Die vier vorbereitenden Gedanken für Tonglen: Geben und Nehmen

Hintergrund des Textes „Geistestraining in sieben Punkten”

Wir werden dieses Seminar mit einem sehr wichtigen und zentralen Text beginnen, der in allen tibetischen Traditionen, deren Wurzeln in Indien liegen, praktiziert wird: dem „Geistestraining in sieben Punkten“ (tib. Blo-sbyong don-bdun-ma). Ich selbst habe Unterweisungen zu diesem Text hauptsächlich von meinen Lehrern Serkong Rinpoche und Geshe Ngawang Dargye erhalten und werde dementsprechend in erster Linie Serkong Rinpoches Erklärungen folgen, zumal er ein absoluter Experte in dieser Art von Praxis war, insbesondere in der Praxis des „Geben und Nehmens“ (tib. gtong-len). Serkong Rinpoche war selbst einer der Lehrer Seiner Heiligkeit des Dalai Lama.

Das Textgenre, aus dem diese Praxis stammt, wird im Tibetischen als „Lojong“ (tib. blo-sbyong) bezeichnet, was sich mit „Geistestraining“ übersetzen lässt – eine irreführende Übersetzung, wie Serkong Rinpoche betonte. Wenn ich nun die Konnotationen des Begriffes erkläre, wird der Grund dafür deutlich werden. Den Geist zu „trainieren“, klingt so, als würden wir unseren Intellekt trainieren, aber darum geht es hier nicht wirklich. Das Wort „Lo“ (tib. blo), was für gewöhnlich mit „Geist“ übersetzt wird, bedeutet eigentlich „Einstellung“, und das Verb „jong“ (tib. sbyong) hat zwei Bedeutungen: (1) bereinigen, läutern – sprich, unsere negative Einstellung und Geisteshaltungen zu reinigen – und (2) trainieren, lernen bzw. eine positivere Einstellung zu entwickeln, nachdem wir sie bereinigt haben. Deshalb übersetze ich Lojong auch als „Läutern der Einstellung”.

Diese Lehren, insbesondere jene über das Ändern unserer Einstellung gegenüber uns selbst und anderen – denn darum geht es in diesen Lehren – stammen hauptsächlich aus zwei Kapiteln des „Blumengirlandensutra“ (tib. mDo phal po che, Skt. Avataṃsakasūtra), die selbst eigene Werke darstellen. Das erste ist das „Sutra, ausgestreckt wie ein Baumstaum” (tib. sDong-po bkod-pa’i mdo, Skt., Gaṇḍavyūhasūtra) – der Titel suggeriert das Bild des Stammes eines riesigen Baumes, der seine Äste in alle Richtungen ausstreckt. Es beschreibt die spirituelle Reise von Sudhana und dessen Begegnungen mit dreiundfünfzig Meistern und Bodhisattvas auf seiner Suche nach der höchsten Wahrheit und endet mit dem „Gebet des Samantabhadra“. Das andere Kapitel trägt den Titel „Sutra der Widmung Vajradhvajas“ bzw. „Das Sutra der [zehn] Übertragungen [des positiven Potenzials] des [Bodhisattva] Vajradhvaja“ (tib. rDo rje rgyal mtshan yongs bsngo’i le’u, Skt. Vajradhvajapariṇāmana). Es beschreibt zehn Umstände, in denen Wesen großem Leid ausgesetzt sind, denen der Bodhisattva Vajradhvaja das Potenzial seiner konstruktiven Taten übertrug.

Die beiden großen indischen Meister, die die Mahayana-Lehren verbreiteten und diese für jedermann zugänglich machten, waren Asanga und Nagarjuna. Sie waren ebenfalls Halter der Übertragungslinie und der Lehren dieser Sutras. An einem gewissen Punkt nach einigen Jahrhunderten erreichten diese Lehren den großen indischen Meister Shantideva, Verfasser des Textes „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“, welches sogar noch mehr dieser Lehren enthält. Diese großartigen Mahayana-Lehren und deren Übertragungslinien wurden auch außerhalb Indiens verbreitet und gelangten nach Indonesien, unter anderem auf die Insel Sumatra, die „goldene Insel“ (tib. gser-gling).

Einige Jahrhunderte später, zur Zeit von Atisha, herrschten in Indien schwierige Zeiten, und viele der spezifischeren Mahayana-Lehren waren dort nicht mehr verfügbar. Atisha hörte, die Lehren und deren Übertragungslinie seinen bei einem großen Meister auf Sumatra erhältlich, und so unternahm er eine sehr lange und schwierige Seereise von Indien nach Sumatra. Dort angekommen, war er vielen Schwierigkeiten ausgesetzt und ging nicht voreilig direkt zu diesem Meister, sondern nahm sich viel Zeit, ihn zu prüfen und seine Schüler zu befragen. Anschließend wurde er schließlich Schüler dieses großen Meisters, der als Serlingpa bekannt ist; andere seiner Namen sind Dharmakirti und Dharmapala.

Serlingpa war Halter der Übertragungslinien von Nagarjuna, Asanga und Shantideva, und Atisha brachte diese zurück nach Indien, was uns wirklich eine wichtige Lektion lehrte, nämlich dass authentische Lehren zweifelsohne das absolut Wertvollste sind, was es auf dieser Erde gibt. Sind sie in unserem Land oder einer bestimmten Situation nicht verfügbar, sitzen wir nicht einfach herum und sagen: „Dann nehme ich eben, was zur Verfügung steht“, und geben uns mit dem Zweit- oder Drittbestem zufrieden. Stattdessen sollten wir wirklich genau schauen, wer authentische Lehren und Verwirklichung besitzt. Egal, wie schwierig es ist oder wie viel Zeit und Mühe es kostet, die Mittel, das Geld und alles, was nötig ist, zu beschaffen, um die authentischen Lehren zu erhalten – wenn wir es mit unserer Praxis wirklich ernst meinen, werden wir die authentischen Quellen auch aufsuchen.

