Klärung verschiedener entscheidender Aspekte im Tantra

Rückblick 

Die Tantra-Praxis ist eine vollständige Praxis, in der eine enorme Anzahl von Dingen miteinander verbunden werden, und der wir uns langsam und schrittweise nähern. Wir können nicht erwarten, sie von Anfang an gleich perfekt ausführen zu können; natürlich nicht. Daher sollten wir Geduld mit uns selbst haben, ob wir sie nun als Dharma-light oder als echten Dharma praktizieren. Wie Sakya Pandita zu bedenken gab, besteht die eigentliche Grundlage für eine erfolgreiche Tantra-Praxis darin, die Gelübde einzuhalten und ethische Disziplin zu wahren. Nicht nur im Sutra, sondern auch im Tantra benötigen wir die drei höheren Schulungen: ethische Selbstdisziplin, Konzentration und unterscheidendes Gewahrsein der korrekten Sicht der Leerheit. Mit der Kraft der Entsagung und des Bodhichitta, ergänzt durch die sechs weitreichenden Geisteshaltungen oder Paramitas, sind sie das, was uns an unser Ziel bringen wird, ob wir uns nun lediglich auf Sutra beziehen oder Sutra und Tantra miteinander verbinden.  

Mahayana 

Wir sollten Vajrayana nicht als ein Fahrzeug sehen, was getrennt vom Mahayana ist. So zu denken, ist eine völlige Fehlinterpretation. Innerhalb des Mahayana gibt es Sutra- und Tantra-Pfade, doch bei beiden handelt es sich gleichermaßen um Mahayana-Praktiken, genauso wie auch Dzogchen, was ebenfalls nichts Abgetrenntes ist. Es ist ganz klar eine Mahayana-Praxis, die dazu da ist, uns zur Erleuchtung zu führen und allen Wesen zu nutzen. Das ist es, was sie zu einer Mahayana-Praxis macht. Wir sollten Mahayana nicht geringfügig für etwas Gesondertes halten oder meinen, es wäre nicht genauso fortgeschritten, wie Vajrayana oder Dzogchen.

Tantra wird als effizienterer und schnellerer Pfad im Gegensatz zum Sutra betrachtet und ist dafür bekannt, was jedoch richtig verstanden werden sollte. Ansonsten sehen wir Tantra als ein Schnäppchen und denken, wir könnten etwas billiger bekommen, weil wir ja damit schneller die Erleuchtung erreichen. Das trifft besonders dann zu, wenn wir hören, dass es sich um einen einfachen Pfad handelt. Das ist jedoch irreführend; Tantra ist keineswegs einfach. Ganz allgemein ist Tantra schneller als Sutra, da wir mit ihm an Methoden arbeiten, die dem Ergebnis, das wir erlangen wollen, ähneln.

Wir wollen den Körper und Geist eines Buddhas erlangen – die Rede ist Teil des Körpers. Körper und Geist eines Buddhas treten stets zeitgleich auf und sind untrennbar voneinander. Praktizieren wir auf eine Sutra-Weise, ist es nicht möglich, die Ursachen für einen Körper und die Ursachen für einen Geist zeitgleich in einem Augenblick der geistigen Aktivität zu haben. Der Grund dafür ist, dass unsere geistige Aktivität immer nur ein Objekt erfassen oder sich mit einem Objekt auf einmal beschäftigen kann. Tantra bietet allerdings eine Methode, die Ursachen zum Erlangen gleichzeitig zu praktizieren. 

Nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit: Die Ursachen für den Geist eines Buddhas 

Die Leerheit oder Leere ist die völlige Abwesenheit unmöglicher Existenzweisen. Wir projizieren und glauben an unmögliche Existenzweisen, doch sie entsprechen nicht der Realität. Was es daher nicht gibt, ist eine unmögliche Existenzweise, oder genauer gesagt, eine ungültige, unmögliche Methode, die Existenz von etwas zu begründen: eine Existenzweise, die der Erscheinungsweise entspricht, die wir aus Unwissenheit projizieren.

Ein einfaches Beispiel ist zu denken: „Ich bin das Zentrum des Universums, der oder die Wichtigste, es sollte immer nach meinem Kopf gehen und jeder sollte mir seine Aufmerksamkeit schenken.“ Denken wir, dass wir auf diese Weise existieren und es nur durch diese Denkweise so ist, entspricht dies nicht der Realität. Ein „Ich“, welches das Zentrum des Universums und der oder die Wichtigste ist, gibt es nicht. Es hat nie existiert und kann unmöglich existieren, egal wie sehr wir denken, es wäre wahr. Unsere Augen zu schließen und alles außer uns verschwinden zu lassen, beweist oder begründet nicht, dass wir das Zentrum des Universums sind, auch wenn es so zu sein scheint. Diese Weise, uns als das Zentrum des Universums zu begründen, wird nicht funktionieren. Sie ist falsch. 

Es gibt viele unmögliche Ebenen des Begründens der Existenz von Dingen, also dieser unmöglichen Existenzweisen, die wir projizieren. Wir müssen immer tiefer gehen und wenn wir uns auf die Leerheit fokussieren, richten wir uns darauf, dass es so etwas, wie diese unmöglichen Existenzweisen nicht gibt. Nichtkonzeptuelle Wahrnehmung dieser Leerheit beseitigt all die Hindernisse aus unserem Geist, damit unser Geist zum Geist eines Buddhas wird. 

Bodhichitta: Die Ursache für den Körper eines Buddhas 

Die Ursache für den Formkörper eines Buddhas ist Bodhichitta. Bodhichitta richtet sich auf unsere eigene individuelle Erleuchtung, die noch nicht stattgefunden hat, aber durch die Absicht, sie zu erlangen, gestützt durch Liebe und Mitgefühl stattfinden wird. Bei der Absicht geht es nicht nur darum, sie zu erlangen, sondern auch um die Absicht, allen von Nutzen zu sein. Dies und die Wahrnehmung der Leerheit sind zwei recht verschiedene Weisen, sich auf ein Objekt zu richten. Mit der einen Weise richten wir uns darauf, dass es so etwas nicht gibt, während wir uns mit der anderen darauf fokussieren, was wir erlangen wollen, um allen Wesen zu nützen. In einem Augenblick der geistigen Aktivität, können wir nicht beide gleichzeitig haben. Dennoch kann eine die Kraft hinter der anderen sein und sie können sich gegenseitig fördern. So funktioniert es im Sutra. 

