Wesentliche Besonderheiten der Meditation

Meditation gibt es in vielen Traditionen, nicht nur im Buddhismus. Zahlreiche Aspekte der Meditation sind in allen indischen Traditionen zu finden, aber hier werden wir die Erläuterung auf die Art und Weise beschränken, wie Meditation im Buddhismus dargestellt wird.

Video: Khandro Rinpoche — „Ist Meditation Zeitverschwendung?“ 
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Was ist Meditation?

Das Wort „Meditation“ bedeutet „sich mit etwas vertraut machen“. Das tibetische Wort dafür, „gom“ (sgom), impliziert die Bedeutung, eine heilsame Gewohnheit aufzubauen. Das ursprüngliche Sanskrit-Wort, „bhavana“, beinhaltet eher die Bedeutung: „dafür sorgen, dass etwas tatsächlich stattfindet“, d. h.: Wir haben einen bestimmten förderlichen Geisteszustand bzw. eine heilsame Einstellung, und wir möchten, dass sie tatsächlich umgesetzt wird. Mit anderen Worten, wir möchten diesen Geisteszustand in unserer Denk- und Lebensweise zur Wirkung bringen. Entsprechend der jeweiligen Tradition, in der die Meditation geübt wird, werden die Unterweisungen dann näher bestimmen, welches die heilsamen Gewohnheiten sind, die entwickelt werden sollen, und was der Grund und das Ziel ihrer Umsetzung sind. Doch in allen indischen Traditionen besteht die Vorgehensweise in drei Schritten: zuerst [die Lehren] hören bzw. ihnen zuhören, dann darüber nachdenken und dann tatsächlich meditieren.

Den Lehren zuhören

Nehmen wir an, wir wollen die heilsame Gewohnheit entwickeln, mitfühlend zu sein. Um Mitgefühl zu entwickeln oder bereits vorhandenes Mitgefühl zu verstärken, ist es zunächst erforderlich, einige Unterweisungen zu dem Thema zu hören. Im klassischen Indien lag keine der Lehren in schriftlicher Form vor. Sie alle wurden mündlich weitergegeben. Deswegen musste jemand, der Meditation lernen wollte, die Lehren zuerst hören. Aus diesem Grund wird der erste Schritt „Hören“ genannt.

Heutzutage können wir natürlich auch Lehren lesen – wir sind nicht darauf angewiesen, dass jemand sie uns tatsächlich persönlich erzählt. Das Prinzip, das dem Vorgehen in den drei erwähnten Schritten zugrunde liegt, ist jedoch sehr bedeutsam. In früheren Zeiten musste alles auswendig gelernt werden und der Zuhörer musste sicher sein können, dass das, was jemand wiedergab, korrekt war. Es konnte ja sein, dass die Person, die die Lehren aus dem Gedächtnis wiedergab, sie nicht korrekt in Erinnerung hatte. Es hätten sich Fehler einschleichen können und daraus würden Probleme entstehen.

Unterscheidendes Gewahrsein

Wenn man den Lehren zuhörte, musste man also das entwickeln, was „das unterscheidende Gewahrsein, das aus dem Zuhören entsteht“ genannt wird. Das tibetische Wort „Sherab“ (Skt. prajna) wird häufig als „Weisheit“ übersetzt, aber das ist ein viel zu unbestimmter Ausdruck, dessen Bedeutung nicht genau definiert ist. Wenn eine Gruppe von Menschen das Wort „Weisheit“ hört, wird jeder von ihnen eine etwas unterschiedliche Vorstellung haben, was es eigentlich bedeutet. Deshalb hilft uns das Wort „Weisheit“ nicht sonderlich, den Begriff „Sherab“ präzise zu verstehen. Aus diesem Grund ziehe ich es vor, „Sherab“ als „unterscheidendes Gewahrsein“ zu übersetzen.

Unterscheidendes Gewahrsein beruht auf einem ihm vorhergehenden Geistesfaktor, den ich als „auseinanderhaltendes Gewahrsein“ (tib. ’du-shes) übersetze. Manchmal wird dieser Begriff auch als „Erkennen“ (engl. recognition) übersetzt, aber auch dieses Wort ist nicht präzise genug. „Erkennen“ impliziert, dass man das Objekt bereits kannte und es nun wiedererkennt, aber das entspricht nicht ganz der korrekten Bedeutung des tibetischen bzw. Sanskrit-Begriffs. „Auseinanderhaltendes Gewahrsein“ bedeutet, etwas als „dieses“ zu spezifizieren, indem man es von allem differenziert, was „nicht dieses“ ist. Wir können „dieses“ von „nicht dieses“ und auch „dieses“ von „jenem“ unterscheiden, denn alles hat besondere, individuelle Merkmale, die es charakterisieren und die wir erkennen, wenn wir uns einer Sache gewahr sind. Ein einfaches Beispiel: Kinder können zwischen „hungrig“ und „nicht hungrig“ unterscheiden; sie brauchen dafür nicht das Wort für diese beiden verschiedenen körperlichen Empfindungen zu kennen, und sie brauchen eigentlich auch keinen sehr tiefgehenden Begriff von „ hungrig“ und „nicht hungrig“ zu haben. Trotzdem sind sie durchaus imstande, die Verschiedenheit beider festzustellen, weil jedes davon spezielle charakteristische Merkmale hat, nämlich eine bestimmte Art körperlicher Empfindung.

