Wesentliches zum Verständnis und zur Praxis von Tantra

Tantra im Sinne von Grundlage, Pfad und Ergebnis definieren 

Ich freue mich, hier zu sein und die Möglichkeit zu haben, mit euch darüber zu reden, wie man sich als ein Westler dem Vajrayana nähert. Das ist immer eine spannende Frage. Gibt es denn wirklich einen Unterschied, ob man sich Tantra als Westler oder irgendjemand, als ein menschliches Wesen, zuwendet? Neben dieser Frage, ob wir etwas Besonderes sind und einen speziellen Zugang dafür benötigen, ist es erst einmal notwendig, einen Blick darauf zu werfen, was Tantra eigentlich ist.

Das Wort „Tantra“ wird im Tibetischen als rgyud übersetzt und bedeutet Strom von Kontinuität, etwas, das sich für immer fortsetzt. Dies kann man aus der Sicht der Grundlage, der Sicht des Pfades und der Sicht des Ergebnisses betrachten. 

Die Grundlage: Transformieren der Faktoren der Buddha-Natur

Auf der Ebene der Grundlage sprechen wir von der Kontinuität der Faktoren der Buddha-Natur. Sie sind etwas, das keinen Anfang hat und sich immer weiter fortsetzt, bis es zur Buddhaschaft führt. Das geschieht jedoch nicht zwangsläufig; wir müssen dafür große Anstrengungen unternehmen. Sprechen wir über die Faktoren der Buddha-Natur, geht es insbesondere um jene Faktoren, die zu den Körpern eines Buddhas werden. Mit anderen Worten: es handelt sich dabei um die Voraussetzungen, die uns befähigen, ein Buddha zu werden, und durch die sich Körper und Geist zu jenen eines Buddhas transformieren.  

Worauf beziehen wir uns hier eigentlich? Auf das, was man normalerweise als die zwei „Ansammlungen“ bezeichnet. Ich ziehe es vor, von den „zwei Netzwerken“ zu sprechen, denn es ist nicht so, als würden wir Briefmarken oder so etwas sammeln. Es sind Netzwerke dessen, was für gewöhnlich mit „Verdienst“ und „Weisheit“ übersetzt wird. Aus verschiedenen Gründen bevorzuge ich allerdings die Begriffe „positive Kraft“ und „tiefes Gewahrsein“. Durch die konstruktiven oder positiven Dinge, die wir tun, bauen eine positive Kraft auf, so, als würden wir eine Batterie aufladen. Auf einer grundlegenden Ebene werden sie den Körper und Geist zukünftiger samsarischer Zustände hervorrufen, von dem, was wir momentan erfahren, zu dem, was unsere Erfahrungen in zukünftigen Leben sein werden. Das ist die Basis; das ist Samsara und unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt, die sich ewig weiter fortsetzen wird, wenn wir nichts tun, um dem ein Ende zu setzen. 

Was die Faktoren der Buddha-Natur betrifft, so verfügen wir auch über die konventionelle und tiefste Natur des Geistes, durch die wir in der Lage sind, Buddhaschaft zu erlangen. Sie sind die Basis sowohl für Samsara als auch für Nirvana.

Der Pfad: Buddha-Gestalten

Auf dem Pfad versuchen wir im Tantra, entstehend aus diesen Netzwerken, den Körper und Geist einer Gottheit, eines Yidams, zu haben, die ich als eine „Buddha-Gestalt“ bezeichne. Dabei handelt es sich auch um Dinge, die sich als ein immerwährender Strom von Kontinuität fortsetzen können. Buddha-Gestalten ändern nicht ihre Formen; Chenrezig wird beispielsweise nicht alt. Er muss nichts essen oder ähnliches. Chenrezig ist etwas, das sich kontinuierlich fortsetzt. Der Geist von Chenrezig ist ein Geist, der ein Verständnis von Bodhichitta, Leerheit und dergleichen hat. Das ist Tantra oder die Kontinuität des Pfades.

Das Ergebnis: Die Körper und der Geist eines Buddhas  

Auf der resultierenden Ebene haben wir die immerwährende Kontinuität der Formkörper und der Dharmakaya-Körper eines Buddhas. Das ist ebenfalls etwas, das sich endlos fortsetzt. 

Betrachten wir es ganz generell im Sinne von Grundlage, Pfad und Ergebnis, ist das im Kurzen die Bedeutung von Tantra.

Tantra als Webstuhl definieren 

Tantra hat jedoch auch noch eine zweite Bedeutung, die aus dem Sanskrit kommt, wo es als Webstuhl definiert wird, auf dem wir zahlreiche Dinge weben. Ein Webstuhl ist ein Gerät, auf dem man einen Teppich oder Stoff webt. Die Praktiken, die wir im Tantra ausführen, sind Dinge, die uns erlauben, all die verschiedenen Erkenntnisse und Einsichten, die wir auf dem Sutra-Pfad entwickelt haben, miteinander zu verweben, und das wird durch diese Buddha-Gestalten repräsentiert. 

Buddha-Gestalten sind wie Infografiken, in denen all die verschiedenen Arme, Gesichter, Beine und Dinge, die sie halten, unterschiedliche Ebenen der Bedeutung repräsentieren So stellen beispielsweise die vier Arme von Chenrezig, Avalokiteshvara, die vier unermesslichen Geisteshaltungen dar: Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. 

Im Tantra versuchen wir alles, was wir im Sutra zu einem gewissen Grad gelernt und beherrscht haben, miteinander zu verbinden. Alles fügt sich in einem Geisteszustand zusammen und das ist einer der Gründe, warum Tantra recht fortgeschritten ist. Sind wir nicht wirklich gut geübt in all den verschiedenen Aspekten, die wir im Sutra gelernt haben, ist es äußerst schwierig Tantra auszuführen.