Beide Ursachen in einem Augenblick des Geistes miteinander verbinden

Im Tantra werden wir natürlich nach wie vor Bodhichitta haben und auch das Verständnis der Leerheit. Während unser Geist jedoch hier völlig in Leerheit vertieft ist, sind wir uns auch bewusst darüber, einen Körper zu haben. Es ist nicht so, dass unser Körper in der Meditation erscheint; während sich dieser eine Geist jedoch auf die Leerheit fokussiert, sind wir uns gewahr, dass es da auch einen Körper gibt. Das wird für gewöhnlich mit den Worten beschrieben: „der Geist mit einem Leerheitsverständnis erscheint als die Gottheit“. 

Unserer Meditation der völligen Vertiefung folgt das, was irreführenderweise oft mit „Nachmeditation“ übersetzt wird. Die wörtliche Bedeutung ist „nachfolgende Erlangung“. Was erlangen wir nach der völligen Vertiefung in Leerheit? Noch immer haben wir völlige Konzentration und meditieren, doch anstatt uns auf die Abwesenheit unmöglicher Existenzweisen zu fokussieren, richten wir uns nun auf die so genannte „illusionsgleiche Leerheit“. Unser Körper erscheint als ein Yidam, doch weil wir Leerheit verstanden haben, erkennen wir, dass die Weise, wie er erscheint, wie eine Illusion ist. Die Weise, wie er zu existieren scheint, entspricht nicht der Realität, doch wir lassen uns nicht dadurch täuschen. Das ist die nachfolgende Verwirklichung, die nachfolgende Erlangung. Natürlich könnten wir das außerhalb der Meditation aufrechterhalten, doch der eigentliche Fokus findet in der Meditation statt. 

Diese zwei Phasen der Meditation auf diese Weise zu praktizieren, bringt uns dem Ergebnis näher, indem wir in einem Augenblick manifestierter geistiger Aktivität gleichzeitig Ursachen für den Körper und Geist eines Buddhas haben. Das macht Tantra schneller.

Tantrische Darstellungen der Zeit für das Erlangen der Erleuchtung 

In einem der Tantras – ich weiß nicht mehr genau wo, aber es wird ziemlich häufig wiederholt – wird gesagt, dass wir, wenn wir unsere tantrischen Gelübde rein halten, auch ohne Meditation – also ohne das Ausführen intensiver Übungen der Erzeugungs- und Vollendungsstufe – Erleuchtung in sieben bis vierzehn Leben erlangen werden. Das ist an sich eine ziemlich starke Aussage und wir sollten analysieren und überlegen, was sie wirklich bedeutet. 

Betrachten wir die tantrischen Gelübde und das, was wir auf reine Weise in all diesen Leben machen müssten, so heißt es, man sollte Bodhichitta, das echte Bodhichitta, nicht aufgeben und sechsmal am Tag über die Leerheit meditieren. Erleuchtung mit dem Reinhalten dieser Gelübde zu erlangen, bedeutet natürlich nicht, sie ohne die Meditation über Bodhichitta und Leerheit zu erlangen, was auf die Wichtigkeit des Einhaltens der Gelübde hindeutet. Ich denke, das ist einer der Gründe für die Aussage von Sakya Pandita, dass es ohne die Gelübde keine Initiation und kein Tantra gibt. 

In einer anderen Darstellung finden wir, dass wir durch das Praktizieren von Anuttarayoga-Tantra, der höchsten Tantra-Klasse, in nur drei Jahren und drei Mondphasen Erleuchtung erlangen können. Eine Mondphase sind in etwa zwei Wochen oder fünfzehn Tage. Woher stammt diese Aussage? Sie stammt aus dem Kalachakra-Tantra. In diesem Tantra gibt es eine recht ausführliche Erklärung der Atemzüge. Der Atem wechselt zwölfmal am Tag die Richtung, also überwiegend in ein Nasenloch ein- und aus dem anderen auszuströmen. Es gibt zwölf Wechsel, wie es auch zwölf Tierkreiszeichen und zwölf Monate im Jahr gibt. In den Kalachakra-Lehren gibt es all diese Parallelen und von der Schönheit dieser Symmetrie können wir uns leicht verführen lassen. 

Während der Atem zwölfmal am Tag von einem Nasenloch zum anderen wechselt, gibt es eine bestimmte Anzahl von Atemzügen, die in den Zentralkanal eintreten und „Atemzüge des tiefen Gewahrseins“ genannt werden. Das wird spezifisch im Kalachakra erklärt. Es gibt fünfundsechzig und ein Viertel Atemzüge, die jedes Mal in den Zentralkanal eintreten, wenn der Atem von einem zum anderen Nasenloch wechselt. Beobachten wir den Atem, können wir erkennen, dass es stimmt, dass der Atem überwiegend durch ein Nasenloch und nicht genau gleich durch beide fließt. Fließt er jedoch genau gleich durch beide, tritt er an dem Punkt in den Zentralkanal ein. 

Im Kalachakra wird häufig die Nummer 21.600 erwähnt, die mit einer bestimmten Messung in der Astronomie und Astrologie zu tun hat, sowie mit der Anzahl der Atemzüge an einem Tag. Wir müssen auch 21.600 Momente der Ausrichtung auf die Leerheit mit nichtkonzeptueller Wahrnehmung des klaren Lichts mit unwandelbarer Glückseligkeit haben, um Erleuchtung zu erlangen. 

Würden wir ausrechnen, wie viele dieser Atemzüge des tiefen Gewahrseins in einem 100-jährigen Leben in den Zentralkanal eintreten, in dem jedes Jahr 360 Tage hat, und würden dies durch 21.600 Atemzüge pro Tag teilen, wäre die Anzahl der Tage, die für diese fortlaufenden Atemzüge tiefen Gewahrseins notwendig wären, zusammengenommen drei Jahre und drei Mondphasen. Weil wir all diese Atemzüge tiefen Gewahrseins in der Meditation in den Zentralkanal bekommen müssen, um Erleuchtung zu erlangen, heißt es, dass man Erleuchtung in drei Jahren und drei Mondphasen erlangen kann. Darauf ist diese Nummer zurückzuführen. 

Somit ist es etwas irreführend, große Hoffnungen zu hegen, nach einem Dreijahres-Retreat erleuchtet zu sein. Vielleicht geschieht es, aber wir sollten uns nicht darauf verlassen.

