Missverständnisse bezüglich Tantra
Die Vorstellung, Tantra oder Dzogchen seien einfache Wege zur Erleuchtung
Es gibt viele Missverständnisse hinsichtlich Tantra. Oft kommen diese Missverständnisse durch geschickte Werbung zustande. Viele tibetische und westliche Lehrer preisen – aus welchen Gründen auch immer – Tantra oder Dzogchen als „den einfachen Weg“, „den schnellen Weg“, „den höchsten Weg“. Durch solche Anpreisungen bekommen Schüler einen falschen Eindruck und denken, Tantra und Dzogchen wären tatsächlich einfach.
Warum fühlen sich die Menschen zu diesen Praktiken hingezogen, von denen sie meinen, dass sie schnell und einfach seien? Wie einer meiner Lehrer hervorhob, könnte es entweder sein, weil sie faul sind und keine Anstrengung investieren wollen, oder sie wollen ein Schnäppchen machen. Als gelte es, Erleuchtung besonders günstig zu kriegen - so wie man beim Einkaufen in einem Laden nach Sonderangeboten Ausschau hält. Oft haben wir eine solche Einstellung, wenn wir uns verschiedene Dharma-Methoden anschauen: „Was gibt‘s diese Woche im Angebot?“
Tatsächlich aber sind Tantra und Dzogchen äußerst subtile, schwierige Praktiken, die ein enormes Maß harter Arbeit erfordern. Gleich zu Anfang wird in allen diesen Praktiken betont, dass man zunächst einmal vorbereitende Übungen, so genannte „Ngöndro“, durchführen muss, z.B. 100.000 oder noch mehr Niederwerfungen usw. Das ist nicht besonders einfach – es kann Jahre dauern!
Die Vorstellung, es würde Wunder wirken, 100.000 Niederwerfungen zu machen
Und selbst, wenn wir zustimmen, dass wir diese vorbereitenden Übungen wie z.B. Niederwerfungen machen müssen, ist es ein weiteres Missverständnis, zu glauben, sie würden Wunder wirken. Auch diese Vorstellung kann durch Anpreisung hervorgerufen worden sein oder auch einfach durch unsere eigene Überschätzung der Macht dieser Vorbereitungen. „Ich bin so verzweifelt. Sagen Sie mir doch, was ich tun soll. Gut, ich werfe mich 100.000mal zu Boden, wiederhole 100.000mal bestimmte Silben in einer fremden Sprache, und dann werden alle meine Probleme verschwinden. Prima, das mache ich.“ Das ist ein Missverständnis. Aus Verzweiflung lässt man sich darauf ein und erwartet, dass am Ende irgendein Wunder geschieht. Doch das ist nicht der Fall. Dann sind wir total enttäuscht von den Dharma-Übungen.
Natürlich können Reinigungsübungen wirksam sein, aber sie sind nicht effektiv, wenn der Geist 99% der Zeit über abgelenkt ist, man nicht auf das konzentriert ist, was man tut, und der Übung kein entsprechendes Gefühl oder Verständnis zugrunde liegt. Oder wenn man keine starke, angemessene Motivation hat. Damit diese Praktiken wirken können – und selbst wenn sie wirken, vollbringen sie keine Wunder -, müssen sie auf richtige Weise durchgeführt werden, mit voller Konzentration, umfassender, angemessener Motivation, dem tief und aufrichtig empfundenen Gefühl, seinem Leben eine sichere Richtung zu geben (Zuflucht zu nehmen), und zwar mit gutem Verständnis, was das bedeutet, usw. Das ist nicht einfach, oder?
Auch ist es ein Fehler, nach Abschluss der 100.000 Wiederholungen zu denken: „Nun habe ich meine Pflicht erfüllt, jetzt kommen die guten Sachen“. Solch eine Einstellung beinhaltet, dass man die vorbereitenden Übungen fast widerwillig hinter sich bringt, als müsste man quasi eine Art Eintrittsgeld bezahlen. Man sieht nicht den eigentlichen Wert, den sie für sich haben, nämlich negative Potenziale zu bereinigen und eine gewisse positive Kraft zu entwickeln, z.B. indem man seinem Leben wieder und wieder die positive Richtung gibt, die durch Buddha, Dharma und Sangha angezeigt wird: „Das ist die Richtung, die ich einschlage.“ Oder immer wieder Bodhichitta entwickelt. Diese Art vorbereitender Übungen ist überaus hilfreich.
Ngöndro-Praktiken ohne grundlegendes Verständnis des Dharma vorzeitig durchführen
Was diese vorbereitenden Übungen, Ngöndro, betrifft, so ist es ein Fehler, sie durchzuführen, bevor man auch nur ein grundlegendes Verständnis des Buddhismus hat, und sie deshalb für etwas zu halten, das sozusagen unsere Sünden bereinigt. In den westlichen Ländern geschieht es manchmal, dass man zu einem Lehrer geht und sofort, noch vor irgendwelchen Unterweisungen und bevor man irgendein Verständnis gewonnen hat, gesagt bekommt: „Machen Sie 100.000 Niederwerfungen!“ Und erstaunlicherweise tun die Leute das dann tatsächlich.