Atisha behielt diese Lehren nicht einfach nur für sich, sondern gab sie an andere weiter. Er wurde eingeladen, nach Tibet zu kommen, was zu seiner Zeit ein schwieriges Unterfangen war. Die Mönche in seinem Kloster in Indien waren nicht besonders erfreut darüber, doch er unternahm diese unglaublich harte Reise trotzdem. In Tibet angekommen, gab Atisha (982–1054) diese Belehrungen – zum größten Teil über Bodhichitta – hauptsächlich an Dromtönpa (1005–64) weiter, einem seiner wichtigsten Schüler. Dromtönpa gab sie später an seinen eigenen Schüler, Geshe Potowa (1027–1105).

Dies ist der Ursprung der Kadam-Tradition, und wenn von Kadam-Geshes die Rede ist, bedeutet „Geshe“ nicht das, was es später in der Gelug-Tradition bedeutete, wo man jemanden, der die volle monastische Ausbildung durchlaufen ist, als Geshe bezeichnet. Im Kontext der Kadam-Tradition geht es um das, was manchmal als „spiritueller Freund“ (tib. dge-ba’i bshes gnyen) übersetzt wird – ein Freund oder Verwandter, ein Bruder, jemand, der uns sehr nahesteht und zu dem wir eine sehr liebevolle Beziehung haben; jemand, der uns inspiriert und uns durch sein Beispiel dazu bringt, konstruktiv zu sein und zu handeln. 

Natürlich legen diese Lehren einen großen Schwerpunkt auf Leerheit und anderen Themen, aber genauso auch auf Bodhichitta. Wir sollten uns daran erinnern, dass zu jener Zeit in Tibet die Zeiten ziemlich schwierig und chaotisch waren. Deswegen waren die Lehren über das Training bzw. Bereinigung der Geisteshaltung genau das, was die Menschen damals brauchten. 

Geshe Potowa hatte zwei Hauptschüler, einen sonnengleichen und einen mondgleichen Schüler, wie sie auch genannt wurden: Langri Tangpa (1054–1123) und Geshe Sharawa (1070–1141). Langri Tangpa war immer äußerst ernst und es ranken sich interessante Geschichten um seine Persönlichkeit, die ihr vielleicht schon gehört habt – ich werde hier aus Zeitgründen allerdings nicht ins Detail gehen können. Es heißt, dass Langri Tangpa nur dreimal lachte. Er war jedoch nicht ernst im Sinne von unfreundlich oder harsch, denn die meiste Zeit dachte er an andere und war voller Trauer über ihr Leid und voller Mitgefühl in dem Wunsch, ihnen helfen zu können. „Ich hatte keine Zeit für Scherze”, pflegte er zu sagen. Langri Tangpa ist Verfasser des „Geistestraining in acht Versen“ (tib. Blo-sbyong tshig-brgyad-ma), ein sehr bekannter Lojong-Text.

Ein weiterer Kadampa-Meister, Geshe Chekawa (1101–75), stieß im Haus eines anderen großen Geshes auf den Text „Geistestraining in acht Versen“ und fühlte sich von einer Zeile darin besonders berührt. Es war die Zeile: „Möge ich Niederlagen akzeptieren und den Sieg anderen überlassen.“ Das hat ihn tief beeindruckt; so sehr, dass er den Rest seines Lebens danach ausrichtete. Nachdem er diesen Geshe, in dessen Haus er den Text fand, gefragt hatte, wer der Autor dieses Textes sei, sagte dieser ihm, dass es Geshe Langri Tangpa war. Daraufhin unternahm Geshe Chekawa eine lange Reise nach Lhasa, um Langri Tangpa aufzusuchen. Als er dort ankam, erfuhr er jedoch, dass dieser bereits verstorben war. 

Dies ist ein weiteres gutes Beispiel dafür, dass er sich nicht einfach nur dachte: „Oh, das ist aber interessant; das würde ich gern studieren“, aber dann nichts unternahm. Er wollte diese Lehren wirklich finden. Er nahm eine schwierige Reise auf sich, erreichte sein Ziel, doch der Meister lebte nicht mehr; also fragte er: „Von wem kann ich diese Lehren dann erhalten?“ Ihm wurde gesagt, er könne den Kadampa-Geshe Sharawa dafür aufsuchen. Daraufhin ging Geshe Chekawa los und suchte Geshe Sharawa auf, der ihm zunächst jedoch keine Unterweisungen geben wollte – eine weitere lange Geschichte, auf die wir hier nicht eingehen können. An einem gewissen Punkt erzählte ihm Geshe Sharawa etwas über die Übertragungslinie dieser Lehren und woher sie stammten. Geshe Chekawa dachte sich nicht einfach: „Vielleicht hat sich das ja jemand ausgedacht, aber das macht nichts – es klingt so schön“, sondern wollte wissen, ob diese Lehren authentisch sind. Also zeigte Geshe Sharawa ihm einen Text von Nagarjuna: „Die kostbare Girlande“ (tib. Rin-chen phreng-ba, Skt. Ratnāvalī), aus dem der Lehrsatz stammt, die Niederlage auf sich zu nehmen und den Sieg anderen zu überlassen. 

Dies überzeugte Geshe Chekawa, dass es sich um eine authentische Lehre handelte, die bis nach Indien und zurück zum Buddha reichte. Auch dies lehrt uns eine sehr wichtige Lektion, nämlich dass es Lehren geben mag, die sehr attraktiv klingen und die jemand als eine Lehre des Buddha bewirbt, aber solange wir nicht wirklich sicher sind, dass sie authentisch sind – sprich, dass sie Buddhas Lehre und in den großen Texten zu finden sind –, müssen wir vorsichtig sein. Wir sollten uns nicht einfach auf etwas einlassen, nur weil es uns attraktiv erscheint. 

Dies zeigt uns, wie wertvoll die Bodhichitta-Lehren und die Lehren über das Ändern unserer Einstellung uns selbst und anderen gegenüber sind, und wie auch diese großen Meister sie als so unglaublich wertvoll ansahen, dass sie zahlreiche Schwierigkeiten auf sich nahmen, um sie zu erhalten. Heutzutage ist alles sehr leicht verfügbar, und deshalb neigen wir dazu, die Lehren zu trivialisieren, was dazu führt, dass wir sie nicht ernst nehmen, sie nicht respektieren und uns deshalb nicht wirklich bemühen. Aus diesem Grund sind viele Texte in einem sehr kryptischen Stil verfasst, mit nur wenigen Worten, die wirklich schwer zu verstehen sind, wenn man einen Text einfach nur aufschlägt und versucht zu lesen. Sie sind voll von Wörtern wie „dieses” und „das”, und die meisten von uns haben keine Ahnung, worauf sie sich eigentlich beziehen. 