Das unterscheidende Gewahrsein fügt der Unterscheidung den Faktor der Gewissheit hinzu, die entschieden identifiziert: „Es ist eindeutig dies und nicht jenes“. Diese Gewissheit ist es, die wir brauchen, wenn wir den Lehren zuhören oder sie lesen. Wir brauchen die feste Überzeugung des Wissens: „Das ist die echte Lehre, nicht irgendeine falsche Lehre.“ Tatsächlich ist es sehr schwierig zu wissen, ob etwas die echte Lehre ist, denn die Schriften sind von sich aus nicht leicht zu verstehen. Normalerweise müssen wir uns auf ein Buch oder einen Lehrer verlassen, der sie uns erklärt. Aber woher weiß man, dass die betreffende Person ein verlässlicher, authentischer Lehrer ist? Es kann sein, dass jemand etwas über Buddhismus oder über Liebe und Mitgefühl lehrt und dabei vielleicht Inhalte verbreitet, die nicht im Einklang mit dem stehen, was im Buddhismus tatsächlich gelehrt wird. Wir müssen ganz sicher sein, dass die Lehre, die wir hören oder lesen, genau so ist, wie sie sein sollte, und zwar, indem wir unser unterscheidendes Gewahrsein benutzen; wir brauchen Gewissheit, dass es sich um eine authentische Lehre handelt.

Es gibt bestimmte Merkmale, die gegeben sein müssen, um eine Lehre als eine gültige buddhistische Lehre zu bestimmen. Der Autor bzw. derjenige, der sie übermittelt, muss jemand sein, den wir mittels Überprüfung als einen angemessen qualifizierten Lehrer bestimmen können. Um das festzustellen, müssen wir andere Menschen befragen, z.B.: „Hat dieser Mensch selbst einen als anerkannt geltenden Lehrer, und in welcher Beziehung steht er zu ihm? Steht der Lehrer dieses Menschen in einer gültigen Überlieferungslinie von Lehrern, die sich über längere Zeit hin zurückverfolgen lässt?“ Das sind wichtige Erkundigungen, die man anstellen sollte. Es ist nicht ratsam, einfach irgendein beliebiges Buch zur Hand zu nehmen, bloß weil der Verfasser einen berühmten Namen hat, und davon auszugehen, dass es eine verlässliche Quelle ist. Der gleiche Grundsatz gilt, wenn man Unterweisungen von jemandem hört.

Das Unterscheidungsvermögen nutzen, um den Kontext der Lehren festzustellen

Außerdem steht jede buddhistische Lehre in einem bestimmten Kontext, nämlich dem einer bestimmten philosophischen Schule, der diese Lehre entstammt. Es ist wichtig, den Kontext der jeweiligen Lehre zu kennen. Denn verschiedene buddhistische Systeme erklären dieselben Fachbegriffe, z.B. den Begriff „Karma“, auf jeweils unterschiedliche Weise. Die Lehren über Karma in einem bestimmten System stehen mit den Erklärungen dieses Systems zu vielen anderen Themen des Dharma im Einklang, die damit in Verbindung stehen, z.B. der Erkenntnistheorie. Wir müssen also sicher sein, aus welchem System eine Lehre stammt, um sie mit anderen Lehren, die wir gehört haben, in Verbindung zu bringen.

Den Kontext zu kennen, in welchem Wörter verwendet werden, ist schon in beiläufigen Unterhaltungen unerlässlich. Nehmen wir an, du hörst oder liest das Wort „Bön“ (tib. bon). Das ist der Name der Tradition, die in Tibet in der vorbuddhistischen Zeit vorherrschte. Doch im Französischen bedeutet ein Wort, das genauso geschrieben wird, „gut“ (frz. bon). Wenn man sich des Sprachzusammenhangs nicht bewusst ist, kann das zu Verwirrung führen. Geht es um das französische „bon“ oder steht das Wort im tibetischen Sprachzusammenhang? Nur nach dem Klang oder der Schreibweise eines Wortes zu gehen, ohne zu wissen, in welcher Sprache es verwendet wird, kann irreführend sein.

Noch bedeutsamer ist die Kenntnis des Kontextes, wenn wir es mit buddhistischen Fachbegriffen zu tun haben. Es kann beispielsweise sein, dass wir etwas über Leerheit lernen, was in einer philosophischen Schule des klassischen indischen Buddhismus anders erklärt wird als in einer anderen. Und selbst im Zusammenhang mit einer bestimmten philosophischen Schule des klassischen indischen Buddhismus wird dann die Leerheit von den unterschiedlichen tibetischen Schulen des Buddhismus wiederum auf vielerlei unterschiedliche Art interpretiert.

Die Tatsache, dass es so viele unterschiedliche Erklärungen zu demselben Thema gibt, ist für westliche Menschen eine der verwirrendsten Angelegenheiten beim Studium des Buddhismus überhaupt. Es ist schon verwirrend genug, dass wir heutzutage, insbesondere durch das Internet, Zugang zu all den verschiedenen asiatischen Traditionen des Buddhismus haben. Aber sogar innerhalb der buddhistischen Tradition eines einzigen Landes – beispielsweise Tibet – gibt es vielerlei Variationen und unterschiedliche Erklärungen.