Man fragt sich: „Warum tun sie das eigentlich?“ Normalerweise geschieht es aus Verzweiflung, sie denken, dadurch wird sich irgendein Wunder ereignen. Oder sie lassen sich darauf ein wie auf eine Art Kult, sie geben die Verantwortung für ihr Leben ab und gehorchen einfach einem starken Lehrer, wie beim Militär. Auch das ist ein Fehler: zu denken, dass die Beziehung zum Lehrer so ähnlich wäre wie zu einem Vorgesetzten beim Militär, dem man fraglos gehorcht.
Es ist jedoch sehr wichtig, die Kritikfähigkeit nicht zu verlieren. Seine Heiligkeit betont das immer wieder: Seien Sie kritisch. Das bedeutet nicht, zu mäkeln und zu bemängeln, obwohl das Wort „kritisieren“ ähnlich klingt. „Kritisch zu sein“ bedeutet vielmehr, zu prüfen, was vor sich geht. „Kritisieren“ hat den Beiklang, mit arroganter Herablassung eine etwas aggressive, ablehnende Haltung einzunehmen in der Einstellung: „Ich bin ja viel besser, und Sie sind grauenhaft“. Wenn wir die Ngöndro-Praktiken durchführen wollen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir eine Grundlage dafür haben, dass wir verstehen, was wir da tun und warum wir es tun. Und das heißt nicht nur die Einzelheiten umfassender Visualisierungen zu verstehen, sondern uns auch darüber im Klaren zu sein, welchen Geisteszustand wir hervorzubringen und in uns zu verwurzeln versuchen.
Vorzeitig mit Tantra-Praxis beginnen
Das weist zugleich auf ein größeres Missverständnis hin, nämlich die Tendenz, sich vorzeitig auf Tantra-Praxis einzulassen - auch wenn wir sie mit Ngöndro beginnen. In den Traditionen, in denen ein starkes Gewicht auf Ngöndro gelegt wird, gibt es z.B. ein gemeinsames bzw. allgemeines Ngöndro, das aus den vier Gedanken besteht, welche den Geist dem Dharma zuwenden. Damit werden im Grunde die Lamrim-Themen (die Themen des Stufenweges) abgedeckt. Erst danach kommen die außergewöhnlichen, speziellen Ngöndro-Übungen, die aus den Niederwerfungen usw. bestehen. Die gemeinsamen vorbereitenden Übungen (die grundlegenden Lam-Rim-Lehren) zu überspringen, zu bagatellisieren oder für geringfügig zu halten und einfach gleich zu den Niederwerfungen usw. überzugehen, führt oft zu einer sehr unrealistischen Einstellung gegenüber den Niederwerfungen, den Rezitationen des 100-Silben-Mantras usw. Nach einer Weile beginnt man sich zu fragen: „Warum um alles in der Welt tue ich das eigentlich? Wozu soll das gut sein?“ Doch wenn wir uns vorher zumindest in gewissem Maße über die Bedeutung davon im Klaren sind, nämlich positive Kraft zu entwickeln und negatives Potenzial zu beseitigen (oder zumindest zu verringern), weil wir eine bestimmte Art von spirituellem Ziel erreichen wollen, dann ergeben die vorbereitenden Übungen einen Sinn.
Das Problem besteht also nicht nur darin, sich zu früh auf das Ngöndro einzulassen, sondern vorzeitig mit Tantra anzufangen. Warum geschieht das so häufig? Möglicherweise kommt es dazu, weil ein Lama eingeladen wurde, um Initiationen zu erteilen, obwohl die Gruppe noch nicht so weit ist, dass sie die entsprechenden Praktiken ausüben kann. Oder Lamas, die eingeladen wurden, bieten von sich aus Initiationen an, selbst wenn die Zuhörer größtenteils noch nicht darauf vorbereitet sind. Wir sind also nicht ganz allein verantwortlich für dieses Missverständnis der Überbetonung von Tantra und dafür, dass die Präsentation und Praxis von Tantra für die meisten Leute zu früh stattfindet.
Warum bitten wir um eine Initiation? Dafür kann es viele Gründe geben. Vielleicht denken, wir, dass das etwas sehr Erhabenes ist: „Das sind jetzt die echten Sachen.“ Es ist etwas Exotisches. Oder die Leiter des Dharma-Zentrums meinen, dass so etwas mehr Leute anzieht, was bedeutet, dass mehr Geld eingenommen wird, sodass der eingeladene Lehrer tatsächlich bezahlt werden und das Zentrum unterstützt werden kann. Es können finanzielle Gründe dahinterstehen, und es ist sehr unschön, dass das vorkommt.
Der Lehrer selbst könnte motiviert sein von Gedanken wie „Nun ja, sie werden nicht praktizieren, aber es werden Samen für zukünftige Leben gesät.“ Allerdings glauben die meisten Westler nicht an zukünftige Leben; also besteht auch hier wieder ein Missverständnis. Möglicherweise wissen die Lehrer auch nicht so genau, dass die Westler gar nicht den entsprechenden Hintergrund haben, um wirksam Tantra praktizieren zu können. Oder sie werden gedrängt, Spenden zu sammeln, um das Kloster und die Mönche in ihrer Heimat zu unterstützen.
Es kann viele Gründe geben, um Initiationen zu ersuchen, und auch dafür, dass ein Lehrer Initiationen vorschlägt. Aber es wird immer geraten, einen Lehrer, der zu Besuch ist, um die grundlegenden Lehren zu bitten. Und wenn wir uns für fortgeschrittene Lehren interessieren, ist es eher angemessen, um die fortgeschrittenen Lehren des Sutra zu bitten, also anspruchsvolle Unterweisungen zu Bodhichitta, zur Leerheit usw.