Ich habe neun Jahre lang als Übersetzer für meinen Hauptlehrer, Serkong Rinpoche, gearbeitet und unter ihm studiert. Ihm war meine ziemlich arrogante Haltung gegenüber dem Stil der Texte, und dass ich sie ein wenig für diese Unklarheit und die vielen „dies“ und „das“ kritisierte, bewusst. Er schimpfte mit mir und sagte: „Sei nicht so arrogant zu denken, dass große Meister wie Nagarjuna nicht klar schreiben konnten und dass sie dumm oder unfähige Autoren waren. Das ist anmaßend! Wenn sie klar schreiben wollten, hätten sie es getan. Offensichtlich haben sie mit Absicht so geschrieben.“ 

Serkong Rinpoche erklärte, dass die großen Meister die Texte so geschrieben haben, dass wir, wenn wir sie verstehen und praktizieren wollen, eine enorme Menge an Arbeit und Mühe aufwenden müssen, um Erklärungen für etwas zu bekommen. Außerdem werden dadurch jene Schüler aussortiert, denen es nicht so ernst damit ist. „Und selbst wenn wir es erklären”, so Rinpoche, „erklären wir es beim ersten Mal nicht so deutlich. Dann werden viele Leute wieder gehen, weil sie genug haben. Diejenigen, die es wirklich ernst meinen, werden jedoch nach mehr fragen, tiefer gehen wollen und wirklich die nötige Mühe aufbringen.“

Natürlich bin ich selbst jedoch ein schlechter Schüler und tue das nicht. Ich versuche gerne, die Dinge für Menschen klarer zu machen und zumindest das Verständnis zu erleichtern. Nichtsdestotrotz ist es notwendig, sich anzustrengen, um die Lehren tatsächlich zu verstehen und Klarheit darüber zu erlangen; andernfalls entwickeln wir unsere Geisteshaltung nicht, denn beim Dharma-Studium geht es nicht nur darum, Informationen anzusammeln.

Wir leben unbestritten im Zeitalter der Degeneration. Vielerorts gibt es Dharma-Zentren, die auf das Geld ihrer Besucher angewiesen sind, weil sie sonst die Miete, ihre Ausgaben usw. nicht bezahlen könnten. Aber sie wollen die Leute auch nicht vergraulen. Das ist wirklich ein Zeichen für das Zeitalter der Degeneration, nicht wahr?

Wie dem auch sei, Geshe Chekawa verbrachte dann sechs Jahre damit, bei Geshe Sharawa zu studieren, praktizieren und zu meditieren, um diese schwierigen und sehr fortgeschrittenen Lehren über die Läuterung der Geisteshaltung zu verinnerlichen und zu verwirklichen. Geshe Chekawa war kein Anfänger oder Dummkopf, als er dorthin ging, und so brauchte er sechs Jahre – einem anderen Bericht zufolge waren es sogar vierzehn Jahre –, um sein Bodhichitta zu verwirklichen. Anschließend schrieb er diesen Text, den wir studieren werden, und lehrte ihn an seine Schüler, insbesondere einem Meister namens Lhadingpa, welcher ihn wiederum an Togme Sangpo (1295–1369) weitergab. Togme Sangpo ist der Autor der „Siebenunddreißig Übungen der Bodhisattvas“ (tib. rGyal-sras lag-len so-bdun-ma), welcher sehr häufig im Westen gelehrt wird. Ebenso verfasste er einen wunderbaren Kommentar zu Shantidevas „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“.

Es gab auch andere Übertragungslinien, die von Lhadingpa ausgingen. An einem gewissen Punkt erreichte der Text „Geistestraining in sieben Punkten” alle Schulen des tibetischen Buddhismus und wurde auch an Tsongkhapa und somit an die Gelug-Tradition weitergegeben und sein Inhalt wurde in verschiedene Texte aufgenommen. Es ist ziemlich verwirrend, dass es in all den verschiedenen Lamrim-Texten und im „Lama Chöpa“ (Skt. Gurupūja) usw. leicht unterschiedliche Versionen des Textes gibt. Pabongka Rinpoche, ein Meister der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sah sich alle Versionen an und erstellte eine Edition, die er dann als die Standardversion verkündete, was allerdings natürlich nur in der Gelug-Tradition angenommen wird. Ich erwähne das, weil es von all diesen verschiedenen Versionen viele Texte gibt, zumindest von denen, die ins Englische übersetzt wurden, und viele davon sind Pabongkas Edition, aber es gibt auch viele andere; lasst euch also nicht verwirren. In den meisten dieser Versionen wird nichts Neues hinzugefügt, was unpassend sein könnte. Oft passiert es aber, dass man einen mündlichen Kommentar erhält und ein wenig durcheinanderkommt, was tatsächlich im Text steht und was der Lama aus einer mündlichen Überlieferungstradition heraus erklärt. Dinge werden hinzugefügt oder in ihrer Reihenfolge verändert usw. 

Die Ausgabe, der ich folgen werde, ist diejenige, die Serkong Rinpoche immer gelehrt hat – eine der ältesten Versionen des Textes. Es ist der Text, der von Togme Sangpo stammt und damit bis ins dreizehnte Jahrhundert zurückgeht – die Lebensdaten von Togme Sangpo sind nicht so ganz klar festlegbar. Ich erwähne das, da ich weiß, dass ihr die spanische Übersetzung der Pabongka-Ausgabe habt. Das ist nicht die Ausgabe, die ich lehren werde – es gibt also kleine Unterschiede. Ich bin sicher, Serkong Rinpoche hatte einen triftigen Grund, warum er immer diese alte Ausgabe verwendete; ich habe ihn jedoch nie gefragt, denn mir war damals nicht bewusst, dass es verschiedene Versionen gibt. Wie auch immer, wenn Serkong Rinpoche gut genug war, der Lehrer Seiner Heiligkeit des Dalai Lama zu sein, ist das wohl Grund genug, keine Frage.