In einer anderen Darstellung, die oft in Dzogchen-Texten zu finden ist, gibt es „jene, für die es auf einmal geschieht“. Wir mögen meinen, wir wären eine dieser Personen, für die es einfach so, auf einmal geschieht, doch die Anzahl der Wesen, die so ein unglaubliches Maß an positiver Kraft in früheren Leben aufgebaut haben, damit es auf einmal passiert, ist verschwindend gering und es ist höchst unwahrscheinlich, dass wir eines von ihnen sind. 

Auch ist es nicht so, dass wir direkt von der Straße kommen, nie etwas über den Buddhismus gehört oder irgendetwas praktiziert haben, uns hinsetzen und dann, voila, passiert es auf einmal: wir sind erleuchtet. Die Dzogchen-Texte beziehen sich damit vielmehr darauf, vom Erlangen eines Pfadgeistes des Sehens, dem Pfad des Sehens, durch die zehn Bhumis bis hin zur Erleuchtung zu gelangen. Dennoch gilt für die große Mehrheit der Praktizierenden, dass sie, wenn sie nichtkonzeptuelle Wahrnehmung der Leerheit und Rigpa erlangt und manifestiert haben, trotz allem schrittweise die Bhumis durchlaufen müssen. Es gibt nur eine winzige Anzahl jener, für die alle Schleier auf einmal wegfallen. 

Ratschläge 

Es ist ausgesprochen wichtig, eine realistische Einstellung gegenüber der Tantra-Praxis zu haben. Einer der wichtigsten Ratschläge in den Meditationstexten lautet, nichts zu erwarten oder zu hoffen, wenn wir meditieren. Haben wir keine Erwartungen, werden wir auch keine Enttäuschungen erleben. Das ist auch im Leben recht hilfreich, besonders im Umgang mit anderen Menschen. Wir sollten weder von anderen noch vom Leben im Allgemeinen irgendetwas erwarten. Wenn die Dinge gut laufen, ist das wunderbar und wir freuen uns. Doch wir denken an die acht weltlichen Dharmas und verlieren nicht unser Gleichgewicht, indem wir denken: „Wie toll!“ und werden nicht depressiv, wenn es nicht so gut läuft. Das hilft uns nicht weiter und ist ein Hindernis. 

Laut dem jungen Serkong Rinpoche ist es „nichts Besonderes“; das ist sein Schlagwort, das er immer benutzt. Dabei geht es nicht darum, dass alles egal ist. Wir machen einfach keine große Sache aus irgendetwas, sondern praktizieren stetig mit vollem Engagement und versuchen, unsere Gelübde bestmöglich einzuhalten. „Immer langsam“, wie Seine Heiligkeit der Dalai Lama immer sagt; wir sollten keine schnellen Fortschritte erwarten. Brauchen wir eine Einschätzung, sollten wir einen Blick darauf werfen, wie wir vor fünf Jahren mit schwierigen Situationen umgegangen sind und dies mit heute vergleichen; das ist der Test. Wir haben Fortschritt gemacht, wenn wir besser mit den Herausforderungen klarkommen, die uns im Leben begegnen, ohne allzu wütend zu werden, sondern etwas mehr Geduld und Weisheit haben. Kommen wir besser mit Menschen zurecht, besonders mit schwierigen? Dann haben wir Fortschritt gemacht. 

Darum geht es doch, nicht wahr? Dharma-Praxis heißt, an uns selbst zu arbeiten und zu versuchen, unsere Mängel zu minimieren, sie schließlich zu beseitigen und uns unserer Potenziale immer mehr bewusst zu werden. Sutra ist hilfreich dafür, und eine Kombination aus Sutra und Tantra ist sogar noch effektiver. Wir sollten sie jedoch immer eine Mahayana-Praxis sein lassen, mit der wir allen nützen. Nun könnt ihr noch ein paar abschließende Fragen stellen.

Wo passt Ngöndro dort hinein? 

Vielen Dank für diesen ausführlichen Überblick über Tantra und die inspirierenden Unterweisungen. Als Sie über die Wichtigkeit darüber geredet haben, bereit für den Vajrayana-Pfad zu sein, blieb bei mir noch eine Frage offen. Wo fügen sie Ngöndro in dieses Gesamtbild ein? Ist es auf dem Sutra-Pfad oder dem Vajrayana-Pfad zu finden?

Wie ich am Anfang erklärt habe, gibt es gemeinsame vorbereitende Übungen des Ngöndro, die völlig dem Sutra zuzuordnen sind. Das sind die vier Gedanken, die den Geist dem Dharma zuwenden, sowie Zuflucht, Entsagung, Bodhichitta und die Paramitas. Dann gibt es auch die nichtgemeinsamen Übungen: Niederwerfungen, Vajrasattva, Mandala-Opfer und Guru-Yoga. Ich sollte auch erwähnen, dass man in manchen Traditionen auch mehr machen kann, obwohl diese Vier der Standard sind. Es gibt auch Darbringungen von 100.000 Wasserschalen, 100.000 Tonfiguren und viele andere Ngöndro-Übungen, die ausgeführt werden können. 100.000 ist keine festgelegte Nummer, in manchen Traditionen sind es 110.000, 108.000 oder 130.000. Keine bestimmte Anzahl ist etwas Besonderes; wir tun einfach, was in unserer eigenen Übertragungslinie getan wird. 

Es können auch viele andere Punkte in Bezug auf Ngöndro angeführt werden. Es gibt den standardmäßigen Ngöndro und spezifische Ngöndros, die uns unser persönlicher Lehrer gibt und die ganz anders sein könnten. Ich habe immer als Teil meines Ngöndro das Umherlaufen wegen den Visas für Serkong Rinpoche und seine Begleiter mit ihren verschiedenen Pässen, das Schreiben von Briefen, das Organisieren all der Vorlesungen und Reisen, sowie das Übersetzen für ihn angesehen. 

Ich denke, wir können jede Art der sich wiederholenden Dharma-Aktivität als ein Ngöndro sehen, da positive Kraft aufgebaut und negative Kraft reduziert wird, wenn man beispielsweise nicht bis nach Delhi zur Botschaft fahren will, um sich dort mit der Bürokratie auseinandersetzen zu müssen. Ich hätte sagen können, dass ich es nicht tun will. Wir können Ngöndro als eine Sache machen, die wir mit einem Mal ausführen, oder wir können jeden Teil dann machen, wenn es passt und gerade praktisch ist. Wir können es als ganztägliche Sache betrachten oder eine Sitzung am Morgen, eine Sitzung am Abend, oder auch nur eine einzelne Sitzung am Tag machen. Das Wichtigste ist Kontinuität, die nicht unterbrochen werden sollte.

