Ihr könnt jetzt ein paar Fragen zu den Punkten stellen, die wir gerade besprochen haben, bevor wir weitermachen, aber bleibt mit euren Fragen beim Thema. Heute Nachmittag könnt ihr dann auch allgemeiner Fragen zum Tantra stellen.
Fragen und Antworten
Den Glauben an die Wiedergeburt stärken
Sie haben, beruhend auf dem Verständnis der Wiedergeburt, zwischen Dharma-light und der echten Dharma-Praxis unterschieden und auch über dieses Bauchgefühl gesprochen, tatsächlich an zukünftige Leben zu glauben und auf diese Weise zu praktizieren. Das ist für viele von uns eine Herausforderung, bevor wir wirklich eine Verwirklichung der Leerheit haben. Bis wir dorthin kommen, ist es ein langer Weg. Was würden Sie denn vorher empfehlen, um diesen Glauben an zukünftige Leben zu stärken, damit es nicht nur eine mentale Sache ist, sondern tief im Innern ankommt? Was können wir tun, um das zu stärken?
Meine Herangehensweise war, der Sache einen Vertrauensvorschuss zu geben. Das heißt, wir gehen davon aus, dass es stimmt und warten ab, was sich daraus ergibt. In Bezug auf die Betrachtungsweisen, wie sie in der buddhistischen Erkenntnistheorie beschrieben werden, nennt man dies „Vermutung“. Wir vermuten, dass es die Wiedergeburt gibt, auch wenn wir nicht wirklich überzeugt davon sind. Dann warten wir ab, was daraus folgt. Eine Folge ist, dass die Gesetze des Karmas durch frühere Leben einen Sinn ergeben. Sie liefern eine Erklärung dafür, was uns in diesem Leben widerfährt und das war für mich ziemlich aussagekräftig. Sie erklären, was in meinem eigenen Leben passiert ist.
So ging ich beispielsweise im Alter von 24 Jahren nach Indien, um in der tibetischen Gemeinschaft zu studieren und meine Doktorarbeit darüber zu schreiben, und alles hat sich von selbst ergeben. Innerhalb einer Woche nach meiner Ankunft bekam ich, ohne selbst irgendwelche Pläne zu haben, ein Haus, in dem ich wohnen konnte. Ich traf die Tibeter, die meine Lehrer wurden und alles für mich arrangierten; es gab auch einen tibetischen Mönch, der mit mir zusammen wohnte. In einer Woche fand alles seinen Platz und mir ging es richtig gut. Mein ganzes Leben fühlte sich so an, als hätte alles wie am Schnürchen dorthin geführt. Was meine Herkunft, meine Familie oder irgendetwas anderes betraf, ergab es überhaupt keinen Sinn. Die einzig mögliche Erklärung war die Verbindung zu alledem aus früheren Leben.
Das half mir zu verstehen, dass all das, was geschah, nicht verrückt war. Betrachten wir es also, merken wir, dass niemand als ein unbeschriebenes Blatt geboren wird. Sogar was Säuglinge betrifft, waren manche von uns ganz sanft und einfach; wir haben zum Beispiel nicht geweint, außer wenn wir hungrig waren usw. Andere sind gleich nach der Geburt wütend und kämpfen ständig. Woher kommt dieses Verhalten? Sogar eineiige Zwillinge können in ihrer Veranlagung völlig verschieden sein.
Es beginnt einfach ein wenig Sinn zu ergeben, wenn wir die Wiedergeburt mit ins Spiel bringen. Danach können wir uns dann andere Dinge ansehen, die sinnvoll sind, wie die Vorstellung, dass jeder schon einmal unsere Mutter gewesen ist. Im Grunde kann man sich das nur schwer vorstellen. Was ist der Nutzen, die Wiedergeburt hier mit ins Spiel zu bringen? Die Wiedergeburt ist relevant, weil wir sonst das Gefühl haben, uns nur mit anderen Menschen auseinandersetzen zu können, die wie wir sind. Dann haben wir keinen Bezug zu Menschen auf der anderen Seite der Welt, ganz zu schweigen von Tieren oder Insekten. Vielleicht können wir nur eine Beziehung zu Menschen unseres Geschlechts, unserer Religion usw. eingehen. Öffnen wir uns jedoch für die Vorstellung früherer Leben, erlaubt uns das, mit allen umgehen zu können, denn niemand ist der momentanen Form, in der er sich befindet, festgeschrieben.
Geben wir der Wiedergeburt einen Vertrauensvorschuss, können wir sehen, was sich daraus ergibt, und wenn es einen Sinn macht, können wir damit arbeiten. Das ist, glaube ich, recht hilfreich. Hier eine kleine Geschichte dazu: Ich erinnere mich daran, dass mein Lieblingsonkel starb, während ich in Indien war. Dort hatte ich in dieser Zeit ein Problem mit einer Fliege, die immer in meinem Gesicht herumflog und die ich ständig wegjagte. Ich versuchte ein guter Buddhist zu sein und niemanden zu töten, doch sie kam immer wieder zurück und landete in meinem Gesicht. Dann begann ich mich zu fragen, wer diese Fliege war. Vielleicht war sie mein Lieblingsonkel, der gestorben und nun diese Fliege war. Würde ich als eine Fliege wiedergeboren werden, hätte ich sofort diese Verbindung mit jemandem und würde gern mit ihm zusammen sein. Ich würde hoffen, dass mich mein Neffe nicht einfach zerquetscht, sondern mich willkommen heißt. Das half mir.