Ich spreche über diesen historischen Hintergrund mit all den Details nicht nur, um euch eine Geschichte zu erzählen, sondern weil ich denke, dass all dies uns hilft, uns diesem Material zu nähern, denn es ist tatsächlich sehr fortgeschritten und schwierig. Wir sollten diese Lehren auf keinen Fall trivialisieren und uns genauso wenig von ihnen entmutigen lassen. Denn wenn wir den Lehren über die Läuterung unserer Einstellung zuhören, werden viele von uns denken: „Ach was, es ist doch unmöglich, das wirklich zu tun!“ Es gibt jedoch bestimmte Aspekte dieser Lehren, die leichter zugänglich sind als andere, und so versuchen wir, das in die Praxis umzusetzen, wozu wir bereit sind, und nicht so zu tun, als ob wir fortgeschrittene Praktiken ausführen würden, für die wir emotional nicht bereit sind. Wir müssen die grundlegenden Lehren wirklich verinnerlicht haben und sie nicht nur kennen, sondern sie auf einer emotionalen Ebene wirklich fühlen. Das heißt, wenn wir unsere Geisteshaltung wirklich trainieren und reinigen wollen, gibt es einige sehr drastische Wege, dies zu tun, und wenn wir emotional nicht darauf vorbereitet sind, kann es schädlich sein, wenn wir versuchen, einige von ihnen umzusetzen. 

Dennoch sind, wie ich schon sagte, nicht alle Punkte so kraftvoll, aber viele sind es nun eben. Wenn wir die Lehren erhalten, ist eine Sache, die sie tun können, uns zu inspirieren – das ist echte Bodhisattva-Schulung. Denn so werden wir wirklich Bodhisattvas und entwickeln uns auf dem Bodhisattva-Pfad. Wenn es wirklich das ist, was wir tun möchten – wenn wir ernsthaft Erleuchtung erlangen und allen Wesen nützen wollen –, dann ist es das, wonach wir streben sollten, wenn wir eine Vorstellung davon haben, was vor uns liegt, und wir nicht naiv sind. Wir sollten uns nicht vormachen, dass der Weg zur Erleuchtung so wunderbar ist und wir auf einen netten Disneyland-Ausflug gehen und dabei denken, die Buddha-Länder seien so schön und jeder darin sei so liebevoll und freundlich. Lasst uns nicht kindisch sein. Es erfordert großen Mut, dem Bodhisattva-Pfad zu folgen – das werden wir auch hier ein wenig sehen. 

Großes Mitgefühl entwickeln und sich in den vorbereitenden Praktiken üben

Unser Text beginnt wie folgt:

Verneigung vor dem großen Mitgefühl.

Großes Mitgefühl bedeutet nicht nur, zu sagen: „Mögen einige Wesen von ihrem Leiden und den Ursachen des Leidens befreit sein“, und schon gar nicht „Oh, du armes Ding!“ Der Bedeutungsrahmen ist weit größer; das Wort „groß” ist hier sehr wichtig. Zunächst einmal ist das große Mitgefühl nicht nur auf einige Wesen beschränkt, sondern gilt für alle Wesen, einschließlich der Arhats, welche, obwohl sie von Samsara befreit sind, immer noch die kognitiven Schleier haben, die sie daran hindern, anderen größtmöglichen Nutzen zu bringen. 

Oft sagen wir „alle fühlenden Wesen“, aber es bedeutet uns eigentlich nichts. Es geht sehr leicht über die Lippen, aber wer von uns denkt wirklich ernsthaft über das Leid jedes einzelnen Insekts im Universum nach, und dass wir wirklich daran arbeiten wollen, auch diesen Wesen zu nutzen und nicht nur das Leid dieses Lebens zu überwinden, sondern Befreiung und Erleuchtung zu erlangen? Das ist kein Kinderkram: wenn es „alle” heißt, sind damit wirklich alle Wesen gemeint.

Diese Art von Mitgefühl, bei der wir aufrichtig für alle Wesen gleichermaßen empfinden, ist ein Aspekt des großen Mitgefühls. Ein weiterer Aspekt ist die Überzeugung, dass es tatsächlich möglich ist, dass alle fühlenden Wesen von ihrem Leid frei werden. Wenn wir nicht glauben, dass dies möglich ist und uns das lediglich wünschen – oder schlimmer noch, dass die Wesen uns leidtun –, wird das nicht sonderlich viel helfen.

Um die Überzeugung zu gewinnen, dass Befreiung und Erleuchtung möglich sind, ist es notwendig, ein Verständnis von Leerheit und der Natur des Geistes zu erlangen – ein Verständnis der Tatsache, dass die wahre Natur des Geistes nicht von Verwirrung, störenden Emotionen usw. befleckt ist. Auch ist es wichtig, zu verstehen, dass es wirklich möglich ist, all die sogenannten „flüchtigen Makel“ (tib. glo-bur-gyi dri-ma) für immer loszuwerden, sodass sie nie wiederkehren, und dass dies für jeden möglich ist, da alle Wesen die Faktoren der Buddha-Natur besitzen, die dies ermöglichen. Außerdem sollten wir nicht einfach nur mit diesem großen Mitgefühl in unserem Zimmer oder unserer Meditationshöhle herumsitzen, sondern die Verantwortung, so gut wir können, auf uns nehmen und wirklich etwas unternehmen, um anderen zu helfen. 

In einigen Versionen unseres Textes – nicht in der Originalversion – heißt es, der Text sei wir ein Vajra-Diamant, da er uns hilft, uns von all unseren störenden Emotionen zu trennen. Er ist wie die Sonne: er beseitigt die Dunkelheit der Selbstbezogenheit und des Egoismus, uns nur unserer selbst Willen zu bemühen. Er ist wie eine wirksame Medizin, ein Medizinbaum oder ein Heilkraut, das unsere Selbstsucht heilt. Ein großer Teil der Läuterung der Geisteshaltung besteht also darin, sich von Selbstbezogenheit zu lösen, und zwar durch das Austauschen unserer Haltung uns selbst und anderen gegenüber.