So können wir sehen, dass es viele Möglichkeiten gibt, Ngöndro auszuführen, und wir können uns darüber streiten, ob wir es nun als ein Teil von Sutra oder ein Teil von Tantra bezeichnen. Es steht jedoch außer Frage, dass die gemeinsamen Ngöndro-Übungen vor den nichtgemeinsamen kommen. Wenn wir nicht wissen, was Zuflucht ist und 100.000 Mal die Worte „Ich nehme Zuflucht in Buddha, Dharma und Sangha“ rezitieren, ohne dass sie irgendetwas für uns bedeuten, wird dies keine große Wirkung haben. Daher benötigen wir erst einmal die gemeinsamen Übungen. 

Wir können eine Initiation haben, bevor wir sie beenden. Tatsächlich passiert das in den meisten Fällen. Dann halten wir einfach die grundlegende Verpflichtung der Initiation, wie eine Mala oder 108 Mal OM MANI PADME HUM zu rezitieren. Gut, wir tun das, aber wir sollten uns auch immer weiter darauf vorbereiten, eine ausführlichere Praxis zu machen.

Initiationen und enge Verbindungen 

Ich denke über Yidams und Initiationen nach, denn sie sind ja keine Archetypen, sondern ganz klar mehr als das. Bei einer Übertragung wird etwas übertragen und Menschen fühlen sich verbunden mit bestimmten Yidams oder einem Lehrer, der zu Besuch kommt. Was ist es, das von einem Leben zum anderen übergeht und dafür verantwortlich ist? Scheinbar sollte es ganz leicht zu verstehen sein, aber was ist es, das übergeht? Vielleicht meditieren wir auf einen Yidam und bekommen ein ganz anderes Resultat, aber es scheint irgendwohin zu deuten, auf etwas, das übertragen wird.

Das ist eine sehr gute Frage. Zunächst einmal sage ich etwas dazu, was es nicht ist. Eine Übertragung ist nicht so, als würde man uns einen Ball zuwerfen: Hier ist die Übertragung, ich werfe sie dir zu und du fängst sie. So etwas Konkretes ist sie keineswegs. Um eine Übertragung zu verstehen, ist es notwendig, ein Verständnis über abhängiges Entstehen und Leerheit zu haben. Etwas wird abhängig von vielen Faktoren, Ursachen und Bedingungen entstehen. In früheren Leben oder früheren Erfahrungen hatten wir eine Reihe von Begegnungen mit einem bestimmten Lehrer oder beispielsweise Umgang mit einer gewissen Yidam-Praxis. Daraus ergibt sich eine Tendenz oder Nähe als ein Zuschreibungsphänomen auf der Basis dieser Erfahrungen, wie eine unbewusste Erinnerung an sie.

Was ist eine Erinnerung an etwas? Eine Sache ist passiert und dann erinnern wir uns an etwas, das konzeptuell das repräsentiert, was geschehen ist. Das ist eine Erinnerung. In ähnlicher Weise basiert das Gefühl der Nähe oder Beziehung mit etwas auf einer früheren Verbindung und vielleicht nicht nur auf einer. Daher gibt es Situationen, wie die Einweihung oder Situationen, wie nach Indien oder in ein buddhistisches Zentrum zu gehen, wo wir einen Lehrer treffen oder das Bild eines Yidams sehen und dann ganz automatisch ein Gefühl der Verbundenheit haben. Es ist nicht so, dass es da eine Verbindung gibt, die sich in unserem Geisteskontinuum als ein auffindbares „Ding“ befindet und nur darauf wartet, hervorzutreten und dann da ist. So etwas ist es nicht. Das Gefühl der Verbundenheit entsteht abhängig von all den Ursachen und Bedingungen. Da gibt es nichts Solides oder Festes, aber dennoch funktioniert es.

Eine einfachere Möglichkeit, sich mit abhängigem Entstehen vertraut zu machen, ist, zum Beispiel diesen Stuhl zu betrachten. Dieser Stuhl besteht aus Atomen und die Atome bestehen aus subatomaren Teilchen, es gibt Energiefelder und all diese Dinge. Dasselbe gilt für unseren Körper, der größtenteils aus leerem Raum besteht. Trotzdem – und das ist das wichtige Wort – trotzdem fallen wir nicht durch den Stuhl hindurch, wenn wir uns hinsetzen. Wegen diesem „Trotzdem-Faktor“ erfüllt er seine Funktion, obwohl der Stuhl nicht fest, konkret und auffindbar ist. Genauso verhält es sich mit einer Übertragung oder einer Verbundenheit. Sie funktioniert, auch wenn es nichts gibt, was uns zugeworfen wird, kein „Ich“, das sie fängt und keinen Lehrer, der sie wirft.

Archetypen mit Yidams verwechseln 

Vielen Dank für diese Belehrungen. Sie waren wunderbar und es gibt viel, was man erst noch einwirken lassen muss. Der Buddhismus ist ganz allgemein sehr populär unter den Psychologen geworden und dort gab es einen Vergleich zwischen Yidams und Jungschen Archetypen. Was halten Sie davon?  

Laut Jung sind Archetypen ein Teil des kollektiven Unterbewusstseins. Im Buddhismus gibt es kein solches Konzept. Es ist nicht so, dass es da eine große Nase im Himmel gibt und wir alle Teil dieser großen Nase sind. Wir alle haben individuelle Nasen. Genauso gibt es keinen kollektiven Geist, dessen Teil wir alle sind. Das hat nichts mit dem Buddhismus zu tun. Was Archetypen betrifft, so gibt es bestimmte Mythen und gewisse Dinge, die man ganz allgemein in vielen Kulturkreisen findet; diese Archetypen beziehen sich jedoch auch auf böse Hexen und all diese Figuren, die wir in der Mythologie finden. Wir haben allerdings keinen Yidam einer bösen Hexe, einer weisen alten Frau, eines weisen alten Mannes oder ähnliches. 

Wie gesagt handelt es sich bei den Yidams um gewisse Methoden, um all die verschiedenen Lehren in einer Infografik zu integrieren, die anderen auf dem Weg helfen, den Formkörper eines Buddhas zu erlangen und die anderen damit von Nutzen sind. Bei den Archetypen ist es anders; der Zweck dieser beiden ist ziemlich unterschiedlich. 