Enge Verbindung mit meinem Lehrer in zwei Leben
Was mich jedoch auf einer tieferen Ebene vollkommen überzeugte, war, meinem Lehrer Serkong Rinpoche in zwei Leben zu begegnen. Ich hatte eine enge Verbindung zu ihm in seiner früheren Form und die enge Beziehung, die ich nun mit ihm habe und die von ihm ausgeht, begann, als er vier Jahre alt war. Das hat mich völlig umgehauen und überzeugt; ich war mir klar, dass es echt sein musste. Das ist allerdings keine Erfahrung, welche viele von uns haben können.
Können Sie die Geschichte erzählen?
Ich hatte eine sehr enge Beziehung zu Serkong Rinpoche. Im Grunde brachte er mir alles bei. Er bemerkte die Verbindung zu mir und als ich begann zu ihm zu gehen, meinte er, ich solle einfach an seiner Seite bleiben und er würde mich schulen. Meistens übersetzte ich für ihn; nicht jeden Tag, aber die meiste Zeit in den darauffolgenden neun Jahren.
Zu der Zeit war der Buddhismus im Spiti-Tal, einer tibetischen Region in Indien an der Grenze zu Tibet, degeneriert und er half, ihn dort wieder stark zu machen und die Klöster neu zu beleben. Er starb an diesem Ort und seine Wiedergeburt, sein „Tulku“, wurde ebenfalls dort wiedergefunden, genau neun Monate später. Er wollte keine Zeit verlieren und sich lange im Bardo aufhalten. Weil er so ein wichtiger Lehrer in diesem Tal war, hatten die meisten Menschen ein Bild von ihm in ihren Häusern. Als er alt genug war und sprechen konnte, zeigte er auf das Bild und sagte: „Das bin ich“. Als seine ehemaligen Begleiter vorbeikamen und nach Kindern im passenden Alter suchten, die zu der passenden Zeit geboren wurden, lief er einem von ihnen in die Arme und kannte ihn beim Namen. Das war so ein klassisches Wiedererkennen eines Tulkus, das von Seiten des Tulkus und nicht von Seiten der Menschen kommen soll, die nach ihm suchen.
Sie brachten ihn zurück nach Dharamsala und er weinte kein einziges Mal, weil er wieder nach Hause wollte. Es war auch nicht so, dass er sein Eltern hasste oder sie furchtbare Menschen waren. Es sind wundervolle Menschen, doch ihm ging es nur darum, nach Dharamsala zu kommen. Er meinte, er hatte das Gefühl, es gäbe eine ganz wichtige Person, die er dort treffen musste. Das war Seine Heiligkeit der Dalai Lama, denn Serkong Rinpoche war einer der Lehrer Seiner Heiligkeit. Das war alles, was er wollte.
Als er vier Jahre alt war, ging ich das erste Mal zu ihm und die Begleiter fragten ihn: „Weißt du wer das ist?“ Er sagte: „Was für eine Frage, na klar weiß ich das!“ Von Anfang an war er völlig liebevoll, warmherzig und vertraut mit mir. Das war die eine Sache. Ich, von meiner Seite, war zunächst etwas skeptisch, doch von seiner Seite gab es kein Problem. Das überzeugte mich, was die Wiedergeburt betraf. Es gab keine andere Erklärung.
So befassen wir uns mit der Wiedergeburt. Wir vermuten, dass sie wahr ist und warten ab, was sich daraus ergibt. Wenn das, was daraus folgt, einen Sinn ergibt, macht auch die Wiedergeburt vielleicht einen Sinn.
Danke für den guten Tip. Dazu habe ich noch eine Frage: Mein Eindruck ist, dass man in manchen buddhistischen Traditionen nicht an die Reinkarnation glaubt. Ich denke an meine erste Begegnung mit Waldmönchen in Thailand und ich erinnere mich ganz klar, dass der Mönch nur von einem Leben sprach und verschiedene Leben widerlegte, weil er meinte, dieses Leben wäre alles, was wir kennen.
Hier würde ich sagen, dass der Buddha mit geschickten Mitteln lehrte. Man lud ihn in verschiedene Häuser ein und nach dem Essen bat man ihn, dem Familienoberhaupt und den Mitgliedern der Familie Belehrungen zu geben. Er lehrte verschiedenen Leuten unterschiedliche Dinge, weil er erkannte, dass die Menschen sich auf unterschiedlichen Ebenen befanden und auch unterschiedliche Voraussetzungen und Veranlagungen hatten. Ich war ja Übersetzer und immer dabei, wenn große Lamas diversen Menschen Dinge erklärten und sah, dass sie mit jeder Person ganz anders umgingen. Mit einer waren sie beispielsweise richtig streng und mit einer anderen wirklich sanft. Einem sagten sie eine Sache und dem nächsten etwas völlig anderes. Nur weil der Mönch es dir so gesagt hat, bedeutet nicht, dass er es auf diese Weise auch einem Thailänder erklären würde.