Sutra und Tantra als ursächliche und resultierende Pfade 

Ursächliche Praxis: Sutra

Eine andere Weise, den Unterschied zwischen Tantra und Sutra zu verdeutlichen, besteht darin, Sutra als ursächlichen und Tantra als resultierenden Pfad zu beschreiben. In Sutra-Praktiken legen wir, anders ausgedrückt, den Schwerpunkt auf die Ursachen zum Erlangen der Körper eines Buddhas. Betrachten wir zum Beispiel die 32 großen und 80 kleinen Merkmale des Formkörpers eines Buddhas und lernen die Übungen, welche die Ursachen für jedes von ihnen ist, können wir uns, wenn wir uns mit der Darstellung eines Buddhas auseinandersetzen, auf all die ursächlichen Übungen fokussieren, die zu den verschiedenen resultierenden Aspekten eines Buddhakörpers führen. Daher haben wir sogar im Sutra eine Art der Infografik, wenn wir tatsächlich diese großen und kleinen Merkmale auf einer nicht-oberflächlichen Ebene betrachten wollen. 

So hat ein Buddha beispielsweise eine recht lange Zunge, die dafür steht, sich um andere mit der gleichen Zuneigung und Sorgfalt zu kümmern, wie eine Mutter im Tierbereich, die ihre Jungen ableckt. Um diese Ursache zu veranschaulichen, hat ein Buddha eine lange Zunge. Sind wir uns bewusst über all diese 112 Faktoren (die 32 großen und 80 kleinen Merkmale) eines Buddhas, merken wir, dass sie im Grunde noch komplizierter sind, als die verschiedenen Merkmale eines tatsächlichen Yidams. 

In der Sutra-Praxis legen wir somit die Betonung auf die Ursachen, wie Zuneigung gegenüber anderen, wie sie eine Mutter im Tierbereich gegenüber ihren Jungen hat, als Weg, den Körper und die Güte eines Buddhas zu erlangen. Das ist ein Beispiel für die ursächliche Praxis im Sutra.

Resultierende Praxis: Tantra

Tantra ist auf der anderen Seite die resultierende Praxis, weil wir uns bereits als ein Yidam oder eine Buddha-Gestalt betrachten. Ich benutze nicht so gern das Wort „Gottheit“, weil es alle möglichen Assoziationen zu einem Schöpfergott oder zu den Göttern des alten Griechenlands oder des Hinduismus aufwirft. Darum geht es jedoch keineswegs, wenn wir an diese Yidams denken. 

Es ist wirklich interessant, wie das Wort „Yidam“ übersetzt wurde. In dem Wort yidam steht yi im Tibetischen für Geist und dam stammt aus dem Wort „damtsig“ – im Sanskrit „samaya“ – was sich darauf bezieht, dass unser Geist eine enge Verbindung eingeht, um den Körper und Geist eines Buddhas zu erlangen. Das ist ein Yidam. Im Sanskrit nennt man es iṣṭadevatā. Devatā ist eine Gottheit und daher wird es für gewöhnlich auch so übersetzt, doch es handelt sich nicht um dasselbe Wort, wie für die Götter auf Berg Meru. Iṣṭa bedeutet das, was man sich wünscht, also den Zustand, den wir erlangen wollen. Auf diese Weise ist der Sanskrit-Begriff zu verstehen.  

Wir haben also diese Buddha-Gestalten, die Yidams, und in der Tantra-Praxis stellen wir uns vor, dass wir bereits in dieser Form einer Buddha-Gestalt, einer erleuchteten Gestalt, erschienen sind, während wir uns vollkommen darüber bewusst sind, noch nicht auf dieser Ebene zu sein. Es ist kein merkwürdiger schizophrener Trip und nicht so, als würde jemand herumlaufen und behaupten, Tara oder Chenrezig zu sein. Vielmehr beruht es vollkommen auf einem korrekten Verständnis und darauf, zuvor Bodhichitta hervorgebracht zu haben.  

Was ist Bodhichitta? Bodhichitta ist ein Geist, der auf unsere eigene zukünftige Erleuchtung gerichtet ist, die wir noch nicht erlangt haben, aber auf der Grundlage dieser Faktoren der Buddha-Natur erlangen können. Wir betrachten unser Geisteskontinuum und konzentrieren uns auf einen Punkt, der noch nicht stattgefunden hat, jedoch stattfinden kann, wenn wir uns bemühen, Buddhaschaft zu erlangen. Diese Netzwerke, über die wir als eine Basis sprechen, können sich in die Körper eines Buddhas verwandeln. 

Außerdem stellen wir uns vor, dass wir bereits da sind, aber wir sind uns vollkommen bewusst darüber, dass es tatsächlich noch nicht passiert ist. Allerdings ist es überaus wichtig zu wissen, dass es passieren kann. Dann erscheinen wir in dieser Art von Form. Das ist die so genannte „resultierende Ebene“ oder die „resultierende“ Art der Praxis. Obwohl wir den vollständigen Geist eines Buddhas nicht erreicht haben, in dem alle Schleier beseitigt wurden, mit dem wir gleichtzeitig über eine nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der zwei Wahrheiten, Leerheit oder Leere und reine Erscheinung, verfügen, haben wir etwas, das sich als Pfad in sie umwandeln wird. 

Es ist nicht so, dass wir so tun, als würden wir einfach grundlos über sie verfügen. Wir sollten uns vorstellen, den Körper und Geist eines Buddhas aufgrund einer Ebene des Hervorbringens von Bodhichitta und dem Verständnis der Leerheit zu besitzen. Bodhichitta wird von Mitgefühl, Liebe usw. Gestützt; das ist der resultierende Pfad. Es ist sehr wichtig das zu verstehen.

Der Glaube an die Wiedergeburt unterscheidet „Dharma-light“ vom „echten Dharma“ 

Wenn wir wissen wollen, ob es einen besonderen Weg der Praxis des Vajrayanas für Westler gibt, stellt sich folgende Frage: Wie nähern wir uns als Westler dieser Thematik? Den meisten von uns fehlt der kulturelle Hintergrund, der uns helfen würde, ganz automatisch an die Wiedergeburt sowie an vergangene und zukünftige Leben zu glauben. Betrachten wir jedoch die eigentlichen Lehren des Dharma, so findet sich die Trennlinie zwischen weltlichen oder dharmischen Handlungen in der Frage, ob wir etwas für unsere zukünftigen Leben tun oder nicht. Es ist ganz klar, dass der Fokus auf zukünftige Leben als Anfangspunkt für eine Dharma-Praxis gesehen wird.