Der Text fährt wie folgt fort:

Übe dich zuerst in den vorbereitenden Übungen.

Wenn von vorbereitenden Übungen (tib. sngon-’gro) die Rede ist, dürfen wir diese nicht bagatellisieren. Vorbereitende Übungen sind etwas, das wir tun, bevor wir uns etwas anderem zuwenden – Übungen, die etwas anderem „vorangehen“ (tib. sngon-du ’gro-ba), so die wörtliche Bedeutung. „Vorbereitung“ ist vielleicht näher an dem, was der Begriff eigentlich bedeutet. Ich halte es für hilfreich, folgendes Bild für diese Praktiken zu nutzen: Stellen wir uns vor, wir seien Tibeter und reisen mit einer Karawane zu einem weit entfernten Ort. Bevor wir uns auf eine solch lange und harte Reise begeben, müssen wir unsere Taschen packen – wir können nicht einfach auf unsere Yaks steigen und losziehen, denn auf unserer Reise werden wir nicht an jeder Ecke eine Apotheke oder ein Geschäft finden, indem wir alles kaufen können, was wir brauchen. So ist es einfach nicht. In gleicher Weise sind die vorbereitenden Übungen zu praktizieren, bevor man die spirituelle Reise antritt; so, als würden wir unsere Taschen mit allem packen, was wir auf der Reise brauchen werden, denn ohne das können wir unsere Reise nicht antreten. 

Die vorbereitenden Übungen sind absolut essenziell, und sie werden hier im Rahmen der vier Gedanken, die den Geist dem Dharma zuwenden (tib. blo-ldog bzhi), erklärt. Wohlgemerkt entstand dieser Text vor der Gelug-Tradition und deren Betonung der drei Ebenen der Motivation in den Lamrim-Texten. Diese vier Gedanken sind die vier allgemeinen vorbereitenden Übungen und in ihnen geht es um (1) das Verständnis, eine menschliche Wiedergeburt zu haben, und darüber nachzudenken, dass diese nicht von Dauer ist; (2) Unbeständigkeit und Tod, weswegen wir die sichere Richtung der Zuflucht in unserem Leben einschlagen sollten; (3) Karma, das Gesetz von Ursache und Wirkung, und dass wir unser Verhalten ändern müssen, und (4) die Nachteile von Samsara.

Der Gelug-Lamrim integriert diese vier Gedanken in die Struktur der drei Motivationsebenen. Die ersten drei (kostbares Menschenleben, Unbeständigkeit und Tod, Karma) gehören zur anfänglichen Ebene, auf der man sich um eine bessere Wiedergeburt bemüht. Die Nachteile von Samsara werden im Kontext der mittleren Ebene des Strebens nach Befreiung angesprochen. Da fragt man sich dann natürlich, wo die fortgeschrittene Ebene in den vier Gedanken bleibt. Die Antwort darauf ist, dass sie uns darauf vorbereiten – sie sind die Vorstufen dazu. Schließlich sind die vier Gedanken nicht nur in Sutra und Tantra sondern auch in Hinayana und Mahayana zu finden. 

Es reicht jedoch nicht aus, die Einsichten dieser vier Punkte in Bezug auf die anfängliche und mittlere Ebene der Motivation verinnerlicht zu haben. Es ist wichtig, immer wieder zurückzugehen und weiter an ihnen zu arbeiten, und hier auf dem Bodhisattva-Pfad tun wir das mit der fortgeschrittenen Motivation von Mitgefühl und Bodhichitta.

Das kostbare menschliche Leben

Die erste vorbereitende Übung besteht darin, über unser kostbares menschliches Leben zu meditieren, das es uns erlaubt, Bodhichitta zu entwickeln, um anderen so weit zu helfen, wie wir zurzeit in der Lage sind. Eine solche kostbare menschliche Wiedergeburt erlaubt es uns nämlich in der Tat, anderen zu helfen, denn wie könnten wir das tun, wenn wir zum Beispiel als Kakerlake wiedergeboren würden? Mit einem kostbaren menschlichen Leben hingegen, mit der Fähigkeit zu lernen, zu studieren, zu meditieren und ohne zu intensivem Leiden oder zu großem Glück ausgesetzt zu sein, können wir nicht nur an uns selbst arbeiten, sondern insbesondere auch daran, die Erleuchtung zu erreichen, um für andere von größtmöglicher Hilfe zu sein.

Dieses kostbare menschliche Leben ist nicht von Dauer: Es ist unbeständig und verändert sich ständig – und irgendwann werden wir sterben. Natürlich wollen wir die Zeit, die wir haben, nutzen, um größtmöglichen Fortschritt zu machen, denn wir werden krank werden, wir werden alt werden und wir werden sterben; daran besteht kein Zweifel. Deswegen benötigen wir die Methoden, die hier gelehrt werden, um diese schwierigen Situationen transformieren und nutzen können, unsere Praxis voranzutreiben und somit anderen helfen zu können, auf dem Bodhisattva-Pfad zur Erleuchtung voranzuschreiten. Als Mensch mit einer solchen kostbaren Wiedergeburt können wir schwierige Umstände tatsächlich umwandeln und nutzen, um auf dem Pfad voranzukommen – ganz im Gegensatz zu beispielsweise einem kranken Hund. Wenn wir nicht ernsthaft annehmen, dass uns diese Dinge widerfahren werden, würden wir jetzt, wo wir die Möglichkeit haben, nicht ernsthaft praktizieren. Wir würden jetzt, wo wir nicht krank sind, wir nicht dement sind oder im Sterben liegen, unsere Situation nicht nutzen, um unseren Geist von Angst, Selbstmitleid und von all der Selbstbezogenheit, die normalerweise damit einhergeht, wenn wir krank sind, alt sind, oder im Sterben liegen, zu befreien.