Auch sollten wir in Betracht ziehen, dass der Buddhismus aus Indien kam, wo die Vorstellung der Wiedergeburt bereits ein Teil der Kultur war, und von dort an viele andere Orte, wie China, gelangte. In China gab es das Konzept der Wiedergeburt nicht. Sie beschäftigten sich mit den Vorfahren und verehrten sie, als wären sie nach dem Tod weiter unter ihnen. Das stand in völligem Widerspruch zum Buddhismus. Dort geht man davon aus, dass sie wiedergeboren wurden und nun jemand anderer sind, und daher sollte man nicht zu sehr an den Vorfahren hängen. Betrachten wir den chinesischen oder beispielsweise den vietnamesischen Buddhismus mit Thich Nhat Hanh, der aus China kam, so haben sie dort nach wie vor große Achtung vor den Vorfahren. Das sind geschickte Mittel.
Individualität und der stufenweise Ansatz, wie er in den Lehrsystemen dargestellt wird
Was dieses Aufeinandertreffen des Buddhismus mit der westlichen Welt betrifft, so scheint es mir, dass die Vorstellung der Wiedergeburt für uns Westler zuweilen dazu führt, uns mehr damit zu befassen, was wir früher waren oder was wir in der Zukunft sein könnten, anstatt uns mit diesem Leben im Hier und Jetzt auseinanderzusetzen. Das ist eine der Fallen, in die wir manchmal tappen. Die andere ist die Verdinglichung der Vorstellung eines „Ichs“. Ich bin etwas und dieses Ding, diese Seele, wird im nächsten Leben wiedergeboren. Wir fangen an, auf eine fast materialistische Weise über das „Ich“, das Selbst und unser Ego nachzudenken.
Eine Perspektive, die ich über die Wiedergeburt habe, ist, dass sich das Leben durch „mich“ reinkarniert. Es ist nicht so, dass ich mich reinkarniere, sondern dass sich das Leben selbst reinkarniert und ich nicht das gleiche „Ich“ sein werde, das ich war. Lebensformen ändern sich in der Geschichte dieses Planeten und daher denke ich, dass sich das Leben durch mich in vielen verschiedenen Formen in der Zukunft und in der Vergangenheit reinkarniert; das hilft mir, es auf diese Weise nicht so zu verdinglichen. Es hilft auch in Bezug auf Bodhichitta, denn da sich das Leben durch mich reinkarniert, kann ich ein Diener des sich erleuchtenden Bewusstseins sein.
Es gibt mehrere Punkte in Bezug auf das, was du gesagt hast. Der letzte Punkt ist, dass wir äußerst vorsichtig sein müssen, nicht den Sinn der Individualität zu verlieren, denn er ist die Grundlage dafür, Verantwortung für das zu übernehmen, was wir tun. Der Punkt ist, dass wir die Konsequenzen unserer Handlungen erfahren. Es ist nicht so, dass es ein universales „Leben“, einen universalen Geist oder eine universale Art des Lebens gibt. Im Buddhismus akzeptiert man durchaus die Individualität; es ist nicht so, dass wir uns alle in einer großen Suppe befinden. So zu denken, wäre vergleichbar mit manchen hinduistischen Vorstellungen, in denen alle Ströme mit dem Ozean verschmelzen und wir alle eins mit Brahma sind. Laut dem Buddhismus verhält es sich jedoch nicht so.
Betrachten wir die buddhistischen Lehrsysteme Indiens, erkennen wir, dass alles in fortschreitender Reihenfolge präsentiert wird. Wir gehen nicht gleich zur fortgeschrittensten Ebene. Zuerst wird gelehrt, dass es eine Art Verfestigung des Selbst gibt. Uns geht es darum, schrittweise ein immer tieferes und subtileres Verständnis darüber zu bekommen, wie das Selbst tatsächlich existiert.
Untersuchen wir also, wo das Thema der Wiedergeburt in der stufenweisen Reihenfolge der Lehren erscheint, so finden wir es im Kontext von Ursache und Wirkung. Handeln wir auf gewisse Weise, sind wir verantwortlich und werden die Konsequenzen davon erfahren. Und auch wenn wir sie nicht in diesem Leben erfahren, verstreichen sie nicht einfach oder werden ungültig. Wir werden weiter die Konsequenzen daraus ziehen. Auch wenn wir uns gedanklich auf ein solides „Ich“ beziehen, ist es unverzichtbar auf dem buddhistischen Pfad, diese Grundlage der Ethik zu haben. Das ist eine andere Sache.
Ein weiterer Punkt, den ich machen wollte, betrifft deine Frage bezüglich der Gefahr, sich zu sehr mit der Vergangenheit zu befassen. Vielleicht wollen wir wirklich wissen, wer wir in einem früheren Leben waren, aber was damit? Auch wenn wir es wüssten, was hätten wir davon? Was ein zukünftiges Leben betrifft, neigen wir dazu, immer an ein menschliches zu denken und nicht an das eines Huhns oder einer Kakerlake. Ich weiß nicht mehr wer es genau war, aber ein Meister sagte, dass wir mit Blick auf unseren jetzigen Körpers einen Hinweis auf unser früheres Leben und mit Blick auf unseren Geist einen Hinweis auf unser zukünftiges Leben bekommen. Mit anderen Worten müssen wir unseren Körper und unsere physischen Situationen betrachten, die wir in unserem Leben erfahren – wie in meinem Beispiel, in dem ich nach Indien ging, 29 Jahre dort blieb und niemals Visa-Probleme hatte, wie all die anderen. Woher kamen diese Umstände? Es muss eine vorangegangene Ursache für sie gegeben haben. Dinge geschehen nicht ohne Ursachen. War es nur Glück oder haben die Götter es einfach gut mit mir gemeint? Nein, bestimmt nicht.