Außerdem repräsentiert jeder Yidam die gesamte Erleuchtung, sowie auch einen spezifischeren Aspekt der Erleuchtung. Da gibt es zum Beispiel Avalokiteshvara, Chenrezig, für das Mitgefühl, oder Manjushri für Weisheit und Klarheit des Geistes. Dennoch ist das etwas ganz anderes als Archetypen, da alle Yidams, sogar die kraftvollen, positive Eigenschaften verkörpern, um anderen zu helfen, während es einige Archetypen gibt, die negative Eigenschaften verkörpern. Daher unterscheiden sie sich von Yidams. Yidams sind auch nicht selbst-begründet und inhärent in unserem Geist auffindbar, während Archetypen dies vermeintlich sind.

Ich habe keine enge Beziehung zu Jungschen Psychologen, aber der Begriff „Archetyp“ wird manchmal von ihnen in Verbindung zum Buddhismus benutzt.

Ja, das ist so. Jung hatte ein wenig Kontakt mit dem Buddhismus, aber er hat auch eine Menge missverstanden – zum Beispiel die Metaphorik eines Paares im Tantra. Werfen wir einen Blick auf die Worte „yab-yum“, die für das Paar benutzt werden, so beziehen sie sich auf Vater und Mutter und nicht auf männlich und weiblich. So, wie ein Vater und eine Mutter notwendig sind, um einem Kind Geburt zu geben, braucht es Methode und Weisheit, um Buddhaschaft hervorzubringen. Das ist die korrekte symbolische Bedeutung. Er verstand sie jedoch so, als würden sie das männliche und weibliche Prinzip repräsentieren und als müssten wir diese zusammenbringen, um das eine oder andere in uns zu entdecken. Das hat nichts mit dem Buddhismus zu tun. Im Buddhismus geht es gewiss nicht um ein weibliches oder männliches Prinzip. 

Das bedeutet nicht, dass solche Prinzipien unwichtig oder nicht hilfreich sind. Sie sind es, doch im Buddhismus geht es nicht um sie. Wir sollten nicht denken, es wäre so und sollten die Dinge klar auseinanderhalten. Es gibt zahlreiche verschiedene Formen der Psychologie und vieles ist ausgesprochen hilfreich. Allerdings sollten wir sie nicht mit dem Buddhismus in einen Topf werfen und sie als buddhistische Lehren betrachten. Und wir sollten auch nicht meinen, der Buddhismus wäre nur eine andere Form der Psychologie oder lediglich Meditation. Damit würden wir ihn reduzieren und ihm nicht gerecht werden. Der Buddhismus ist viel mehr als das.

Sind Yidams lediglich menschenähnliche gute Eigenschaften? 

Mir ist es nicht leichtgefallen, einen Zugang zum Vajrayana oder zur Gottheiten-Praxis zu finden, und ich habe es mir so erklärt, dass man, wenn man diese abstrakten Qualitäten wie Mitgefühl und Weisheit entwickeln will, sie als menschenähnliche Eigenschaften sehen sollte, die in einer Gottheit dargestellt werden, in der wir sie erkennen oder auf die wir sie projizieren können. Es handelt sich also um eine Methode, mit der wir sowohl äußerlich als auch innerlich sehen, wie wir diese Qualitäten entwickeln können, indem wir einen Yidam mit diesen Eigenschaften ausstatten.  

Wie gesagt, kann man Yidams als eine Form von Infografiken, grafischen Darstellungen, betrachten, die Informationen vermitteln. Beispielsweise deuten vier Arme auf die vier Unermesslichen hin; vier Gesichter auf die vier Körper eines Buddhas; und die sechs Arme auf die sechs Paramitas, die sechs weitreichenden Geisteshaltungen. Sie sind eine Weise, Informationen zu vermitteln, durch die wir leichter an all die Punkte auf einmal denken können. Das ist nicht dasselbe, als würden wir Gott, den Schöpfer, als einen alten Mann mit einem weißen Bart vermenschlichen, der auf einem Thron sitzt. Es besteht ein Unterschied zwischen Gott, als einem alten Mann mit einem weißen Bart auf einem Thron, und einem Yidam. Wir sollten darüber nachdenken, welche Unterschiede es da gibt. Auch sollten wir beachten, dass ein Yidam kein persönlicher Gott ist, den wir verehren. Es ist nicht so, dass wir Chenrezig oder Tara anbeten und denken: „Tara, bitte errette mich.“ Es geht nicht um die Heilige Tara, das ist etwas anderes.

Das korrekte Verständnis und die Motivation für die Ngöndro-Praxis 

Manche Menschen sind fasziniert vom Vajrayana, wie zum Beispiel die Menschen der älteren Generation, die all die frühen Bücher über Tibet gelesen haben, von Alexandra David Neel und so weiter.

Die Hippie-Generation.

Ja, genau. Ich denke, da gibt es eine Tendenz, den tibetischen Buddhismus als etwas Magisches zu sehen. Ich merke jedoch auch, dass es da einen Widerwillen bei manchen Praktizierenden gibt, sich dem Vajrayana zuzuwenden, weil sie beispielsweise ein Missverständnis in Bezug auf die Yidams oder die Gelübde haben, die genommen werden. Wir müssen eine persönliche Beziehung zum Lehrer entwickeln und vielleicht fühlt es sich an, als würden wir damit unsere persönliche Freiheit verlieren. Da gibt es diesen riesigen Gipfel namens Ngöndro, den wir erklimmen müssen, nachdem wir ein wenig meditiert haben und manche Leute wollen das, glaube ich, mit Vajrayana umgehen. Dzogchen und Mahamudra hören sich schön an, weil wir uns einfach nur in den reinen Zustand des Geistes hinein entspannen müssen. Das klingt gut. Das fördert meiner Meinung nach jedoch ein wenig unsere Faulheit. Könnten Sie uns Veranstaltern einen Rat geben, wie wir den Vajrayana im Lehrplan vorstellen können? Wie sollten wir ihn präsentieren? Wie lange warten wir damit? Was ist die beste Möglichkeit, Menschen gegenüber die Möglichkeit zu eröffnen, Vajrayana zu praktizieren?

Wie gesagt ist es potenziell ziemlich gefährlich, sich übereilt mit Tantra zu beschäftigen. Die Menschen können alle möglichen bizarren und im Extremfall sogar schizophrene Vorstellungen haben, ganz zu schweigen davon, als Geister wiedergeboren zu werden und all diese Dinge. Wir müssen nicht auf dieser Ebene davon sprechen, aber es besteht die Gefahr, dass Menschen wirklich in eine Fantasiewelt abgleiten und meinen, sie wären tatsächlich dieser oder jener Yidam. Daher denke ich, dass das Hauptaugenmerk immer auf den grundlegenden Lehren, dem Lojong-Geistestraining und diesen Praxis-Formen liegen sollte. 