Zuflucht

Bei der zweiten vorbereitenden Übung versuchen wir, mit starker Überzeugung die sichere Richtung von Buddha, Dharma und Sangha einzuschlagen – die Richtung, mit der wir an uns selbst arbeiten. Die Buddhas und der Arya-Sangha – diejenigen, die die wahren Beendigungen der wahren Leiden und ihrer wahren Ursachen tatsächlich erreicht haben – sind die Quellen, welche diese sichere Richtung angeben. Mit Vertrauen in ihre Fähigkeit, uns zu führen, geben wir uns ihnen ganz hin. Wir schlagen die von ihnen angegebene Richtung mit dem Ziel ein, Erleuchtung zu erlangen, um anderen zu helfen. Wir sollten versuchen, in jedem Moment unseres Lebens, egal wie schwer es gerade sein mag, immer in diese Richtung zu gehen. Deshalb müssen wir schwierige Situationen so transformieren, dass sie uns helfen, auf dem Pfad weiterzukommen, um anderen zu nutzen – genau darum geht es bei beim Läutern der geistigen Einstellung. 

Es ist wichtig, in Bezug auf diese Richtung in unserem Leben sicher und standhaft zu sein. Sind wir das nicht, werden wir uns vielleicht einer anderen Zuflucht zuwenden, wenn Schwieriges auf uns zukommt; wir flippen aus, bemitleiden uns selbst und suchen Zuflucht in Essen, Schokolade, Freunden oder was auch immer.

Karma

Bei der dritten vorbereitenden Übung geht es um die Kontemplation des Karmas: verhaltensbedingte Ursache und Wirkung. Er ist sehr wichtig, wirklich zu verstehen, dass, wenn wir in schwierige Situationen geraten, es sich dabei um die Reifung der karmischen Hinterlassenschaft von destruktiven Handlungen handelt, die wir in der Vergangenheit begangen haben, und dass wir diese Hinterlassenschaft bereinigen und loswerden sollten. Damit das geschehen kann, wäre es gut, wenn sie jetzt reifen würden, denn dann wären wir sie los. Die Menge an positiver Kraft aus unseren konstruktiven Handlungen ist momentan noch ziemlich begrenzt. Wir wollen nicht, dass es ständig gut für uns läuft und all das heranreifen und sich erschöpfen würde, denn was dann? Es würden uns nur noch negative karmische Potenziale übrigbleiben. 

Wenn also die negativen Potenziale heranreifen, versuchen wir sie in förderliche Umstände für die Praxis umzuwandeln. Anstatt nur noch mehr negatives Potenzial anzuhäufen, indem wir denken: „Oh, wie furchtbar! Ich Armer!“, können wir stattdessen schwierige Situationen, die aus diesen Potenzialen reifen, nutzen, um mehr positives Potenzial aufzubauen, um anderen zu helfen. 

Zweck des Ganzen ist, die Fähigkeit zu erlangen, anderen zu helfen. Shantideva behandelt das sehr ausführlich im zweiten Kapitel seines „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“, wo er sagt, dass, wenn diese negativen Potenziale reifen, wir normalerweise von Angst und Schrecken erfüllt sind: „Oh, ich Armer! Was geschieht nur mit mir?” Das wollen wir unbedingt vermeiden. 

Wenn wir eine sichere Richtung in unserem Leben haben und dieses Leben zu etwas Positivem transformieren, weil wir erkennen, dass wir sonst verloren wären, und wenn unsere Motivation darin besteht, anderen ebenso zu einer solchen Transformation zu verhelfen, gibt uns das einen sehr starken Antrieb, das alles umzusetzen. Dies erfordert ein wirklich gutes Verständnis von Karma beruhend auf einem Verständnis der Leerheit. Ohne das ist alles umsonst. Denn wenn wir sagen: „Nun, was auch immer geschieht ist das Heranreifen meines Karmas“, und dann nach einem soliden „Ich“ greifen und denken, dass wir unser Leiden verdienen und wir ein schlechter Mensch sind usw., ruiniert das den gesamten Reinigungsprozess. 

Wenn wir diese vorbereitenden Praktiken das erste Mal durchlaufen haben und dann zum Mahayana fortschreiten, entwickeln wir eine anfängliche Ebene des Bodhichitta und des Verständnisses der Leerheit. Dann gehen wir zurück und wenden dies auf jeden der vorherigen Schritte in den vorbereitenden Praktiken an, damit wir eine stabile Grundlage haben, um wirklich in die Bodhisattva-Praxis einzusteigen. Mit anderen Worten, ohne ein gewisses Verständnis der Leerheit können wir nicht wirklich verstehen, dass es überhaupt möglich ist, unsere Einstellung und widrige Umstände zu transformieren. 

Denken wir in Begriffen wie „mein Leid“ und „dein Leid“, und „dein Leid“ hätte nichts mit „mir“ zu tun, weil ich ein festes „Ich“ und du ein festes „Du“ bist, das völlig getrennt von mir existiert, wie können wir dann wirklich mit dem Leiden anderer Menschen umgehen? Wir werden nicht in der Lage sein, das Leiden anderer durch die Tonglen-Praxis auf uns zu nehmen, wenn wir denken, dass es wirklich ihnen bzw. uns gehört. Natürlich ist das Leid eines jeden auf die Reifung seines karmischen Potenzials zurückzuführen. Wir müssen jedoch genauso erkennen, dass dieses Leid nicht zu einem soliden „Ich“ von jemandem gehört, der dieses Potenzial aufgebaut hat. Dies zu verstehen ist sehr wichtig, denn sonst ist es ziemlich schwierig, sich mit diesen Praktiken emotional wohlzufühlen und keine Angst zu haben oder sie als total künstlich zu empfinden.

Die Wichtigkeit, karmische Ursache und Wirkung zu verstehen

Wenn wir Karma, die Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung, mit einer Bodhichitta-Motivation studieren und das wirklich verinnerlichen, werden wir uns weit mehr Gedanken darüber machen, wie wir die schwierigen Situationen, die aus karmischen Potenzialen heranreifen, nutzen können, um Erleuchtung zu erlangen, und uns nicht von solchen Schwierigkeiten überwältigen zu lassen. Auf unserer gegenwärtigen Ebene spiritueller Entwicklung sind wir nämlich ständig mit dem Heranreifen unserer negativen karmischen Potenziale konfrontiert und sind gezwungen, damit irgendwie umzugehen. 

