Vor langer Zeit lebten Kharak Gomchung (tib. Kha-rag sgom-chung) und Potowa (tib. Po-to-ba) auf zwei sich gegenüberliegenden Bergen; die beiden hatten anfangs noch keinerlei Verbindung zueinander. Potowa dachte sich, dass Kharak Gomchung ein äußerst ausdauernder, großartiger Meditierender war, wusste jedoch in Wirklichkeit nicht, ob er solche guten Eigenschaften tatsächlich besaß oder nicht. Nichtsdestotrotz meinte Potowa, es wäre vorteilhaft, wenn Kharak Gomchung zu ihm käme, um Unterweisungen zu empfangen.
Einst trafen sich die beiden bei einer großen Versammlung, und bei dieser Gelegenheit sagte Potowa zu Kharak Gomchug: „Du bist wirklich ein äußerst ausdauernder, großer Meditierender. Worüber meditierst du?“ Darauf antwortete Kharak Gomchung: „Ich meditiere über die Unbeständigkeit, über die Nachteile zwanghafter samsarischer Existenz und die Gedanken, die den Geist dem Dharma zuwenden. Dann erklärte er, dass das Umkehren der eigenen Haltung (tib. blo ldog-pa) die folgenden vier Punkte beinhaltet:
- den Geist von diesem Leben abzuwenden;
- den Geist von dem Glück zwanghafter samsarischer Existenz abzuwenden;
- den Geist davon abzuwenden, nur die eigenen Ziele zu verfolgen;
- den Geist davon abzuwenden, nach wahrhaft begründeter Existenz zu greifen.
Als Potowa erkannnte, dass Kharak Gomchung ein Kadampa-Meister war, der über sehr viel Meditationserfahrung verfügte, bat er ihn um Geduld mit seiner Arroganz, weil er zuvor gedacht hatte, dass er zwar ein Meditierender sei, er aber an seinen Qualitäten zweifelte. Potowa sagte: „Du hast wirklich außerordentliche Qualitäten und deine Meditationspraxis ist ausgezeichnet.“ Potowa selbst übernahm daraufhin diese Kadam-Praktiken und gab sie später an Gampopa weiter. Darin besteht der Kadampa-Strom.
Gampopa erhielt von seinem Kagyü-Meister Milarepa das, was als die „vier Dharmas von Gampopa“ (tib. dwags-po chos-bzhi) bekannt geworden ist – das ist der Mahamudra-Strom. Diese finden sich in einem von Milarepas Liedern:
Ich bitte um Inspiration für mich und alle begrenzten Wesen, damit sich unser Geist dem Dharma zuwendet. Inspiriere uns, damit der Dharma zu einem Geist, der als Pfad wirkt, wird. Inspiriere uns, damit unser Geist, der als Pfad wirkt, unsere Verwirrung beseitigt. Inspiriere uns, damit wir unsere Verwirrung in tiefes Gewahrsein läutern können.
Inspiriere mich, alle emotionalen Schleier meiner karmischen Impulse und störende Emotionen, sowie meine störenden Emotionen und kognitiven Schleier über alles, was man kennen kann, zusammen mit ihren ständigen Gewohnheiten zu läutern. Inspiriere mich, sie jetzt sofort zu läutern. Inspiriere mich, sie an genau diesem Platz, an dem ich sitze, zu läutern. Inspiriere mich, sie in eben dieser Meditationssitzung zu läutern.
Inspiriere mich, dieses Geisteskontinuum zu befreien. Inspiriere mich, es jetzt sofort zu befreien. Inspiriere mich, es an genau diesem Platz, an dem ich sitze, zu befreien. Inspiriere mich, es in eben dieser Meditationssitzung zu befreien.
Inspiriere mich, in meinem Geiste unverfälschte und erhabene vertiefte Konzentration zu entwickeln. Inspiriere mich, diese jetzt sofort zu entwickeln. Inspiriere mich, diese an genau diesem Platz, an dem ich sitze, zu entwickeln. Inspiriere mich, sie in eben dieser Meditationssitzung zu entwickeln.
Inspiriere mich, unverfälschtes und erhabenes tiefes Gewahrsein zu entwickeln. Inspiriere mich, es jetzt sofort zu entwickeln. Inspiriere mich, es an genau diesem Platz, an dem ich sitze, zu entwickeln. Inspiriere mich, es in eben dieser Meditationssitzung zu entwickeln.
Gampopa machte das, worüber Milarepa in diesem Lied sang, zu seiner Praxis. Im Allgemeinen bezieht sich „den Geist dem Dharma zuwenden“ darauf, unseren Geist auf den Dharmas zu richten, basierend darauf, dass wir nicht länger diesem Leben anhaften. Was Milarepas Bitte um Inspiration betrifft, den Dharma zu einem Geist, der als Pfad wirkt, werden zu lassen, so kann dies nicht geschehen, solange man an der unkontrolliert wiederkehrenden samsarischen Existenz festhält und ihr anhaftet. Für einen Praktizierenden des Dharma bedeutet dies, samsarische Existenz aufzugeben. Es heißt, wir müssen jemand sein, der samsarische Aktivitäten hinter sich lässt und nicht an den Begierden der Sinne festhält, denn der Dharma wird nicht zu einem Geist, der als Pfad wirkt, werden, wenn wir nach samsarischer Existenz greifen.
Was die Bitte anbelangt, der Geist, der als Pfad wirkt, möge unsere Verwirrung beseitigen, wenn man über ihn meditiert, so besteht die Verwirrung des Geistes, der als Pfad wirkt, darin, sich nur um seine eigenen Ziele zu kümmern. Diese Arten von Geist, die als Pfade wirken, dienen dazu, mit der Motivation des Bodhichitta zum Wohle anderer das zu erreichen, was für sie und einen selbst von Nutzen sein wird. Geht es uns jedoch nur darum, einen friedlichen Geisteszustand für uns selbst zu erlangen, wird dies als inkorrekter Geist, der als Pfad wirkt, bezeichnet.
Wenn Verwirrung allmählich als tiefes Gewahrsein erkannt wird, ist man dabei frei von jeglicher Anhaftung. Ganz gleich, welche störenden Emotionen auftauchen – sehnsüchtiges Verlangen, Feindseligkeit oder Naivität –, wenn wir das Gesicht der wesentlichen Natur dessen, was in unserem Geist erscheint, erkennen und diese Erscheinungen dann in ihrem eigenen Grund zur Ruhe kommen lassen, werden sie sich automatisch von selbst auflösen – sie bereinigen sich in die fünf Arten tiefen Gewahrseins.
Auf diese Weise werden die vier Gedanken, die den Geist dem Dharma zuwenden, und die vier Mahamudra-Dharmas von Gampopa nicht zu einem Strom vereint, sondern sie stimmen auch mit den Sakya-Lehren über das „Scheiden von den vier Arten des Anklammerns“ (tib. zhen-pa bzhi-bral) überein, wie sie von Dragpa Gyaltsen ausgeführt wurden:
- Klammert man sich an dieses Leben, ist das nicht Dharma.
- Klammert man sich an samsarische Existenz, ist das keine Entsagung, die Entschlossenheit, frei zu sein.
- Klammert man sich an seine eigenen Ziele, ist das kein Bodhichitta.
- Tritt Greifen auf, ist das nicht die Sicht.