Die Vorstellung, wir seien darauf festgenagelt, die Praxis auszuüben, wenn wir vorzeitig eine tantrische Einweihung erhalten haben
Es ist eine Tatsache, dass zahlreiche Menschen tantrische Einweihungen erhalten, bevor sie ausreichend vorbereitet sind, die Praxis auszuüben. Doch etliche haben das Gefühl, wenn sie die Praxis aufgeben, seien sie schlechte Buddhisten und würden in die Hölle kommen. Deshalb versuchen sie die Praxis aufrechtzuerhalten, wenn auch fast ohne zu verstehen, was sie da tun oder warum sie es tun, und dann entwickeln sie bald eine widerwillige Einstellung zu ihrer Praxis. Es ist jedoch ein Fehler, anzunehmen, man hätte nur die Wahl zwischen qualvoller Übung oder den Qualen der Hölle.
Serkong Rinpoche gab solchen Menschen einen sehr hilfreichen Rat. Er sagte, in solchen Fällen solle man den Erhalt der Initiation so betrachten, dass dadurch im eigenen geistigen Kontinuum Samen für die Zukunft gesät wurden. Wenn man nach aufrichtiger Selbstprüfung zu dem Schluss kommt, dass man noch nicht bereit ist, die Praxis auszuüben, solle man sich vorstellen, dass man die Texte oder Symbole der Praxis oben in ein Regal im eigenen Geist platziert - mit gebührendem Respekt und in der ehrlichen Absicht, sie von dort wieder herunterzuholen und auszuüben, wenn man besser darauf vorbereitet ist.
Die Vorstellung, wir könnten Befreiung oder Erleuchtung erlangen, ohne körperliche Bedürfnisse, insbesondere den Drang nach Sex zu überwinden
Ebenfalls ein Missverständnis ist es, zu denken, wir könnten Befreiung oder Erleuchtung erlangen, ohne körperliche Bedürfnisse, insbesondere den Drang nach Sex zu überwinden. Das ist ein ausgesprochen schwieriger Punkt. Zwar stimmt es, dass es im Tantra möglich ist, auf fortgeschrittenen Stufen Begierde und sexuelle Energie zu nutzen, um sich davon zu befreien, aber das funktioniert nur, wenn wir äußerst fortgeschrittene Stufen erreicht und Kontrolle über unser subtiles Energiesystem erlangt haben. Es ist ein schwerwiegender Fehler, Tantra als Methode für exotischen Sex anzusehen. Wir streben danach, Befreiung zu erlangen. Befreiung bedeutet Befreiung von dieser Art physischem Körper mit all seinen biologischen Trieben usw. Wir wollen die Art von Körper erlangen, die ein befreites oder erleuchtetes Wesen hat: bestehend aus Licht und nicht diesen biologischen Beschränkungen unterworfen ist. Oft wollen wir Befreiung und Erleuchtung sozusagen möglichst billig bekommen, ohne diese Art körperlichen Vergnügens aufzugeben. Das ist eine Fehleinschätzung.
Die Vorstellung, dass das Wichtigste an der Tantra-Praxis die korrekte Visualisierung aller Einzelheiten sei
Wenn wir uns mit Tantra beschäftigen und Unterweisungen möchten, wie wir praktizieren sollen, ist es ein weiteres Missverständnis zu denken, dass die Hauptsache der Praxis die Visualisierungen seien, und uns allzu viel Sorgen darüber machen, wie wir all die kleinen Einzelheiten richtig hinkriegen. Mein Lehrer Serkong Rinpoche machte sich über dieses Missverständnis der Westler lustig und nannte oft ein Beispiel: „Die Leute kommen zu mir und fragen, ob Yamantaka oder Vajra Yogini einen Bauchnabel haben. Das ist lächerlich, es geht am Wesentlichen vorbei, worum es bei diesen Praktiken eigentlich geht.“
Natürlich brauchen wir all die Einzelheiten, wenn wir 100% zielgerichtete Konzentration usw. entwickeln wollen, aber sie sind nicht das, was man anfangs betont oder in den Mittelpunkt stellt. Was man braucht und worauf man zunächst die Aufmerksamkeit richten sollte, ist, ein grundlegendes Verständnis dessen, was Tsongkhapa „die drei Hauptaspekte des Pfades“ nannte, und darauf, wie diese im Zusammenhang mit der tantrischen Praxis stehen, sich selbst in Form einer Buddha-Gestalt zu visualisieren, z.B. als Chenrezig oder Tara. Diese drei Hauptaspekte sind:
- Entsagung: die Entschlossenheit, frei zu sein – das Festhalten an unserer gewöhnlichen Erscheinung aufgeben und aufhören zu glauben, wir und alles andere würden auf wahrhafte, in sich selbst begründete Weise existieren.
- Bodhichitta: Unser Ziel ist, Erleuchtung zu erlangen. Die Buddha-Gestalten repräsentieren unsere eigene zukünftige Erleuchtung, die wir erreichen wollen. Um den Prozess, dort hinzugelangen, zu beschleunigen, stellen wir uns vor, dass wir schon da sind. Warum sollte man sich vorstellen, dass man diese Form annimmt und all die Aktivitäten zum Nutzen anderer ausführt, wenn nicht motiviert von Bodhichitta? Wir möchten so sein wie diese Gestalten, um anderen zu helfen.