Auch erkennen wir, dass alle anderen Wesen ebenfalls Leid erfahren, das aus ihren karmischen Potenzialen heranreift. Wir befinden uns alle im gleichen Dilemma. Je mehr Leute wir kennen, desto mehr wird uns klar, dass jeder einzelne dieses samsarische Desaster erleben muss. Bei manchen ist es dramatischer als bei anderen, aber auf irgendeine Weise muss jeder sie durchmachen. Anstatt der selbstgefälligen Haltung „Ich armes Ding! Mit deiner Horrorshow will ich nichts zu tun haben – meine ist schon schlimm genug“, sollten wir unsere Situation basierend auf dem Verständnis von karmischer Ursache und Wirkung akzeptieren und denken: „Okay, aus welchen Gründen auch immer ist das meine samsarische karmische Situation, und jetzt überlege ich mir, wie ich den besten Nutzen daraus ziehen kann, da ich dieses kostbare menschliche Leben und die Fähigkeit habe, diese Situation zu transformieren. Egal, was für einen Horror ich durchmachen muss, ich habe immer noch ein kostbares menschliches Leben, das es mir ermöglicht, Erleuchtung zu erlangen und anderen zu helfen.“

Wir wollen allerdings nicht nur die Vorteile unseres menschlichen Lebens nutzen, denn das ist nicht genug, sondern auch dieses samsarische Desaster, um dadurch Erleuchtung zu erlangen und anderen zu helfen. Die Antwort auf die Frage, wie wir dies umwandeln und nutzen können, erhalten wir nämlich hier in der Schulung der Bereinigung unserer Einstellung.

Als Vorbereitung ist ein Verständnis von karmischer Ursache und Wirkung äußerst wichtig. Woher kommt dieser Horror, und ist es möglich, unseren Geist tatsächlich davon zu lösen? Ist es auch für andere möglich, sich davon zu befreien? Das ist sehr wichtig. Wenn andere sich uns gegenüber schlecht verhalten, müssen wir verstehen, dass sie keine Kontrolle darüber haben. Ihr zwanghaftes Handeln ist lediglich eine Folge der Reifung ihrer negativen karmischen Potenziale. Wir sagen nicht: „Du bist ein schlechter Mensch!“, oder etwas in der Art. Wie können wir nun angesichts des samsarischen Grauens, das überall um uns herum geschieht, dies in einen Weg umwandeln, der nicht nur uns selbst, sondern auch allen anderen helfen wird?

Die Nachteile von Samsara

Die vierte und letzte vorbereitende Übung ist die Kontemplation der Nachteile von Samsara. Es ist wichtig, zu erkennen, dass wir, um allen Wesen helfen und Erleuchtung erlangen zu können, nicht nur an unsere eigenen schwierige samsarische Situation sowie daran denken dürfen, wie wir selbst aus all dem herauskommen wollen. Es passiert sehr leicht, sich von den samsarischen Situationen anderer Menschen angezogen zu fühlen, und wenn wir dies zulassen, schauen wir oft nicht genau genug hin. Wir sind neidisch auf die reiche Person dort drüben oder jene Person, die einen netten Partner hat. Werfen wir jedoch einen tieferen Blick darauf, erkennen wir das Desaster dieser Leute – ein Horror, der sich bei jedem abspielt.

Also vergegenwärtigen wir die Nachteile des samsarischen Trips anderer. Genauso wie wir aus unserem samsarischen Desaster herauskommen wollen, wollen das auch alle anderen. Je mehr wir uns mit den Nachteilen unseres eigenen Samsaras beschäftigen und dies wirklich ernst nehmen, desto mehr werden wir in der Lage sein, die Horrorshow anderer Menschen zu verstehen. Aus diesem Grund versuchen wir auch, aufrichtiges Mitgefühl für sie zu entwickeln. 

Dies war der erste der Sieben Punkte: die vorbereitenden Übungen. 

Die zwei Arten von Bodhichitta

Der zweite Punkt des „Geistestraining in sieben Punkten“ ist der praktische Weg bzw. die Methode zur Entwicklung der beiden Arten von Bodhichitta. Lasst mich nur eine kurze Einführung geben, und dann werden wir uns morgen früh ausführlicher mit diesem Punkt beschäftigen. 

Bodhichitta bedeutet, unseren Geist und unser Herz – denn beides ist in einem Wort enthalten – auf die Erleuchtung auszurichten; nicht auf die Erleuchtung im Allgemeinen, sondern auf unsere eigene, individuelle Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat, die aber auf der Grundlage all unserer Potenziale stattfinden kann. Unsere Absicht – das, was wir tun werden, sobald wir Erleuchtung erlangt haben – ist es, jedem so viel wie möglich zu helfen.

Erleuchtung zu erlangen bedeutet, die vier Buddha-Körper zu erlangen. Es gibt zwei Arten von Formkörpern oder Körper der erleuchtenden Formen: Sambhogakaya und Nirmanakaya, beide mit vielen verschiedenen Erscheinungsformen, die wir annehmen können, um anderen zu helfen. Ebenso gibt es zwei Arten von Dharmakayas: den Dharmakaya tiefen Gewahrseins – der allwissende, allgütige Geist eines Buddhas – und den Dharmakaya der essenziellen Natur, ein Svabhavakaya, nämlich die Leerheit, die von einem solchen Geist verwirklicht wird – insbesondere die Leerheit des allwissenden Geistes selbst –, und die wahren Beendigungen dieses Geistes, die durch eine solche Verwirklichung eintreten. Laut den Gelug-Jetsünpa-Lehrbüchern sind die Leerheit des allwissenden Geistes und die wahren Beendigungen gleichbedeutend. Die Gelug-Panchen-Lehrbücher widersprechen dem, aber lassen wir diese Debatte beiseite.

Das erleuchtende Ziel des Bodhichitta hat zwei Aspekte. Mit dem ersten, dem relativen oder konventionellen Aspekt des Bodhichitta, zielen wir auf die Aspekte der Erleuchtung ab, mit denen wir tatsächlich in der Lage sein werden, allen Wesen zu helfen: all unsere Manifestationen und Formen, die wir annehmen werden, und unser allwissendes Gewahrsein aller Phänomene, insbesondere in Bezug auf verhaltensbedingte Ursache und Wirkung, was uns befähigt, zu wissen, wie wir jedem Wesen individuell helfen können, wenn wir in solchen Formen erscheinen werden. Mit dem zweiten Aspekt, dem tiefsten Bodhichitta, zielen wir auf die Aspekte der Erleuchtung, mit denen wir unsere eigenen Zwecke erfüllen werden: die Leerheit und wie wir diese nichtkonzeptuell mit unserem allwissenden Gewahrsein dessen, wie alle Dinge existieren, erkennen und die wahren Beendigungen, die wir mit dieser nichtkonzeptuellen Wahrnehmung erreichen werden. 