Werfen wir einen Blick auf unseren Geist und darauf, welche Gedanken wir ständig haben, gibt uns das einen Hinweis darauf, was uns in der Zukunft erwartet. Ich nutze immer dieses amüsante Beispiel: Wenn unsere Geist überall herumsaust und wir uns auf nichts konzentrieren können, worauf deutet das hin? Auf die Mentalität einer Fliege, die nie an einem Ort bleibt und immer hin und her fliegt. In den tibetischen Lehren werden ziemlich häufig Vergleiche mit Tieren benutzt, da sie wirklich hilfreich sind.
Serkong Rinpoche nutzte immer den Vergleich, dass wir uns wie ein Hund verhalten, der darauf wartet, auf dem Kopf gestreichelt zu werden, nachdem wir etwas Hilfreiches für unseren Lehrer oder irgendjemanden getan haben. Warten wir darauf, dass jemand sagt: „Guter Junger, gutes Mädchen?“ Und wedeln wir dann mit dem Schwanz? Sein Punkt war, dass wir nicht gute Dinge tun sollten, um ein Danke zu bekommen, auf dem Kopf gestreichelt zu werden oder mit dem Schwanz zu wedeln. Wir tun gute Dinge, um anderen zu nutzen. Diese Bilder können ziemlich mächtig sein und uns helfen, uns daran zu erinnern.
Was frühere und zukünftige Leben betrifft, so können wir eine Faszination dafür entwickeln, was einmal war und was sein wird, doch man kann es auch nutzen, um zu verstehen, was uns momentan passiert und welche Ursachen wir für die Zukunft schaffen.
Initiationen oder Ermächtigung
Gut, machen wir weiter mit unserem Thema Tantra. Ob wir nun Tantra in der abgeschwächten oder der echten Version praktizieren, in der es auch um die Wiedergeburt geht, ist es trotz allem notwendig, eine Initiation oder Ermächtigung zu bekommen, um wirklich Tantra praktizieren zu können. Wörtlich bedeutet das tibetische Wort wang für eine Initiation „zu ermächtigen“ und das Sanskrit-Wort abhishekha bedeutet „zu besprenkeln“ oder „zu befeuchten“, wie Samen, die wir mit Wasser befeuchten müssen, damit sie tatsächlich wachsen. Um eine Initiation oder eine Ermächtigung zu erhalten, ist es notwendig, Gelübde einzuhalten. Sakya Pandita, ein großer tibetischer Meister, sagte, dass es ohne die Gelübde keine Einweihung gibt.
Gelübde nehmen
Wenn wir nur wie ein Hund oder ein Baby sind, das jemand zur Einweihung mitgebracht hat, oder wenn wir nur da sind, aber keine Vorstellung davon haben, um welche Gelübde es geht oder was wir tun, haben wir die Gelübde nicht bewusst genommen. Dann wiederholen wir lediglich tibetische Worte, die wir nicht verstehen und die daher keine Bedeutung für uns haben. Wir sagen einfach nur „bla bla bla“, aber die Initiation haben wir auf diese Weise nicht erhalten; so einfach ist das. Die Gelübde sich essenziell.
Atisha, ein anderer großer Meister Indiens, der half, die neue Periode des tibetischen Buddhismus einzuläuten, sagte, dass wir als Grundlage für die Bodhisattva-Gelübde eine Ebene der Pratimoksha-Gelübde benötigen. Das heißt nicht unbedingt, ein Mönch oder eine Nonne sein zu müssen, doch wir sollten zumindest die fünf Gelübde abgelegt haben. Was den Abhidharma betrifft, so ist mindestens eines der fünf Gelübde erforderlich; wir müssen nicht alle fünf nehmen, doch zumindest eines, als Basis für die Bodhisattva-Gelübde. Wenn wir beispielsweise nicht wenigstens geloben, niemanden zu töten, wie können wir dann das Gelübde ablegen, zum Wohle aller Wesen tätig zu sein? Darüber hinaus gibt es ohne die Bodhisattva-Gelübde keine Tantra-Gelübde.
Daher nehmen wir in allen Tantra-Klassen als Teil der Initiation die Bodhisattva-Gelübde. In den zwei höheren Tantra-Klassen, Yoga-Tantra und Anuttarayoga-Tantra, gibt es zusätzlich die Tantra-Gelübde. Es ist äußerst wichtig und essenziell, sie so gut wir können zu bewahren. Das heißt, dass wir sie nicht bewusst übertreten sollten. Wenn wir sie übertreten, was unweigerlich geschehen wird, sollten wir uns zumindest nicht darüber freuen. Wir sagen nicht, dass es dumm war, die Gelübde zu nehmen und entschließen uns nicht, sie nicht weiter einzuhalten.
Es gibt einige Faktoren, die präsent sein müssen, um die Gelübde vollständig zu verlieren. In allen anderen Fällen schwächen wir sie lediglich. Durch die Vajrasattva-Praxis können sie wieder gestärkt oder belebt werden, indem wir es bedauern und so weiter, doch es ist besser, sie gar nicht erst zu schwächen. Wir können die Gelübde auch als Teil unserer täglichen Praxis erneut ablegen oder bekräftigen. Es muss jedoch eine ethische Grundlage für unsere Praxis des Tantra geben.