- Leerheit: Wir verstehen, dass wir jetzt nicht wahrhaft in Form dieser Gestalten existieren, aber wir haben das Potenzial, ein Buddha zu werden - das, was diese Gestalten symbolisieren. Doch wir wissen auch, dass wir, um Erleuchtung zu erlangen, Anstrengungen aufbringen müssen. Mit anderen Worten: Wir verstehen, dass Leerheit und die Art, wie Ursache und Wirkung funktionieren, zusammengehören. Wir machen uns nicht vor, dass wir jetzt tatsächlich Tara wären – ebenso wenig wie Kleopatra.
Wenn wir um Unterweisungen zu Tantra bitten, sollte sichergestellt werden, dass es Unterweisungen in diesem Sinne sind. Das ist es, worauf wir den Schwerpunkt legen müssen: worum es bei all den tantrischen Praktiken geht, und was wir versuchen, damit zu erreichen. Deswegen brauchen wir zuvor all die Vorbereitungen und brauchen uns nicht um all die winzig kleinen Einzelheiten der Visualisierung zu sorgen – wie nun der Schmuck genau aussieht und so etwas. Zwar gibt es Unterweisungen dazu, wie er aussieht, aber das sollte nicht im Vordergrund stehen, insbesondere nicht am Anfang.
Interessant ist: Anlässlich der Kalachakra-Initiation in Toronto 2004 lehrte seine Heiligkeit als Vorbereitung einen von Nagarjunas Texten zur Leerheit, die „Wurzelverse zum mittleren Weg, genannt ,Unterscheidendes Gewahrsein‘“. Dann erst erteilte er die Initiation. Es war auffällig, dass bei der Initiation viel mehr Leute anwesend waren als während der Erklärungen zur Leerheit. Seine Heiligkeit erwähnte daraufhin, dass er diejenigen Zuhörer, die nur zu den Lehren von Nagarjuna gekommen waren und nicht zur Initiation dablieben, wirklich mehr schätze als diejenigen, die es umgekehrt machten, also die anfänglichen, grundlegenden Lehren übersprangen und bloß zur Einweihung kamen. Das war sehr vielsagend.
Die Buddha-Gestalten als Heilige ansehen, zu denen wir um Segen beten
Im Zusammenhang mit den Tantra-Praktiken herrscht oft auch die irrige Einstellung, die Buddha-Gestalten, die Yidams, seien eine Art Heilige, zu denen wir um Hilfe beten – Sankt Tara, Sankt Chenresig usw. –, und sie zu vergöttern. Dieses falsche Verständnis kommt nicht nur bei Westlern vor; viele traditionelle Buddhisten glauben das ebenfalls, allerdings nicht in dem Sinne wie an christliche Heilige. Wichtig ist, sich klarzumachen, dass die Gestalten uns inspirieren können, ebenso wie auch Buddhas und die Meister der Überlieferung, aber die Arbeit, so zu werden, müssen wir schon selbst tun.
Einige dieser Missverständnisse, wenn wir uns den Bittgebeten mit bestimmten Ansinnen an die verschiedenen spirituellen Meister und Buddha-Gestalten wenden, rühren aus einem Übersetzungsproblem her. Zuerst einmal ist schon das Wort „Gebet“ mit der Konnotation behaftet, zu Gott zu beten, etwa im Sinne von: „Gott, schenk mir das, worum ich bete“. Oder es ist wird mit der Bedeutung verbunden, man bete zu einem Heiligen, der ein Mittler zu Gott ist, damit Gott einem etwas zukommen lässt. Das ist eine Bedeutungsübertragung aus dem Christentum und entspricht nicht der buddhistischen Bedeutung.
Worum wir in diesen so genannten „Gebeten“ ersuchen, ist etwas, das auf Tibetisch „chin-gi-lab“ (byin-gyi rlabs) genannt wird, und das wird normalerweise als „Segen“ übersetzt wird. In der Übersetzung heißt es dann: „Segne mich, dass ich dies tun kann, jenes tun kann“ usw., als wenn das, was wir brauchen, die Macht dieser Gestalten wäre, herbeizukommen und uns zu segnen und wir dadurch plötzlich alle möglichen Erkenntnisse und Verwirklichungen erlangen. Das ist nicht Buddhismus.
Die Übersetzung als „Segen“ bewirkt eine irreführende Konnotation, die völlig anders ist als das, was der Begriff tatsächlich bedeutet. Der tibetische Ausdruck bedeutet wörtlich: erheben und erhellen. Das ursprüngliche Sanskrit-Wort, Adhisthana, bedeutet: jemanden oder etwas in einen höheren Zustand zu versetzen, zu erheben. Ich übersetze es daher lieber als „inspirieren“. Wir ersuchen den Buddha, die spirituellen Meister, die Buddha-Gestalten, uns dazu zu inspirieren, diese oder jene Erkenntnis zu erlangen. Aber diese Gestalten können uns nicht von ihrer Seite aus, nur durch ihre eigene Kraft, unsere Wünsche erfüllen und alles für uns tun, während wir uns ihnen nur unterwerfen müssen. Das ist wieder unsere Bedeutungs-Interpretation, die Projektion einer westlichen Vorstellung auf den Buddhismus. Das Hauptgewicht liegt immer darauf, dass wir die Arbeit selbst tun müssen. Die Buddhas, die spirituellen Meister können uns inspirieren, sie können uns lehren, uns anleiten, aber sie können uns nicht die Arbeit abnehmen. Verstehen müssen wir selbst.