Wir als Westler sind jedoch überaus skeptisch was die Wiedergeburt betrifft oder haben bestenfalls eine feindselig Haltung ihr gegenüber. Wir meinen, es wäre Unsinn und lehnen sie vollkommen ab.  Das führt uns zu dem, was ich mit den Begriffen „Dharma-light“ und „echter Dharma“ geprägt habe. Dharma-light definiere ich als eine Praxis des Buddhismus, die einzig darauf ausgerichtet ist, dieses Leben zu verbessern. Untersuchen wir ernsthaft, ob wir wirklich Dharma praktizieren, um zukünftige Leben zu verbessern, merken viele von uns, dass sie dies tief im Innern auf einer emotionalen Ebene nicht so empfinden, auch wenn sie meinen, sie würden es tun.

Das ist in Ordnung, wenn das die Ebene ist, auf der wir uns befinden. Wir können durchaus einen großen Nutzen aus der buddhistischen Praxis ziehen, doch wir sollten einräumen, dass der echte Dharma das gesamte Bild von zukünftigen Leben umfasst. 

Zukünftige Leben sind wirklich wichtig, wenn wir über die drei Ebenen des Ziels oder der Motivation sprechen, wie sie im Lam-rim, dem Stufenpfad, präsentiert werden. Die anfängliche Ebene besteht darin, zukünftige Leben zu verbessern. In diesem Rahmen basiert das ganze Verständnis von Karma auf der Wiedergeburt, weil die meisten Dinge, die wir in diesem Leben tun, nicht wirklich in diesem Leben zur Reife kommen. Warum wurden beispielsweise unglaublich hohe Lamas, Yogis und Meister in Tibet in Konzentrationslager geworfen, als die Chinesen nach Tibet kamen? Das ist auf diese Weise nicht gerade leicht zu verstehen. Warum begehen manche Diktatoren alle möglichen Gräueltaten und genießen dennoch ein Leben in Luxus? Ohne sich gedanklich auf die Wiedergeburt und die langfristigen Konsequenzen unserer Handlungen zu beziehen, wird diese ganze Darstellung von Karma daher ziemlich problematisch.

Die mittlere Ebene ist, Befreiung zu erlangen. Von was wollen wir uns denn befreien? Wir wollen uns von unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt befreien. Um was geht es eigentlich, wenn wir einmal einen Blick auf die zwölf Glieder des anhängigen Entstehens werfen? Es geht darum, wie samsarische Wiedergeburt funktioniert und wie sie in ihr Gegenteil umgewandelt wird, um Befreiung von ihr zu erlangen. Die mittlere Ebene beruht also wie die anfängliche Ebene ebenfalls auf dem Glauben an die Wiedergeburt. 

Auf der fortgeschrittenen Ebene besteht das Ziel darin, Erleuchtung zu erlangen, um allen zu helfen, unkontrollierbar sich wiederholende Wiedergeburt, Samsara, zu überwinden. Das ist der echte Dharma und hier machen wir diesen Unterschied.

Als Praktizierende von Dharma-light ist es wichtig sich einzugestehen, dass es sich dabei nicht um den echten Dharma handelt. Wir reduzieren die buddhistischen Lehren nicht einfach darauf, lediglich dieses Leben zu verbessern. Vielmehr sagen wir, dass wir die Wiedergeburt nicht wirklich verstehen, aber offen gegenüber der Vorstellung sind, während wir unser Verständnis weiter entwickeln. Wir werden es weiter untersuchen, lassen die Tür dafür offen und haben Respekt dafür. Allerdings räumen wir ein, dass wir uns momentan noch nicht dort befinden. 

Das ist völlig in Ordnung und diese Ehrlichkeit erlaubt uns, im Dharma zu wachsen und uns weiter auf unserem Weg zu vertiefen. Wir können untersuchen, ob diese Lehren über Wiedergeburt einen Sinn ergeben. Sie werden nur einen Sinn ergeben, wenn wir ein Verständnis von der Leerheit oder Leere des Selbst einer Person und der Leerheit von Ursache und Wirkung haben. Ansonsten betrachten wir die Wiedergeburt auf eine Weise, die von Buddhisten abgelehnt werden würde, wie zu meinen, wir hätten eine Seele, die sich von einer Wiedergeburt zur nächsten bewegt, und es gäbe ein „Ich“ oder Selbst als eine festgeschriebene Sache. Ich würde dann denken, jetzt bin ich Alex und Alex wird dann als Fiffi, der Pudel, wiedergeboren. Das ist jedoch nicht das, wovon man im Buddhismus ausgeht. Zu Beginn ist es in Ordnung, einfach ein grobes Leerheitsverständnis zu haben, doch es ist wichtig zu wissen, dass es recht fortgeschritten ist, tatsächlich den gesamten Vorgang der Wiedergeburt zu verstehen.

Wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama die drei Aspekte des Buddhismus präsentiert 

Diese Präsentation von Dharma-light und dem echten Dharma passt sehr gut zum Ansatz, den Seine Heiligkeit der Dalai Lama nutzt, wenn er vom Buddhismus im Sinne der drei Aspekte spricht. Laut ihm gibt es buddhistische Wissenschaft, die sich mit Wahrnehmungstheorie, der Darstellung von Logik, von anfangslosen und mehrfachen Universen usw. beschäftigt. Dann gibt es auch buddhistische Philosophie, die auf das ganze Leerheitsverständnis und insbesondere darauf eingeht, dass viele dieser Lehren ganz eng etwas mit Quantenphysik und den Erkenntnissen und Konsequenzen der Quantenphysik zu tun haben. Der dritte Aspekt ist schließlich die buddhistische Religion und dort gibt es Wiedergeburt und all die religiösen Praxis-Formen. 

Was buddhistische Wissenschaft und buddhistische Philosophie angeht, so handelt es sich dabei um Dinge, die offen für alle sind und aus denen jeder einen Nutzen ziehen kann. Das passt ziemlich gut zum Dharma-light. Gehen wir dann zur buddhistischen Religion über, so kann man das mit dem echten Dharma vergleichen. Diese Art des Unterteilens der Lehren in eine dreiteilige Sicht oder Erklärung, die Seine Heiligkeit nutzt, steht daher in schönem Einklang mit der Unterteilung von Dharma-light und echtem Dharma.