Hier haben wir ein Problem bezüglich Dharma-light, denn wenn wir uns die Gelübde ansehen, besteht eine der Übertretungen der Bodhisattva-Gelübde darin, den heiligen Dharma aufzugeben, indem wir abstreiten, dass irgendeine der schriftlichen Lehren vom Buddha stammt, was auch die Lehren über die Wiedergeburt miteinbezieht. Sagen wir zum Beispiel, dass die Wiedergeburt töricht ist und wir sie im Buddhismus nicht brauchen, oder dass Buddha nicht wirklich über dieses Thema gesprochen hat, würden wir damit unsere Bodhisattva-Gelübde verletzen. Das ist etwas, was wir beachten sollten. Daher sagte ich, dass es wichtig ist, zumindest offen dafür zu sein und zuzugeben, dass sie Teil des Buddhismus ist und dies nicht zu leugnen. Wir können eingestehen, dass wir sie noch nicht verstehen, aber gewillt sich, uns in der Zukunft damit zu befassen, wenn unser Verständnis gewachsen ist. Das ist in Ordnung und stellt kein Problem dar. Damit haben wir unsere Bodhisattva-Gelübde nicht gebrochen.
Eine weitere Übertretung der Bodhisattva-Gelübde wäre, eine verzerrte, feindselige Geisteshaltung zu haben. Das wird normalerweise mit „falsche Sichtweise“ übersetzt, was klingt, als wäre man ein Häretiker, aber darum geht es hier nicht. Wir leugnen damit nicht nur eine der grundlegenden und zentralen buddhistischen Lehren – wie Zuflucht oder Erleuchtung – oder leugnen, dass konstruktive Handlungen einen Wert haben, und hier müssten wir auch die Wiedergeburt miteinbeziehen, sondern sind auch feindselig demgegenüber eingestellt. Wir würden daran denken, uns mit allen anzulegen und ziemlich stur zu sein, indem wir sagen, dass sie falsche und dumme Glaubensvorstellungen haben. Es gibt eine ganze Liste von Geisteshaltungen, die dazugehören und eine vollständige Übertretung bewirken würden, wie wirklich feindselig, negativ und streitlustig zu sein. Das bedeutet also, dass wir zumindest agnostisch gegenüber dieser ganzen Thematik der Wiedergeburt sein müssten, wenn wir diese Gelübde auf der Basis von Dharma-light nehmen würden.
Bodhichitta
Was die Bodhisattva-Gelübde und die tantrischen Gelübde betrifft, ist es ganz klar, dass wir sie verlieren, wenn wir Bodhichitta aufgeben, und dafür müssen all die begleitenden Faktoren, wie kein Bedauern zu haben, nicht einmal vollständig sein. Bodhichitta aufzugeben heißt doch, dass wir es zu einem gewissen Grad bereits entwickelt haben, oder? Wir können nichts aufgeben, was wir nicht entwickelt haben.
Es ist klar, dass wir somit zumindest bereits über eine Ebene von Bodhichitta verfügen müssen. Viele Menschen verwechseln Mitgefühl mit Bodhichitta, was nicht dasselbe ist. Mitgefühl ist die Basis für Bodhichitta. Als der Wunsch, andere mögen frei von Leiden und den Ursachen des Leidens sein, ist Mitgefühl die Stütze für Bodhichitta.
Bodhichitta wird von Liebe und Mitgefühl getragen, sowie dem außergewöhnlichen Entschluss, dass wir die universale Verantwortung auf uns nehmen werden, allen zu helfen, sie zur Erleuchtung zu führen. Es ist nicht so, dass ein anderer es tun wird; wir werden die Verantwortung übernehmen, allen tatsächlich zu helfen. Wir werden nicht nur kleinen, alten Frauen helfen, die Straße zu überqueren, sondern allen Wesen, das tiefste Leiden, unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt oder Samsara, zu überwinden und sie dann zur Erleuchtung führen. Wir helfen ihnen nicht nur, sie vom Unglücklichsein oder dem gewöhnlichen Glück zu befreien.
Um einen Geisteszustand zu erzeugen, der vollkommen klar ist, gilt es sich bewusst darüber zu sein, worauf er sich richtet und wie der Geist dieses Objekt erfasst. Was tut er in Bezug auf dieses Objekt? Wir können nicht über etwas meditieren, wenn wir nicht wissen, was für einen Geisteszustand wir versuchen hervorzubringen und worauf er sich richtet. Worauf richtet sich Bodhichitta? Es richtet sich auf unsere eigene individuelle Erleuchtung. Es geht nicht um Shakyamuni Buddhas Erleuchtung oder um eine allgemeine, vage Erleuchtung, sondern für jeden von uns um unsere eigene individuelle Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat, doch auf der Grundlage unserer Faktoren der Buddha-Natur stattfinden kann.
Zeit
Das wird zu einem interessanten Punkt, wenn wir über die Zeit reden. Entschuldigt, wenn ich dieses Seitenthema mit hineinbringe, aber ich denke, dass es relevant ist. Im Buddhismus sprechen wir nicht von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern vom Noch-nicht-Stattfinden, Gegenwärtig-Stattfinden und Nicht-mehr-Stattfinden. Betrachten wir es auf diese Weise, findet „morgen“ vom Blickwinkel des Heute noch nicht statt. Gibt es jedoch so etwas wie morgen? Ja, das gibt es. Wir können gültig Pläne für morgen machen. Und aus der Sicht des Heute, findet das Gestern nicht mehr statt. Gibt es so etwas wie ein Gestern? Existiert es? Wir können uns an das Gestern erinnern und daher existiert es, aber es findet momentan nicht statt.