Missverständnisse hinsichtlich Beschützern
Ein ähnliches Missverständnis besteht darin, die so genannte Schützer-Praxis überzubewerten. Dies geschieht oft in Dharma-Zentren, in denen jede Woche oder jeden Monat eine Schützer-Praxis in der Gruppe stattfindet. Selbst Neuankömmlinge werden gern willkommen geheißen, daran teilzunehmen, ohne dass sie die geringste Ahnung haben, was sie eigentlich tun. Leute, die in diese Situation geraten, sehen dann oft diesen „Schützer“ als jemanden an, der uns (wie der Name nahelegt) vor allen Hindernissen und Gefahren beschützen wird. Dabei verlieren sie aus dem Blickfeld bzw. erkennen überhaupt nicht, dass wir uns selbst schützen müssen, nämlich im Zusammenhang mit Karma und Zufluchtnahme.
Zuflucht heißt, dass wir die sichere Richtung einschlagen, die durch Buddha, Dharma und Sangha angezeigt wird, um zu verhindern, dass wir schlimmerer Wiedergeburten annehmen. Das ist die Motivation der anfänglichen Stufe des Lam-rim. Es ist nicht so, dass wir zu einem Beschützer gehen, um schlimmere Wiedergeburten zu verhindern. Das wird nirgends in den Lehren gesagt, oder? Dafür orientiert man sich an Buddha, Dharma und Sangha, aber diese schützen uns nicht in dem Sinne, dass sie uns erretten. Sie lehren uns, was zu tun ist, um verheerende Wiedergeburten zu vermeiden. Tun müssen wir es selber. Sie geben uns ein Vorbild. Und was Karma betrifft: Wir schützen uns selbst vor schlimmeren Wiedergeburten, indem wir destruktives Verhalten vermeiden.
Was heißt es, die sichere Richtung von Buddha, Dharma und Sangha einzuschlagen? Die sichere Richtung wird in erster Linie vom Dharma angezeigt, und zwar vom tiefgründigsten Dharma-Juwel – das bezieht sich auf die dritte und die vierte edle Wahrheit. Die dritte edle Wahrheit ist die wahre Beendigung der Ursachen für Leiden, und damit die Beendigung von Leiden. Die vierte edle Wahrheit ist der wahre Pfad bzw. die Geisteszustände, die wahre Pfade sind. Sie führen zu dieser wahren Beendigung, der Erkenntnis der Leerheit und auch zu dem wahren Verständnis, das aus der Beendigung resultiert. Diese beiden edlen Wahrheiten sind in vollem Ausmaß im geistigen Kontinuum der Buddhas vorhanden und teilweise im geistigen Kontinuum des Arya-Sangha. Das ist die Richtung, in die wir gehen, um auch so zu werden und selbst das zu erreichen, was sie erreicht haben. Dadurch schützen wir uns vor Leiden. Das Sanskrit-Wort „Dharma“ entspringt der Wurzel „(sich) zurückhalten“. Dharma bezieht sich auf die vorbeugenden Maßnahmen, die wir ergreifen, und die uns zurückhalten, sodass wir Leiden verhindern.
Beschützer können das nicht für uns erledigen. Ein Beschützer ist so etwas wie eine Verstärkung. Im Grunde kann man Beschützer auf vielerlei Weise betrachten. Serkong Rinpoche erklärte sie oft, indem er sagte, dass sie einem großen bösen Hund gleichen. Er sagte, wenn man sich als eine Gottheit im Mittelpunkt eines Mandalas befindet – sagen wir, des Mandalas von Yamantaka, einer wirklich kraftvollen Gottheit –, müsse man die Kraft haben, diese Beschützer im Zaum zu halten, die man in sein Mandala ruft, damit sie einem dienen. Zwar könnte man sich auch selbst an die Tür stellen und Einbrecher vertreiben, aber warum sollte man das tun, wenn man einen Hund hat, der das macht? Aber man muss der Herr im Hause bleiben, man muss ihn lenken. Also selbst, wenn wir an Bechützer in dem Sinne denken, dass sie uns helfen, Störenfriede und Räuber zu vertreiben usw., sind wir diejenigen, die grundsätzlich die Kontrolle über all das haben.
Wenn wir Beschützer als tatsächliche Lebewesen ansehen, als Geister oder was auch immer – was die Tibeter tun –, besteht die einzige Möglichkeit, wie sie uns helfen können, darin, Umstände dafür zu schaffen, dass unser eigenes Karma reift. Wenn wir keine karmischen Potenziale entwickelt haben, die reifen können, wird das, was die Beschützer tun, uns nichts nützen. Dasselbe gilt für das Durchführen von Medizin-Buddha-Pujas und dergleichen. Sie sind nicht die Ursachen dafür, dass es uns besser geht; sie sind nur Umstände dafür, dass unser eigenes positives karmisches Potenzial reift. Im Zusammenhang mit Beschützern ist manchmal noch ein etwas anderer Vorgang beteiligt. Ihre Hilfe kann in der Form stattfinden, dass sie Umstände dafür schaffen, dass unsere negativen karmischen Potenziale sich auf sehr geringfügige Weise auswirken und dabei schwerwiegendere Hindernisse wegbrennen, die wir sonst in Zukunft erlebt hätten und die verhindert hätten, dass unser Vorhaben gelingt. Beschützer-Rituale können auf vielerlei Weise wirken.