Wir sollten Ngöndro nicht als etwas präsentieren, durch das wir unsere Abgaben leisten, um dem Klub beitreten zu können. Vielmehr geht es, wie gesagt, darum, eine so unfassbare Gewohnheit zu haben, auf negative und schädliche Weise zu denken und zu handeln, dass wir durch Wiederholungen etwas Positives, eine positive Kraft, aufbauen müssen. Ansonsten wird in der Regel das Negative hochkommen. Daher müssen wir Dinge so viele Male wiederholen. Es ist so, als würden wir neue neuronale Pfade anlegen. 

Wenn Leute verstehen, warum sie Ngöndro ausführen, werden sie inspirierter sein, es in Angriff zu nehmen. Das ist die übliche Darstellung in all den buddhistischen Schriften, warum man irgendetwas im Dharma machen sollte. Betrachtet „Bodhicharyavatara, Eintritt in das Verhalten eines Bodhisattvas“ von Shantideva. Worum geht es im ersten Kapitel? Um die Vorzüge von Bodhichitta. Zunächst ist es notwendig, eine Erklärung über die Vorzüge von Bodhichitta zu bekommen und dann werden wir motiviert sein, tatsächlich zu versuchen, es hervorzubringen. Verstehen die Menschen in ähnlicher Weise die Vorteile davon, eine ordentliche Vorbereitung zu bekommen, werden sie gern Ngöndro ausführen. Ansonsten haben sie die Einstellung: „Hoffentlich bin ich bald damit fertig, damit ich mich endlich dem guten Zeug zuwenden kann.“ Ich glaube, das ist wirklich wichtig.

Außerdem wird Dzogchen laut Seiner Heiligkeit oft in der Form buddhistischer Propaganda präsentiert. Longchenpa und auch mein eigener Nyingma-Lehrer, der frühere Dudjom Rinpoche, haben deutlich gemacht, dass Mahayoga, Anuyoga und Atiyoga oder Dzogchen jeweils vollständige Praktiken sind, die ineinander enthalten sind. Vielleicht können wir Zugang zu Rigpa finden, aber es wird sich nicht in der Form eines Buddhakörpers manifestieren, wenn wir nicht zuvor eine Mahayoga-Praxis ausgeführt haben, in der die Betonung auf der Erzeugungsstufe liegt. Warum sollte sich Rigpa als die Erscheinung eines Buddhas manifestieren, wenn wir uns nicht als eine Buddha-Gestalt visualisiert haben? Haben wir die Pfade des Zentralkanals nicht durch die Tsa-lung-Praxis im Anuyoga mit den Kanälen und Energiewinden geölt, wird die Auflösung unserer groben Ebenen des Geistes und Windes nicht von selbst geschehen. Die Pfade müssen geölt werden, damit sich die groben Ebenen des Geistes und der Energiewinde automatisch auflösen, wenn wir uns auf Rigpa fokussieren. 

Daher ist der Unterschied zwischen Mahayoga, Anuyoga und Atiyoga nur eine Sache der Betonung. Ohne die Erzeugungsstufe können wir keine Ursache für den Formkörper eines Buddhas haben, ohne die Tsa-lung-Praxis können wir keinen glückseligen Geisteszustand eines Buddhas haben und ohne die Dzogchen-Praxis können wir kein Rigpa erlangen.

Die Dzogchen-Methode besteht nicht darin, sich einfach nur zu entspannen, worauf alles auf einmal geschehen wird und wir bereits ein Buddha sind. Die Methoden sollten richtig verstanden werden, denn es passiert ganz leicht, sie misszuverstehen. Die Menschen betrachten Dzogchen vielleicht als ein günstiges Angebot. Wird es richtig präsentiert, ist es fantastisch, doch das echte Dzogchen ist zweifellos nichts für Anfänger. 

Daher ist Geheimhaltung so wichtig. Dzogchen ist etwas Persönliches und sollte nicht öffentlich gemacht oder angepriesen werden. Einmal wurde Seine Heiligkeit der Dalai Lama über reine Visionen und Termas befragt. Man stellte ihm die Frage, ob es mehr davon in der Zukunft geben wird, worauf er antwortete: „Ja, es wird mehr geben.“ Warum? Wenn Praktiken sich zu weit verbreiten, zu öffentlich werden und ihre Erhabenheit verlieren – wenn es Kalachakra-T-Shirts und Kalachakra-Aschenbecher gibt – wenn Menschen also keinen Respekt mehr demgegenüber haben, wird, um es auf buddhistische Weise auszudrücken, Vajradhara eine andere reine Vision offenbaren. 

Es ist wichtig, sich das vor Augen zu halten: Dinge sollten geheim gehalten werden. Das ist etwas, was von uns Westlern wirklich missachtet wird. Zumindest was unsere eigene Praxis betrifft, sollten wir keine große Show daraus machen. Sie sollte heilig für uns sein und wir sollten sie respektieren. Andere sollten uns nicht fragen, was wir da tun und warum. Und wir sollten auch nicht den Vajra und die Glocke nehmen und sie unserem Kind zum Spielen geben. 

Wann man die Theorie des Tantra studieren sollte

Vielen Dank. Im Vajrayana gibt es so viele Dinge, die ich nicht wirklich verstehe, besonders was die Kanäle und die Winde betrifft. Mein Verständnis ist nicht wirklich groß, aber vielleicht habe ich auch nicht versucht, es zu verstehen. Momentan mache ich Ngöndro, was schon ziemlich lange dauert, aber die Hälfte habe ich in etwa fertig. Meine Frage ist, ob es auf dieser Stufe nützlich ist, zu versuchen, mich in die Theorie zu vertiefen, um Tantra tiefgreifender zu verstehen oder empfehlen Sie, dass es ganz allmählich nebenbei einhergehen sollte?

Alles hängt von dem Einzelnen ab. Manche Menschen haben eine große Kapazität, viele Dinge zu lernen, während es für andere eher verwirrend ist. Es muss wirklich ganz individuell je nach Kapazität entschieden werden und das wird dann weiterhelfen. Wir können einen Lehrer fragen, aber vielleicht kennt er uns nicht persönlich. Wir sollten nicht erwarten, dass der Lehrer ein allwissender Buddha ist. Den Lehrer als einen Buddha zu sehen, sollte man nie für wörtlich nehmen. Betrachten wir die Qualifikationen eines Lehrers, so steht nirgends geschrieben, dass er tatsächlich ein erleuchtetes Wesen sein muss. Wäre der Lehrer ein erleuchtetes und allwissendes Wesen, würde er die Telefonnummer eines jeden auf diesem Planten kennen. Ganz offensichtlich ist es also nicht wörtlich gemeint.