„Ngöndro“ ist die Grundlage für Tantra 

Ob wir nun Praktizierende von Tantra-light oder echtem Tantra sind, es ist unerlässlich, „Ngöndro“ oder die vorbereitende Praxis auszuführen. Ngöndro ist die Basis oder Grundlage für Tantra. Das finden wir in allen Abhandlungen, in denen es um Tantra geht, und es gibt keinen Grund, dies als Westler zu übergehen. Im Westen ist es natürlich oft so, dass wir auf der Suche nach Schnäppchen sind. Wir feilschen mit den Lehren: Können wir nicht einfach eine kleinere Anzahl dieser Ngöndro-Übungen machen, anstatt so viele? Diese Art des Praktizierens ist jedoch nicht wirklich hilfreich. 

Allgemeine und außergewöhnliche vorbereitende Übungen

Betrachten wir den Begriff „Ngöndro“, so bezieht er sich wörtlich auf etwas, das davor kommt, wie eine Vorbereitung auf etwas, das darauf folgt. Hier gibt es zwei Aspekte: die allgemeinen und die außergewöhnlichen Vorbereitungen. 

„Allgemein“ hört sich oft wie etwas an, was gewöhnlich ist oder nur von „einfachen Leuten“ praktiziert wird, als wären wir von adliger Abstammung. Wir meinen, wir bräuchten das nicht, doch das Wort, was hier mit „allgemein“ übersetzt wird, bezieht sich darauf, was Sutra und Tantra miteinander teilen oder was beide gemeinsam haben. Die außergewöhnlichen oder nicht-gemeinsamen Vorbereitungen sind jene Praktiken, die spezifisch für Tantra gelten, obwohl sie auch äußerst hilfreich für Sutra sind. 

Wie man negativen Geisteszuständen und destruktivem Verhalten entgegenwirkt

Wenn wir einmal darüber nachdenken, besteht doch das Problem darin, dass wir anfangslose Leben haben. Das ist der echte Dharma. Doch sogar wenn wir uns gedanklich nur auf dieses eine Leben beziehen, so haben wir doch schon einige Jahre gelebt, bevor wir uns mit irgendeiner Art der Tantra-Praxis befassen. Das heißt, dass wir eine starke Gewohnheit negativer oder unwissender Denkweisen entwickelt haben, also auf Weisen zu denken, die nichts mit der Realität zu tun haben. Wir sind so sehr in unseren Fantasien, Projektionen, in unserem Egoismus, unserer Selbstbezogenheit, unserer Wut und allen möglichen störenden Emotionen gefangen. Das ist etwas, was zutiefst in uns verwurzelt ist. Wir müssen neue, bessere Gewohnheiten entwickeln, wenn wir irgendeinen Erfolg im Tantra haben wollen.

Eine der wirklich hilfreichen Richtlinien, die manche der großen Lehrer geben, besteht darin, unser Leben zu untersuchen und herauszufinden, wie viele negative Geisteszustände wir bereits hatten und wie viele schädliche oder destruktive Handlungen wir in unserem gesamten Leben schon begangen haben. Wie viele Male haben wir jemanden angeschrien, haben unsere Fassung verloren, haben uns festgeklammert, waren gierig, selbstsüchtig und so weiter? Das können wir dann mit der Anzahl oder der Zeit vergleichen, die wir in diesem Leben damit verbracht haben, positiv und konstruktiv zu sein, einen klaren Geist zu haben, liebevoll und fürsorglich zu sein. Dann werden wir eine Vorstellung davon haben, was die Zukunft für uns noch bereit hält. 

Auch wenn wir die Wiedergeburt akzeptieren, nehmen wir immer an, dass wir natürlich immer ein menschliches Wesen sein werden. Wir gehen nie davon aus, in unserem nächsten Leben ein Huhn oder eine Kakerlake zu sein. Denken wir an frühere Leben, waren wir dort immer ein Mensch. Wir erinnern uns nicht an vergangene Leben als eine Kakerlake. Es ist schon komisch, dass wir denken, wir wären immer Menschen und das ist das Problem.

Wir haben so eine starke Gewohnheit, egozentrisch zu sein und auf unproduktive Weise zu denken, wogegen wir angehen müssen. Wie wirken wir dem entgegen, wenn wir nur in diesem Leben Millionen selbstsüchtiger Gedanken hatten oder die Beherrschung verloren haben. Es ist notwendig, auf die eine oder andere Weise viel positive Kraft aufzubauen, um dagegen anzugehen, damit wir, statt instinktiv wütend, verärgert oder gestört zu sein, wenn wir auf eine herausfordernde Situation stoßen, ganz automatisch mit Geduld, Mitgefühl und Fürsorge für andere reagieren. 

Die Wichtigkeit der Wiederholung

Sogar wenn wir es von einer wissenschaftlichen Herangehensweise des Anlegens neuer neuronaler Pfade aus betrachten, wie tun wir das eigentlich? Wir tun es durch Wiederholung, genauso, wie wir lernen würden, ein Musikinstrument zu spielen. Etwas 100.000 Mal zu wiederholen, verglichen damit, wie oft wir in unserem Leben unsere Beherrschung verloren haben, ist im Grunde nur ein Anfang. Wir beginnen jedoch, die Wichtigkeit von Wiederholung zu schätzen. Wiederholung bedeutet nicht nur, irgendetwas aufzusagen. Haben wir nicht wirklich einen geeigneten Geisteszustand geschaffen, werden wir keine großen Veränderungen bewirken, indem wir unseren Mund lediglich darin üben, etwas 100.000 Mal zu wiederholen.