Lassen Sie mich das mit einem Beispiel veranschaulichen. Nehmen wir an, wir studieren bei einem bestimmten Lehrer eine ausführliche Erklärung zum Thema Karma. Um hinsichtlich dessen, was wir da lernen, nicht in Verwirrung zu geraten, müssen wir diese Erklärung von denjenigen aller anderen Systeme differenzieren, also von allen Systemen, die anders sind als das, von dessen Gesichtspunkt aus dieser Lehrer sie erteilt. Wir müssen z.B. wissen, dass wir etwas über die buddhistische Interpretation dieses Themas lernen, nicht über die hinduistische. Und von den buddhistischen Erklärungen studieren wir eine, die den indischen Sanskrit-Überlieferungen entstammt, nicht die der Theravada-Tradition, die auf Pali überliefert ist. Unter den indischen Sanskrit-Überlieferungen studieren wir vielleicht den Standpunkt der Vaibhashika-Philosophie, nicht den der Chittamatra-Philosophie. Und wir lernen beispielsweise eine Erklärung der Darlegung dieses Standpunkts, die auf der tibetischen Gelug-Tradition beruht, und nicht diejenige, die auf der Kagyü-Tradition beruht. Wir müssen den genauen Kontext kennen, denn die verschiedenen Erklärungen von Karma können ziemliche Variationen aufweisen, je nachdem, aus welchem philosophischen Rahmen sie stammen. Wenn wir versuchen, die Erklärung eines bestimmten Dharma-Inhalts aus der Gelug-Tradition in ein Kagyü-System einzufügen, wird uns das sehr verwirren. Und wenn wir versuchen, alle Erklärungen miteinander zu einem großen Eintopf zu vermengen, wird uns das noch mehr verwirren.

Einer meiner Lehrer, Geshe Ngawang Dhargyey, hat etwas sehr Aufschlussreiches über die Westler gesagt. Er sagte: „Ihr Menschen aus dem Westen versucht immer zwei Dinge miteinander zu vergleichen, von denen ihr keines sonderlich gut versteht. Und am Ende kommt dann nur noch mehr Verwirrung dabei heraus.“ Was wir aus diesem Hinweis lernen können, ist, dass es zwar in Ordnung ist, verschiedene Systeme miteinander zu vergleichen, aber nur auf der Grundlage, dass wir zumindest ein System sehr gut kennen. Wenn man dieses eine System sehr gut kennt, dann kann man andere Systeme betrachten und wertschätzen, was die Unterschiede sind, aber nicht vorher.

Wenn wir über Karma oder Leerheit oder irgendein anderes Thema des Buddhismus meditieren wollen, müssen wir das unterscheidende Gewahrsein entwickeln, das dem Hören entstammt. Das bedeutet, dass wir genau und mit Sicherheit wissen:

  • Dies, und keine anderen, sind die Worte, die gesprochen wurden;
  • die Person, die sie gesprochen hat, war eine verlässliche Quelle korrekter Information über dieses Thema, und nicht etwa jemand, der unzuverlässig ist;
  • dies und kein anderes ist das philosophische System, aus dem die Erklärung stammt.
  • Sobald wir das unterscheidende Gewahrsein entwickelt haben, das aus dem Hören entsteht, sind wir so weit, dass wir den nächsten Schritt unternehmen können.

Nachdenken über das, was wir gehört haben

Der nächste Schritt besteht darin, das unterscheidende Gewahrsein zu entwickeln, das aus dem Nachdenken entsteht. Was bedeutet „Nachdenken“? Nachdenken heißt hier: versuchen, die Bedeutung von etwas zu verstehen. Doch was bedeutet es, etwas zu „verstehen“? Die Definition des tibetischen Wortes, das meist als „verstehen“ oder „begreifen“ übersetzt wird, lautet: „etwas präzise und eindeutig wissen“.

Übrigens haben viele der Sanskrit- und tibetischen Wörter, die zur Beschreibung des Geistes und geistiger Aktivität dienen, eine ziemlich andere Bedeutung als die Wörter, die wir in unseren Sprachen benutzen. Deswegen ist es von großem Nutzen, wenn man die ursprünglichen asiatischen Sprachen gelernt und die Bedeutungen der Wörter im asiatischen Sprachkontext studiert hat. Das bedeutet, nicht einfach nur die jeweilige Übersetzung im Wörterbuch zu lesen, sondern sich tatsächlich eingehend mit der Sprache zu befassen, die Definitionen der Begriffe zu lernen usw. Wenn man das tut, hat man ein sehr wirksames analytisches Mittel zu Hand, um die buddhistischen Lehren zu verstehen.

Die Wörter verstehen, die gesprochen wurden

Das Wort „verstehen“ kann auch in Verbindung mit dem Hören der Lehren verwendet werden. In diesem Zusammenhang finden wir es z.B. in Sätzen wie: „Ich verstehe, dass du jene Worte gesprochen hast.“ Wenn in diesem Satz das Wort „du“ betont wird, dann impliziert das, dass ich keinen Zweifel daran habe, dass du jene Worte gesagt hast. Ich bin nicht der Meinung, dass du sie nicht gesagt hast oder dass jemand anderes sie gesagt hat. Ich habe gehört, dass du sie gesagt hast und bin völlig überzeugt, dass meine Hörfähigkeit nicht beeinträchtigt ist.

Wenn die Betonung auf „jene Worte“ liegt, kann der Satz eine andere Bedeutung haben: Ich habe die einzelnen Worte verstanden, die du geäußert hast. Ich habe vielleicht die Bedeutung, die in den Wörtern und Sätzen enthalten ist, nicht voll und ganz verstanden – das ist ein anderer Prozess –, aber ich habe korrekt verstanden, dass du dieses Wort und diesen Ausdruck und diesen Satz gesprochen hast. Wir müssen sicher sein, dass wir die Worte, die gesprochen wurden, korrekt gehört haben. Wir können das zusammen mit anderen Menschen überprüfen, um sicherzugehen, dass die anderen dieselben Wörter gehört haben wie wir. Wenn es eine Audio-Aufzeichnung gibt, können wir sie anhören. Wenn die Stimme des Sprechers und die Aufnahme klar genug sind, sind wir daraufhin überzeugt, dass wir die Wörter richtig gehört haben. Wenn sie nicht sehr klar sind, können wir uns an andere Menschen wenden, um herauszufinden, was diese gehört haben, und es mit dem vergleichen, was wir gehört haben. Das ist wirklich sehr wichtig, wenn wir uns auf Aufzeichnungen von Unterweisungen stützen. Mit dem unterscheidenden Gewahrsein, das beim Hören entsteht, stellen wir fest, ob wir korrekt und eindeutig verstanden haben, wie die Worte lauteten.