Aber der Fehler bzw. das Missverständnis, um das hier geht, besteht darin, die Schützer-Praxis überzubetonen und statt Buddha, Dharma und Sangha die Beschützer zur zentralen Angelegenheit zu machen. So läuft Schützer-Praxis Gefahr, zu einer Art Geisterverehrung zu werden. Das führt zu zahlreichen Problemen, wie die Kontroverse um diese Art von Praxis unter den Tibetern zeigt. Man muss also wirklich vorsichtig damit sein.
Ich denke, dass es nicht sehr klug ist, in einem Dharma-Zentrum jeden Tag, jede Woche oder jeden Monat eine öffentliche Schützer-Praxis durchzuführen, zu der jeder kommen kann, auch Neulinge, denn insbesondere, wenn Texte für Schützer-Pujas in Übersetzung in die eigene Sprache rezitiert werden, klingen sie ziemlich heftig – mit Wortlauten wie „Zerschmettert die Feinde“ usw. So etwas kann leicht missverstanden werden.
Missverständnisse in Bezug auf Initiationen
An tantrischen Initiationen teilnehmen, ohne zuvor den Lehrer oder die Praxis zu überprüfen und ohne die Absicht, die entsprechende Praxis durchzuführen
In Bezug auf tantrische Initiationen ist es ein Missverständnis bzw. ein Fehler, sich darauf einzulassen, ohne vorher den Lehrer oder die Praxis zu überprüfen. Und auch wenn wir sie geprüft haben, ist es ein Fehler, sich eine Initiation erteilen zu lassen ohne die Absicht, das entsprechende Tantra-System zu praktizieren. Der Zweck einer Initiation bzw. Ermächtigung besteht schließlich darin, die Faktoren unserer Buddha-Natur zu aktivieren, zu stärken und zu fördern, damit wir die Praxis eines bestimmten Tantra-Systems ausüben können. Das ist der Sinn der Sache. „Die Faktoren unserer Buddha-Natur“ sind die Potenziale, die uns, wenn sie vollständig entfaltet sind, befähigen, selbst Buddhas zu werden. Die verschiedenen Rituale und Visualisierungen während einer Einweihungszeremonie aktivieren die Samen des Potenzials unserer Buddha-Natur und säen weitere Samen, damit wir eine bestimmte Praxis durchführen können. Der wörtlichen Bedeutung nach ist es eine Ermächtigung dazu, mit der betreffenden Praxis zu beginnen.
Wenn wir das missverstehen, nehmen wir wahllos an irgendwelchen Initiationen teil, die irgendein Lama für irgendeine Praxis erteilt. Wir nehmen entweder wegen des so genannten „Segens“ daran teil oder aufgrund einer Art Gruppenzwang. Doch eine Einweihung, eine Ermächtigung, zu erhalten ist eine ernsthafte Angelegenheit. Wir müssen den Lehrer eingehend überprüfen. „Möchte ich zu diesem Lehrer eine besondere Verbindung aufnehmen und ihn als meinen tantrischen Guru betrachten?“ Die meisten von uns wissen gar nicht, was das eigentlich bedeutet. „Und will ich diese spezielle Gottheiten-Praxis durchführen, im Unterschied zu irgendeiner anderen? Will ich wirklich täglich diese Praxis ausüben? Oder wenn schon nicht jetzt, dann doch in der festen Absicht, mich später weiter darin einzuarbeiten?“
Man kann natürlich eine Initiation auch wie eine anthropologische Veranstaltung besuchen, um quasi als Anthropologe zu beobachten, was die seltsamen Einheimischen da in ihrem esoterischen Ritual so machen. Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt, wenn man als, wie er es nennt, neutraler Beobachter hingehen möchte, ist das kein Problem. Aber einfach blind hinzurennen, ohne zu überlegen, warum wir das machen, birgt die Gefahr, den Vorgang der Initiation misszuverstehen.
Die Vorstellung, man würde Gelübde und Verpflichtungen auf sich nehmen, wenn man bloß wegen des „Segens“ an einer Initiation teilnimmt
Noch ein Missverständnis besteht darin zu denken, wir würden, wenn wir auf diese Weise zu einer Initiation gehen – wie zu einer anthropologischen Veranstaltung oder einfach um des Segens willen oder aufgrund einer Art Gruppenzwang –, würden wir allein dadurch, dass wir anwesend sind, Gelübde auferlegt bekommen und Verbindlichkeiten eingehen, ohne sie zu kennen bzw. willentlich auf uns zu nehmen. Man empfängt Gelübde jedoch nur, wenn man sich bewusst darauf einlässt. Bloß anwesend zu sein heißt nicht, dass man Gelübde abgelegt hat oder die Initiation erhalten hat. Tibeter nehmen sogar ihre Hunde mit zur Initiation, aber das heißt nicht, dass die Hunde dann die Gelübde einhalten müssen und die Einweihung in die Praxis erhalten haben. Aber wollen wir bloß so wie ein Hund an der Initiation teilnehmen? Das ist der Punkt. Oder nehmen wir vielleicht in der Hoffnung daran teil, dass wir eine Art Rauschzustand erleben, so als würden wir eine Droge nehmen?