Natürlich nimmt unser allwissender Geist im erleuchteten Zustand auf nichtkonzeptuelle Weise sowohl das Ausmaß dessen, was existiert, als auch die Art und Weise, wie alle Dinge existieren, untrennbar wahr. Die Leerheit, welche ein allwissender Geist wahrnimmt, sollte dabei nicht von dem allwissenden Geist selbst, der diese wahrnimmt, getrennt werden. Ob das Erlangen eines Dharmakaya des tiefen Gewahrseins als Aspekt der Erleuchtung, den wir mit relativem, mit tiefstem Bodhichitta oder mit beiden erlangen, miteinbezogen wird oder nicht, wird oft diskutiert. Erklären wir es so, dass das relative Bodhichitta auf die relative bzw. oberflächliche Wahrheit unserer Erleuchtung, und das tiefste Bodhichitta auf die tiefste Wahrheit unserer Erleuchtung abzielt, besteht der springende Punkt der Debatte darin, ob wir den Geist des tiefen Gewahrseins der Leerheit als relative oder als tiefste Wahrheit betrachten. Lassen wir diese Debatte allerdings beiseite und betrachten tiefstes Bodhichitta einfach als Konzentration auf die Leerheit des allwissenden Geistes, und implizit als Konzentration auf die Erlangung dieser Leerheit mit einem allwissenden Geist.

Mit welchem der beiden arbeiten wir nun zuerst: tiefstes oder relatives bzw. konventionelles Bodhichitta? Bezüglich dieser Frage gibt es zwei Ansätze bzw. Traditionen. Laut unserem Text entwickeln wir zuerst das Leerheitsverständnis des tiefsten Bodhichitta und dann das konventionelle Bodhichitta, um Erleuchtung zu erlangen und allen Wesen zu helfen. In anderen Texten wie dem Lamrim heißt es, man solle sich zuerst in relativem und dann in tiefstem Bodhichitta üben. Es gibt gute Argumente für beide Wege.  

Nagarjuna erklärte, dass es für eher intellektuell orientierte Praktizierende angemessen sei, tiefstes Bodhichitta zuerst zu entwickeln, denn sie wollen erst davon überzeugt werden, dass Erleuchtung überhaupt möglich ist, bevor sie sich von ganzem Herzen der Aufgabe widmen können, sie zu erlangen. Zuerst konventionelles Bodhichitta zu praktizieren ist für emotional orientierte Schüler, die zunächst den Wunsch entwickeln, erleuchtet zu werden, um anderen am besten helfen zu können, und im Anschluss davon überzeugt werden, dass es möglich ist, die Erleuchtung zu erlangen. Meine Erklärungen hier folgen der Reihenfolge unseres Textes, in dem tiefstes Bodhichitta zuerst kommt. 

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es wichtig ist, den Wert dieser Lehren wirklich zu schätzen und zu erkennen, wie ernst die großen Meister, die Erleuchtung erlangt haben, sie genommen haben. Wir sollten wirklich bereit dafür sein, sie aufrichtig in die Praxis umzusetzen, denn die Reinigung unserer Einstellung ist nicht etwas, mit dem man einfach so herumspielt. 

Erinnert euch an Geshe Langri Tangpa, der die acht Verse des Geistestrainings verfasst hat: Er hat keine Scherze gemacht oder alles auf die leichte Schulter genommen und mit Witzen und Lachen seine Schüler unterhalten – er nahm die Belehrung vollkommen ernst, und das heißt nicht, dass er grimmig war. Obwohl wir alle Unterhaltung, Scherze und Lachen genießen – und manchmal ist das in der Tat nützlich, um uns zu entspannen oder zu beruhigen –, ist der Zweck des Empfangens von Unterweisungen nicht, unterhalten zu werden. Serkong Rinpoche sagte: „Wenn ihr Unterhaltung wollt, geht in den Zirkus.“ Denn darum geht es bei Dharma-Belehrungen nicht. Betrachtet man Seine Heiligkeit den Dalai Lama, so sieht man ihn häufig lächeln, und wenn er etwas komisch findet, lacht er; er ist ziemlich locker, was das betrifft. Gibt er jedoch Unterweisungen, ist er ausgesprochen ernst.

Widmung

Lasst uns mit einer Widmung schließen: Mögen all das Verständnis und alle positive Kraft, die wir aufgebaut haben, tiefer und tiefer gehen und als Ursache dafür wirken, Erleuchtung zum Wohle aller Wesen zu erlangen.

Die Widmung ist sehr wichtig, denn was kann die positive Kraft, die wir angesammelt haben, schon bewirken, wenn wir sie nicht widmen? Sie würde dann einfach als positive karmische Kraft wirken und dazu heranreifen, dass wir unterhaltsame Gespräche am Kaffeetisch über den Dharma führen werden. Das ist nicht Sinn der Sache. Wir wollen nicht, dass dieses Potenzial einfach nur auf eine samsarische positive Art und Weise heranreift und jeder denkt, wir seien so klug. Deshalb müssen wir die positive Kraft, die entstanden ist, sehr bewusst einsetzen, damit sie nicht nur als Ursache für samsarisches Glück wirkt, was sie automatisch tun würde, sondern als Ursache dafür, Erleuchtung zum Wohle aller zu erlangen. Möge sie also als Ursache für das Erlangen der Erleuchtung wirken, damit wir in der Lage sein werden, auch allen anderen Wesen zur Erleuchtung zu führen!

Eigentlich ist es am besten, wenn wir die Widmung in unseren eigenen Worten und Gefühlen ausdrücken, anstatt nur irgendeine Formel zu rezitieren, die am Ende nur leere Worte sein werden.

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