Die Bedeutung der Worte verstehen

Nachdenken – der zweite Schritt in dem dreiteiligen Vorgang, Verständnis zu gewinnen - impliziert, dass wir die Bedeutung der Worte verstehen. Das ist natürlich unbedingt erforderlich. Wenn wir eine bestimmte positive Gewohnheit entwickeln wollen, müssen wir nicht nur die Worte der Anleitungen dafür kennen, sondern auch die Bedeutung der Worte. Manche Menschen z.B. rezitieren Verse auf Tibetisch und haben keine Ahnung, was sie eigentlich bedeuten. Wie kann man eine förderliche Gewohnheit von etwas entwickeln, wenn man nicht einmal weiß, was die Worte bedeuten?

Etliche Lehrer des tibetischen Buddhismus empfehlen, Gebete und bestimmte Praxistexte auf Tibetisch zu rezitieren. Natürlich hat es Vorteile, an einem jahrhundertealten Ritual teilzunehmen: Man hat das Gefühl, einer Tradition anzugehören, und es ist gut zu wissen, dass Menschen aus verschiedenen Ländern und mit unterschiedlichem Sprachhintergrund dasselbe rezitieren und singen. Aber etwas auf Tibetisch zu rezitieren hilft uns nicht, die förderliche Gewohnheit dessen zu entwickeln, was die Wörter zum Ausdruck bringen, es sei denn, wir verstünden die Bedeutung der tibetischen Wörter. Wir müssen also die Bedeutung verstehen, und es ist wichtig, dass die Bedeutung korrekt und eindeutig ist. Das heißt, wir müssen unser unterscheidendes Gewahrsein benutzen, um das, was etwas bedeutet, von dem abzugrenzen, was es nicht bedeutet. Wir tun das mittels eines Prozesses von Analyse und logischen Argumenten, um zu einem entschiedenen Verständnis zu gelangen, was die Worte tatsächlich bedeuten.

Zu der Überzeugung gelangen, was die Worte einer Lehre bedeuten

Dieser Punkt – ein entschiedenes Verständnis zu gewinnen – bringt uns zu einem sehr schwierigen Thema, nämlich: Wie gewinnen wir wirklich Überzeugung von etwas? Um Überzeugung von etwas zu gewinnen, das nicht offenkundig ist und nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, müssen wir uns auf Logik stützen. Es gibt allerdings Menschen, die, wenn ihnen ein logisches Argument genannt wird, immer noch nicht glauben, was durch die Argumentation bewiesen wird. In einigen Fällen wollen sie die Schlussfolgerung nicht glauben, selbst wenn sie logisch ist. Das kann eine Menge Hindernisse beim Dharma-Studium zur Folge haben.

Aber nehmen wir einmal an, wir akzeptieren die logischen Schlussfolgerungen. Lassen Sie uns den Prozess der Analyse und Begründung am Beispiel „Unbeständigkeit“ betrachten. Was bewiesen und dadurch verstanden werden soll, ist, dass alles, was in Abhängigkeit von Ursachen und Umständen erzeugt bzw. geschaffen wurde, irgendwann enden wird. Ganz gleich, ob es sich um einen Computer handelt, ein Auto, unseren Körper oder eine persönliche Beziehung – all das ist in Abhängigkeit von Ursachen und Umständen hervorgebracht worden. Und weil diese Ursachen und Umstände nicht in jedem Moment erneuert werden, wird das Ergebnis, das dadurch hervorgebracht wurde und davon abhängig ist, irgendwann zerfallen.

Wir können dabei beispielsweise an etwas denken, das wir gekauft hatten und das schließlich kaputtging, etwa ein neues Auto, das schließlich versagte, oder eine Pflanze oder Frucht, die wuchs und schließlich zerfiel und verrottete. Diese Regel hat keine Ausnahmen. Es gibt kein Beispiel von etwas, das erzeugt bzw. hervorgebracht wurde, und das nie kaputtging oder zerfiel und ewig währte. Wenn es geschaffen wurde – d.h., dass es zuvor nicht vorhanden war -, so wird es vergehen. Warum ist das so? Etwas, das neu zustande kommt, kann nur zustande kommen, indem es in Abhängigkeit von Ursachen und Umständen entsteht. Doch schon gleich, nachdem etwas entstanden ist, haben sich die Ursachen und Umstände, die sein anfängliches Entstehen unterstützt haben, bereits geändert. Sie haben sich verändert, weil auch sie in Abhängigkeit von anderen ursächlichen Faktoren entstanden sind. Folglich sind sie irgendwann nicht mehr vorhanden und können das fortgesetzte Entstehen des betreffenden Gegenstands in jedem nachfolgenden Moment nicht mehr gewährleisten. Mit anderen Worten: Wenn die Ursachen und Umstände für das Entstehen von etwas nicht mehr vorhanden sind, dann wird das, was in Abhängigkeit von diesen unterstützenden Faktoren zustande kam, auseinanderfallen. Es wird auseinanderfallen, weil ihm die unterstützenden Faktoren für seine fortgesetzte Existenz in demselben Zustand wie zur Zeit seiner ursprünglichen Entstehung fehlen. Sein Zustand wird sich ändern, weil er von anderen Ursachen und Umständen beeinflusst wird.