Die Vorstellung, wir könnten eine Initiation empfangen und die Praxis ausüben, ohne Gelübde abzulegen und einzuhalten
Andererseits ist es eine genauso falsche Vorstellung, zu denken, wir könnten eine Initiation empfangen und die Praxis ausüben, ohne Gelübde abzulegen und einzuhalten. Einer der wichtigsten Aspekte einer Initiation, einer Ermächtigung, sind die Gelübde. In vielen Texten wird ganz klar darauf hingewiesen: „Ohne die Gelübde gibt es keine Initiation.“ Sämtliche Initiationen aller Tantra-Klassen einschließlich Dzogchen beinhalten zumindest die Bodhisattva-Gelübde.
Tsongkhapa und Atisha betonen, dass für die Bodhsattva-Gelübde eine Grundlage in Form der der allgemeinen Ethik erforderlich ist. Deshalb brauchen wir dafür irgendeine Art von Pratimoksha-Gelübden – die Gelübde zur eigenen Befreiung, und seien es nur die Laien-Gelübde. Es müssen nicht einmal alle fünf sein - Aufgeben von Töten, Stehlen, Lügen, unangebrachten sexuellen Aktivitäten und Drogen, auch Alkohol. Wir können eine beliebige Anzahl dieser fünf Gelübde ablegen, mag es auch nur eines sein. Wenn wir eine Einweihung in eine Praxis der beiden höheren Tantra-Klassen – Yogatantra und Anuttarayoga-Tantra – erhalten, ist es erforderlich, zusätzlich auch die tantrischen Gelübde abzulegen. Das ist von wesentlicher Bedeutung. Und wir müssen all diese Arten von Gelübden sehr ernst nehmen und vorher gründlich überlegen, ob wir sie einhalten können oder nicht.
Die Vorstellung, man könnte mit dem Lehrer verhandeln, um eine geringere Verpflichtung zur Ausübung der Praxis einzugehen
Wenn mit der Initiation eine Verpflichtung zur Ausübung der betreffenden Praxis verbunden ist, tritt manchmal das Missverständnis auf, zu meinen, wir könnten mit dem Lehrer verhandeln, um die Verpflichtung zu verringern, so wie man auf orientalischen Märkten feilscht, um den Preis herunterzuhandeln. Ich habe ab und zu beobachtet, dass Westler das versuchten. Wenn Seine Heiligkeit der Dalai Lama in Dharamsala eine Ermächtigung erteilt, geht damit normalerweise die Verpflichtung einher, für den Rest des Lebens jeden Tag die betreffende Praxis auszuüben. Die Westler möchten gern teilnehmen, aber sie versuchen zu verhandeln: „Ach, wir führen ein so geschäftiges Leben; müssen wir das wirklich machen? Können wir es nicht nur manchmal machen, wenn wir Zeit dafür haben?“ Sie versuchen, die Initiation billiger zu bekommen. Und selbst wenn Seine Heiligkeit verschiedene Ausmaße an Verpflichtung zur Auswahl gibt, versuchen sie immer noch, das Mindestmaß weiter herunterzuhandeln.
Insbesondere, wenn wir Unterweisungen zu einer tantrischen Praxis erhalten, ist der Sinn des Ganzen, dass wir die Praxis ausüben wollen. Damit ist es uns ernst. Warum sollten wir sonst die Unterweisungen anhören? Bloß aus Neugierde? Das ist nicht der Sinn der Sache. Solche Lehren gelten als kostbar, als etwas Ehrwürdiges, das man nur unter der Voraussetzung studiert, dass man es wirklich umsetzen möchte und eine angemessene Motivation dafür hat. Das ist natürlich in Anbetracht von Internet und Büchern über Tantra-Praxis, die mittlerweile überall zur Verfügung stehen, ein heikles Thema. Seine Heiligkeit der Dalai Lama sagt deshalb, dass, da ja sowieso schon so viele Informationen über Tantra jedem frei zur Verfügung stehen und Vieles davon falsche Informationen sind, es besser sei, dann lieber die korrekten Information herauszugeben.
Manchmal scherzt er: „Es ist besser, mit einem richtigem Verständnis zur Hölle zu fahren als mit falschem Verständnis. Mit dem richtigen Verständnis kommen wir schneller wieder heraus.“ Ob das nun wörtlich zu nehmen oder ein Scherz ist, weiß ich nicht, aber es gibt durchaus zu denken. Doch dass etwas im Internet und in Büchern jedem zugänglich ist, ist keine Ausrede dafür, deshalb die Unterweisungen geringzuschätzen und nicht umzusetzen. Wenn man an einer Initiation teilnimmt und die Unterweisungen zu der betreffenden Praxis erhält, ist es wichtig, die damit einhergehende Verbindlichkeit ernstzunehmen und sie auch auszuüben
Denken, man könne trotz Verpflichtung zur täglichen Praxis einfach mal einen Tag auslassen, und das Problem, zu viele Verpflichtungen zu täglicher Praxis übernommen zu haben
Wenn mit einer Initiation, die wir erhalten haben, die Verpflichtung zur täglichen Ausübung der Praxis verbunden war, zeugt es von falschem Verständnis, wenn wir das nicht ernst nehmen und meinen, wir könnten ruhig ab und zu einen Tag auslassen, wenn wir keine Lust dazu haben: „Ich mache das nur, wenn mir danach ist.“ Ebenfalls aufgrund von falschem Verständnis geschieht es, dass man zu viele lebenslange Verpflichtungen zur Praxis eingeht, ohne realistisch einzuschätzen, ob man sie einhalten kann.