Eines der Worte für einen „Sadhana“, diese Übungen, die wir im Tantra ausführen, ist „dagkye“ (bdag-bskyed) auf Tibetisch, was soviel wie „sich selbst erzeugen“ bedeutet. Mein Lehrer, Serkong Rinpoche, pflegt zu sagen, dass es um eine Selbsterzeugung, nicht um eine Stimmerzeugung, „kakye“ (bka’-bskyed) geht. Es geht nicht darum, mit unserem Mund etwas zu erzeugen, indem wir Dinge in diesen Übungen aussprechen, sondern darum, an uns selbst, an unserem Geist, zu arbeiten. Darum geht es. 

Sehen wir nur die 100.000 Wiederholungen des nicht-gemeinsamen oder außergewöhnlichen Ngöndro oder der Vorbereitungen – wie 100.000 Niederwerfungen zu machen oder 100.000 Vajrasattva-Mantras zu rezitieren usw. – und betrachten die allgemeinen Vorbereitungen nicht auf die gleiche Weise, betrügen wir uns nur selbst. Wollen wir es ordentlich machen, sollten wir eigentlich auch 100.000 Meditationen über die vier Gedanken machen, die den Geist dem Dharma zuwenden. Dabei handelt es sich um die kostbare menschliche Wiedergeburt, Tod und Unbeständigkeit, die Leiden Samsaras und dann Karma, Ursache und Wirkung. Zusätzlich dazu beschäftigen wir uns natürlich mit Zuflucht und Bodhichitta, den sechs Paramitas oder weitreichenden Geisteshaltungen oder Vollkommenheiten, Entsagung und all diesen Dingen. Es ist notwendig, sie immer wieder zu wiederholen, mindestens 100.000 Mal oder mehr, um sie wirklich tief zu verankern. 

Sichere Ausrichtung oder Zuflucht 

Was ist der Sinn davon, 100.000 Niederwerfungen und Rezitationen der Zufluchtsformel zu machen, wenn die Zuflucht keine Bedeutung für uns hat? Dann könnten wir genauso gut 100.000 Liegestütze machen; es wäre kein großer Unterschied. Das Wichtigste daran ist unsere Geisteshaltung. Auf einer tiefen Ebene müssen wir die Zuflucht wirklich verstehen. Es ist so leicht, die Wichtigkeit der Zuflucht herabzusetzen. Die Zuflucht kennt man als das Tor zum Dharma und daher muss sie eine Bedeutung für uns haben. Das Wort „Zuflucht“ kann im Deutschen passiv erscheinen, doch sie ist nichts Passives, sondern etwas, das ausgesprochen aktiv ist. Sie bedeutet, dass wir unserem Leben eine sichere Ausrichtung geben und uns ihr anvertrauen. 

Worum geht es denn dabei, wenn wir sie im Sinne des eigentlichen Dharma-Juwels betrachten? Im Grunde ist sie die dritte und vierte edle Wahrheit. Sie ist die wahre Beendigung aller Schleier, störenden Emotionen und so weiter; sie ist eine vollständige Beendigung dieser Dinge, sodass sie niemals wiederkehren. Das Dharma-Juwel ist ein wahrer Pfad, das wahre Verständnis, das zu ihm führen wird. Danach streben wir und es muss in einem Geisteskontinuum stattfinden. Die Buddhas sind jene, die es auf vollständige Weise erlangt haben und uns den Weg lehren, es zu erreichen. Der Sangha, der Arya-Sangha, sind jene, die es teilweise erreicht haben. Sie zeigen uns, dass es möglich ist, auf ordnungsgemäße Weise voranzuschreiten, um das Dharma-Juwel selbst zu erlangen. 

Darum geht es und das ist es, was wir uns vorstellen, wenn wir auf der resultierenden Ebene des Tantra arbeiten. Die Zuflucht ist unumgänglich. Sie ist die Richtung, der wir uns anvertrauen und an der wir in unserem Leben arbeiten. Sie ist die Bedeutung, die wir in unser Leben integrieren müssen. Wir müssen an uns selbst arbeiten und etwas überaus Positives aufbauen, um all diesen Müll, all diese negativen Dinge, zu bereinigen und loszuwerden, die unseren Geist bedecken. 

Vajrasattva und Guru-Yoga

Was tun wir in der Vajrasattva-Meditation, wenn sie nicht auf Zuflucht basiert? Wofür tun wir es? Was versuchen wir zu erreichen? Wofür machen wir ein Mandala-Opfer? Was bringen wir in diesem Sinne dar? Wir bringen unsere zwei Netzwerke dar: die Netzwerke tiefen Gewahrseins und positiver Kraft. Das ist es, was wir opfern – einfach alles; wir widmen sie der Erleuchtung, den Buddhas und allen Wesen. 

Wie verhält es sich mit dem Guru-Yoga? Die Praxis des Guru-Yoga wird ausgeführt, um die Ebene von Körper, Rede und Geist der Erleuchtung in uns zu integrieren, die durch die Gurus repräsentiert wird. Durch die Buddha-Natur des Gurus können wir die gleiche Buddha-Natur in uns selbst erkennen. Es inspiriert uns, dass wir die gleiche Ebene erreichen können. 

Ohne der grundlegenden Basis dessen, was wir im Sutra lernen, ergeben die außergewöhnlichen Vorbereitungen keinen Sinn. Wir können nicht sagen, dass sie irgendeinen Nutzen haben; natürlich sind sie in gewisser Hinsicht nützlich, auch wenn wir sie machen, ohne wirklich dabei zu sein. Schließlich gibt es diese Geschichten über eine Fliege, die während dem Monsun auf einem Stück Esel-Dung eine Stupa umrundet und dadurch positive Kraft aufbaut. Wir sind jedoch Menschen; wir haben eine kostbare menschliche Wiedergeburt und das bedeutet, dass wir über einen Geist und Intellekt verfügen, mit denen wir in der Lage sind, diese Netzwerke hervorzubringen. Wir haben die Fähigkeit zu verstehen, etwas zu hören, was einen Eindruck in uns hinterlässt und sind in der Lage zu lesen und zu verstehen, was wir lesen. Ohne Zweifel können wir mehr tun, als eine Fliege auf einem Stück Dung.