Daher sollten wir uns gedanklich nicht auf „meine zukünftige Erleuchtung“ beziehen, denn damit könnten wir eine merkwürdige Denkweise entwickeln, als würde die Zukunft irgendwo da draußen existieren und wenn wir uns schneller als die Lichtgeschwindigkeit bewegen, werden wir in die Zukunft gelangen und so weiter. Nichtsdestotrotz reden wir über etwas, das noch nicht stattgefunden hat, aber geschehen kann. Wie kann es geschehen? Es geschieht auf der Basis der Ursachen, die es hervorbringen kann.
Diese noch nicht stattfindende individuelle Erleuchtung ist daher das, was wir weit in der Ferne unseres Geisteskontinuums anstreben. Auf welche Weise erfasst dies unser Geist? Es geht darum, diese Erleuchtung erlangen zu wollen und was uns dorthin bringt, ist Liebe und Mitgefühl. Sprechen wir im Buddhismus über Motivation, so deutet dieses Wort auf etwas hin, das uns antreibt. Wir müssen ein Ziel und eine emotionale Basis haben, die uns zu diesem Ziel bringt. Außerdem ist es wichtig, eine Absicht zu verfolgen. Was werden wir tun, wenn wir dieses Ziel erreicht haben? Das ist eine Motivation.
Zum Beispiel: „Ich möchte in der Zukunft bessere Wiedergeburten haben, weil ich nicht als Kakerlake wiedergeboren werden will, wovor ich Angst habe. Ich bin überzeugt, dass es einen Weg gibt, bessere künftige Leben zu erlangen. Was werde ich mit einem besseren Leben in der Zukunft anfangen? Ich werde weiter auf Befreiung und Erleuchtung hinarbeiten, um anderen zu helfen. Ich werde mein zukünftiges Leben auf positive Weise nutzen und aus diesem Grund strebe ich dies an, damit ich den Pfad fortsetzen kann.“
Darum geht es bei der Motivation. Wir wollen den erleuchtenden Zustand eines Buddhas erreichen, unsere eigene noch nicht stattfindende Erleuchtung. Wir wollen sie erlangen und die treibende Kraft sind Liebe, Mitgefühl und das Übernehmen universeller Verantwortung. All das beruht auf Gleichmut, darauf, eine ausgeglichene Geisteshaltung gegenüber allen zu haben und nicht nur unseren Freunden helfen zu wollen. Wir können die Ebenbürtigkeit aller erkennen; wir verstehen, dass alle glücklich und niemand unglücklich sein will. Was werden wir tun, wenn wir Erleuchtung erlangen? Wir werden es uns nicht nur in irgendeinem Buddhafeld gutgehen lassen, sondern daran arbeiten, so vielen Wesen wie möglich zu nützen, die empfänglich für unsere Hilfe sind. Die Sonne kann nur auf jene scheinen, die in die Sonne kommen. Geht jemand zum Beispiel in eine Höhle, kann die Sonne ihn dort nicht erreichen.
Das ist die Art von Bodhichitta, von der wir reden. Um es aufzugeben, müssen wir es zumindest intellektuell ein wenig entwickelt haben, wissen, was es ist und ein Gefühlt dafür haben. Sagen wir, Bodhichitta sei zu schwer oder absurd, und denken, niemals dorthin zu kommen, oder dieser furchtbaren Person dort drüben nicht wirklich helfen zu können, die so schreckliche Dinge getan hat, und wollen daher nicht auf die Erleuchtung hinarbeiten, um allen zu nützen, haben wir es tatsächlich aufgegeben.
Ist in den Lehren davon die Rede, wie furchtbar es ist, Bodhichitta, die Zuflucht, die sichere Ausrichtung oder die enge Bindung zu einem Lehrer aufzugeben, kann das auf so vielen Ebenen verstanden werden. Doch auf der grundlegendsten Ebene zeigen uns die Zuflucht, Bodhichitta und unser spiritueller Lehrer den Weg zum erleuchteten Zustand eines Buddhas. Geben wir das auf, wird beschrieben, dass wir dann in eine furchtbare Hölle kommen. Was bedeutet das? Wir können das natürlich wörtlich nehmen; allerdings können wir es auch so verstehen, wie ich es mit der sicheren Ausrichtung oder Zuflucht erklärt habe, dass wir aufgegeben haben, unserem Leben eine positive und sinnvolle Richtung zu geben.
Viele von uns haben das Gefühl, dass ihr Leben sinnlos ist und nirgendwohin führt. Jeder Tag ist gleich und wir fragen uns, wofür wir überhaupt leben. Geht es nur darum, uns noch mehr Fernsehprogramme anzusehen, öfters ins Kino zu gehen oder noch mehr zu essen? Viele Lehrer nutzen gern ganz bildliche Beispiele und sagen, dass wir diesen menschlichen Körper wie eine Fabrik nutzen, um Abfallprodukte – Urin und Kot – zu produzieren und das als unsere Aufgabe im Leben sehen. Wir geben Nahrung hinein und erzeugen diese Abfallprodukte. Ist das alles, wofür wir unser kostbares menschliches Leben nutzen? Hoffentlich geht es um mehr, als nur darum, all diesen Abfall zu erzeugen.