Ein anderes Beispiel sind persönliche Beziehungen. Eine Beziehung zu jemandem entsteht in Abhängigkeit von vielerlei Ursachen und Umständen, z. B. davon, wie alt ich war, wie alt die andere Person war, davon, was gerade in meinem Leben passierte und was in ihrem Leben passierte, was gesellschaftlich gerade ablief usw. All diese Faktoren trugen dazu bei, dass wir uns trafen und eine Beziehung zueinander entwickelten. Aber diese Umstände hielten nicht an, sie veränderten sich ständig. Wir wurden älter und in unserem Leben geschahen andere Dinge. Und selbst wenn wir überaus lange zusammenbleiben würden, würde einer von uns früher sterben als der andere. Weil die Beziehung zwischen uns von Ursachen und Umständen abhängig ist, wird sie sich ständig ändern und kann nicht ewig dauern. Obwohl das die Schlussfolgerung ist, die wir durch Logik erreichen, wollen wir diese Tatsache oft nicht akzeptieren.

Ein weiteres Beispiel: Wir kaufen einen Computer und erwarten, dass er ewig funktioniert und nie kaputtgeht, aber irgendwann geht er unweigerlich trotzdem kaputt. Warum ging er kaputt? Weil er gebaut worden ist. Das, was tatsächlich an Fehlern auftrat, als er zusammenbrach, war nur der Umstand, der sein Ende herbeiführte. Die eigentliche Ursache für seinen Zusammenbruch ist die Tatsache, dass er gebaut wurde. Genauso kann man sagen: Was ist der Grund für den Tod dieses Menschen? Der Grund dafür ist seine Geburt. Es gibt einen Witz, der lautet: „Wissen Sie, was die Definition von ‚Leben‘ ist? – ‚Eine sexuell übertragbare Krankheit, die in 100% der Fälle tödlich endet.‘“ Das ist leider wahr! Selbst wenn wir logisch über ein Thema nachdenken, z.B. wenn wir versuchen, Unbeständigkeit zu verstehen, tritt oft eine Menge innerer Widerstand auf. Manchmal wollen wir die aufgewiesene Information nicht glauben. Wir wollen nicht akzeptieren, dass Unbeständigkeit im Leben eine Tatsache ist. Deswegen müssen wir die logischen Argumente immer wieder durchgehen, um tiefgreifend an dem Thema zu arbeiten.

Durch den Prozess des Nachdenkens gelangen wir zu einem „Verständnis“. Das wird als das „unterscheidende Gewahrsein, das aus dem Nachdenken entsteht“ bezeichnet. Wir verstehen die Bedeutung der Worte korrekt und sind diesbezüglich entschieden. Mit anderen Worten: Wir sind die betreffenden Argumente durchgegangen und haben ausgeschlossen, was sie nicht bedeuten. „Unbeständigkeit bedeutet nicht, dass mein Computer vielleicht kaputtgehen wird. Sie bedeutet, dass er eines Tages mit Sicherheit kaputtgehen wird.“ Ob wir nun fest von der Wahrheit überzeugt sind, dass „alles, was geschaffen wurde, zerfallen wird“, sei noch dahingestellt, aber zumindest verstehen wir korrekt, was „Unbeständigkeit“ bedeutet.

Zu der Überzeugung kommen, dass die Lehre, die wir gehört haben, wahr und hilfreich ist

Als nächstes müssen wir uns nicht nur davon überzeugen, was die Worte, die wir gehört haben, bedeuten, sondern auch davon, dass das, was sie bedeuten, wahr ist. Auf unser Beispiel „Unbeständigkeit“ bezogen heißt das: Wir mögen vielleicht die Bedeutung des Begriffs verstehen, aber glauben wir, dass sie tatsächlich wahr ist, oder nicht? Sind wir wirklich davon überzeugt? Wenn wir beharrlich über Unbeständigkeit nachdenken und eindeutig keine Ausnahme von der Regel finden können, dann gelangen wir allmählich dahin, wirklich zu glauben, dass Unbeständigkeit ein grundlegendes Gesetz ist. Der Gedankengang könnte etwa so verlaufen: „Ich werde mit Sicherheit sterben. Jeder, der geboren worden ist, ist gestorben. Es gibt kein Beispiel von jemandem, der geboren wurde und nicht gestorben ist. Gibt es also irgendeinen Grund zu glauben, dass ich nicht sterben werde? Nein, es gibt keinen.“

Wenn wir überzeugt sind, dass wir irgendwann sterben werden, werden wir versuchen, unser Leben so sinnvoll wie möglich zu verbringen. Oft geschieht es, dass jemand nach einem Nahtod-Erlebnis erkennt: „Ich bin wahrhaftig noch am Leben – und ich will den Rest meines Lebens so sinnvoll wie möglich nutzen.“ Aber wir brauchen nicht auf ein Nahtod-Erlebnis zu warten, um von unserer Sterblichkeit überzeugt zu sein und den Vorsatz zu fassen, von unserer verbleibenden Zeit sinnvollen Gebrauch zu machen.

Durch Nachdenken verstehen wir also zuerst die Bedeutung korrekt und genau. Als dann kommen wir zu der Überzeugung, dass sie wahr ist. Und drittens müssen wir davon überzeugt sein, dass es hilfreich für uns ist, diese Erkenntnis tief in uns aufzunehmen und sie zu einem Teil unserer Umgangsweise mit dem Leben zu machen.