Wenn wir uns mit der Tantra-Praxis beschäftigen wollen, ist es unerlässlich, sie ernst zu nehmen. Und wenn wir sie ernst nehmen wollen, müssen wir diese Vorbereitungen ausführen. Mein Lehrer, Serkong Rinpoche, benutzte immer diesen Ausdruck, die Bedeutung aus den Worten zu „melken“, um so viel wie möglich aus ihnen herauszuziehen. Er fragte stets nach der Bedeutung oder dem Unterton der englischen Worte, die ich für die Übersetzung benutzte und meinte, das Wort „preliminaries“ wäre nicht so gut. Er hielt das Wort „preparation“ für „Vorbereitungen“ besser. Ein Beispiel, welches in der tibetischen Bedeutung einen Sinn ergeben würde, wäre das einer Karawane. Bevor wir eine lange Reise antreten, müssen wir uns vorbereiten. Wir müssen all den Proviant besorgen, den wir benötigen, die Tiere gut bepacken und wirklich vorausplanen, was Nahrungsmittel und all diese Dinge betrifft. Das ist die Vorbereitung und dieses Wort ergibt einen viel größeren Sinn als „preliminary“, was eher darauf hindeutet, dass wir diese Schritte auch auslassen könnten und meinen: „Wer braucht das schon?“ 

Es handelt sich jedoch um die Vorbereitung einer Reise. Was ist es, das wir auf der Reise des Vajrayana brauchen, diesem Vajra-Fahrzeug, das uns bis hin zur Erleuchtung führen wird? Ein Vajra, Dorje auf Tibetisch, ist stark; er kann nicht zerbrochen werden. Manchmal wird er mit „diamanthart“ übersetzt. 

Natürlich können wir fragen, bis zu welcher Ebene wir die Vorbereitungen benötigen, bevor wir uns tatsächlich auf sinnvolle Weise mit Tantra beschäftigen können, was offen für viele Diskussionen ist. „Zumindest eine gewisse Ebene“ ist das, was wir mit Bestimmtheit sagen können. Jede der vorbereitenden Übungen muss tatsächlich etwas für uns bedeuten und nicht nur aus leeren Worten bestehen. 

Kostbares menschliches Leben und Unbeständigkeit

Diese vorbereitenden Übungen müssen beginnen, eine Änderung in unserem Leben zu bewirken, damit wir wirklich wertschätzen können, ein kostbares menschliches Leben zu haben. Wir müssen all die positiven Dinge verstehen, die uns passieren, und sollten erkennen, wie viel Glück wir haben, uns nicht in einer furchtbaren Situation zu befinden, in der wir nicht an uns selbst arbeiten könnten. Das ist es, worauf wir uns konzentrieren: an uns selbst zu arbeiten, damit wir nicht nur ein glücklicherer Mensch sind, sondern auch anderen besser helfen können, denn es belastet uns, dass andere leiden und unglücklich sind. Wir haben wirklich das Gefühl, etwas dagegen unternehmen zu müssen; es ist nicht so, dass wir meinen, wir wären allmächtig, aber zumindest können wir helfen, so gut wir können. Das muss etwas Reales für uns sein und nicht nur Worte. Treffen wir dann einen Bettler oder Obdachlosen auf der Straße, empfinden wir etwas und denken nicht nur: „lass mich in Ruhe“. Es ist nicht so, dass wir mit der Situation dieser Person nichts zu tun haben wollen. 

Das ist eine kostbare menschliche Wiedergeburt. Wir haben auch nicht diese Einstellung: „Ich Armer, ich habe keine Knoblauchsoße für meinen Döner Kebab“. Das ist ein Beispiel, dass wir in Berlin für so genannte Luxusprobleme benutzen: „Oh wie furchtbar, es gibt keine Knoblauchsoße mehr“, als wäre das die schlimmste Sache der Welt. Offensichtlich ist es nicht so schlimm. Es ist notwendig, an die positiven Dinge zu denken und uns nicht ständig zu bemitleiden und zu lamentieren. 

Das Leben wird nicht ewig andauern. Das bedeutet nicht, fanatisch zu werden, sondern unsere Zeit auf ernsthafte Weise zu nutzen und zu erkennen, dass das Leben jederzeit enden könnte. Das müssen wir nicht nur auf den Tod beziehen. Unbeständigkeit gibt es auch in Bezug auf die Wirtschaft, den Krieg, Krankheiten; alles kann passieren. Daher sollten wir ernst nehmen, was geschehen wird. Mein engster Freund hatte einen Herzinfarkt unter der Dusche und fiel mit 54 Jahren tot um. Er schien vollkommen gesund zu sein und dann war er einfach nach ein paar Augenblicken tot. Das kann jederzeit geschehen.

Diese Erkenntnisse des gemeinsamen Ngöndro sind ausschlaggebend für eine ernsthafte Praxis.

Außergewöhnliche Vorbereitungen schaffen positive Kraft und schwächen negative Potenziale 

Was versuchen wir mit den außergewöhnlichen vorbereitenden Übungen zu erreichen? Wir versuchen, mehr positive Kraft aufzubauen und die negativen Potenziale zumindest in gewissem Grad zu reinigen. Das tun wir beruhend auf den Faktoren der Buddha-Natur, unseren zwei Netzwerken positiver Kraft und tiefen Gewahrseins. Mit Niederwerfungen bauen wir positive Kraft auf und mit der Vajrasattva-Praxis reinigen und schwächen wir die negativen Kraft, damit wir die Veränderung bewirken können. Anstatt dass diese zwei Netzwerke zu mehr und mehr Samsara führen, bringen sie etwas mehr Erleuchtendes auf den Ebenen des Pfades und des Ergebnisses hervor, auf wenn es nur in diesem Leben geschieht. 

Um diese Veränderung stattfinden zu lassen, damit diese zwei Netzwerke nicht weiter all die Probleme, sondern etwas Positiveres hervorbringen, gilt es natürlich, diese positive Kraft aufzubauen und die negative zu schwächen. Das ist das Problem mit Dharma-light, denn wir wollen diese positive Kraft nicht nur aufbauen, um ein besseres Samsara in diesem Leben zu haben. Das geschieht nämlich und darum geht es beim Karma. Wenn wir viele positive Dinge tun und sie nicht der Erleuchtung widmen, was passiert dann? Sie verbessern unser Samsara irgendwann später in diesem Leben. Wir werden vielleicht wohlhabender, haben mehr Freunde oder die Menschen werden aufrichtiger gegenüber uns sein. Oft wird das allerdings nicht in diesem Leben heranreifen, sondern erst in einem zukünftigen.

