende Grundlage“ ist die Leerheit gemeint. Nun lassen wir uns also zur stabilisierenden Meditation über die Leerheit nieder, die Leerheit der „drei Sphären“ (tib. ’khor-gsum): (1) die meditierende Person, (2) das Objekt der Meditation und (3) die Handlung des Meditierens. Anschließend, indem wir den „Geschmack” – wie es im Tibetischen heißt – der Leerheit beibehalten, stellen wir uns vor, wie wir Glück sowie das, was auch wir anderen schenken möchten, ausstrahlen, und behalten dabei im Sinn, dass diese wie eine Illusion sind. Dies ist der Gelug-Stil der Anwendung von tiefstem Bodhichitta in der Tonglen-Meditation. 

Beide Interpretationen, Sakya und Gelug, sind also sehr gut auf Tonglen anwendbar, und beide sind ausgesprochen hilfreich. Ich wollte darauf etwas näher eingehen, denn ohne tiefstes Bodhichitta ist es schwer, Tonglen richtig zu praktizieren.

Lasst uns an dieser Stelle aufhören. In unserer nächsten Sitzung werden wir dann das relative Bodhichitta besprechen. 

Fragen über geistige Hologramme

In der Pause gab es eine Frage, die ich noch kurz beantworten möchte, bevor wir fortfahren. Es ging um die Aussage, geistige Hologramme haben kein Entstehen, Verweilen und Vergehen und „befreien sich deshalb selbst“.

Der Ausdruck „sich selbst befreien“ ist Standardterminologie, die auch im Dzogchen und Mahamudra verwendet wird. Manchmal wird dies auch als „Selbstbefreiung” übersetzt. Es bedeutet, dass Gedanken sich automatisch auflösen; wir müssen sie nicht zum Verschwinden bringen. Gedanken befreien sich automatisch und lösen sich auf, da sie gleichzeitig entstehen, verweilen und verschwinden. Das Bild, das manchmal verwendet wird, um diesen Punkt zu veranschaulichen, ist, dass Gedanken wie Schrift auf der Wasseroberfläche sind. 

Was geschieht nun, während wir denken? Ist es so, dass ein Gedanke auftaucht, wir ihn dann denken, und anschließend verschwindet er wieder? Dieser dreistufige Prozess könnte nur dann stattfinden, wenn ein Gedanke eine auffindbare, in sich selbst begründete Entität wäre, die, wie ich bereits gesagt habe, auf die Bühne des Geistes tritt, ihre Funktion erfüllt und dann wieder verschwindet. Gedanken existieren jedoch nicht auf diese Weise – nichts existiert auf diese Weise.

Auch bei der Zeit ist es so, dass es keine kleinste Einheit gibt. Man kann Zeit immer weiter und weiter aufteilen. Können wir dabei verschiedene definierte Bruchteile einer Sekunde nennen, in denen ein Gedanke aufkommt, wir ihn denken, und er dann wieder verschwindet? Das können wir nicht. Der Denkvorgang könnte nur dann so ablaufen, wenn es solche Bruchteile einer Sekunde als in sich selbst begründete, auffindbare Entitäten gäbe.

Haben wir die Leerheit erkannt, werden wir verstehen, dass Gedanken, geistige Hologramme und Erscheinungen gleichzeitig entstehen, verweilen und vergehen. In diesem Sinne verschwinden sie automatisch von selbst; sie befreien sich automatisch. Gedanken können nicht andauern; „die Zeit schreitet voran”, würden wir sagen. Nur wenn wir uns an einen Gedanken klammern, als hätte er in sich selbst begründete Existenz, haben wir zum Beispiel das Gefühl, unsere miese Laune hält ewig an. Die Tatsache, dass ein Gedanke automatisch entsteht, verbleibt und von selbst wieder verschwindet, ist der Beweis, der – insofern wir in ihn verstehen – als Gegenmittel für unser Festhalten wirkt. Können wir diese höchst subtile Tatsache erkennen und achtsam bleiben – was bedeutet, mit unserem „geistigen Klebstoff“ dieses Verständnis aufrechtzuerhalten –, wird dies unserer Tonglen-Praxis sehr helfen. In der Tat wird es bei allem in unserem Leben außerordentlich hilfreich sein.

Wenn es im Dzogchen und Mahamudra heißt, wir sollen uns einfach auf natürliche Weise entspannen, bedeutet das nicht, dies allzu wörtlich zu nehmen. Gemeint ist dabei der Prozess, den ich gerade erklärt habe. Unsere Gedanken und störenden Emotionen entstehen, verweilen und vergehen gleichzeitig; wir brauchen uns nicht darum bemühen, sie zum Verschwinden zu bewegen. Können wir diese Erkenntnis – eine Erkenntnis der Leerheit der Gedanken und des Geistes – aufrechthalten, werden uns unsere Gedanken keine Probleme bereiten. Deswegen sagt man, man soll sich einfach entspannen und nicht nach Gedanken greifen. Das mag alles sehr einfach klingen – das ist es jedoch überhaupt nicht. 

Obwohl Gedanken, Emotionen usw. gleichzeitig entstehen, verweilen und vergehen, bedeutet das nicht, dass sie überhaupt nicht entstehen. Sie entstehen und sind dabei wie eine Illusion, wie ein Traum. Es ist nicht so, dass da nichts passiert. Darauf weist die letzte Zeile des Verses hin: 

Handle zwischen den Sitzungen wie eine illusionsgleiche Person.

Serkong Rinpoche drückte dies sehr schön, wenn auch kryptisch, aus, indem er diesen Fünfzeiler folgendermaßen zusammenfasste: „Ist eine Wand vor dir, kannst du nicht hindurchgehen. Ist da keine Wand, kannst du durchlaufen.“ Hätten die Dinge wahrhafte, auffindbare, in sich selbst begründete Existenz, wären sie fest wie eine Mauer. Sie wären in gewissem Sinne eingefroren, als in sich selbst begründete, unabhängige Entitäten, und könnten daher nicht funktionieren, da Funktionieren bedeutet, etwas zu tun, was wiederum Veränderung impliziert.

Wäre jeder Moment, jeder Bruchteil einer Sekunde, eine in sich selbst begründete, unabhängige Entität, wie könnte dann eine Millisekunde zur nächsten führen? Wie könnten Millisekunden miteinander in Verbindung stehen? Ist die Ursache von etwas in sich selbst begründet und existiert somit als Ursache ganz für sich selbst, wie könnte sie dann zu einer Wirkung führen? Wie könnten Phänomene dann funktionieren; wie könnte überhaupt irgendetwas geschehen? Da es so etwas wie in sich selbst begründete Existenz jedoch nicht gibt, gibt es in gewissem Sinne auch keine Mauer. Aus diesem Grund kann alles funktionieren. 

Serkong Rinpoches Unterweisung mit der Mauer ist ein gutes Beispiel dafür, wie tibetische Lamas oft lehren. Sie drücken komplexe Zusammenhänge mit sehr einfachen Beispielen aus – einfach, aber sehr tiefgründig.

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