Geben wir dieses Streben nach Bodhichitta auf – das Streben und die Richtung, in die wir gehen – und sagen auch, es gäbe niemanden, keinen Lehrer, der es für uns repräsentiert, fallen wir wieder zurück in ein bedeutungsloses Leben und das ist die Hölle. Das Leben führt nirgendwohin und ergibt keinen Sinn. Das ist doch furchtbar. Daher wollen wir Bodhichitta nicht aufgeben. Aber wir müssen es erst einmal hervorgebracht haben, bevor wir es aufgeben können.
Tantrisches Gelübde, um fortwährend über Leerheit zu meditieren
Das schwierigste der Gelübde und eines, über das wir uns besonders bewusst sein sollten, ist das tantrische Gelübde, das wir übertreten würden, wenn wir nicht fortwährend über Leerheit oder Leere meditieren. So wird es im Gelübde beschrieben und wir geben das Gelübde auf, wenn wir dies nicht tun. Wir versprechen, es jeden Tag zu tun und für gewöhnlich tun wir es dreimal am Morgen und dreimal am Abend. Im Grunde heißt das, die Leerheit oder Leere wirklich zu vergegenwärtigen, was bedeutet, ein Verständnis darüber zu haben. Verstehen wir es nicht, ist das Ganze nur ein merkwürdiger schizophrener Trip, tatsächlich Tara oder Chenrezig zu sein. Das kann unser Ego so richtig aufbauen und beruhend darauf können ernsthafte psychologische Probleme entstehen.
Daher ist es essenziell, dieses Verständnis der Leerheit zu haben und sich fortwährend während des Tages und am Abend daran zu erinnern, was tatsächlich abläuft. Das betrifft nicht nur unsere tantrische Praxis, sondern auch unser gewöhnliches Leben. Dieses tantrische Gelübde ist wahrscheinlich am schwersten einzuhalten und man sollte es nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt, können wir, wenn wir zu diesen Einweihungen gehen, ein so genannter neutraler Beobachter sein. Im Westen sprechen wir normalerweise davon, „uns Segnungen abzuholen“, was ein christlicher Begriff ist. Es ist inspirierend und erhebend, zu so einer Einweihung zu gehen, doch wir nehmen nicht wirklich die Gelübde, besonders, wenn damit eine Praxis-Verpflichtung einhergeht, die von uns fordert, jeden Tag für den Rest unseres Lebens eine lange Praxis auszuführen, wofür wir nicht wirklich bereit sind.
Es ist vollkommen in Ordnung und wunderbar, einfach nur wegen der Inspiration teilzunehmen. Wir gehen als ein neutraler Beobachter. Wenn wir jedoch tatsächlich die Einweihung nehmen, bedeutet das, die Gelübde abzulegen und an den Vorgängen der Einweihung bewusst teilzunehmen, sowie das Einhalten der Verpflichtungen ernst zu nehmen.
Einer der Drikung-Kagyü-Meister wies hinsichtlich der Ermächtigung oder Initiation darauf hin, dass sie, gemäß dem tibetischen Wort, „besprenkeln“ bedeutet; in zweifacher Hinsicht werden Samen besprenkelt. Einmal werden die Samen unserer zwei Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins besprenkelt und somit genährt, damit sie sich transformieren und wachsen können. Wir müssen ein Verständnis der Leerheit, ein Verständnis von Bodhichitta mit einem glückseligen Geisteszustand haben und wirklich froh darüber sein, dabei sein zu können, und wir sollten zumindest ein gewisses Maß an Bewusstheit darüber während der Ermächtigung haben. Wenn wir das haben, führt die Ermächtigung dazu, dass diese Samen, die bereits in der Buddha-Natur vorhanden sind, aktiviert werden und diese Transformation bewirken. Durch die Erfahrung des Empfangens der Ermächtigung werden zudem weitere Samen gepflanzt und die Netzwerke ebenfalls verstärkt. Das geschieht während einer Ermächtigung oder Initiation.
Spirituelle Lehrer
Bei einer Ermächtigung gibt es also Gelübde und eine bewusste Erfahrung. Außerdem gehen wir natürlich eine enge Verbindung mit dem spirituellen Lehrer ein, der die Einweihung gibt. Wir sollten allerdings diese Person zuvor sehr sorgfältig geprüft haben. Auch wenn wir keine individuelle persönliche Anweisung von diesem Lehrer bekommen, macht das nichts. Es gibt so viele verschiedene Arten von Lehrern, die wir haben können.
Was ist das Kriterium für jemand, um unser spiritueller Meister zu sein? Gehen wir nach den Schriften, ist es jemand, von dem wir Gelübde empfangen. Dann gehen wir tatsächlich eine Verbindung mit der Person ein. Wir können jedoch auch einen Ausbilder haben, jemanden, von dem wir viele Informationen bekommen oder jemanden, mit dem wir wie in einem Fitnessstudio trainieren und der uns all die Rituale und die ganzen Einzelheiten beibringt. Hier sprechen wir noch gar nicht darüber, den Lehrer als einen Buddha zu sehen, was noch eine andere Ebene ist. Doch zumindest sollte dieser Lehrer das repräsentieren, was wir erreichen wollen. Zusätzlich dazu gehen wir eine ernste Verbindung mit ihm oder ihr ein.