Diese Verbesserung ist ja ganz schön, aber sie ist nach wie vor problematisch, wenn wir an die Nachteile von Samsara denken, die einer der vier Gedanken sind, die den Geist dem Dharma zuwenden. Gewöhnliches Glück dauert nicht an; es ist nie genug. Das ist ein fundamentales Problem, das wir mit unkontrollierbar sich wiederholender Wiedergeburt haben. Die positive Kraft sollten wir also mindestens widmen, damit sie, statt Samsara zu verbessern, zur Erleuchtung beiträgt. Dafür benötigen wir eine Ebene von Bodhichitta und des Widmens, wenn wir unsere vorbereitenden Übungen machen; ansonsten werden wir nur ein angenehmeres Samsara schaffen, was nicht das ist, was wir anstreben.

Dann müssen wir uns selbst eine Frage stellen. Können wir auf der Grundlage von Dharma-light auch nach Erleuchtung streben, wenn wir nicht an die Wiedergeburt glauben oder denken, dass es so etwas ja vielleicht gibt, wir aber nicht wirklich daran glauben? Ja, das können wir. Damit begeben wir uns in die ganze Diskussion darüber, ob Erleuchtung in einem Leben möglich ist, doch es besteht die entfernte Möglichkeit, sie in einem Leben zu erreichen. Also gut, in diesem Fall können wir uns gedanklich nur auf dieses Leben beziehen, wenn wir als Westler Dharma praktizieren und noch nicht wirklich an die Wiedergeburt glauben. Die Praxis mit Bodhichitta der Erleuchtung zu widmen, ist jedoch essenziell, wenn wir diese Netzwerke, die so genannten Ansammlungen, zu erleuchtungsbildenden Netzwerken machen wollen.

Hier geht es darum, was zur Erleuchtung führen, sie herbeiführen oder „aufbauen“ wird. Das wird ersichtlich aus der Sanskrit-Bedeutung des Wortes, was als „Ansammlung“ übersetzt wird. Wörtlich bedeutet es etwas, das aufbaut. Darauf wurde ich von Geshe Wangchen hingewiesen. Er ist bereits gestorben, aber er war der Tutor der Reinkarnation von Ling Rinpoche, dem Senior Tutor Seiner Heiligkeit. Laut ihm handelt es sich dabei um die eigentliche Bedeutung, wenn wir auf das Sankrit-Wort zurückgreifen und uns die Kommentare betrachten. Er sagte, es sei etwas, das aufbaut; es baut Samsara, Befreiung oder Erleuchtung auf. Es hängt alles davon ab, ob wir diese positive Kraft widmen oder nicht. Das Sanksrit-Wort ist sambhara, etwas, das aufbaut.

Aus diesem Grund sind die vorbereitenden Übungen überaus wichtig. Der wichtigste Punkt bei diesen Übungen ist, dass wir sie in der richtigen Reihenfolge praktizieren sollten. Die richtige Reihenfolge ist, sich zuerst mit dem gemeinsamen Ngöndro zu befassen. Wir sollten den Sutra-Pfad nicht einfach überspringen. Es ist notwendig zu verstehen, dass es sich dabei um die Dinge handelt, die wir als Vorbereitung zusammenpacken, wenn wir uns auf die Reise des Vajrayana begeben. Tun wir es nicht, ist es, als würde es in den Satteltaschen unserer Yaks fehlen, wenn wir auf diese Reise gehen oder als hätten wir unsere Taschen nicht gepackt und im Kofferraum unseres Autos verstaut. Wir können sie am Flughafen nicht einchecken, denn wir haben sie zu Beginn unserer Reise nicht gepackt. Gehen wir dann auf die Reise, tun wir es mit leeren Händen. Wir werden nichts dabeihaben. Im Grunde müssen wir also diese Vorbereitungen machen.

Sind wir mit dieser Sutra-Praxis gut vorbereitet, werden unsere Niederwerfungen, unsere Vajrasattva-Praxis, die wir ausführen, eine größere Bedeutung bekommen. Wir sollten uns nicht selbst betrügen, indem wir nicht genug Sachen einpacken oder genug Nahrungsmittel für die lange Reise mitnehmen. Letzten Endes werden wir nur leiden. In der Tantra-Praxis kann es leicht passieren, mit all diesen Visualisierungen in eine Art Fantasie-Land abzudriften, zu überdrehen und den Bezug zur Realität zu verlieren. Das wollen wir auf keinen Fall, denn das wird uns bestimmt nicht weiterhelfen. Dann haben wir die Einstellung: „Ich liebe Milarepa und bin so ein großer Yogi“, aber damit drücken wir uns davor, uns mit unserem Leben auseinanderzusetzen, indem wir in dieses wunderschöne Fantasie-Land der Visualisierung entschwinden. Das wollen wir auf keinen Fall.

Aus diesem Grund gibt es die allgemeinen oder gemeinsamen vorbereitenden Übungen und erst danach die besonderen. Lasst das einen Moment einsinken, bevor wir weitermachen. Wenn ihr Ngöndro, diese vorbereitenden Übungen, macht oder darüber nachdenkt, sie zu machen, versucht einmal zu untersuchen, was ihr da tut und warum ihr sie ausführt. Was wollt ihr damit erreichen? Wenn wir uns auf diese vorbereitenden Übungen einlassen, wird es nicht leicht sein. Sie brauchen viel Zeit, Mühe und es wird kein Spaß sein. Sind wir uns nicht klar darüber, warum wir vorbereitende Übungen machen und was uns in dieser Zeit Kraft geben wird, wird es schwierig für uns werden. Wir wollen auf keinen Fall mittendrin aufgeben, eine Niederlage erleben, an einem bestimmten Punkt denken, es mache keinen Sinn, oder uns fragen, warum wir sie machen.