Dieser Fehler wurde in den siebziger Jahren in Indien sehr häufig gemacht. Damals wurden vollständige Initiationen mit umfassenden Praxis-Verpflichtungen noch viel bereitwilliger erteilt, und wir Westler nahmen sie an. Wir ließen uns diese Ermächtigungen geben und gingen diese Verpflichtungen ein, und wir dachten, dass wir sie immer einhalten könnten. Und wenn man nur zehn Jahre später, ganz zu schweigen von 20, 30, 40 Jahren später, nachfragte, wie viele Leute sie tatsächlich eingehalten hatten bzw. immer noch einhielten, fand sich nur eine Handvoll. Schon kurz nachdem die die Verpflichtungen eingegangen waren, hatten viele damit zu kämpfen, die tägliche Praxis auszuüben. Sie sagten, morgen hätten sie zu viel zu tun. „Morgens ist keine gute Zeit für mich.“ Sie schoben es bis zum späten Abend auf, und dann standen noch drei Stunden Praxis an. Aber sie waren so müde, dass sie dabei einschliefen, und es dauerte die halbe Nacht, bis sie damit fertig waren. Die Übung wurde zur Qual. Das ist also ein großes Problem.
Wenn Sie Verpflichtungen zur Praxis eingehen, seien Sie realistisch in Bezug darauf, was Sie tatsächlich schaffen können. Bei diesen Verpflichtungen geht es tatsächlich darum, die Praxis für den Rest des Lebens jeden Tag auszuüben. Was ist denn der Grund dafür, eine solche Verpflichtung auf sich zu nehmen? Der einzige Grund dafür besteht darin, dass es einem wirklich ernst damit ist, Befreiung und Erleuchtung zu erlangen, und dass man die grundlegende Methode des Tantra versteht und überzeugt davon ist, dass sie, richtig ausgeübt, dort hinführt. Das ist von entscheidender Bedeutung.
Seine Heiligkeit betont stets, dass es, wenn wir uns auf Tantra einlassen, auf der Grundlage geschehen sollte, dass wir verstehen, worum es im Tantra eigentlich geht, und von der Wirksamkeit der Methode überzeugt sind. Warum sollten wir es sonst tun? Insbesondere wenn man denkt, sie bestünde nur aus ein paar sonderbaren Visualisierungen und Mantra-Gemurmel, gibt man nach einer Weile auf, weil es lächerlich scheint: „Warum mache ich das eigentlich?“ Es ist sehr wichtig, wirklich zu überlegen, ob wir diese Verpflichtungen tatsächlich erfüllen können.
Die Vorstellung, Tantra-Praxis bestünde nur im Rezitieren von Ritualen und Mantras
Und schließlich gibt es noch ein weiteres Missverständnis in Bezug auf Tantra-Praxis, nämlich zu meinen, es würde sich dabei nur um die Rezitation eines Rituals oder Wiederholen von Mantras handeln. Ohne intensive Meditation über Bodhichitta und Leerheit rezitieren wir bloß „bla bla bla …“, und obwohl wir vielleicht versuchen zu visualisieren, gelingt es uns meistens nicht, weil es zu kompliziert ist. Deshalb wollen wir die einfachste Version der Praxis, und dann erwarten wir, dass beruhend darauf wirklich etwas passiert. Und sehr oft wird die Praxis dann eine Flucht ins Reich der Fantasie statt zu einer wirksamen Methode, alle Lehren miteinander zu verbinden.
Tantra ist eine Art und Weise, sämtliche Lehren miteinander zu verbinden: Im Verlauf des Rituals entwickelt man z.B. an einer bestimmten Stelle die vier unermesslichen Geisteshaltungen, an einer anderen Stelle die sichere Richtung, die man einschlagen will (Zufluchtnahme), an diesem Punkt entwickelt man Bodhichitta, an jenem bekräftigt man die Gelübde, an jenem meditiert man über die Leerheit. An unterschiedlichen Stellen des Ablaufs werden bestimmte Arten von Dharma-Verständnis und Erkenntnisse hervorgerufen. Wie soll man das machen, wenn man die Methoden dafür nicht vorher geübt hat und sie dann während des Ritual nur kurz mit ein paar Worten abgerufen werden: „Jetzt habe ich Verständnis der Leerheit“ – wie soll das gehen? Dann rezitiert man bloß Worte. Einfach die Worte zu rezitieren bewirkt aber nichts. Tantra-Praxis erfordert also eine Menge Hintergrund aus Studium und Übung. Es ist ein Fehler zu denken, es wäre mit etwas „bla bla“ und Rezitation schon getan – während der Geist dabei meistens auch noch abgelenkt ist.
Zusammenfassung
Es ist klar, dass es viele falsche Vorstellungen hinsichtlich Tantra gibt. Einige entstehen durch die Art und Weise, wie Tantra angepriesen wird, andere erwachsen aus unseren eigenen Wünschen: Wir alle hätten gern einen schnellen und einfachen Weg zur Erleuchtung. Wenn wir verstehen, was Tantra-Praxis in Wirklichkeit ist, ist es wahrscheinlicher, dass wir dabei bleiben und stetige Fortschritte machen, statt bei der ersten Hürde aufzugeben.