All das - die Bedeutung verstehen, überzeugt sein, dass sie der Wahrheit entspricht, und sicher sein, dass sie hilfreich ist - gehört zur Entwicklung des unterscheidenden Gewahrseins, das aus Nachdenken entsteht. Es handelt sich um einen wichtigen Prozess, der allerhand Zeit beansprucht. Es ist unerlässlich, dass wir uns in Ruhe hinsetzen und gründlich über die Lehren nachdenken, die wir gehört oder gelesen haben. Wenn wir ohne das getan zu haben versuchen, beispielsweise über Unbeständigkeit zu meditieren, werden wir wahrscheinlich einfach dasitzen und keine Ahnung haben, was wir tun sollen. Wir fallen dann in eine Art Dämmerzustand – wir sind, wie man sagt, „etwas weggetreten“ – und meinen, das wäre Meditation. Das ist es jedoch keineswegs. Was ist also Meditation?

Video: Geshe Lhakdor — „Der Unterschied zwischen Wissen und Weisheit“ 
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Drei Arten von Meditation

So, wie wir durch Zuhören und Nachdenken über die Lehren diejenigen Arten des unterscheidenden Gewahrseins entwickeln, die damit verbunden sind, verschafft uns die Meditation das so genannte „unterscheidende Gewahrsein, das aus der Meditation entsteht“. Mit diesem Gewahrsein sind wir imstande, ganz konzentriert den förderlichen Geisteszustand hervorzubringen, den wir entwickeln wollen; wir können ihn eindeutig und präzise von allen anderen Geisteszuständen unterscheiden. Um dieses unterscheidende Gewahrsein zu gewinnen, machen wir uns mit dem erwünschten Geisteszustand vertraut, indem wir ihn wiederholt hervorbringen. Es gibt viele verschiedene Arten von Meditation, die wir dafür einsetzen können, aber ich werde nur die drei gebräuchlichsten beschreiben.

Sich auf ein Objekt ausrichten

Die erste Art der Meditation beinhaltet, dass man die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Objekt ausrichtet. Wir können uns dabei auf ein beliebiges Objekt ausrichten; was wir zu entwickeln versuchen, ist Konzentration auf dieses Objekt. Ob wir uns auf die Empfindung des ein- und ausgehenden Atems konzentrieren, auf einen Buddha, den wir visualisieren, oder auf die Natur des Geistes – es handelt sich immer um die Ausrichtung auf ein Objekt. Diese drei Objekte, die ich eben genannt habe, sind übrigens diejenigen, die zur Entwicklung von Konzentration am häufigsten verwendet werden.

Eine wichtige Variante dieser Art von Meditation besteht darin, die Aufmerksamkeit konzentriert auf ein Objekt zu richten und es dabei auf eine bestimmte Art wahrzunehmen, z.B. als unbeständig. Indem man sich mit dieser Einsicht darauf konzentriert, dringt uns tief ins Bewusstsein, dass es tatsächlich nicht von Dauer ist. Das ist sehr hilfreich, um den Geisteszustand zu überwinden, mit dem man an etwas hängt, als würde es ewig währen.

Ein anderes hilfreiches Beispiel ist folgendes: Nehmen wir an, du bist mit jemandem befreundet oder hast eine enge Beziehung zu ihm, und er ruft nicht an, kommt auch nicht vorbei, und du bist ziemlich verstimmt. In diesem Fall ist es wichtig, die Tatsache zu verstehen und völlige Überzeugung davon zu gewinnen: „Ich bin ich nicht die einzige Person im Leben meines Freundes. Außer mir gibt es auch noch andere Menschen in seinem Leben. Deswegen ist es völlig unvernünftig von mir, zu erwarten, dass er seine Zeit nur mir widmet und mit niemand anderem Zeit verbringt.“ Wir hinterfragen hier eine Fantasievorstellung von etwas, das unmöglich ist, nämlich die Vorstellung, dass ich der einzige Mensch wäre, der im Leben meines Freundes eine Rolle spielt. Und wenn wir verstimmt sind, dass unser Freund seine Zeit nicht mit uns verbringt, versuchen wir, unsere Aufmerksamkeit mit dieser Einsicht auf ihn zu richten: „Er kennt auch andere Menschen und außer mir gibt es noch andere Dinge in seinem Leben.“

Wenn von Meditation die Rede ist, geht es also nicht um irgendeinen mystischen, magischen Vorgang; wir begeben uns nicht in ein Reich der Fantasie. Meditation beinhaltet vielmehr sehr praktische Methoden, mit Leiden, Schwierigkeiten und Problemen in unserem Leben umzugehen.

Die erste Art der Meditation besteht also darin, den Geist in bestimmter Weise auf ein Objekt zu richten, entweder nur mit Konzentration oder mit einer bestimmten Art von Verständnis und Einsicht, wie in dem Beispiel mit dem Freund.

Einen Geisteszustand hervorbringen

Die zweite Art der Meditation besteht darin, einen bestimmten Geisteszustand hervorzubringen, z.B. Liebe oder Mitgefühl zu entwickeln und sich darauf zu konzentrieren, dies zu empfinden. Das Hauptgewicht liegt hier nicht auf dem Objekt, auf das wir Liebe oder Mitgefühl richten, sondern vielmehr darauf, eine Emotion bzw. ein Gefühl zu entwickeln.

Ein Bestreben hervorbringen

Die dritte Art der Meditation besteht darin, sich auf ein Objekt zu konzentrieren mit dem Bestreben, ein Ziel zu erreichen, das damit in Verbindung steht, z.B. die Aufmerksamkeit auf unsere eigene Erleuchtung zu richten, die noch nicht stattgefunden hat, und zwar mit dem Bestreben, sie zu erlangen. Das ist Meditation in Verbindung mit Bodhichitta. Wenn wir über Bodhichitta meditieren, richten wir die Aufmerksamkeit nicht auf Erleuchtung im Allgemeinen oder auf Buddhas Erleuchtung, sondern auf unsere eigene, individuelle Erleuchtung. Unsere Erleuchtung hat noch nicht stattgefunden, kann aber stattfinden – wir sind überzeugt, dass sie stattfinden kann, nämlich aufgrund unserer Buddha-Natur und einer Menge harter Arbeit. Mit dieser dritten Art der Meditation konzentrieren wir uns also auf ein Ziel, das in der Zukunft liegt, und zwar mit der starken Absicht, es zu erreichen.