Daher gibt es im Tantra dieses Wort, was für gewöhnlich mit „Geheimhaltung“ übersetzt wird. Es bezieht sich nicht auf ein dunkles Geheimnis, das wir niemandem erzählen dürfen, wie das Geheimnis eines Kindes, welches nicht verraten werden darf. Bei dem Wort geht es vielmehr um etwas „Privates“ und daher wollen wir das, was wir tun, für uns behalten. Wir wollen nicht, dass andere Menschen davon wissen, weil dies dazu führen kann, dass manche Leute sich dann über uns lustig machen oder versuchen, uns zu entmutigen, indem sie sagen, dass das, was wir tun, wirklich merkwürdig oder albern ist. Für so etwas wollen wir uns nicht öffnen; das brauchen wir nicht. 

Wir sollten uns wirklich im Klaren sein, was unsere Motivation betrifft, was wir tun und warum wir es tun. Wir können es mit unserem Lehrer teilen, weil wir ihm vertrauen. Wir haben ihn oder sie geprüft und lassen uns nicht nur von einem Namen leiten. Auch machen wir nicht nur deswegen die vorbereitenden Übungen, weil alle anderen in der Gruppe sie machen. Wie Serkong Rinpoche sagte, wollen wir nicht jemand sein, der sich aufs Eis begibt und sich dann in der Mitte umdreht, um zu sehen, ob das Eis hält. Vielmehr sollten wir die Dinge zuerst überprüfen, bevor wir uns auf etwas einlassen. 

Mit den Tantra-Praktiken gehen wir diesen Vertrag, diese enge Verbindung, ein. Wir verpflichten uns, dass wir sie ausführen und für uns behalten werden. Die anderen müssen es nicht unbedingt wissen. Dann wird es zu etwas Heiligem. Das ist eine wichtige Sache, die wir haben sollten. Unsere Tantra-Praxis und Ngöndro sind Dinge, die wir mit Respekt ausführen sollten. Andere Menschen sind demgegenüber vielleicht respektlos, aber sie werden es nur sein, wenn sie wissen, was wir tun. Sie müssen es allerdings nicht wissen und daher sollten wir es für uns behalten; das ist viel besser.

Führen wir diese Übungen aus oder erwägen sie auszuführen, sollten wir für einen Moment über unsere Geisteshaltung und das nachdenken, worüber wir bis jetzt gesprochen haben.

[Pause zum Nachdenken]

Tantra: Eine immerwährende Kontinuität beruhend auf den Netzwerken positiver Kraft und tiefen Gewahrseins 

Lasst uns zusammenfassen, was wir bis jetzt besprochen haben, damit wir uns in dieser Darlegung nicht verlieren. Tantra bedeutet eine immerwährende Kontinuität. Auf der Grundlage dieser Netzwerke positiver Kraft und tiefen Gewahrseins haben wir eine Kontinuität. Tiefes Gewahrsein bezieht sich darauf, wie unser Geist funktioniert. Auf der umfassendsten Ebene bedeutet es natürlich das vollständige Verständnis der vier edlen Wahrheiten mit den sechzehn Aspekten der vier edlen Wahrheiten, dem Verständnis der Leerheit der vier edlen Wahrheiten usw. 

Auf einer anderen Ebene geht es beim tiefen Gewahrsein jedoch lediglich darum, wie unser Geist mit den fünf Arten des tiefen Gewahrseins funktioniert:

  • Wir sind in der Lage, Informationen aufzunehmen.  
  • Wir sind in der Lage, Muster zu erkennen und zu sehen, wie Dinge zusammenpassen.  
  • Wir können die Individualität von Dingen verstehen.  
  • Wir sind in der Lage, Dinge zu verwirklichen und wissen, was zu tun ist.  
  • Wir sind in der Lage zu wissen, wie die Dinge sind.  

Das ist die grundsätzliche Weise, wie der Geist funktioniert. Wir haben dieses Netzwerk tiefen Gewahrseins und das Netzwerk positiver Kraft. Auf der grundlegenden Ebene rufen diese Netzwerke immer mehr Erfahrungen in diesem Leben und auch in zukünftigen Leben hervor. Auf dem Pfad geht es uns jedoch darum, dass sie keine weiteren samsarischen Dinge mehr hervorbringen, sondern etwas, was dem Ergebnis ähnelt – diese Buddha-Gestalten können wir als ein Pfad nutzen, der uns zum Ergebnis führen wird.

Auf der resultierenden Ebene können diese Netzwerke, wenn sie erleuchtungsbildend werden, die Körper eines Buddhas hervorbringen. Die reine Natur des Geistes wird ermöglichen, dass diese Transformation stattfindet. Wie lassen wir diese Transformation stattfinden? Wie im Tantra müssen wir all die verschiedenen Übungen, die wir machen, miteinander verweben und sie alle auf einmal zusammen ausführen, während wir uns vorstellen, in dieser Buddha-Form zu sein. Diese Buddha-Form ist eine Infografik und alles, was wir visualisieren, ist eine Repräsentation einer Art der Erkenntnis, des Verstehens und des Geisteszustandes, die wir durch unsere Sutra-Praxis erlangt haben. Das umfasst die vier Unermesslichen und all diese Dinge.  

Manche dieser Gottheiten haben sechs Arme und das sind die sechs Paramitas. Wenn eine Gottheit vier Gesichter hat, stellt das die vier Buddhakörper, die vier Kayas, dar. All diese verschiedenen Dinge repräsentieren etwas; es ist nicht so, dass wir sechs oder vier Arme haben oder all diese Dinge für immer in unseren Händen halten wollen. Darum geht es nicht. Bei dem, was wir praktizieren und was unsere Vorbereitungen sind, geht es vielmehr darum, was wir miteinander verweben werden und benötigen, um diese Transformation zu bewirken. Wir tun es, damit unsere grundlegenden Faktoren der Buddha-Natur nicht einfach nur immer mehr Samsara und Probleme, sondern Befreiung und Erleuchtung hervorbringen werden. Das ist ein Überblick über das, worüber wir bis jetzt gesprochen haben; das ist die Grundlage. Wir praktizieren etwas, das dem Ergebnis dessen ähnelt, was wir erreichen wollen. 

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