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Shantideva

Shantideva (8. Jahrhundert) war die indische Quelle für die Bodhisattva-Lehren, die in alle Traditionen Tibets Eingang fanden, vor allem hinsichtlich der Praxis der sechs Paramitas (der sechs Vollkommenheiten).

Shantideva wurde im 8. Jahrhundert als Sohn des Königs eines Landes in der ostindischen Region von Bengalen geboren. Als seine Thronbesteigung kurz bevorstand, hatte er einen Traum von Manjushri, der ihm sagte: „Der Thron ist nichts für dich.“ Er befolgte Manjushris Rat, entsagte den Thron und zog sich in den Urwald zurück. Dort begegnete er verschiedenen nicht-buddhistischen Gurus, studierte bei Ihnen, widmete sich intensiver Meditation und erreichte fortgeschrittene Bewusstseinszustände vertiefter Konzentration. Aber er erkannte, wie zuvor auch Shakyamuni, dass der Rückzug in tiefe Konzentrationszustände nicht die Wurzeln des Leidens beseitigte. Indem er auf Manjushri vertraute, hatte er schließlich tatsächlich Visionen dieser Verkörperung der Weisheit aller Buddhas und empfing Lehren von ihm.

Shantideva verließ dann den Dschungel und begab sich zur Kloster-Universität Nalanda, wo er vom Abt zum Mönch ordiniert wurde. Er studierte dort die großen Sutras und Tantras und praktizierte sie auch intensiv, aber er führte all seine Praktiken im Verborgenen aus. Alle dachten, er würde nichts tun außer essen, schlafen und zur Toilette gehen. Tatsächlich war er jedoch fortwährend in einem meditativen Zustand klaren Lichts.

Schließlich beschlossen die Mönche des Klosters, ihn hinauszuwerfen, weil sie ihn für nutzlos hielten. Als Vorwand wiesen sie ihn an, einen Vortrag über einen Originaltext zu halten, denn sie dachten, er würde sich dabei lächerlich machen. Sie errichteten einen sehr hohen Thron ohne Stufen und meinten, er könnte den nicht besteigen. Aber als es soweit war, senkte sich der Thron zu Shantideva herab, sodass er problemlos darauf Platz nehmen konnte.

Sodann begann er, die Lehre vom „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas (Bodhicharyavatara)“ vorzutragen. Als er zu einem bestimmten Vers im neunten Kapitel über die Leerheit kam, schwebte er langsam gen Himmel. Der Vers lautete:

(IX.34) Wenn für das dualistische Bewusstsein weder ein (wahrhaft existentes) Phänomen noch ein (wahrhaft existentes) nicht-wirksames Phänomen – (seine Leerheit von wahrer Existenz) – verbleibt, dann ergibt sich, weil sonst keine andere Möglichkeit besteht, (ein Zustand) völliger Befriedung, in dem der Geist nicht (mehr auf eine unmögliche Bestehensweise) gerichtet ist.

Daraufhin war nur noch seine Stimme zu hören, die den Rest des Textes vortrug. Er selbst war außer Sichtweite verschwunden. Die Mönche schrieben später den Text aus dem Gedächtnis nieder.

In seiner Lehre nahm Shantideva auf zwei andere Texte Bezug, die er in Nalanda verfasst hatte: (1) „Ein Kompendium von Schulungen“ (Skt. Shikshasamuccaya) und (2) „Ein Kompendium von Sutras“ (Skt. Sutrasamuccaya), aber niemand wusste, wo sie zu finden waren. Schließlich hatte jemand eine Vision von Shantideva, in der dieser ihm mitteilte, dass sie in den Deckenbalken im Zimmer eines bestimmten Mönchs versteckt waren. In der Vision gab Shantideva auch kund, dass er selbst nicht mehr wiederkommen würde.

Das „Kompendium der Sutras“ fasst die wesentlichen Punkte der Sutras zusammen, während das „Kompendium der Schulungen“ die Praktiken der Sutras zusammenfasst. Die tibetische Übersetzung des zweiteren Werkes sowie auch die Übersetzung des Textes „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ ist im „Tengyur“ zu finden, der Sammlung tibetischer Übersetzungen von indischen Erläuterungen der Worte Buddhas. Laut Kunu Lama Rinpoche wurde auch das „Kompendium der Sutras“ ins Tibetische übersetzt, befindet sich aber nicht in der Textsammlung des „Tengyur“.

Zum „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ wurden verschiedene Erläuterungen geschrieben, insbesondere zum neunten Kapitel. Die tibetischen Erläuterungen stammen aus allen Traditionen, denn diesem Text wird in allen philosophischen Schulen des tibetischen Buddhismus große Bedeutung zugemessen. In der Gelug-Tradition stützt sich Tsongkhapas „Umfassende Darstellung der aufeinander folgenden Stufen des Pfades“ stark auf das „Kompendium der Schulungen“ und den Text „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“, vor allem in den Lehren über das Austauschen von sich selbst und anderen. Tsongkhapa schrieb zwar keine gesonderte Erläuterung zum „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“, aber seine „Umfassende Darstellung der aufeinander folgenden Stufen des Pfades“ beinhaltet viele Punkte, die darin enthalten sind. Seine „Essenz der herausragenden Erklärungen von interpretierbaren und endgültigen Bedeutungen“ (tib. Drang-nges legs-bshad-snying-po) behandelt zahlreiche Punkte aus dem neunten Kapitel. Und seine „Völlige Klarstellung der Absichten: ein Kommentar zu (Chandrakirtis) großer Abhandlung „Ergänzung zu (Nagarjunas 'Grundversen zu) dem Mittleren Weg'" (tib. dBu-ma dgongs-pa rab-gsal) stützt sich ebenfalls stark auf den Text von Shantideva.

Auszug aus einem Vortrag über den Text „Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“, den Seine Heiligkeit der 14. Dalai Lama im Januar 1978 in Bodhgaya, Indien, hielt; übersetzt und herausgegeben von Dr. Alexander Berzin; Übersetzung ins Deutsche: Cornelia Krause.
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