Der drei Arten der Meditation im täglichen Leben

Diese drei Arten der Meditation dienen also dazu, förderliche Gewohnheiten zu entwickeln, die wir in unser Leben einbringen wollen. Es sehr wichtig, dass Meditation nicht nur eine Beschäftigung am Rande ist, die keine Verbindung mit unserem Leben hat. Meditation ist weder eine Art Flucht noch ein Spiel oder ein Hobby. Sie ist eine Methode, welche uns hilft, Qualitäten zu entwickeln, die wir in unser Leben einbringen und jeden Tag nutzen möchten.

Ich möchte veranschaulichen, wie wir diese drei Methoden anwenden, indem ich die bereits erwähnten Beispiele heranziehe. Wenn wir die erste Art der Meditation üben, in welcher wir uns auf ein Objekt konzentrieren, lernen wir, den Geist zur Ruhe zu bringen und unsere Konzentrationsfähigkeit zu erhöhen. Wir lernen nicht nur, uns auf unsere Arbeit zu konzentrieren, sondern auch dann konzentriert zu sein, wenn wir uns mit jemandem unterhalten. Wir möchten uns auf diese Person konzentrieren und darauf, was sie sagt, ohne uns dabei in Gedanken mit allen möglichen anderen Dingen zu beschäftigen. Wir möchten zuhören, ohne innerlich Kommentare abzugeben und das Gesagte dauernd zu beurteilen: „Ach, das ist doch dummes Zeug“ oder „Ich wünschte, er würde jetzt endlich den Mund halten.“ Wir möchten all das geistige Geplapper zur Ruhe bringen. Wir können auch unsere Konzentration auf diese Person und ihre Worte mit der Einstellung ergänzen: „Du bist ein menschliches Wesen und hast Gefühle, genau wie ich; du möchtest, das man dir Aufmerksamkeit schenkt, wenn du redest, genauso wie ich das möchte, wenn ich rede.“ Das üben wir mittels konzentrativer Meditation.

Die zweite Art der Meditation – einen bestimmten Geisteszustand hervorbringen –, können wir einsetzen, um die Liebe und das Mitgefühl zu verstärken, die wir im täglichen Leben empfinden. Wir arbeiten daran, Liebe zu entwickeln – d. h. den Wunsch, dass jeder glücklich sein möge –, ganz gleich, wo wir uns gerade befinden und mit wem wir zusammen sind. Liebe heißt hier wirklich Liebe gegenüber jedem: gegenüber jeder Person im Bus, in der U-Bahn, im Straßenverkehr, im Laden, gegenüber all den Insekten – eben jedem Lebewesen. Das bedeutet, Achtung gegenüber den Empfindungen eines jeden zu entwickeln. Insofern, als jeder glücklich und nicht unglücklich sein möchte, sind alle gleich. Und jeder hat das gleiche Anrecht, glücklich zu sein – auch die Fliege.

Und schließlich verwenden wir Meditation, um ein Bestreben zu entwickeln, das wir in unserem Leben durchgehend verfolgen: „Ich arbeite auf ein Ziel hin. Ich versuche meine Mängel zu verringern. Ich arbeite daran, gute Qualitäten zu entwickeln, und ich arbeite auf Befreiung und Erleuchtung hin.“ Dieses Bestreben zieht sich durch unser ganzes Leben und betrifft nicht nur die kurze Zeit, in der wir auf einem Meditationskissen sitzen.

Tsongkhapas Rat zur Entwicklung eines förderlichen Geisteszustands

Der große tibetische Meister Tsongkhapa erklärte sehr gut, was wir für all diese Arten von Meditation wissen müssen, mit anderen Worten: wie man einen förderlichen Geisteszustand als Grundlage für die Meditation entwickelt.

Wissen, worauf wir uns ausrichten

Zuerst müssen wir wissen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit ausrichten. Lassen Sie uns das am Beispiel Mitgefühl veranschaulichen. Wenn wir uns auf Mitgefühl ausrichten, konzentrieren wir uns auf das Leiden der anderen. Das ist eine ziemlich andere Ausrichtung als im Falle von Bodhichitta, in dem wir uns auf unsere eigene, individuelle Erleuchtung konzentrieren, die noch nicht stattfindet. Manche Menschen denken, sie würden über Bodhichitta meditieren, während sie eigentlich nur über Mitgefühl meditieren. Bodhichitta und Mitgefühl sind jedoch nicht dasselbe.

Alle Aspekte davon kennen

Nachdem wir den genauen Punkt für den Fokus bestimmt haben, nämlich das Objekt, auf das wir unsere Aufmerksamkeit richten, in diesem Fall also das Mitgefühl für das Leiden der anderen, müssen wir als nächstes um all die Aspekte dieses Objekts wissen. Wir untersuchen nun die verschiedenen Aspekte bzw. Arten von Leiden, die jeder erlebt: Unglücklichsein, unsere gewöhnliche Art von Glück, die Tatsache, dass wir unter der Macht der Zwanghaftigkeit von Karma stehen, und das Leiden, unfreiwillig immer wieder geboren zu werden. Wir konzentrieren uns nicht einfach nur auf eine begrenzte Art von Leiden einiger weniger Lebewesen wie z.B. die Niedergeschlagenheit und die Probleme, die damit verbunden sind, wenn man seine Arbeit verliert. Im Falle von großem Mitgefühl richten wir die Aufmerksamkeit auf alle Aspekte des Leidens, das überall von jedem Lebewesen, einschließlich der Tiere, erfahren wird.