Man kann den Lehrer fragen, aber man sollte auch sein eigenes unterscheidendes Gewahrsein nutzen. Man sollte sich selbst und seine eigene Kapazität kennen. Hat man das Gefühl, dass es verwirrend und zu viel ist? Wenn man allen Wesen von Nutzen sein möchten, sollte man letztendlich alles wissen. „Es gibt nichts, worin sich ein Bodhisattva nicht schulen sollte.“ Das ist eine berühmte Aussage. 

Eine der Grundvoraussetzungen für das Empfangen einer tantrischen Initiation besteht darin, Glaube in die Tantra-Methode zu haben. Blinder Glaube wird nie im Buddhismus verlangt. Glaube bezieht sich hier auf zuversichtlichen Glauben auf der Grundlage von Wissen und logischem Denken. Um zu dieser Überzeugung zu gelangen, ist es notwendig, eine korrekte Erklärung der Tantra-Methode bekommen und sie verstanden zu haben. Die Methode muss einen Sinn für uns ergeben und gültig sein. Wenn sie keinen Sinn ergibt, geben wir sie vielleicht nach einer Weile auf, weil wir sie für verrückt halten. 

Daher ist es äußerst wichtig, die grundsätzliche Theorie zu kennen, bevor wir uns mit Tantra beschäftigen. Dann können wir überzeugt davon sein. Wir müssen keine großen Gelehrten werden, aber wir sollten eine allgemeine Vorstellung davon haben, worum es geht, damit wir nichts Merkwürdiges und Abergläubisches projizieren und Tantra für einen magischen Trick oder etwas in der Art halten.

Uns selbst und anderen nützen

Sie sagten, dass die Formkörper den Zweck der anderen erfüllen und dass der Dharmakaya den Zweck von uns erfüllt. Könnten Sie etwas mehr dazu sagen?

Warum würde ein Buddha erscheinen? Buddhas erscheinen nur, um anderen zu helfen. Daher manifestiert sich ein Buddha aus dem alleinigen Grund, anderen von Nutzen zu sein. Dabei sollten wir bedenken, dass ein Buddha in jeder Form erscheinen kann. In manchen Gebeten heißt es da beispielsweise: „möge ich eine Brücke sein“. Das sind die Formkörper. Es gibt eine besondere Art des Formkörpers, den Sambhogakaya, um Arya-Bodhisattva zu helfen, sowie verschiedene Arten von Emanationen, Nirmanakayas, um anderen Arten von Wesen zu nützen. Formkörper sind anderen von Nutzen, indem sie so etwas wie eine Brücke, ein Bodhisattva oder diese Yidams sind, die als eine Methode der Praxis dienen.

Was ist nun der eigene Zweck eines Buddhas? Er besteht darin, einen allwissenden Geist – ein Dharmakaya des tiefen Gewahrseins – mit dem ganzen Satz wahrer Beendigungen aller Schleier zu haben, sowohl der emotionalen, welche die Befreiung verhindern, als auch der kognitiven, welche die Allwissenheit verhindern. 

Es gibt zahlreiche unterschiedliche Erklärungen des anderen Dharmakaya-Aspektes, des Körpers der essentiellen Natur, des Svabhavakayas, doch eine von ihnen lautet, dass er die Leerheit des Geistes eines Buddhas und die wahren Beendigungen dieses Geistes ist. Wenn diese zwei Sätze von Schleiern für immer beseitigt sind, erfüllt dies den eigenen Zweck des Buddhas, Erleuchtung zu erlangen, erleuchtet zu werden, um allen anderen zu helfen. 

Svabhavakaya kann auch als die Untrennbarkeit all der anderen Buddhakörper erklärt werden, was ebenfalls die eigenen Zwecke eines Buddhas erfüllt. Da der eigene Zweck eines Buddhas darin besteht, allen Wesen zu nützen, kann dies nur erfolgen, wenn er gleichzeitig Formkörper und einen Dharmakaya hat, die untrennbar voneinander sind.  

Es wird auch gesagt, dass der Zweck, sich selbst in diesen Yidam-Formen zu visualisieren, darin besteht, anderen zu nützen. Tut man das, indem man Dinge beispielsweise miteinander verwebt?

Ja, und sie nützen auch anderen, indem sie ihnen eine Methode bieten, enger mit dem Resultat zu praktizieren, das sie erlangen wollen, also Formkörper zusammen mit einem Dharmakaya. 

Wie nützt es anderen, sich selbst als einen Yidam zu visualisieren?

Ist das die Methode, Yidams zu visualisieren? Sie sind doch ein Symbol der Kaya-Formen oder nicht? Das verwirrt mich. Können Sie vielleicht etwas dazu sagen? Sie haben damit begonnen zu fragen, warum wir uns selbst so visualisieren sollten und ich hatte den Eindruck, dass die Motivation darin bestehen sollte, anderen von Nutzen sein zu können. Wie hilft es anderen, sich selbst in diesen Formen zu visualisieren?

Was zunächst Sambhogakaya und Nirmanakaya im Tantra betrifft, so wird Sambhogakaya mit der erleuchtenden Rede eines Buddhas identifiziert, während der Nirmanakaya mit dem erleuchtenden physischen Körper eines Buddhas identifiziert wird. Daher beziehen wir sie hier beide mit dem Visualisieren des Yidams und dem Mantra ein. 

Wie nützen wir anderen? Zum einen können wir es in der Meditation tun, wo wir uns vorstellen können, in diesen Formen anderen zu helfen, doch dann ist es notwendig, tatsächlich etwas zu tun, um anderen von Nutzen zu sein. Kommt zum Beispiel jemand mit einem schwierigen Problem zu uns und legt es uns dar, berührt es uns vielleicht gar nicht und stört uns nur, wenn wir uns in unserer gewöhnlichen Form als unser gewöhnliches Selbst sehen. Eventuell haben wir das Gefühl, es ist einfach zu komplex oder wir verstehen es nicht richtig. 