Das Wort „damtsig“, samaya, ist wirklich schwer zu übersetzen. Es ist eine Verbindung, etwas, das uns verbindet. Es kann uns mit der Praxis oder einem Gelübde verbinden. Häufig wird es in Bezug zum Lehrer benutzt. Wenn wir damtsig oder eine „enge Bindung“ zu einem Lehrer haben, geht es um eine tiefe Verbindung, die auf hohem Respekt von beiden Seiten beruht. Sie baut darauf auf, die Buddha-Natur und das Potenzial im jeweils anderen zu respektieren. Wie könnten wir uns wie ein Idiot vor dieser Person verhalten? Wie könnten wir einfach dasitzen, in der Nase bohren und alle möglichen absurden Dinge tun oder unsere Fassung verlieren?
Ich gebe euch ein Beispiel. Einer meiner Lehrer war Yongdzin Ling Rinpoche. Er war das Oberhaupt der Gelug-Tradition und der Senior-Tutor Seiner Heiligkeit des Dalai Lama. Da er eine höchst beeindruckende Person war, hatten die meisten Menschen vor ihm Angst. Er war die Inkarnation von Ra Lotsawa, der Yamantaka, Vajrabhairava, diese wirklich starke Energie, nach Tibet brachte. Er war bemerkenswert, wirklich außergewöhnlich. Wenn er eine Einweihung gab, wies er auf all die Merkmale im Mandala um ihn herum hin, während er es im Detail beschrieb. So eine Art von Lehrer war er.
Ich ging oft zu ihm und saß in seinem Zimmer. Die Tibeter haben diese niedrigen Sofas, auf denen man sitzen kann. Er saß auf der einen und ich auf der anderen Seite, und plötzlich war da direkt vor uns auf dem Boden ein Skorpion. Ling Rinpoche sagte in einem dramatischen Tonfall: „Oh du meine Güte, ein Skorpion!“ Er sah mich an und fragte: „Hast du keine Angst?“ worauf ich erwiderte: „Wie könnte ich in Ihrer Gegenwart Angst haben?“ „Sie sind Yamantaka, Vajrabhairava, wie könnte ich mich vor Ihnen fürchten?“ Er lachte und dann kam der Begleiter hinein, stülpte ein Glas über den Skorpion, schob ein Blatt Papier darunter und brachte ihn hinaus, als wäre das Ganze eine Inszenierung. Es war ziemlich lustig.
Eine andere Sache ereignete sich mit dem jungen Ling Rinpoche, der Reinkarnation. Es gibt da gewisse Kekse, die ich sehr mag. Sie heißen McVities Digestive Biscuits und kommen aus England. Einmal kam ich nach Südindien, um Ling Rinpoche, der damals noch ein kleines Kind war, zu besuchen und sein Begleiter kam mit Tee und meinen Lieblingskeksen hinein. Ling Rinpoche sah mich an und lachte, mit diesem Gesichtsausdruck, als wollte er sagen: Ich weiß, wer du bist. Das ist Ling Rinpoche und das ist damtsig, diese enge Verbindung, in der wir so hohen Respekt für die Person haben, dass wir einfach nicht aus der Fassung geraten, wenn ein Skorpion vor uns erscheint.
Das ist es, was wir in Bezug auf den Lehrer haben sollten, der die Ermächtigung überträgt und die Gelübde gibt; zumindest sollten wir es versuchen oder beabsichtigen. Es ist überaus wichtig in Bezug auf das Einhalten der Gelübde. Wenn wir so großen Respekt vor dem Lehrer haben, werden wir die Gelübde nicht brechen. Wenn wir das Gefühl haben, es gibt gewisse Dinge, beispielsweise mit den Pratimoksha-Gelübden, die wir nicht einhalten können, geben wir nicht einfach auf und sagen: „zur Hölle damit“. Auch die Bodhichitta-Gelübde sollten wir nicht aufgeben, denn sie gelten für immer und wir müssen sie wirklich ernst nehmen.
Daher prüfen wir die Lehrer genau, um herauszufinden, ob wir diese Verbindung mit ihnen haben können. Ist der Lehrer jemand, der uns wirklich inspirieren wird oder nur eine Person, die gerade da ist und zu der jeder geht, weil sie einen hohen Namen hat. Wenn das der Fall ist, ist es besser, ein neutraler Beobachter zu sein, als eine tiefe Beziehung zum Lehrer einzugehen. Auch wenn wir nicht viel Zeit mit ihnen verbringen, sollten sie inspirierende Menschen für uns sein. Darum geht es bei einer Ermächtigung.
Ob wir Tantra im Sinne von Dharma-light praktizieren, um dieses Leben zu verbessern oder wirklich hoffen, einer von Billionen zu sein, der Erleuchtung in diesem Leben erlangt, der eine Glückliche, der es in diesem einen Leben schafft, oder ob wir es auf lange Sicht betrachten, mit dem Wissen, dass es seine Zeit dauern und nicht einfach sein wird, wenn wir in Betracht ziehen, in welch schlimmer Verfassung unser Geist ist – egal auf welcher Ebene wir in dieses Abenteuer Tantra einsteigen, die vorbereitenden Übungen, die Einweihung, die Gelübde und die Beziehung zu einem Lehrer sind dabei wesentlich.