Wissen, auf welche Weise unser Geist sich darauf bezieht

Als nächstes müssen wir wissen, wie unser Geist zu diesem Objekt in Beziehung tritt. Im Falle von Mitgefühl ist die Art und Weise, wie der Geist sich auf dieses Leiden bezieht, von dem Wunsch gekennzeichnet, dass die anderen Lebewesen es loswerden mögen, dass das Leiden verschwinden möge. Auch dieser Gedanke unterscheidet sich beträchtlich von Bodhichitta. Im Falle von Bodhichitta richten wir die Aufmerksamkeit auf unsere noch nicht stattfindende Erleuchtung, und die Art, wie wir uns darauf beziehen, also unsere geistige Aktivität im Hinblick darauf, ist von der Absicht geprägt: „Ich werde Erleuchtung erlangen.“ Das ist also recht anders als im Falle des Mitgefühls. Mitgefühl ist jedoch nicht die Einstellung zum Leiden, die in dem Gefühl „Ach wie entsetzlich“ zum Ausdruck kommt. Es steht vielmehr mit dem Wunsch in Verbindung: „Möge ihr Leiden aufhören.“

Wissen, was hilfreich dafür ist, den betreffenden Geisteszustand zu entwickeln

Zudem müssen wir wissen, was uns helfen wird, diesen Geisteszustand zu entwickeln. Bezogen auf unser Beispiel heißt das: Mitgefühl wird unterstützt, indem wir dieselbe Absicht bzw. dasselbe Gefühl in Bezug auf unser eigenes Leiden haben. Das ist es, was normalerweise „Entsagung“ genannt wird. Entsagung bezieht sich auf unser eigenes Leiden und bedeutet, den Entschluss zu fassen, sich von Leiden und den Ursachen dafür zu befreien. Frei von den Ursachen für Leiden sein zu wollen bedeutet, bereit zu sein, Verhaltensweisen aufzugeben, welche bewirken, dass es einem elend geht, z.B. die Angewohnheit, wütend zu werden. Wenn wir wirklich die Entschlossenheit entwickeln können, selbst von Leiden frei zu werden, dann wird das die Fähigkeit unterstützen, diese Einstellung bzw. diesen Wunsch mit derselben Intensität, als würde es sich um uns selbst handeln, auch auf andere zu richten.

Wissen, was der Entwicklung dieses Geisteszustands abträglich ist

Auch müssen wir wissen, was die Entwicklung dieses Geisteszustandes hindern wird. Die Entwicklung von Mitgefühl wird z.B. behindert, wenn wir andere nicht ernst nehmen bzw. ihr Leiden nicht ernst nehmen. Um dem entgegenzuwirken, ist es erforderlich zu denken: „Jeder möchte glücklich sein. Niemand möchte unglücklich sein. In dem Wunsch, frei von Leiden zu sein, besteht kein Unterschied. In dieser Hinsicht sind wir alle gleich. Und jeder hat Gefühle, genauso wie ich Gefühle habe. Jeder, der leidet, empfindet genauso viel Schmerz wie ich beim Empfinden meines eigenen Leidens.“ So entwickeln wir Einfühlungsvermögen für andere, wir achten ihre Empfindungen. Wenn wir dieses Einfühlungsvermögen und diese Achtung nicht haben, wird uns das bei der Entwicklung aufrichtigen Mitgefühls behindern.

Wissen, wie man den betreffenden Geisteszustand verwendet

Tsongkhapa fährt fort, indem er erläutert: Wenn wir diesen Geisteszustand entwickelt haben, was machen wir dann damit? Mit anderen Worten: Wie verwenden wir ihn? Wir entwickeln Mitgefühl – und was dann? Nun, es wird uns helfen, mit anderen umzugehen, es wird uns helfen, zu ihrem Nutzen tätig zu sein, und es wird uns wirklich motivieren und dazu drängen, das letztliche Ziel, die Erleuchtung, zu erreichen, damit wir anderen dauerhaft und auf bestmögliche Weise helfen können. Wir verstehen, dass das, was uns gegenwärtig daran hindert, ihnen helfen zu können, unsere eigene Begrenztheit ist, und deswegen wollen wir unbedingt unsere Begrenztheit überwinden.

Wissen, was durch diesen Geisteszustand beseitigt wird

Was wir überdies wissen müssen, ist: Was wird dieser Geisteszustand beseitigen bzw. was werden wir dadurch loswerden? Mitgefühl wird die Kaltherzigkeit beseitigen, die bewirkt, dass ich andere ignoriere. Es wird mir helfen, die Trägheit loszuwerden, die dem Wunsch entgegensteht, anderen zu helfen, sowie auch die Trägheit zu überwinden, die dem Wunsch entgegensteht, an mir zu arbeiten. Dadurch, dass das kaltherzige Gefühl beseitigt wird, kann ich anderen mehr helfen. Wenn wir all diese Elemente für die Entwicklung von Mitgefühl und entsprechender Meditation kennen, dann können wir sehr zuversichtlich sein, dass wir die Meditation korrekt ausführen; wir wissen genau, was wir tun und warum wir es tun. Wir sind angemessen darauf vorbereitet. Andernfalls ist es so, als würden wir ins tiefe Wasser eines Schwimmbeckens springen, ohne eine Ahnung zu haben, wie man schwimmt. Wenn wir einfach sagen: „Naja, man setzt sich eben hin und meditiert“ und keine Ahnung davon haben, was wir da tun, wird das höchstwahrscheinlich nicht zu einem produktiven Ergebnis führen.

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