Lösen wir dieses negative, gewöhnliche Selbstbild mit unserem Verständnis der Leerheit auf, erkennen wir, dass es nicht der Realität entspricht und aufgrund zahlreicher Ursachen und Bedingungen, wie Faulheit oder was auch immer, entstanden ist, jedoch nicht von Natur aus, selbst-begründet, festgelegt und ewig in uns existiert. Wir können dieses negative Selbstbild, am besten sofort, auflösen und uns stattdessen vorstellen, als Chenrezig zu erscheinen – wir besitzen Mitgefühl – oder als Manjushri – wir haben einen klaren Geist, um das Problem zu verstehen. Uns selbst daran zu erinnern, diese Yidams zu sein, und tatsächlich jemandem zu helfen, während wir uns dies vergegenwärtigen, verleiht uns eine viel stabilere Basis dafür. Wir helfen nicht nur auf der Grundlage, es nicht wirklich so zu empfinden, sondern weil es unsere Pflicht ist, ein guter Buddhist zu sein. 

Auf diese Weise wenden wir die Yidam-Praxis im täglichen Leben an, denn hier ist sie im Grunde wichtig. Natürlich stellen wir uns in der Meditation vor, dass zum Wohle aller Wesen Lichter ausgestrahlt werden, doch damit proben wir nur das, was wir eigentlich tun wollen. Es geht nicht darum, einen magischen Trick aufzuführen und eine leidende Person zu treffen, uns Lichter vorzustellen, die zu ihr ausstrahlen, aber nicht wirklich etwas zu tun, obwohl wir dazu in der Lage wären. Wir sitzen nicht einfach nur mit einem breiten Grinsen da, sondern müssen aktiv sein. Natürlich gibt es Menschen und Tiere, denen wir nicht wirklich helfen können und daher sollten wir diese Übung des Aussendens von Lichtern nicht ablehnen, mit denen wir ihre Leiden beseitigen. Doch wir sollten es mit reinem Mitgefühl und dem Gebet tun, schließlich dazu in der Lage zu sein, ihre Leiden zu mindern.

Die Yidam-Praxis im täglichen Leben hilft uns, auf die guten Eigenschaften, wofür wir die Potenziale haben, zuzugreifen und verleiht uns den Mut, sie tatsächlich zu nutzen. Wenn ich beispielsweise etwas nicht verstehe, was ich gerade übersetze, oder wenn ich versuche herauszufinden, wie ich etwas klar ausdrücken kann, mache ich eine Pause und rezitiere viele Manjushri-Mantras mit verschiedenen Visualisierungen.  Das ist mir eine große Hilfe, wenn ich einen klaren Geist haben will und mich nicht nur mit der Verwirrung darüber identifizieren möchte, was ich nicht verstehe, sowie dem Gefühl, es nicht hinzubekommen. Das zu tun, ist sehr erhebend. „Der Geist ist klar; ich möchte einen klaren Geist haben: ich habe einen klaren Geist.“ Die ganze Geisteshaltung hat sich geändert und normalerweise sind wir dann in der Lage, es besser zu verstehen.

Das gleiche gilt für Mitgefühl in einer schwierigen Situation in der Familie oder bei der Arbeit. Wir können darüber nachdenken, wie furchtbar es ist und uns entmutigen lassen. Visualisieren wir jedoch Chenrezig, rezitieren das Mantra OM MANI PADME HUM und denken an Mitgefühl, erfüllt uns das mit Inspiration. Wir beginnen, etwas zu empfinden und dann können wir mehr Mitgefühl gegenüber der Situation und den Menschen in dieser Situation entwickeln. Das kann man ausgesprochen effektiv nutzen.

Lojong und Geistestraining

Meine Frage bezieht sich darauf, sich den Mitgliedern der Gemeinschaft zuzuwenden und voneinander zu lernen. Wir können von ihnen lernen, aber uns auch gegenseitig verwirren. Können Sie etwas aus ihrer persönlichen Erfahrung und Erkenntnis darüber sagen, wie wir etwas lernen können, wenn wir anstreben, eine edle Sangha zu sein?

Seht euch die Lehren des „Lojong“, des Geistestrainings an. Sie sind eine perfekte Anweisung, wie man das tun kann. Wenn jemand uns beleidigt oder kränkt, betrachten wir ihn oder sie als unseren Lehrer in Geduld usw. Da gibt es all diese Verse, sowohl in den „Acht Versen des Geistestrainings“, als auch in den „37 Übungen der Bodhisattvas“. Vielleicht sind die Informationen, die wir von anderen in der Gemeinschaft bekommen, vollkommen verrückt. Das wollen wir bestimmt nicht von ihnen lernen und so sollten wir herausfinden, ob die Person eine gültige Quelle der Informationen ist oder nicht. Ist sie keine gültige Quelle der Informationen, glauben wir nicht einfach, was sie sagt, sondern überprüfen es. Sogar wenn das, was andere uns sagen, falsch ist, können sie trotz allem wunderbare Lehrer für uns sein, nicht nur in Geduld, sondern auch in der Notwendigkeit, alles selbst zu analysieren.

Wie im Dharma gesagt wird, kann jeder unser Lehrer sein. Wir können auch von einem Hund lernen. Der Hund kann sich einfach hinlegen und schlafen, ganz egal wo er gerade ist. Er ist nicht wählerisch und braucht nichts Besonderes. Der Hund liebt uns und folgt uns, egal wie sehr wir mit ihm schimpfen. Er ist uns treu und ergeben; ein Hund kann uns eine Menge lehren. 

Wie wir aus den Anweisungen über die gesunde Beziehung zu einem spirituellen Lehrer hören, ist es notwendig, sich auf die guten Eigenschaften von jemandem zu richten und nicht auf die schlechten. Die schlechten Eigenschaften von jemandem zu kritisieren und sich über sie zu beschweren, wird uns nur bedrücken und keinerlei Nutzen haben. Das bedeutet nicht, sie zu verdrängen, doch wir sollten uns nicht auf sie konzentrieren. Die positiven Eigenschaften von anderen zu sehen, kann uns inspirieren, sie in uns selbst zu entwickeln. Sehen wir genau hin, hat jeder ein paar positive Eigenschaften, und auf sie sollten wir uns fokussieren.

Damit kommen wir zu einem Ende. Vielen Dank für diese Möglichkeit, ein paar Gedanken mit euch zu teilen. Wie Seine Heiligkeit zu sagen pflegt: Wenn es etwas Nützliches gab, könnt ihr dem gern weiter nachgehen, und wenn nicht, vergesst es ganz einfach.

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